ARKADIJ ADAMOW
Die Bunte Bande
aus Moskau
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE BUNTE BANDE AUS MOSKAU
Vorwort des Übersetzers
Erstes Kapitel: Sergej Korschunow fasst einen Entschluss
Zweites Kapitel: Ein schwieriger Fall
Drittes Kapitel: Nicht die kleinste Spur...
Viertes Kapitel: Erste Bekanntschaft mit Sofron Loschkin
Fünftes Kapitel: Ein Verhör dauert drei Stunden...
Sechstes Kapitel: Das Café als Falle
Siebtes Kapitel: Der »Theaterdirektor«
Achtes Kapitel: Ein ungewöhnlicher Mieter
Neuntes Kapitel: Ein gewisser Utkin, alias...
Zehntes Kapitel: Die Ereignisse überstürzen sich
Elftes Kapitel: Das Ende der Bunten Bande
Das Buch
Ein Kollektiv der Moskauer Kriminal-Polizei (beileibe kein einzelner Sherlock Holmes) klärt im Verlauf atemberaubender Aktionen ein Kapitalverbrechen: den Fall Bunte Bande. Eine Serie von Verbrechen ist verübt worden - Verbrechen, die zum großen Teil ihre Wurzel in der Enttäuschung junger Menschen über die Tristesse des kollektivierten sowjetischen Alltags haben...
Der Roman Die Bunte Bande aus Moskau des sowjetischen Schriftstellers Arkadij Adamow (* 13. Juni 1920; † 26. Juni 1991) erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962 (als erster sowjetrussischer Kriminal-Roman in deutscher Sprache).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
DIE BUNTE BANDE AUS MOSKAU
Vorwort des Übersetzers
Dieser erste sowjetrussische Kriminal-Roman in deutscher Übersetzung wird als ein Dokument in doppelter Hinsicht vorgelegt: Zum einen ist die Bunte Bande ein bezeichnendes Beispiel für die Umformung der Literaturgattung Kriminal-Roman durch einen sowjetischen Autor. Der Roman entbehrt keineswegs die reißerischen Elemente des englischen oder amerikanischen Kriminal-Romans. Er ist nüchtern und schmucklos geschrieben. Neu und spezifisch aber ist die ideologische Verbrämung. Nicht einfach Detektiv und Verbrecher stehen sich gegenüber, sondern der Polizist als klassenbewusster Hüter der Staatsmoral und der Verbrecher als antikommunistischer, von westlichem Individualismus infizierter Gesellschaftsschädling.
Vor allem aber passt der vertraute Typ des Detektivs, der durch selbständiges Denken und ganz eigene Methoden zum Erfolg gelangt, in keiner Weise zum Charakter des Kriminal-Romans sowjetischer Prägung. Der Held hat sich als Rädchen im Kollektiv der Moskauer Kriminalpolizei zu bewähren, nicht durch persönliche Initiative; er darf kein Sherlock Holmes, er muss ein Apparatschik sein.
Von dokumentarischem Interesse ist zum anderen das Eingeständnis, dass der vielpropagierte neue Menschentyp in der Sowjetunion zum guten Teil nur Wunschbild ist. Die staatlichen Erziehungsmaßnahmen reichen nicht hin, das Denken und die Lebensweise aller Sowjetbürger gleichzuschalten: Zu offensichtlich sind die Unterschiede zwischen den Verheißungen der Partei und der Realität der sowjetischen Massengesellschaft. Diese Realität kennt durchaus die Kriminalität - ja das Ausmaß der kriminellen Delikte, die lange Zeit totgeschwiegen wurden, wächst von Jahr zu Jahr. Obwohl das Gesetz auch geringen Vergehen strenge Strafen androht und zeitweilig Rundfunk, Fernsehen, Presse, Jugendorganisationen, sogar Schriftsteller zu einer regelrechten Kampagne gegen die Kriminalität auf gerufen waren, halten sich - wie der offenbar auf Tatsachen basierende Roman zeigt - noch viele Sowjetbürger an die Empfehlung des alten russischen Sprichworts: Wenn du nicht stiehlst, kannst du nicht leben. Und wenn sie schon nicht stehlen, so organisieren sie - aus Sehnsucht nach ein bisschen Luxus, den ihnen die Partei versagt.
Die Tristesse des grauen, kollektivierten sowjetischen Alltags verlockt vor allem die junge Generation zu verbrecherischer Selbsthilfe, und unter den kriminellen Jugendlichen sind es besonders häufig Kinder aus den Familien der neuen High Society, auch Kunststudenten, die aus den Normen der Staatsmoral ausbrechen. So sind - auch dies führt uns Adamow vor - verzweigte Verbrecherorganisationen und oppositionelle Geheimbündelei keine Seltenheit in einer Gesellschaft, die den Anspruch erhebt, aller Welt zum Vorbild zu dienen.
Es nimmt nicht wunder, dass die Veröffentlichung des Romans - 1955 in der großen sowjetischen Zeitschrift Junost - heftige Diskussionen auslöste. Adamow hatte ein Tabu durchbrochen: Sollte denn wirklich all das eingestanden werden, fragten die Ideologen, was es in der Sowjetgesellschaft nicht geben durfte?
Inzwischen freilich hat der Roman durch seine Qualitäten - spannende Handlung und schnörkellose Realistik der Darstellung - ein breites Echo gefunden. Der Autor, Arkadij Grigorjewitsch Adamow, wurde 1920 als Sohn eines Schriftstellers in Moskau geboren. Er diente in der Sowjetarmee, studierte Geschichte an der Moskauer Universität und veröffentlichte 1948 seinen ersten Roman, dem 1950 ein Band Erzählungen und 1952 ein weiterer Roman Wassilij Pjatow folgten. Der Erfolg der Bunten Bande schließlich hat Adamow, wie seine neuesten Titel zeigen, im Genre des Kriminal-Romans Weiterarbeiten lassen.
Möge die Übertragung seiner Bunten Bande dazu mithelfen, die dürftigen Vorstellungen zu erweitern, die wir in Deutschland von der sowjetischen Gegenwartsliteratur haben.
Erstes Kapitel: Sergej Korschunow fasst einen Entschluss
Zu Beginn des Frühlings befand sich der aus der Armee entlassene Abwehroffizier Leutnant Sergej Korschunow, aus Deutschland kommend, auf der Heimfahrt. Hinter dem Fenster des Zuges breiteten sich bereits in raschem Wechsel die wohlbekannten Vororte Moskaus aus. Im Wagen ertönte die gehobene Stimme des Zugführers: »Der Zug fährt in Moskau, der Hauptstadt unserer Heimat, ein!«
Sergej fühlte, wie sein Herz zu schlagen begann und sein Mund plötzlich trocken wurde. Mit Händen, die ihm nicht gehorchen wollten, begann er, seinen Offiziersmantel anzuziehen.
Unter der bunten, lärmenden Menschenmenge konnte Sergej nicht sofort die Seinigen entdecken. Er stand eine Minute lang allein, den Koffer in der Hand, und sah sich nach allen Seiten um.
Dann erblickte Sergej die Mutter. Hager war sie, unter dem kleinen Hütchen kamen Büschel des grauen Haares hervor. Sie arbeitete sich durch die Menge, am Arm eines hochgewachsenen Mädchens mit grellroter, modischer, pelzgefütterter Lederjacke: Es war Lena.
Hinter den beiden tauchten die schwarze Mütze und das runde, von der Frische und Aufregung gerötete Gesicht des Vaters auf.
»Mutter!«, schrie Sergej.
Die ersten Tage zu Hause berauschte sich Sergej an dem herrlichen, wohligen Nichtstun und der ihn umgebenden liebevollen, rührenden Wärme. Die Mutter verwöhnte ihn mit all jenen Leckerbissen, die er von Kindheit an geliebt hatte.
Allem prägten sich die besorgten Hände der Mutter auf. Die Eltern hatten sein Zimmer wieder so eingerichtet, wie er es damals verlassen hatte.
In der Schublade seines Tisches fand er sein Reifezeugnis. Lange und behutsam hielt er es in den Händen, sah auf die einzelnen angeführten Lehrfächer und die Unterschriften der Lehrer. Nur mühsam erinnerte er sich an ihre Namen und lächelte kaum wahrnehmbar bei der Erinnerung an diese so weit zurückliegende Zeit, die sorglos und fröhlich gewesen war.
In den ersten Tagen hatte Sergej Mühe, sich an das brodelnde Leben der Großstadt zu gewöhnen; denn es gab vieles, was sich verändert hatte, und mit Erstaunen stellte er fest, dass er sich erst wieder an das Moskauer Leben gewöhnen musste.
Fast jeden Abend rief er Lena an.
Ihre Begegnung am Bahnhof war ganz anders verlaufen, als er sie sich vorgestellt hatte. Er wollte sie ebenso umarmen, wie den Vater und die Mutter. »Sie ist doch meine Braut«, hatte er zu sich selbst gesagt. Auch seine Angehörigen würden es sicher erwartet haben, aber Lena streckte ihm nur verlegen die Hand entgegen. Sergej drückte sie - und das war alles. Es zeigte sich, dass es sehr schwierig war, jene Worte laut auszusprechen, die er in seinen Briefen so leicht geschrieben hatte. Auch das erste Gespräch, als er mit Lena schließlich allein war, wollte nicht recht in Fluss kommen.
»Sergej, du musst dich unbedingt im Institut immatrikulieren lassen«, sagte Lena und fragte zugleich: »Aber in welchem? Bist du dir darüber schon schlüssig geworden?«
Sergejs Antwort war nachdenklich: »Lena, ich will arbeiten. Ich muss endlich einmal meinen Eltern beistehen. Studieren... natürlich möchte ich studieren.«
»Nein, nein, du musst unbedingt studieren«, widersprach Lena erregt. »Man muss doch einen akademischen Grad haben! Sag schon, wozu hast du Neigung?«
»Ich bin mir darüber selbst noch nicht im Klaren. Ich habe früher daran gedacht, Jura zu belegen, um einmal Richter zu werden. Das würde mir Freude machen. Aber im Übrigen... weiß der Kuckuck! Ich muss mir das erst gründlich überlegen.«
»Aber du hast es doch schon überlegt! Jura also!?«
»Soll ich mich hier sofort entscheiden?«, lachte Sergej.
»Natürlich.«
»Einverstanden«, stimmte Sergej scherzhaft zu, »dann besuche ich aber dein Institut und werde mich auch auf der Leinwand sehen lassen. Ich will Ruhm!«
»Ja, aber dabei entscheidet das Talent«, entgegnete Lena in herablassendem Ton, »und außerdem das Aussehen, das Wissen und die innere Berufung...«
»Na, hör mal!« empörte sich Sergej.
»Sei nicht böse«, bat Lena und strich ihm über das Haar, während sie rasch und hitzig hinzusetzte: »Ich wollte... Ich wollte ganz etwas anderes sagen. Verzeih mir!«
In den nächsten Tagen besuchten Sergej und Lena verschiedene Theateraufführungen und Konzerte.
Eines Abends gingen sie zusammen ins Kino. Als sie nach der Vorstellung auf die Straße kamen, gingen sie eine Zeitlang schweigsam nebeneinander, jeder in seine Gedanken vertieft.
Sie kamen auf die Gorki-Straße, und Lena machte den Vorschlag, zum Abendessen zu gehen. Sergej empfand es angenehm, dass sich viele Männer nach Lena umsahen.
Aber im Lokal zog er unwillkürlich die Augenbrauen zusammen, nachdem er bemerkt hatte, wie sie jeden auf sich gerichteten Blick auffing und unschicklich und unnatürlich zurücklächelte. Dann steckte sich Lena eine Zigarette an. Er hatte den Verdacht, dass sie es nur tat, um besser ihre schönen, gepflegten Hände zeigen zu können. Das alles machte ihn missmutig, und als Lena ihn aufforderte, zu einem Tanzabend in ihr Institut mitzugehen, lehnte er schroff ab. Beleidigt verzog sie ihren Mund, aber dann lächelte sie wieder, als ob sie sich auf etwas anderes besonnen hätte. Sie begann von dem Regisseur Baranow zu erzählen, der für die Aufnahmen zu einem neuen Film einige Teilnehmer ihres Kurses aussuchen würde, und dass sie sehr aufgeregt sei, da sie nicht wisse, ob sie zu den Auserwählten gehöre.
»Aber ich bin trotz allem zuversichtlich«, schloss Lena seufzend. »Ich habe genügend äußere Vorzüge aufzuweisen.«
»Und wie steht es mit den inneren?«, brummte Sergej.
»Ach, Sergej, du bist noch sehr naiv«, lachte Lena auf und blickte nach beiden Seiten.
Drei Tage später wurde Sergej überraschend zum ersten Parteisekretär des Stadtbezirks bestellt.
»Haben Sie sich nicht getäuscht?«, fragte Sergej, indem er den Telefonhörer fester an das Ohr presste.
»Nein, nein, Genosse Korschunow«, erwiderte energisch eine Mädchenstimme, »Sie sollen wirklich zu dem ersten Sekretär, Genossen Wolochow, kommen. Pünktlich um drei Uhr - morgen Nachmittag. Verstanden?«
»Jawohl«, entgegnete Sergej, hing den Hörer ein und sah verwundert seine Mutter an.
»Ich möchte bloß wissen, was das bedeuten soll?! Na ja, wir werden es früh genug erfahren«, stellte er nachdenklich fest und vertiefte sich erneut in seine Lektüre.
»Du hast Lena aber schon lange nicht mehr angerufen«, wunderte sich Marja Ignatjewna, »sicher wird sie Sehnsucht nach dir haben.«
»Das bezweifle ich, Mama«, erwiderte Sergej gedämpft, ohne dabei die Augen von dem Buch zu heben. »Um sie herum sind so viele talentierte junge Burschen... solche mit gutem Aussehen, Wissen und innerer Berufung, mit denen ich überhaupt nicht konkurrieren kann! Von wegen Sehnsucht... dazu hat sie gar keine Zeit.«
»Was redest du für komisches Zeug daher!«, staunte Marja Ignatjewna, »du solltest dich schämen!«
»Das sage ich nicht von mir aus«, widersprach Sergej gereizt. »Das hat mir Lena vor einigen Tagen selbst gesagt.«
»Junge, du darfst nicht so schnell den Beleidigten spielen. Vielleicht hast du sie nicht richtig verstanden? Sie hat lange auf dich gewartet - jetzt bist du da, und nun diese kleinen Zänkereien!«
Sergej erwiderte nichts, aber am Abend rief er Lena an. Als er ihre fröhliche Stimme hörte, verschwand aller Ärger und Verdruss über das letzte Gespräch im Lokal. Er sagte zu, sie in das Vorführstudio zu begleiten, wo ein neuer ausländischer Film gezeigt wurde, über den anschließend diskutiert werden sollte.
Am anderen Tag erschien Sergej pünktlich im Vorzimmer des Parteisekretärs.
Beim Betreten des geräumigen Arbeitszimmers sah Sergej hinter dem großen Schreibtisch einen beleibten Mann mit lichtem Haar. Er war mit einer blauen Jacke bekleidet, auf der eine breite Ordensspange und das Abzeichen eines Abgeordneten befestigt waren, und unterhielt sich angeregt mit einem Besucher, der ihm gegenübersaß.
Als der Sekretär Sergej erblickte, erhob er sich und ging auf ihn zu.
»Guten Tag, Genosse Korschunow! Darf ich vorstellen: Das ist Genosse Pawlow.«
Wolochow ging um den Tisch herum, ließ sich in einen Sessel fallen, setzte eine Brille auf und nahm aus einer schwarzen Mappe einige Papiere.
»Wir möchten uns mit Ihnen unterhalten«, begann er, sah flüchtig die Papiere durch und legte sie wieder in die Mappe zurück. »Wir haben Sie rufen lassen, Genosse Korschunow, um ein wichtiges Gespräch zu führen. Was wollen Sie jetzt eigentlich anfangen?«
»Ich will studieren und arbeiten. Aber was und wo, darüber bin ich mir noch nicht schlüssig.«
»Uns geht es um etwas Anderes«, unterbrach ihn Wolochow. »Wir haben vor, Sie in einen sehr schwierigen, ja sogar gefährlichen Aufgabenkreis zu berufen. Dort können wir bei weitem nicht jeden gebrauchen. Aber Ihnen, einem Abwehroffizier und Träger dreier hoher militärischer Auszeichnungen, vertrauen wir, Genosse Korschunow.«
Wolochow schwieg und sah Sergej scharf prüfend an. Dieser stand auf und sagte:
»Ich bin bereit, jeden Auftrag auszuführen, Genosse Parteisekretär.«
Wolochow musterte Sergej wiederum aufmerksam.
»Es handelt sich nicht einfach um einen Auftrag, Korschunow. Die Sache wird Ihre Lebensaufgabe werden, Ihr neuer Beruf. Und merken Sie sich: Für Feigheit werden die Leute dort schwer bestraft, genauso wie Verräter - aber es kommt häufig vor, dass die Menschen dort erstaunliche Leistungen vollbringen und sich Auszeichnungen verdienen. Gerade dort brauchen wir Leute mit guten Eigenschaften, sauberem Wesen und fester Hand.«
Sergej hörte mit gespannter Erwartung zu.
»Kurz gesagt, Genosse Korschunow: Die Partei will Sie zu den Polizeiorganen beordern, und zwar in deren wichtigstes und verantwortungsvollstes - in das Fahndungsdezernat.«
Im ersten Augenblick war Sergej von Wolochows Worten völlig überrascht. Er war auf vieles gefasst gewesen, aber das eben Vernommene lag so weit abseits von allen seinen Gedanken und Zukunftsplänen, war ihm so fremd und unerwartet, dass er in unwillkürlicher Verblüffung seinen Gesprächspartner anblickte, als wollte er prüfen, ob dieser mit ihm keine Scherze trieb.
»Ja, ja, wir wollen Sie allen Ernstes in die vorderste Kampflinie schicken, um der Gerechtigkeit zum Sieg über das Verbrecherunwesen zu verhelfen«, fuhr Wolochow fort. »Natürlich haben wir - so oder so - das ganze Sowjetvolk dafür eingespannt. Aber der Kriminalist hat es direkt, von Angesicht zu Angesicht, mit den Verbrechern und Feinden der Gesellschaft zu tun, und er muss immer als Sieger aus diesem Zweikampf hervorgehen.«
Sergej hörte Wolochow zu und begriff plötzlich, dass dieser Mann, auf dessen Schultern so viel Sorgen lasteten, ihm einen Teil davon abgeben wollte.
»Korschunow, bedenken Sie eines: Sie tun damit einen sehr ernsthaften, schwerwiegenden Schritt«, sprach Wolochow weiter, »der Ihr ganzes Leben verändern wird, der Ihnen ungewöhnliche Erlebnisse, verbunden mit Unruhen und Gefahren, bringen wird. Deshalb verlangen wir auch nicht eine sofortige Entscheidung von Ihnen. Überlegen Sie sich alles gründlich!«
»Nein, Genosse Wolochow«, antwortete Sergej, »ich habe mich bereits entschieden. Ich fühle, dass mir diese Arbeit Zusagen wird, und ich will keine andere mehr.«
»Dann sind wir uns also einig«, stimmte Wolochow zu und wandte sich an Pawlow: »Na, was sagen Sie? Wollen Sie den Prachtkerl nehmen?«
»Mit beiden Händen«, lächelte Pawlow.
Wolochow stand auf, trat zu Sergej und drückte ihm kräftig die Hand, wobei er herzlich sagte:
»Viel Glück, Korschunow! Ich wünsche Ihnen guten Erfolg!«
»Ich werde mein Bestes tun«, antwortete Sergej ernst.
»Sie sind ein prächtiger Mensch«, ließ sich Wolochow anerkennend vernehmen und umarmte Sergej.
Sergej kehrte erregt nach Hause zurück. Bereits morgen sollte er sich bei der Personalabteilung der Polizeiverwaltung melden, übermorgen zur ärztlichen Untersuchung gehen. Dann würden noch zwei Wochen mit den notwendigen Formalitäten verstreichen - wie Pawlow gesagt hatte -, und erst dann konnte er seinen Dienst antreten.
Marja Ignatjewna öffnete die Tür.
»Mama, alles ist entschieden«, sprudelte Sergej heiter heraus, »man hat mich zu einer Aufgabe beordert, von der ich bisher nicht einmal geträumt habe. Auch du nicht.«
»Allmächtiger! Was ist es denn?«
»Ich gehe zur Polizei, Mama, zum Fahndungsdezernat.«
»Wie, was redest du da?« Marja Ignatjewna schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Und du hast dich einverstanden erklärt?«
»Natürlich, Mama«, lachte Sergej und ging in sein Zimmer.
»Da hast du dir aber eine Arbeit ausgesucht: Gauner fangen!« Marja Ignatjewna schüttelte den Kopf, während sie aus dem Büffet das Geschirr herausholte. Plötzlich hielt sie wie erstarrt inne, presste die Teller in ihren Händen und blickte erschrocken ihren Sohn an. »Sergej, das ist sicher sehr gefährlich? Diese verdammten Banditen schrecken auch vor einem Mord nicht zurück, wenn man ihnen in die Quere kommt.«
Sergej lächelte und sagte beruhigend: »Im Krieg war es noch viel schlimmer - und trotzdem bin ich heil nach Hause gekommen, wie du siehst, Mutter.«
»Was wird Lena dazu sagen? Hast du dir darüber Gedanken gemacht?«
»Nein, das habe ich nicht.« Sergej zeigte eine gespielte Gleichgültigkeit, setzte sich ah den Tisch und nahm ein Buch in die Hand. Aber lesen konnte er nicht. Er konnte sich nicht konzentrieren; denn sein eigenes Schicksal verhüllte in seinem Bewusstsein das Schicksal des Romanhelden.
Sergej hatte indessen keine rechte Vorstellung von seiner zukünftigen Tätigkeit. Was erwartete ihn? Was für Menschen würde er begegnen? Er hatte niemals mit ihnen zu tun gehabt und nie etwas von ihnen gehört. Sergej dachte an Lena, und sein Herz begann schwer und unruhig zu schlagen. Wie würde sie diese Veränderung seines Lebens aufnehmen? Würde sie begreifen können, was ihn dazu veranlasste? Jetzt würde es sichtbar werden, ob sie ihn verstehen kann und ob sie ihn wirklich liebt...
Sergej schlug hastig das Buch zu, stand auf und ging im Zimmer hin und her. Dann trat er zum Fenster. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Wolochow und verspürte wieder jene merkwürdige Sicherheit über die Richtigkeit seines Entschlusses. Sergej war irgendwie stolz auf seinen neuen Beruf.
In der Diele läutete die Glocke. Pawel Afanasjewitsch war gekommen. Sergej hörte die leise Unterhaltung mit der Mutter im Flur. »Unser Sergej hat sich was geleistet. Er hat sich bei der Polizei anstellen lassen!«, erzählte Marja Ignatjewna bitter.
»Bei der Polizei? Wieso das?«
Sergej warf das Buch in eine Ecke und lief in die Diele hinaus. Pawel Afanasjewitsch stand im aufgeknöpften Schafpelzmantel da, hielt in einer Hand die Aktentasche, in der anderen die Wintermütze. Der Haarkranz um die Glatze herum war zerzaust, die Brille angelaufen, und auf dem Schnurrbart tauten Schneeflocken.
Sergej sah den Vater an und lachte fröhlich.
»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: der berühmte Detektiv Korschunow junior.«
Der Vater schüttelte missbilligend den Kopf. - Während des Abendessens erzählte Sergej dem Vater alle Einzelheiten des Gesprächs mit dem Parteisekretär.
Der Vater, von Beruf Buchhalter, hatte ein zwiespältiges Gefühl. Einerseits träumte er davon, dass sein Sohn nach der Entlassung aus der Armee einen ernsten und würdigen Beruf ergreifen würde; andererseits gab es nun dieses Gespräch mit dem Parteisekretär, der die Arbeit bei der Polizei als sehr wichtig und ehrenhaft ansah. »Ich habe gar nicht gedacht, dass die Tätigkeit der Polizei so differenziert ist und so ernst genommen wird - und dass sie bei der Auswahl derartige Anforderungen stellen.« Pawel Afanasjewitsch schüttelte den Kopf, schwieg eine Weile und fragte: »Und was wird aus deinem Studium werden, mein Junge?«
»Das weiß ich noch nicht.« Sergej zuckte mit den Schultern. »Meine Arbeit...«
»Es kommt nicht in Frage«, fiel ihm Pawel Afanasjewitsch entschlossen ins Wort. »Schlag dir das aus dem Kopf! Du musst unbedingt studieren. Natürlich musst du dich vorerst dort umsehen und eingewöhnen. Jetzt, mein Guter, gilt es für alle nichts anderes als studieren - sogar für die Alten.«
»Das wird für Sergej zu viel sein, alles auf einmal«, seufzte Marja Ignatjewna, »denk doch daran, wie krank er immer als Kind war! Dann der Krieg... Und jetzt hat er einen Beruf gewählt, bei dem sich alles in meinem Kopf dreht, wenn ich nur daran denke - und da kommst du noch mit deinem Studium!«
Sergej lachte unbekümmert. »Aber, Mama, was redest du von Krankheiten! Natürlich werde ich studieren. Ich weiß doch, dass man heutzutage ohne Studium nicht auskommt.«
»Wenn du schon mitredest, Mutter«, unterstützte Pawel Afanasjewitsch seinen Sohn, »dann weißt du auch, dass ich in seinem Alter Berge versetzen konnte. Auch ich habe arbeiten und zugleich lernen müssen - und noch dazu war ich hinter dir her, was mich auch nicht wenig Anstrengung gekostet hat!«
»Du kommst immer mit den gleichen alten Witzen!«, erwiderte Marja Ignatjewna zornig. Aber sogleich lächelte sie unwillkürlich: »Und ob du dich damals mächtig angestrengt hast! Da kann ich nicht widersprechen.«
Am Abend rief Lena an.
»Sergej, bist du bei dem Parteikomitee gewesen?«
»Ja, ich war dort.«
»Sicher hast du einen guten Posten bekommen und wirst unsereinen nicht mehr kennen?« scherzte Lena.
»Ja, sogar einen sehr guten. Er ist so gut, dass du dir das gar nicht vorstellen kannst. Mein Studium muss ich allerdings eine Zeitlang zurückstellen.«
»Ach, Sergej! Wenn du schon so einen tollen Posten hast«, rief Lena besorgt und zugleich freudig aus, »musst du natürlich das Studium zurückstellen!«
Nach einigem Zögern erkundigte sie sich: »Sicher bekommst du auch einen Wagen?«
»Nun, das weiß ich noch nicht«, erwiderte Sergej zurückhaltend.
»Ich verstehe. Du willst am Telefon nicht darüber sprechen«, sprudelte Lena eilig hervor. »Weißt du was? Das ist ein Grund zum Feiern. Komm zu mir! In Ordnung?«
»Gut, ich komme. Aber wenn es kein toller Posten wäre, hättest du mich dann auch eingeladen?«
»Sergej, du solltest dich schämen!«
»Schon gut, ich schäme mich. Sei mir nur nicht böse! Ich komme sofort.« .
Bei Lena traf Sergej einen schlanken jungen Mann mit blassem Gesicht und nach hinten gekämmten Haaren. Sergej fielen an ihm die bunte Krawatte und die glänzenden, sorgfältig manikürten Fingernägel auf.
»Arnold«, stellte sich der junge Mann vor und erwiderte lässig weich Sergejs Händedruck.
»Das ist Arnold«, sagte Lena - sie nahm Sergej unter den Arm und führte ihn ins Esszimmer - »...der Stolz unseres Semesters. Er ist einer der Begabtesten. Dem Regisseur Baranow ist er in der Rolle des Barons in Gorkis Nachtasyl aufgefallen. Erinnerst du dich daran? Ein Mensch - wie stolz das klingt! Um das in Gorkis Art zu sprechen, wie es Arnold vermag, muss man selbst viel erlebt haben.« Arnold ging voraus, ließ sich schlaksig auf den Sessel nieder und schlug die Beine übereinander. Nach etwa einer Minute steckte er sich gelangweilt eine Zigarette mit Goldmundstück an, umfasste mit schmalen Händen sein Knie und begann, ein an der Wand hängendes Gemälde nachdenklich zu betrachten.
Lena blickte Arnold entzückt an, und Sergej fing diesen Blick auf.
»Arnold hat Wein und Konfekt mitgebracht«, erzählte Lena rasch. »Die Hälfte von den Süßigkeiten habe ich schon verkonsumiert, so gut waren sie. Auch der Wein ist etwas Besonderes. Wir werden ihn gleich probieren und deine Berufung feiern. Einverstanden?«
»Ich habe nichts dagegen. Das muss tatsächlich begossen werden«, antwortete Sergej, zog mit gewohnter Bewegung seine Hemdbluse zurecht und setzte sich auf den angebotenen Sessel.
»Wunderbar!« Lena klatschte in die Hände. Sie trug ein Modellkleid. Sergej fiel auf, dass sie sich eine neue Frisur zugelegt hatte: Ein Kranz kurzgeschnittener Haare umrahmte ihren hübschen Kopf und verlieh dem Gesicht den neckischen Reiz eines Teenagers.
»Du hast eine neue Frisur«, sagte Sergej unwillkürlich.
»Ist dir das doch aufgefallen?«, antwortete Lena mit schelmischem Lächeln, ohne seinen unwilligen Ton zu bemerken. Stolz fügte sie hinzu:
»Ich lasse mich nur von Gaston frisieren. Er ist der einzige wahre Künstler seines Fachs in ganz Moskau. Stell dir vor, man muss drei Monate warten, bis man drankommt. Ich bin erst heute an der Reihe gewesen.«
»Die Frauen haben eben ihre eigenen Freuden des Lebens«, mischte sich Arnold in nachsichtigem Ton ein. »Man muss ihnen das schon verzeihen.«
Sergej überhörte diese Bemerkung.
Lena stellte Kristallgläser auf den Tisch, füllte eine Schale mit Konfekt und bat Sergej, die Weinflasche zu öffnen. Dann sagte sie feierlich:
»Also, lieber Sergej, worauf wollen wir trinken?«
Sergej kam alles komisch und zugleich wehmütig vor. Er hatte davon geträumt, in einer anderen Gesellschaft den Beginn seines neuen Lebens zu feiern. Nein, nicht Lena - und schon gar nicht dieser geschniegelte Bursche - würden verstehen können, von welchen Gedanken und Gefühlen er sich hatte leiten lassen. Vielleicht war es am besten, wenn man ihnen gar nichts erzählte? Aber es war gegen Sergejs Art, einen Rückzieher zu machen.
Er stand auf, erhob sein Glas, und mit versteckter Herausforderung sagte er fest: »Ich werde bei der Polizei tätig sein, als kleiner Anfänger im Fahndungsdezernat. Das ist ein wichtiger und ehrenhafter Beruf. Ich bitte euch, mit mir darauf zu trinken.«
Wie vom Blitz getroffen, blieb Lena - mit dem Glas in der Hand - erstarrt sitzen. Arnold hingegen nickte und begann, den Wein in kleinen Schlucken zu schlürfen.
»Bei der Polizei?«, fragte Lena zweifelnd. »Kleiner Anfänger? Nein, das ist entsetzlich!«
»Warum denn?«
»Das ist doch eine grobe und schmutzige Arbeit«, erwiderte Lena, verächtlich mit den Schultern zuckend. »Nichts für einen intelligenten Menschen!«
»Jedem das Seine, Lenotschka«, bemerkte Arnold, »schließlich ist jede Arbeit für die Gesellschaft von Nutzen.«
Nach außen hin blieb Sergej ganz ruhig, nur seine blauen Augen verengten sich und wurden dunkler. Dieser junge Stutzer ging ihm auf die Nerven. Dieser milchbärtige Jüngling!
»Eine grobe und schmutzige Arbeit, sagt ihr?«, fragte er langsam und betont. »Eine schwierige und gefährliche - habt ihr vergessen hinzuzufügen. Das war im Krieg alles genauso, aber als Filmschauspieler kann man das nicht begreifen... Ich weiß, was wirkliche Schauspieler sind - aber ihr... Was soll man da lange reden...!« Sergej wandte sich scharf um und ging in die Diele. Er hatte bereits den Mantel an und die Mütze auf, als Lena erschien.
»Sergej... Wo willst du hin...?«, fragte sie mit einer vor Aufregung brüchigen Stimme. »Ich wollte dich nicht kränken. Und du... du hast nicht recht!«
»Ich habe nur das gesagt, was ich denke«, antwortete Sergej trocken und griff nach der Türklinke. »Nebenbei: genauso wie ihr. Leb wohl!«
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Sergej ging auf die Straße und sah sich um. Das große Haus mit den Fresken über dem Eingang, mit den Balkonen und der bunten Keramik, das ihm früher so gut gefallen hatte, stand jetzt kalt und fremd vor ihm.
Ende des Monats bekam Sergej endlich den Personalausweis und überschritt zum ersten Male die Schwelle des Gebäudes der Moskauer Kriminalpolizei. Er musterte aufmerksam und ohne Eile den breiten, hellerleuchteten Korridor, die an den Wänden stehenden massiven Bänke mit den nach hinten gebogenen Rückenlehnen, die Reihen der ledergepolsterten Türen - und ging in das ihm angegebene Zimmer.
»Korschunow?«, fragte ihn nochmals ein beleibter Mann mit glattrasiertem Kopf, indem er sich ein wenig über den Tisch beugte und Sergej die Hand hinstreckte. »Freue mich sehr! Sotow. Sie werden in meiner Abteilung arbeiten. Setzen Sie sich. Ich werde Sie gleich mit dem Genossen Garanin bekannt machen.«
Er drehte sich zu einem kleinen Tisch um, nahm den Hörer eines der Telefonapparate ab und nannte eine kurze Nummer.
»Garanin? Kommen Sie bitte zu mir!«
Der großgewachsene, stämmige, blonde Garanin mit seinem offenen, gutmütigen Gesicht begrüßte mit seiner Bassstimme Sergej wie einen alten Bekannten: »Also, wir werden zusammen arbeiten und einiges voneinander lernen müssen. Ich sitze auf Zimmer dreißig.«
Nachdem Garanin fortgegangen war, sagte Sotow: »Ein ausgezeichneter Mitarbeiter. Sie können von ihm vieles lernen.« Dann nahm er wieder den Hörer und nannte eine andere Nummer.
»Ilja Grigorjewitsch, der neue Mitarbeiter, Korschunow, ist da. Ich glaube, Sie wollen sich persönlich mit ihm unterhalten? - Jawohl! - Zu Befehl!«
Sotow stand auf und wandte sich an Sergej: »Kommen Sie mit! Ich werde Sie dem Chef der MUR, General Silantjew, vorstellen.«
In dem geräumigen, sehr hellen Arbeitszimmer saß hinter einem großen schwarzen Schreibtisch ein hagerer Mann in blauem Zivilanzug und mit glatt nach hinten gekämmten dunklen Haaren. Er telefonierte gerade. Beim Anblick der Eintretenden nickte er und deutete mit der Hand auf die Sessel neben dem Schreibtisch.
Sergej und Sotow nahmen Platz.
»Nein, ich gestatte es nicht. Der Einsatz muss heute Nacht durchgeführt werden«, sagte Silantjew ins Telefon. »Nicht später, als...
Ja... Ich verstehe. Ja, dafür muss ein sehr erfahrener und mutiger Mann... Der ist der Richtige... Gut! Gut, gehen Sie so vor - und berichten Sie mir sofort die Resultate!«
Als Silantjew das Telefongespräch beendet hatte, stand er auf, und während er Sergej die Hand reichte, musterte er ihn mit schnellem, durchdringendem Blick.
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Genosse Korschunow. Pawlow hat mir zwar schon einiges über Sie erzählt, aber das erschien mir zu wenig. Iwan Wassiljewitsch«, er wandte sich an Sotow, »wenn Sie zu tun haben, können Sie gehen.«
Sotow nickte und verließ das Zimmer.
»Lassen Sie uns über Ihre zukünftige Arbeit sprechen«, begann Silantjew. »Ich will Ihnen ganz offen sagen: Diese Art Beschäftigung ist nicht ganz alltäglich. Natürlich ist es unmöglich, alles auf einmal zu erzählen; das werden Sie im Laufe der Zeit selbst erfahren. Aber hierbei ergibt sich eine wichtige Frage, die den Kern berührt, sozusagen das Prinzip unserer Arbeit. Und darüber lohnt es sich, glaube ich, dass wir uns jetzt unterhalten. Die Frage ist folgende: Woher kommen bei uns die Verbrecher - und wer sind sie?« Silantjew lächelte, als er merkte, mit welch offener, ungeduldiger Neugierde Sergejs blaue Augen leuchteten.
»Mir scheint, dass sehr oft alles seinen Anfang in der Familie nimmt.« Silantjew wurde nachdenklich und erläuterte seinen Gedankengang: »Natürlich in den Familien, in denen die Kinder schlecht oder - sagen wir - falsch erzogen werden. Genau dann entstehen die ersten Keime zur Verachtung der Arbeit, zur Lügenhaftigkeit, zum Egoismus und zur Habgier. Es treten Wünsche auf, sich mehr vom Leben zu nehmen, als man verdient, und vor allem - auf eine leichtere Weise. Die redliche Arbeit verlangt einen Willen und ein deutlich sichtbares Ziel im Leben. Vielleicht ist irgend so ein Bursche auch in diesem Sinne erzogen worden.
Aber zufällig kreuzt ein Mensch seinen Weg, der bereits zum Verbrecher geworden ist. Meistens ist es ein älterer Mensch mit besonderer Aktivität, der versucht, auf seine Umgebung einzuwirken und diese zu vergiften. Selbstverständlich wird ein moralisch nicht anfälliger Jugendlicher einen solchen Einfluss unweigerlich ablehnen und dieser Versuchung Herr werden. Aber einer, der moralisch irgendwie nicht vollwertig ist, wird den Weg des geringeren Widerstandes gehen und diesem Einfluss erliegen. Dann wird alles Negative in ihm überwiegen, und es entsteht in ihm ein neuer, verbrecherischer Charakter. Verstehen Sie mich, Korschunow?«
Sergej nickte stumm. Er hatte aufmerksam zugehört und war bemüht, nicht ein Wort Silantjews sich entgehen zu lassen.
»Gewiss ist das Übel nicht nur in der Familie allein zu suchen«, entwickelte Silantjew seine Gedanken weiter. »Bei uns sind noch ernsthafte Mängel im Schulwesen, bei der Erziehungsarbeit in Industrieobjekten und in den Mauern der Hochschulen vorhanden. Es gelingt uns bei weitem noch nicht immer, die gesamte Jugend unserem Einfluss zu unterwerfen und sie für nützliche und wichtige Interessen zu begeistern. Gerade dort, wo unser Einfluss nachlässt, wächst unweigerlich der Einfluss uns fremder, feindlicher Ideen und Ansichten, sogar auf dem Gebiet des Geschmacks und der Gewohnheiten. Das ist ein unwiderlegbares, vom Leben selbst geprüftes Gesetz. So werden Verbrecher gezüchtet - die Feinde unserer Gesellschaft. Und wir führen mit ihnen den Kampf auf Leben und Tod. Aber dieser Kampf ist ein besonderer«, fuhr Silantjew fort und sah Sergej vielsagend an. »Wir wissen, dass ein gewisser Teil der Verbrecher sich umerziehen ließe, solche, aus denen noch ehrliche Menschen werden könnten. Man müsste nur verstehen, in ihrer Seele eine Stelle zu finden, wo noch ein gutes Empfinden ist. Dann könnte man diesen positiven Zug herausschälen und den Funken entfachen. Aber es gibt auch eine andere Kategorie von Verbrechern, eine ganz gefährliche - jene, die ihre Seele bereits bis zum Ende verkauft: haben, bei denen nichts Gutes mehr verblieben ist. Solche haben von uns kein Erbarmen zu erwarten, und wir vernichten sie, wie man geschworene Feinde vernichtet!«
Nach längerem Schweigen sagte Silantjew streng: »Korschunow, man hat Ihnen sicher bereits gesagt, wie wichtig und wie ehrenhaft unsere Arbeit ist. Ich muss noch hinzufügen, dass sie auch eine große Befriedigung mit sich bringt. Es gibt keine größere Freude, als ein Verbrechen zu verhüten oder aufzuklären, und zu sehen, wie glücklich und dankbar die Menschen sind, die man gerettet oder denen man geholfen hat. Bei unserer Arbeit gibt es Gefahr und Risiko, aber auch die Romantik bei der Enthüllung eines Geheimnisses - und alles dient nur einem großen, edlen Ziel. So etwas kennt sicherlich kein anderer Beruf.
Vor einem muss ich Sie allerdings warnen: Wir haben täglich mit Verbrechern zu tun, wir beschäftigen uns jeden Tag mit ein und demselben - mit der Reinigung vom Dreck, der auf den Hinterhöfen unseres Lebens nistet, in den allerdunkelsten Ecken.
Natürlich ist das eine wichtige, ehrenhafte Aufgabe, ohne die wir nicht vorwärtskommen. Dabei lauert hier eine ernste Gefahr auf Sie: Nach einiger Zeit könnte es Ihnen plötzlich so vorkommen, als ob damit, nur damit das Leben ausgefüllt wäre. Sie könnten dann die Perspektive verlieren, alles rings um Sie nur noch in düsteren Farben sehen und damit den Glauben an die Menschen verlieren. Das ist sehr bedenklich. Die Verbrecher dürfen Sie selbst nicht dem wirklichen Leben entfremden; sie dürfen in Ihnen nicht den Glauben an eine ehrliche Welt erschüttern. Nun also«, lächelte Silantjew, »jetzt habe ich Ihnen einen ganzen Vortrag gehalten, aber seien Sie versichert, das war das erste und das letzte Mal. Alles Konkrete über Ihre Aufgaben werden Ihnen Major Sotow und andere Kameraden erzählen. Nebenbei: Wir sind eine große, kameradschaftliche Gemeinschaft, in der es auch alte Leute gibt, wie zum Beispiel mich oder Oberst Sandler. Georgij Wladimirowitsch Sandler, mein Vertreter, ist die lebende Geschichte der MUR, sozusagen unser Patriarch - und ein großer Meister seines Fachs. Bei uns ist jeder zweite sein Schüler gewesen. Wir haben auch viele junge Leute. Sie werden hier treue Freunde finden. Bei uns herrscht echte Freundschaft, wie es sie anderswo selten gibt. Und noch etwas will ich Ihnen ans Herz legen: Wir arbeiten immer in Teams zusammen. Ich kann ruhig behaupten: Kein einziges Verbrechen, sei es noch so schwer und kompliziert, ist von einem einzelnen aufgeklärt worden - mag jeder einzelne auch noch so fähig sein. Und was die Abenteuer anbelangt - sagen wir im Stile eines Sherlock Holmes -, das sind alles Märchen! Natürlich sehr spannend, talentiert geschrieben, mit Elementen der Wahrheit gewürzt - aber doch eben erfundene Märchen. Nun sehen Sie, ich bin schon wieder in einen Redeschwall geraten.«
Silantjew winkte ärgerlich mit der Hand und warf einen Blick auf die Uhr. »Ich liebe diese Arbeit bei der MUR. Mit einem Wort«, schloss er und erhob sich dabei, »ich beglückwünsche Sie, Genosse Korschunow, zu Ihrem Eintritt in unsere Familie und wünsche Ihnen von ganzem Herzen Erfolg!«
Sergej verließ Silantjews Arbeitszimmer, erfüllt von ungewohnten und starken Eindrücken. Er setzte sich auf eine der Bänke im Korridor, um seine Gedanken zu sammeln und sich zu beruhigen.
Zweites Kapitel: Ein schwieriger Fall
Es dämmerte.
Die Korridore der MUR waren leer geworden.
Durch die offenen Fenster drang die Kühle ein. Sergej saß hinter seinem Tisch und las in einem Buch. Entweder hatte er ein langweiliges Buch erwischt, oder aber der unaufhörliche, belastende Alltagskram, der für ihn neu war, ließ keine richtige Konzentration der Gedanken zu - jedenfalls kam Sergej mit seiner Lektüre nicht recht voran.
Am Tisch gegenüber saß Kostja Garanin über ein Schachbrett gebeugt und bewegte die Figuren, während er in das aufgeschlagene Fachbuch sah.
Sergej hatte sich mit Garanin ziemlich schnell angefreundet, obwohl sie völlig gegensätzliche Charaktere waren. Garanin, einen ernsthaften und wortkargen Menschen, konnte nichts auf der Welt aus der Ruhe bringen. Mit einem leichten, gutmütigen Lächeln hörte er die hastig vorgetragenen Ansichten des temperamentvollen und schnell begeisterungsfähigen Sergej an. Garanin war vier Jahre älter als Sergej. Im Ural geboren, hatte er zunächst die Abendschule in Moskau absolviert, während er tagsüber in einem Metallwerk arbeitete. Den Krieg machte Kostja Garanin bei einer Panzereinheit mit, und er war davon überzeugt, dass es für ihn, einen Metallarbeiter, an der Front keinen geeigneteren Platz hätte geben können. Als er ein Jahr nach Kriegsende nach Moskau zurückkehrte, wollte er wieder seine frühere Arbeit aufnehmen; doch man entschied anders über ihn - und so kam Garanin in das Fahndungsdezernat der Moskauer Kriminalpolizei.
Kostja hatte schon immer der Umgang mit belesenen, gebildeten Menschen angezogen. Das war auch der Grund, weshalb er sich so rasch mit Sergej Korschunow anfreundete. Die beiderseitige Leidenschaft für Bücher und Schachspiel festigte diese Freundschaft schnell. Heute hatte Sergej bereits zum drittenmal Nachtdienst, und immer wartete er mit einem Gefühl voller Unruhe und Diensteifer auf ein außergewöhnliches Ereignis, um endlich bei einer richtigen Sache seine Fähigkeiten als Spürhund beweisen zu können. Und jedes Mal sagte Sergej zu sich selbst, dass in einer solchen Riesenstadt wie Moskau im Laufe einer Nacht mindestens ein ernsthafter Fall passieren müsste. Selbstverständlich! Aber die Nacht ging zu Ende, und die Einsätze der diensttuenden Kriminalisten der MUR beschränkten sich auf die Untersuchung irgendeines Überfalls oder auf die Vernehmungen von kleinen Gaunern, die bei Einbrüchen geschnappt worden waren.
Solche Fälle blieben zur Erledigung gewöhnlich bei den jeweils zuständigen Polizeirevieren. Die MUR beschäftigte sich nicht damit.
»Einen besseren Anfang für Weiß als Damengambit gibt es nicht«, erklärte Kostja, wobei er seinen breiten Rücken gegen die Lehne des Stuhles presste und seine langen Beine weit ausstreckte. Dies schien Kostja Garanin ziemliches Behagen zu verursachen. Dann blickte er auf die Uhr, erhob sich und zog seine Jacke an:
»Ich gehe mal in die Kantine und hole mir eine Flasche Wasser; denn in einer halben Stunde machen die zu. Hast du Hunger? Dann bringe ich ein paar belegte Brote mit.«
Sergej wollte noch etwas antworten, aber im gleichen Augenblick läutete das Telefon. Hausapparat! - dachten beide. Das bedeutete, dass etwas Ernsthaftes vorgefallen sein musste. Garanin als der Dienstältere nahm den Hörer ab, und bereits nach wenigen Sekunden begriff Sergej nach Garanins Gesichtsausdruck, dass ein Verbrechen, und zwar ein schweres, geschehen war. Ohne das Ende des Anrufes abzuwarten - der nur aus knappen Sätzen bestand -, sprang Sergej von seinem Platz auf, schlüpfte in den Rock und öffnete schnell die Tischschublade. Dort lagen die Stablampe und das Vergrößerungsglas bereit. Kostja Garanin beendete das Gespräch und eilte zur Tür. Im Gehen sagte er: »Raubmord in unserem Bezirk. Los, fahren wir...!«
Der große Wagen, dessen Sirene immer wieder laut aufheulte, raste durch die belebten, hellerleuchteten Straßen. Die gesamte diensthabende Gruppe fuhr mit: einige Kriminalisten, der Arzt, ein Experte der wissenschaftlich-technischen Abteilung, ein Fotograf und ein Hundeführer. Alle waren konzentriert und schweigsam, nur die glimmenden Zigaretten flammten in der Dunkelheit auf, und die Brillengläser des Arztes funkelten. Wie bei einem Kampfeinsatz an der Front, dachte Sergej, und mechanisch tastete er nach dem Griff der Pistole, am Gürtel - unter dem Rock.
Die Einsatzgruppe der MUR traf zwanzig Minuten, nachdem der Wohnungsinhaber nach Hause gekommen war und - vom Anblick des Entsetzlichen erschüttert - sofort die Polizei angerufen hatte, am Tatort ein.
Die Beamten des Polizeireviers hatten bereits Maßnahmen getroffen, dass alle Gegenstände am Ort des Verbrechens unberührt blieben. Ein großer, breitschultriger, alter Mann mit Brille, der einen dunkelblauen Anzug trug und eine graue Borstenfrisur hatte, lief in der Wohnung aufgeregt hin und her. Ein blondes Mädchen in einem bunten Kleid redete beruhigend auf ihn ein. Die Augen des Alten, der Amosow hieß, waren von Tränen gerötet. Das Mädchen sah ängstlich um sich, seine Wangen glühten. Von der Diele aus konnte man in die Küche sehen. Eine andere offene Tür führte ins Esszimmer.
In diesem Raum, inmitten von umgestürzten Gegenständen, lag die Leiche eines ermordeten Mädchens.
Fünf Minuten später erschien Major Sotow. In seiner abgehackten Sprechweise erteilte er Sergej Anweisungen:
»An die Arbeit, Korschunow...! Nehmen Sie ein Protokoll über die Untersuchung des Esszimmers auf! Ich werde es dann überprüfen! Beachten Sie, dass wir im Augenblick noch gar nichts wissen. Jede Kleinigkeit kann von entscheidender Bedeutung sein! Versuchen Sie, die Einzelheiten miteinander zu verbinden, und versuchen Sie, zu Schlussfolgerungen zu kommen!«
Da saß nun Sergej vor einem unbeschriebenen Bogen Papier, überlegte angespannt, wie er folgerichtig, detailliert und genau, gleichzeitig aber in knappster Form, dieses Chaos erfassen könnte, so festhalten, dass jeder, der das Protokoll in die Hand bekam, leicht und richtig die Situation des Tatorts gedanklich zu rekonstruieren vermochte. Es schien Sergej, dass in diesem fremden, geheimnisvollen Raum, den er ebenso aufmerksam untersucht hatte, alle Gegenstände die noch nicht aufgeklärten Spuren des Verbrechens verbargen. Ja, allein Sergejs Anwesenheit in einer solchen Situation war etwas so Neues und Ungewöhnliches für ihn, dass es ihm vorkam, als ob er sich selbst von der Seite beobachtete und sich darüber wunderte. Die ruhige, geschäftige Tätigkeit des Fotografen und die ebenso alltäglichen Hantierungen des Arztes, die sich beide ohne Zögern an die Arbeit begaben, versetzten ihn in Erstaunen. Er sah, dass die Tote einen Morgenrock anhatte und dass das Bettzeug auf dem Diwan in Unordnung war. - Der Mord geschah noch am Morgen, dachte Sergej. Er versuchte, die anderen Fakten miteinander in Beziehung zu bringen, aber er kam zu keinem konkreten Ergebnis. Es ist doch nicht so einfach, dachte Sergej.
Der alte Amosow kam in das Zimmer, schüchtern und von der Seite. An der Tür blieb er stehen, die Hände hingen kraftlos herunter. Sergej bemerkte seinen gequälten und abwesenden Blick, mit dem er auf die Tote sah, und erriet: Das ist seine Tochter!
Jemand berührte Amosow an der Schulter, sagte dabei: »Entschuldigen Sie!«, und schob ihn sanft aus der Tür. Es war Kostja. Er trat zu Sergej, beugte sich vor und flüsterte ihm direkt ins Ohr:
»Oberst Sandler persönlich ist gekommen. Er vernimmt das Mädchen. Und wie sieht es bei dir aus?«
»Gleich bin ich fertig.«
In diesem Augenblick sahen sie, wie Amosow sich plötzlich herumdrehte und, mit dem Gesicht an die Wand gelehnt, dumpf zu schluchzen begann.
Sergej bemerkte mit fast schmerzender Deutlichkeit den hohen, ein wenig gekrümmten Rücken des alten Mannes und spürte, wie ihm der Federhalter in den krampfhaft zusammengepressten Fingern zitterte. Es lief ihm kalt über den Rücken. Über sich hörte Sergej Kostjas unregelmäßige Atemzüge. Und außerdem fühlte Sergej eine seit den Tagen des Krieges schon fast vergessene Aufwallung des Zornes in seinem Inneren: Welche Bestie hat ein solches Verbrechen begehen können?
Einer der Kriminalisten schaute zur Tür herein. »Sandler verlangt das Untersuchungsprotokoll über den Tatort. Bring es ihm in das Zimmer gegenüber!«
Sergej beendete hastig seine Arbeit.
Bei der Übergabe des Protokolls an Sandler zögerte er einen Augenblick und hörte auf die Vernehmung des Mädchens. Auf die gestellten Fragen antwortete sie mit überbetonter Aufrichtigkeit, doch mit weinerlicher Stimme, und Sergej fing einige Male den unruhigen Blick der großen blauen Augen auf. In diesen Augen glaubte er etwas zu bemerken: als ob das Mädchen auf der Hut sei und irgendetwas verbergen wolle. Die Augen fragten: Seid ihr dahintergekommen oder nicht? Wenn ihr bloß nicht dahinterkommt!
Gegen vier Uhr nachts verließ die Einsatzgruppe den Tatort. Eine halbe Stunde später wurde im Arbeitszimmer Sandlers eine Besprechung abgehalten.
»Kollegen, wir wollen die ersten Ergebnisse zusammenfassen«, begann Sandler gedämpft zu sprechen. »Die Untersuchung hat folgendes Bild ergeben: Gegen zehn Uhr abends kehrte der Werkmeister Nikanor Iwanowitsch Amosow in seine Wohnung zurück. Im Hauseingang begegnete er seiner Nichte Valentina Michailowna Amosowa, die früher mit ihm im gleichen Werk gearbeitet hat. Im Frühjahr schickte man sie zum Holzfällen nach Sagorsk. Sie besucht gewöhnlich ihren Onkel am Sonnabend, um den Sonntag im Kreise seiner Familie zu verbringen. Diesmal aber kam sie aus irgendeinem Grunde schon am Freitag. Die Nichte erzählte Amosow, dass sie bereits seit dem Morgen hier warte und läute, aber niemand öffne. Zweimal im Laufe des Tages wäre außerdem eine Bekannte der Familie Amosow gekommen. Wie hieß sie doch gleich?«
»Tamara Abramowna Golikowa«, sagte Sotow.
»Stimmt. Die Golikowa hat also ebenfalls an der Wohnungstür geläutet, und auch diesmal wurde nicht geöffnet. Der beunruhigte Amosow stieg die Treppe hinauf, öffnete mit seinem Schlüssel die Tür und fand seine Tochter, die Ljuba Amosowa, ermordet vor. Die Wohnung war ausgeraubt. Die Zeit, in der das Verbrechen begangen wurde, lässt sich mit ziemlicher Genauigkeit feststellen - Freitagmorgen. Ljuba Amosowa war gerade aufgestanden und bereitete sich das Frühstück in der Küche. - Amosow sprach telefonisch gegen zehn Uhr morgens mit seiner Tochter; die Nichte Walja - ihren Worten nach - kam aus Sagorsk und läutete kurz nach elf Uhr vergeblich an der Wohnungstür. Die Golikowa - eine Stunde später. Weiterhin bestätigt der Sachverständige, dass die Verbrecher durch die Flurtür eingedrungen sind, wobei das Schloss nicht beschädigt und auch nicht mit Hilfe eines Dietrichs geöffnet wurde. Stimmt das, was ich sage?«
»Ganz recht, Genosse Oberst«, nickte der Sachverständige. »Die Spezialaufnahme beweist, dass im Innern des Schlosses keinerlei Beschädigungen vorhanden sind. Bei der Auseinandernahme konnten auch keine frischen Kratzspuren oder etwas Ähnliches festgestellt werden. Das Protokoll der Expertise liegt dem Akt bereits bei.«
»Daraus lässt sich folgern«, fuhr Sandler weiter, »dass die Ermordete die Tür selbst geöffnet hat. Aber die Amosowa pflegte niemals - wenn sie allein zu Hause war - Fremden die Türe zu öffnen. Daraus ergibt sich der erste wichtige Schluss: die Stimme hinter der Türe war ihr bekannt. Diese Vermutung wird durch eine andere Überlegung noch bestätigt: Eine solche Art des Verbrechens kann nicht ohne jemanden ausgeführt werden, der sich in den Gewohnheiten des Opfers genau auskennt. Irgendeiner musste auch wissen, was bei der Familie Amosow zu holen war, musste über die Familienverhältnisse und die Zeit, wann der Wohnungsinhaber abwesend ist, informiert sein. Die Täter haben außerdem mit in Rechnung gestellt, dass Frau Amosowa für eine Woche zu ihren Verwandten nach Kiew gefahren ist. Ich bitte, diesen Umstand besonders im Auge zu behalten. Ein zweites Moment, auf das besondere Aufmerksamkeit gelegt werden muss: Dem Mord folgte die Ausraubung der Wohnung Amosows. Es wurden viele wertvolle Sachen mitgenommen.«
»Sie haben sogar einen neuen Wintermantel der Nichte Amosows mitgehen lassen, der in der Diele hing«, warf jemand ein. »Die Nichte hat ausdrücklich gebeten, den Mantel in das Verzeichnis der gestohlenen Gegenstände aufzunehmen.«
»Das ist in Ordnung«, stimmte Sandler zu. »Jedenfalls konnten die Täter riskieren, am helllichten Tag die Koffer und Bündel auf die Straße zu schleppen. Demnach müssen sie alles mit einem Wagen abtransportiert haben. Mit einem Wagen«, sagte er mit Nachdruck und - sich plötzlich an Sergej wendend: »Ist Ihnen der Gang meiner Überlegungen klar, Korschunow? Nehmen Sie mir meine Frage nicht übel. Sie sind bei uns ein Neuling, und das ist Ihr erster großer Fall.«
Sergej erhob sich rasch von seinem Platz.
»Jawohl, Genosse Oberst. Alles ist klar.« Und nach einer Sekunde des Schweigens fügte er hinzu: »Wenn Sie gestatten, würde ich Ihnen gerne meine Ansicht vortragen, mir scheint, sie ist wesentlich.«
Bei diesen Worten zeigten die Mienen der Anwesenden ein vielsagendes Lächeln. Sotow hob verwundert die Augenbrauen. Einer der Kriminalisten, es war der mittelgroße, etwas gebrechlich aussehende Woronzow, neigte sich zu seinem Nachbarn und flüsterte abfällig: »So ein Naseweis. Er will sich bei der Obrigkeit einschmeicheln.« Sandler, der in der Regel voreilige Mutmaßungen nicht ausstehen konnte, nickte dieses Mal gutmütig mit dem Kopf:
»Legen Sie los, ich bin gespannt!«
Sergej fühlte, dass er unüberlegt gehandelt hatte, aber es war zu spät, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Auch ließ ihn der Gedanke nicht mehr in Ruhe und drängte zur Klärung. So leise wie nur möglich begann er: »Mir scheint die Nichte Valentina Amosowa nicht aufrichtig zu sein. Ihre Aussagen und ihr Verhalten verlangen nach einer Überprüfung.«
»Was ist deine Ansicht, Iwan Wassiljewitsch?«, wandte sich Sandler an Sotow.
Als Antwort zuckte Sotow die Schultern und erwiderte ohne Eile: »Wahrscheinlich hat er damit nicht Unrecht - aber das ist nicht das Wichtigste.«
»Wir müssen nur richtig zupacken und wir werden Erfolg haben!«, rief Sergej, »ich bin fest davon überzeugt.«
»Nun, jetzt wissen wir’s also«, brummte Woronzow leise und spöttisch, »so schnell haben wir bisher nie ein Verbrechen aufgeklärt.«
»Korschunow, Ihre bloßen Vermutungen sind im jetzigen Augenblick höchst gefährlich«, sagte Sandler streng, »jede Spur muss genauestens untersucht werden, darunter natürlich auch die Aussage der Valentina Amosowa.« Er wandte sich an Sotow: »Übertragen Sie ihm diese Aufgabe. Und um elf Uhr legen Sie mir den gemeinsamen Plan zur Aufklärung des Verbrechens vor. Das ist alles. Sie können gehen, Genossen!«
Am nächsten Tag bestellte Sergej Valentina Amosowa zur Vernehmung. Er bereitete sich sorgfältig auf seine erste Vernehmung vor, überlegte sich die Fragen, die er stellen musste, und zwar so folgerichtig, dass sich eine Frage aus der anderen ergab und doch die damit bezweckten Absichten verschleiert blieben, wobei das Geschehen immer von neuen Seiten beleuchtet wurde - mit einem Wort, dass es der Täterin nicht mehr möglich war, irgendetwas zu verbergen. Daran, dass die Amosowa eine Verbrecherin war, bestanden bei Sergej fast keine Zweifel. Er träumte davon, sie sofort zu überführen, sie mit seinen Fragen in eine ausweglose Enge zu treiben.
Aber trotzdem: Es war seine erste Vernehmung, der erste Zweikampf, in dem sein Wille, sein Verstand und seine Findigkeit eine ernsthafte und ganz ungewohnte Prüfung bestehen mussten. Er hatte also Grund, aufgeregt zu sein.
Zunächst zeigte sich die Amosowa unsicher, obwohl sie eilig und mit einem Schwall von Worten ihre Antworten gab. Ihr blondes Köpfchen geneigt, blickte sie bei jeder Gelegenheit Sergej in die Augen, als wollte sie seine Reaktion auf ihre Worte kontrollieren und bei ihm Mitleid suchen.
Sergej stellte seine Fragen in abgehacktem Ton und begegnete ihr mit einem stechenden, misstrauischen Blick. Er spürte die versteckten Lügen in ihren Worten, aber es gelang ihm nicht, sie einzukreisen. Von seinem ausgeklügelten Verhörsystem blieb ein rein formelles, oberflächliches Fragespiel übrig, und die Hoffnung, das Mädchen zu überführen, schwand mit jeder Minute.
Doch Sergej wollte seine Niederlage nicht erkennen. Er war bereit, loszubrüllen, sie dadurch zu zwingen, die Wahrheit zu bekennen. Doch der aufsteigende Zorn störte ihn beim Denken, hinderte ihn, sie zu fassen und die einzelnen Angaben, die sie ihm lieferte, logisch miteinander zu verbinden.
Sergej verlor seine Initiative, verlor den Faden, das Konzept der Vernehmung, die Form seines Angriffs. Je mehr sich Sergej in Wut- und Nervosität steigerte, umso kläglicher und auch monotoner klang die Stimme des Mädchens, das ihm freundlich zulächelte.
Kostja Garanin, der am Tisch gegenüber saß und ganz vertieft in eine Schreibarbeit war, hob schließlich den Kopf, sah Sergej eindringlich an und sagte:
»Genosse Korschunow, bitten Sie die Bürgerin, auf dem Korridor zu warten, ich muss Sie etwas fragen.«
Valentina stand auf, glättete ihr Kleid, seufzte erleichtert auf und ging hinaus. Als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, sagte Garanin: »Sergej, du führst die Vernehmung nicht richtig. Erinnerst du dich, was dir Sandler gesagt hat? Du siehst von vornherein in ihr eine Verbrecherin. Das darfst du aber nicht! Und noch etwas: Du musst die Menschen für dich einnehmen, Vertrauen zu dir erwecken - stattdessen starrst du sie an wie ein kampflustiger Truthahn.«
»Und wenn sie lügt?«, rief Sergej empört, »und mir dabei noch schöne Augen hindreht? Soll ich mir von ihr auf der Nase herumtanzen lassen, wie?«
»Ja, unter Umständen musst du dir auch das gefallen lassen«, sagte Garanin bestimmt. »Erbringe zuerst den Beweis, dass sie lügt! Mach für heute Schluss. Das nächste Mal wirst du klüger sein!«
Kostja vertiefte sich wieder in seine Arbeit und gab damit zu verstehen, dass das Gespräch beendet war. Sergej wollte den Streit gerne fortsetzen, aber, obwohl es ihn Anstrengung kostete, er hielt sich zurück. Nach einer Stunde betrat Sergej mit dem Vernehmungsprotokoll das Arbeitszimmer von Major Sotow. Dieser hörte aufmerksam seinem Vortrag zu, las das Protokoll durch und meinte nachdenklich: »Sagen wir es offen: Die Vernehmung ist misslungen. Aber einige Anhaltspunkte sind vorhanden. Hören Sie zu: Stellen Sie einen Arbeitsplan für Ihre Version auf. Führen Sie alle Maßnahmen genau durch.«
»Der Plan ist bereits fertig, Genosse Major«, antwortete Sergej hastig und legte ein beschriebenes Blatt Papier auf den Tisch. »Garanin hat mich dabei unterstützt.«
»Garanin? Sehr gut«, nickte Sotow, »lassen Sie uns den Plan gemeinsam durchgehen.«
Er wischte langsam mit dem Taschentuch über den glattrasierten, schweißglänzenden Kopf, holte eine Zigarette hervor, kniff zweimal das Mundstück ein und begann mit Genuss zu rauchen. Dann strich er auf einem Zettel die Ziffer 4 aus, seufzte und schrieb 5. Der Abteilungsleiter führte nämlich genau Buch über die jeden Tag gerauchten Zigaretten.
Nachdem er mit Sergej den Plan in allen Einzelheiten durchgesprochen hatte, äußerte sich Major Sotow zufrieden:
»Das wäre soweit in Ordnung. Führen Sie den Plan aus. Das ist Ihr erster Fall, den Sie selbständig bearbeiten. Bemühen Sie sich, objektiv und besonnen zu sein. Verlassen Sie sich nicht auf die Aussagen weniger Personen, sondern versuchen Sie, so viele wie möglich heranzuziehen. Manche Personen sind mitunter voreingenommen, denken Sie immer daran. Nun, ich wünsche Ihnen Erfolg!«
Major Sotow stand auf, drückte Sergej die Hand, und auf seinem breiten, pockennarbigen Gesicht kam ein gutes, beinahe väterliches Lächeln auf. Sergej dachte in diesem Augenblick daran, dass diesem ehemaligen Bergarbeiter der Sohn im Krieg gefallen war, und während Sotow Sergejs Hand drückte, ging es dem Major durch den Kopf: Eigentlich ein brauchbarer Junge! Irgendwie hat er eine Ähnlichkeit mit meinem Ljoschka. Nur hat er blaue Augen, ein dunkles Gesicht und schwarzes Haar. Für einen Mann ist er beinahe zu schön. Dadurch kann er leicht auffallen.
Spät am Montagabend kehrte Sergej aus Sagorsk zurück.
Am nächsten Tag fiel Garanin das strahlende Gesicht Sergejs auf, wenngleich dieser mit betonter Bescheidenheit an seinem Tisch saß und in den Akten blätterte.
Kostja sah seinen Freund misstrauisch an und fragte: »Nun, wie war die Reise? Du machst mir ein zu zufriedenes Gesicht.«
»Nicht ohne Grund«, erwiderte Sergej in rätselhaftem Ton. »Sag mir, ist Sotow schon im Hause?«
»Was willst du von ihm?«
»Ich werde ihn um einen Haftbefehl gegen Valentina Amosowa bitten«, erklärte Sergej wichtigtuerisch.
»Was?«, staunte Kostja.
»Oh, der legt sich aber mächtig ins Zeug!«, warf Sascha Lobanow mit gutgespielter Begeisterung dazwischen. Er arbeitete in der gleichen Abteilung und war als Spaßvogel und Witzbold bekannt. In der Armee früher hatte er es bis zum Sergeanten gebracht. »Da könnte sich selbst Sherlock Holmes eine große Scheibe abschneiden«, fuhr er im gleichen Ton fort. »In zwei Tagen, allein durch die Scharfsichtigkeit seines Verstandes und nach dem Genuss eines Dutzends vollgestopfter Pfeifen, klärt Sergej Korschunow auf einer geheimnisvollen Reise eines der undurchsichtigen Verbrechen unserer Zeit auf. Genossen, das könnt ihr euch hinter die Ohren schreiben, wie man...«
»Sascha, red keinen Unsinn«, unterbrach ihn Garanin, wandte sich an Sergej und sagte erbost: »Komm, gehen wir zum Chef!«
Major Sotow empfing sie kühl: »Berichten Sie mir die Ergebnisse der ersten beiden Tage! Fangen Sie an, Garanin. Wie weit sind die Untersuchungen am Tatort gediehen?«
Kostjas finsteres Gesicht belebte sich.
»Wir sind um einiges weitergekommen, Genosse Major. Am Sonnabend habe ich die ersten Augenzeugen gefunden. Ich ging davon aus, dass die Verbrecher mit einem Wagen vorfuhren. Die
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Arkadij Adamow/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx (Model: Victoria Borodinova).
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Valerian P. Lebedew (OT: Разноцветная банда Москвы).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 05.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8487-6
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