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Leseprobe

 

 

 

 

ARKADIJ ADAMOW

 

 

Kreise auf dem Wasser

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

KREISE AUF DEM WASSER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Shenja Lutschinin, Direktor des Okladinsker Elektrodenwerkes, ist tot. Selbstmord - so konstatiert die örtliche Miliz und legt den Fall ad acta.

Doch da tauchen plötzlich Zweifel an diesem Selbstmord auf, Briefe gehen bei der Miliz ein. Ehemalige Klassenkameraden Lutschinins wenden sich sogar an das Ministerium in Moskau, den Fall erneut untersuchen zu lassen. Dieser Eingabe wird stattgegeben. Vitali Lossew - übrigens ein Schulfreund Lutschinins, der schon gar nicht an Selbstmord glauben kann - sowie Igor Otkalenko von der Moskauer Kriminalmiliz fahren nach Okladinsk, um sich an Ort und Stelle ein Urteil zu bilden.

Der Empfang durch den Untersuchungsführer fällt jedoch kühl und reserviert aus...

 

Der Roman Kreise auf dem Wasser des sowjetischen Schriftstellers Arkadij Adamow (* 13. Juni 1920; † 26. Juni 1991) erschien erstmals im Jahr 1970; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1981.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  KREISE AUF DEM WASSER

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

 

Ein alter Freund ruft an

 

 

»Genossen Lossew, bitte.«

»Am Apparat. Ich hört.«

»Vitali?«

»Ja.«

»Na, endlich! Das ist die dritte Nummer, die ich wähle. Hier ist Stepan - Krakowitsch. Grüß dich!«

»Stepan! Na, so eine Überraschung! Was treibst du denn so? Warum warst du im Februar nicht in der Schule?«

»Damals war ich unterwegs. Aber ich rufe nicht an, um mich zu rechtfertigen. Ich muss dir was erzählen. Damit kann ich nicht mal bis zum Abend warten.«

»Ich weiß. Du bist eine dynamische Natur.«

»Spar dir deine Witze. Hör erst mal zu. Erinnerst du dich an Shenja Lutschinin?«

»Natürlich! Allerdings hat er lange nicht mehr geschrieben. Er ist jetzt in Okladinsk. Als Werkdirektor.«

»Also... Shenja lebt nicht mehr.

»Was sagst du da?«

»Ja, er hat sich das Leben genommen.«

»Waaas? Das kann doch nicht sein!«

»Ich glaube es auch nicht.«

»Das ist auch völlig unglaublich. Dass Shenja...«

»Na eben. Hör zu, Vitali. Ich habe schon mit den anderen gesprochen. Selbstmord ist völlig ausgeschlossen! Was aber dann? Bleibt nur noch Mord. Oder? Die dafür Zuständigen aber... Mit einem Wort; sie haben den Fall einfach zu den Akten gelegt.«

»Ist dir klar, was du da sagst?«

»Na, gut. Dann sind sie der Sache eben nicht gründlich genug nachgegangen. Shenja kann sich nicht umgebracht haben. Das gibt es nicht!«

»Hm, ist natürlich auch wahr.«

»Also, hör zu. Die Jungs bauen auf dich. Verstehst du?«

»Was kann ich dabei tun? Ich sitze hier in Moskau. Man müsste...«

»Spielt keine Rolle! Du hast Shenja gekannt! Mit einem Wort, bleib heute Abend zu Hause. Ich komme bei dir vorbei.« Vitali legte auf und blickte sich, ohne die Hand vom Hörer zu lösen, geistesabwesend in dem bis in alle Einzelheiten bekannten Zimmer um. Alles befand sich an seinem gewohnten Platz -. Igors leerer Schreibtisch ihm gegenüber, der Panzerschrank in der Ecke, die Stühle und die alte Couch -, alles war wie immer, nichts hatte sich verändert. Shenja Lutschinin aber lebte nicht mehr... Wann hatten sie einander zum letzten Mal gesehen? Vor mehr als einem Jahr. Damals war Shenja auf der Durchreise in Moskau. Er fuhr aus Leningrad in jenes Okladinsk. Überhaupt hatten sie sich nach Abschluss der Schule selten getroffen. Nur Briefe waren hin- und hergegangen. Aber was für Briefe! Aus ihnen sprach Shenjas ganzes, unbezähmbares Wesen. Ihre alte Freundschaft rostete nicht. Und doch lebte Shenja, so seltsam es auch sein mochte, in Vitalis Erinnerung nur so, wie er ihn damals, zur Schulzeit, gekannt hatte. Als rotwangiges, kräftiges Kerlchen in einer abgewetzten dunkelblauen Jacke mit dem Komsomolabzeichen daran, als draufgängerischen, streitsüchtigen Burschen mit tintenbeklecksten Fingern - der ganzen Klasse, besonders den Mädchen, reparierte Shenja während der Pausen und sogar im Unterricht die Füllfederhalter. Shenja meldete sich als erster im Motorclub an, was ihm fast die ganze Klasse nachmachte. Er verfasste jenes berühmte Feuilleton für die Wandzeitung, dessentwegen sie alle zum Direktor bestellt wurden. Und wäre nicht Vera Afanassjewna gewesen... Er, Shenja, pflanzte den ersten Baum im Schulgarten, und seinem Beispiel folgte die gesamte Klasse. Wie waren sie damals nach diesen Setzlingen herumgelaufen, wieviel Aufregung hatte es um sie gegeben! Dafür existierte in ihrem Schulgarten jetzt jene berühmte »Allee der 9b«, und jede neue 9b fühlte sich für diese Allee verantwortlich, während sie, die Alten, die sie einst angelegt hatten, jedes Jahr im Februar bei ihrem traditionellen Klassentreffen gemeinsam mit den Schülern der jeweiligen neuen 9b gemächlich, jeden Baum kritisch begutachtend, diese Allee abschritten. Nach Abschluss der Schule war jeder seine eigenen Wege gegangen. Vitali ließ sich an der Juristischen Fakultät immatrikulieren, Shenja an einer Technischen Hochschule. Und das nicht einmal in Moskau. Da sein Vater nach Leningrad versetzt wurde, ging auch er dorthin.

Vitali löste mit einem Ruck die Hand vom Hörer. Was, zum Teufel, ist mit Shenja Lutschinin passiert? Wie konnte er so etwas tun? Die Genossen in Okladinsk müssen sich geirrt haben. Obwohl andererseits... Aber Stepan kennt wahrscheinlich die näheren Einzelheiten. Am Abend wird er ihm alles erzählen. Ach Gott! Abends wollte er mit Sweta... Wie wäre es, wenn... Sie ist zwar schrecklich schüchtern, aber in so einem Fall...

Vitali griff noch einmal zum Telefonhörer und wählte.

»Ist Swetlana Borissowna... Sweta? - Ja, ich bin’s. Weißt du, was... Nein, nein, das nicht! Kommst du heute Abend mit zu mir? Ich hole dich ab... Wieso überraschend? Das hatten wir schließlich schon lange mal vor. Außerdem gibt es heute einen besonderen Grund. Einer unserer Jungs, ein Schulfreund... Mit einem Wort, es ist ein Unglück passiert... Nein, nein! Du bist nicht überflüssig! Wie könntest du überflüssig sein?«

In diesem Augenblick ging die Tür auf. Igor Otkalenko kam herein. Er sah besorgt aus.

Igor schielte zu dem Freund hinüber und grinste. Als Vitali sein Gespräch beendet hatte, fragte Igor: »Hast du den Bericht geschrieben?«

»Ich mache ihn gleich fertig.« Vitali winkte ärgerlich ab. »Weißt du, was passiert ist... Einer unserer Schulkameraden... Verstehst du, er war ein so...«

»Hm«, meinte Igor skeptisch, nachdem er seinen Freund zu

Ende angehört hatte. »Möglich ist alles. Im Grunde genommen hast du ihn doch zehn Jahre lang nicht mehr gesehen.«

»Aber davor habe ich ihn zehn Jahre lang jeden Tag gesehen!«, entgegnete Vitali aufbrausend. »Zeit genug, jemanden kennenzulernen.«

»Das ist doch kindisch. Die Menschen ändern sich.«

»Aber nicht so! Keiner entwickelt sich zu seinem direkten Gegenteil. Wenn nicht gerade etwas ganz Außergewöhnliches passiert. Shenja aber hat die Hochschule absolviert und ist Ingenieur geworden. Mit achtundzwanzig Werkdirektor!«

»Na, gleich Direktor...« Igor schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich kann mir vorstellen, was für ein Werk das ist.«

»Ist doch unwichtig! Ich rede von was ganz anderem!«

»Ist mir ja völlig klar. Aber man muss die Sache nüchtern betrachten und sich die Fakten vor Augen halten!« Diesen erzieherischen Ton konnte Vitali an Igor nicht ausstehen. »Das, was du erzählt hast, ist nur die äußere Seite. Was aber hat der Mensch in all diesen Jahren erlebt? Vielleicht ist er zu einem Karrieristen geworden? Oder zu einem Neurastheniker?«

»Bei dir kann man auch zum Neurastheniker werden«, bemerkte Vitali bissig.

»Vielleicht ist er an einen noch schlimmeren Chef geraten.« Darauf sagte Vitali äußerlich völlig ruhig und mit ungewöhnlicher Bestimmtheit: »Na, gut. Heute Abend bei mir. Abgemacht?«

 

Die beiden waren wirklich grundverschieden. Das fing schon mit dem Äußeren an. Vitali Lossew war eine große, elegante Erscheinung, er trug stets und ständig ein weißes Hemd mit einer gerade aktuellen Krawatte, helle, enganliegende Hosen und modische, blitzblank geputzte Schuhe. Sein blondes Haar war sorgfältig zurückgekämmt, und die grauen Augen schauten unbekümmert-heiter und verwegen aus dem schmalen Gesicht. Ein flotter Bursche. Sportlich. Und absolut modern. Das war unbestreitbar.

Igor Otkalenko dagegen war mittelgroß und breitschultrig, trug das dunkle, bis obenhin zugeknöpfte Hemd ohne Krawatte, einen dunkelblauen Anzug von der Stange und hatte ein breites, unbewegliches Gesicht mit dem schweren Kinn eines Boxers und einer leicht plattgedrückten Nase. Sein schwarzes Haar war kurzgeschoren, und die Augen hatten einen aufmerksamen, klugen und besorgten Ausdruck.

Auch in ihrem Wesen glichen sich die beiden nicht - hier trat der Unterschied sogar noch krasser zutage. Einmal debattierten die beiden Freunde darüber, welchen Charakter ein Kriminalist haben sollte. Vitali, dessen Universitätswissen um volle fünf Jahre »frischer« war, berief sich auf anerkannte Autoritäten und zitierte lang und breit einen ausländischen Autor. Dessen Gedanken liefen darauf hinaus, dass bei einer so komplizierten und gefährlichen Lebensweise cholerische und melancholische Temperamente absolut fehl am Platze seien. Dabei ließ Vitali durchblicken, dass sein Opponent eben unter diese Kategorie falle. Wenn er schon kein Choleriker sei, so doch ganz bestimmt ein Melancholiker.

Ungerührt wie immer, ließ Igor fallen, dass er dazu neige, sich zu den Cholerikern zu zählen, denn Sherlock Holmes liege ihm mehr als etwa der Melancholiker Dupin. Und diesen eigentümlichen literarisch-psychologischen Exkurs fortsetzend, fügte er hinzu, dass der Sanguiniker Hercule Poirot, dem sich offensichtlich Vitali verbunden fühle, in ihm, Igor, fast so etwas wie Widerwillen hervorrufe. Dann möge Vitali schon lieber zu einem Phlegmatiker werden wie Pater Brown.

Kurz gesagt, die beiden Freunde waren sich- über die Unterschiedlichkeit ihres Naturells im Klaren, und so seltsam dies auch klingen mag, sie hatten daran nichts auszusetzen. Mehr noch - sie betrachteten das für ihre Arbeit als sehr nützlich. Dieser Umstand erklärte sich wahrscheinlich in nicht geringem Maße auch dadurch, dass Fjodor Kusmitsch Zwetkow, ihr direkter Vorgesetzter, derselben Ansicht war.

Kam es beispielsweise darauf an, einen Tatort aufzusuchen oder eine besonders komplizierte Durchsuchung vorzunehmen, bei der es galt, geschickt angelegte Verstecke oder unauffällige, für die Aufklärung des Falles aber wichtige Indizien zu entdecken, so nahm Fjodor Kusmitsch unbedingt Igor Otkalenko und natürlich auch Vitali mit, allerdings, wie es diesem vorkam, mehr aus pädagogischen Erwägungen, denn Igors scharfer, durchdringender Blick nahm vieles wahr, was Vitali in seinem Ungestüm unweigerlich übersah. Und jedes Mal schmierte Fjodor Kusmitsch, wie Vitali sich ausdrückte, ihm dies aufs Butterbrot.

Stand jedoch ein schwieriges Verhör, besonders das eines jungen Mannes oder eines jungen Mädchens, bevor, so war Fjodor Kusmitsch stets bemüht, Vitali Lossew damit zu beauftragen. Denn sobald es darum ging, den so schwer greifbaren inneren Kontakt zu einem anderen Menschen herzustellen oder den Schlüssel zu einer scheuen, misstrauischen oder verschreckten fremden Seele zu finden, so wählte Vitali, unabhängig davon, ob es sich um einen Verdächtigen öder einfach um einen Zeugen handelte, gewöhnlich den einzig richtigen, direkten Weg.

Mit einem Wort, die Freunde waren grundverschieden, und nicht nur sie allein hatten das bemerkt.

 

Der Arbeitstag nahm seinen gewohnten Verlauf. Obwohl Vitali das morgendliche Gespräch mit Stepan Krakowitsch nicht aus dem Kopf ging, schrieb er den Bericht über den endlich aufgeklärten Apothekendiebstahl zu Ende, und Zwetkow unterschrieb ihn, ohne sonderlich daran herumzukritteln. Anschließend hatte Vitali ein paar wichtige Begegnungen, bei denen er interessante Informationen über Lenka, den »Stier«, erhielt, der sie schon länger beschäftigte und der in letzter Zeit mit seinen Kumpanen üppige Saufgelage abhielt, ohne dass man wusste, woher das Geld dafür stammte. Fjodor Kusmitsch hörte seinen Bericht aufmerksam an. Und obwohl Vitali wie immer lebhaft und mit Feuer redete und hin und wieder sogar mit seinem Chef polemisierte und ihm widersprach, warf Zwetkow ihm plötzlich einen scharfen Blick zu und fragte wie nebenbei: »Ist was - du bist so aufgeregt?«

»Nein, nein, das kommt Ihnen nur so vor«, entgegnete Vitali hastig.

»Na, dann rück mal deinen Schlips gerade«, meinte Zwetkow schmunzelnd.

Sichtlich verlegen und ärgerlich griff Vitali zerstreut nach seinem Schlips. Gleich darauf prüfte er noch einmal, schon unbewusst, dessen Sitz. Das fehlte ihm gerade noch! Gewöhnlich machte sich nur Igor auf diese Weise über ihn lustig. Jetzt aber fing auch noch Fjodor Kusmitsch damit an.

Am späten Nachmittag wurde ihm die Laune endgültig verdorben. Erstens teilte Sweta ihm mit, dass liebe Verwandte aus Woronesh eingetroffen seien und sie nicht kommen könne. Zweitens verschwand Igor. Fjodor Kusmitsch schickte ihn kurzfristig irgendwohin. Igor konnte Vitali gerade noch ein Rezept zustecken und ihn bitten, die verordneten Medikamente abzuholen. Für Dimka natürlich. Das war doch kein normaler Vater mehr! Alia hatte ihn schon richtig angesteckt. Der Junge brauchte nur einmal zu niesen, und schon verloren die beiden den Kopf.

Sweta mit ihren Verwandten, das Verschwinden Igors, dieses Rezept und Fjodor Kusmitschs spöttischer Ton - all das überlagerte jetzt jene Hauptsache, Krakowitschs Mitteilung, jenes Unbegreifliche und Schreckliche, das in dem fernen, unbekannten Okladinsk mit Shenja Lutschinin passiert war.

...Als Vitali endlich nach Hause kam, war es schon fast neun Uhr abends. Aus dem Wohnzimmer drangen Stimmen. An der Garderobe entdeckte Vitali sofort Stepans dunkelblauen Aeroflot-Mantel. Der Mantel des Vaters fehlte. Wieder mal eine Konferenz. Wie viele Abende hatten sie einander schon nicht mehr gesehen! Obwohl Vitali abends gewöhnlich selbst unterwegs war! Aber nicht mit irgendwem, sondern mit Sweta. Oder natürlich dienstlich.

Er hängte seinen Mantel auf, rückte vor dem Spiegel mechanisch seinen Schlips zurecht, glättete sein Haar und betrat das Wohnzimmer.

Der dicke, glattrasierte Stepan, dessen Wangen bläulich schimmerten, erhob sich bei Vitalis Anblick schwerfällig und breitete lächelnd die kurzen Arm& aus. »Komm her, altes Haus, wie lange haben wir uns nicht gesehen! Wie lange...!«

Gerührt sah die Mutter zu, wie die beiden einander umarmten. Dann sagte sie: »Geh dir die Hände waschen und setz dich zu Tisch. Bist doch bestimmt hungrig?« Und an Stepan gewandt, fügte sie hinzu: »Jetzt wird er sich vor dem Zubettgehen noch den Magen überladen. Wenn Sie wüssten, wie schädlich das ist. Dass der Mensch sich selbst die Gesundheit so ruinieren muss. Es ist zum Verzweifeln!«

»Da haben Sie nur zu recht, Jelena Georgiewna«, stimmte Stepan mit schallender Stimme zu. »Aber die Gesundheit dieses jungen Mannes reicht für zwei.«

»Ja, ja, das sagen wir immer, bis es eines Tages zu spät ist. Ach ja!« Jelena Georgiewna fiel plötzlich etwas ein. »Weißt du, wer angerufen hat?« Sie machte eine geheimnisvolle Pause. »Vera Afanassjewna! Es war mir schrecklich unangenehm, aber ich habe sie nicht gleich wiedererkannt.« Sie schlug bekümmert die Hände zusammen. »Auch sie rief wegen dieser schrecklichen Geschichte mit Shenja Lutschinin an. Stepan hat mir schon alles erzählt.«

»Ja, alter Junge, eine schreckliche Geschichte«, wiederholte Stepan finster und mit Nachdruck, während er sich wieder an den Tisch setzte. »Ich werde dir gleich alles erzählen, was wir in Erfahrung bringen konnten. Man kann die Sache nicht einfach so hinnehmen, zum Teufel.«

Stepan erzählte. Als erste hatte Walja Korsakowa von alldem erfahren: Wie sich herausstellte, besaß sie eine Tante in Okladinsk. Lutschinin war erst vor einem Jahr mit seiner Frau aus Leningrad dorthin übergesiedelt. Man hatte ihm die Leitung des Werkes angeboten. Eigentlich trog hier die Bezeichnung »Werk«. Es handelte sich einfach um größere Werkstätten mit vorsintflutlichen Ausrüstungen. Dort arbeitete ein Nachbar dieser Tante. Von ihm hatte sie alles erfahren. Shenja sollte etwas veruntreut oder irgendwelchen Missbrauch getrieben, wenn nicht gar gestohlen haben. Niemand wusste Genaueres, es wurde nur alles Mögliche gemunkelt. Lutschinin drohte ein Gerichtsverfahren. Deshalb nahm er sich das Leben. Die Miliz konstatierte Selbstmord.

Stepan sprach abgehackt und dumpf, seiner Erregung nur mühsam Herr werdend. Ständig unterbrach er sich und wandte sich mit der zornigen Frage an Vitali: »Kannst du dir das vorstellen? Will dir so was in den Kopf? Ist doch kompletter Unsinn, stimmt’s?«

Vitali schwieg wie vor den Kopf geschlagen. Er konnte sich das alles tatsächlich nicht vorstellen. Shenja Lutschinin sollte gestohlen haben? Er sollte vor Gericht gestellt werden? Und schließlich Selbstmord begangen haben? Nein, das war wirklich Unsinn!

Und laut sagte er: »Das kann nicht sein!«

»Aber... Was dann?«, fragte Stepan aufhorchend. »Er ist nicht mehr am Leben. Das ist eine Tatsache.«

»Wir müssen herauskriegen, wie das alles passiert ist. Über unsere Kanäle.«

»Aber eben eure Kanäle behaupten, dass es Selbstmord war.«

Stepan sprach mit unverhohlenem Spott.

»Wir werden sie bitten, die Sache noch einmal zu untersuchen. Gründlicher.«

»Hör zu!«, meinte Stepan aufbrausend. »Tu bloß nicht so naiv! Glaubst du, die werden sich ins eigene Fleisch schneiden?«

»Ich tue nicht naiv. Naive gibt’s bei uns nicht. Es wird sowieso jemand aus dem Ministerium hinfahren.«

»Du musst selbst fahren! Du hast Shenja gekannt! Das ist deine gottverdammte Pflicht! Als Freund, als Mensch, als Staatsbürger, wenn du willst!«

Jelena Georgiewna strickte nervös und blickte ihren Sohn von Zeit zu Zeit unruhig an. Plötzlich legte sie ihr Strickzeug beiseite, ordnete mit beiden Händen ihr üppiges, nur leicht ergrautes blondes Haar und sagte so streng, wie sie gewöhnlich mit ihren Patienten sprechen mochte: »Stepan hat recht, Vitali. Das wird auch Papa dir sagen.«

»Mich wird man nicht dorthin schicken«, brummte Vitali. »Doch, das wird man!«, widersprach Stepan heftig. »Wir haben deinem Minister einen Brief geschrieben, wenn du’s wissen willst! Unsere ganze ehemalige Klasse! Und nicht nur wir allein! Aus Okladinsk hat man, wie’s heißt, ebenfalls geschrieben. Und noch von woanders her. Die Leute glauben es nicht! Viele glauben es nicht!«

»Man wird Erfahrenere finden, die man hinschicken kann.«

»Aber wir wollen, dass du fährst.« Stepan sprang von seinem Stuhl auf, ging schnaufend im Zimmer auf und ab und blieb dann vor Vitali stehen. »Sie können ja noch jemand anders mitschicken. Aber du musst auch dabei sein. Unbedingt! Eben du!«

Im anderen Zimmer läutete das Telefon. Jelena Georgiewna erhob sich hastig von ihrem Platz.

»Vera Afanassjewna«, erriet Stepan als erster. »Geh schon, geh...«

Mit einem Seufzer begab sich Vitali zur Tür.

Die Mutter reichte ihm den Hörer.

»Ich höre, Vera Afanassjewna«, sagte Vitali, aus alter Gewohnheit leicht verlegen werdend.

»Zuerst einmal guten Tag, Vitali.«

»Guten Tag...«

»Zweitens...« Vera Afanassjewnas Stimme war noch ebenso klangvoll und streng wie früher, als wären seit damals nicht über zehn Jahre ins Land gegangen. »Zweitens hoffe ich, dass Krakowitsch dir schon alles erzählt hat.«

»Ja, ja...«

»Folgendes. Ich habe Briefe von Lutschinin. Den letzten - aus Okladinsk - habe ich vor einem halben Jahr bekommen. Ich werde ihn dir geben, obwohl ich nicht weiß, ob du etwas damit anfangen kannst. Das musst du selbst sehen. Aber zieh bitte keine voreiligen Schlüsse. Dazu neigtest du früher nämlich.«

»Das stimmt, Vera Afanassjewna.« Vitali musste lächeln. »Was Recht ist, muss Recht bleiben.«

»Ich hoffe, dass du diesen Fehler überwunden hast. Komm morgen in die Schule und hol dir den Brief ab. Du wirst doch fahren?«

»Wenn ich meine Vorgesetzten überzeugen kann...«

»Schiebe es bitte nicht auf die lange Bank.«

»Natürlich nicht, Vera Afanassjewna!«

Vitali hätte selbst nicht zu sagen vermocht, wann dieser Entschluss in ihm gereift war. Ihm kam es so vor, als hätte er von Anfang an gewusst, dass er nach Okladinsk fahren würde, und als hätten seine Zweifel und sein Streit mit Stepan absolut nichts damit zu tun - sie schienen nur der Ausdruck eines früheren Zustands, früherer Sorgen und Probleme zu sein. Schließlich musste er einfach fahren, da so viele Menschen es von ihm verlangten! Im Stillen fühlte Vitali sich durch dieses Vertrauen und die Überzeugung, dass nur er die Sache aufklären könne, sogar ein wenig geschmeichelt.

»Erinnerst du dich gut an Lutschinin?«, fragte Vera Afanassjewna plötzlich.

»Ja, natürlich!«

»Denk trotzdem noch einmal gründlich über ihn nach. Ganz objektiv. Na, wir sprechen uns ja morgen noch.« Nachdenklich kehrte Vitali ins Wohnzimmer zurück. Er bemerkte weder den forschenden Blick, den Stepan ihm zuwarf, noch die Unruhe in den Augen der Mutter. Sie hatten seine Worte gehört und das Wichtigste begriffen: Vitali war entschlossen zu fahren.

»Ich habe Jelena Georgiewna von unserer Allee der 9b erzählt«, verkündete Stepan laut und aufgeräumt, vielleicht sogar eine Spur zu aufgeräumt.

»Ja, ich kann mich an diese Allee erinnern.« Jelena Georgiewna lächelte zerstreut.

»Das war Shenjas Idee. Wir fuhren zusammen zur Baumschule, um die Setzlinge zu besorgen. Da hat er vielleicht Krach geschlagen«, fuhr Stepan fort. »Anfangs wollten sie uns nämlich nichts geben.«

»Stepan, erinnerst du dich gut- an Shenja?«, fragte Vitali plötzlich, während er sich an den Tisch setzte.

»Aber natürlich!«

»Ganz objektiv?«

»Dumme Frage. Er war doch kein Heiliger.«

»Dann erinnerst du dich also auch an seine Fehler?«

Stepan blickte den Freund aufmerksam an. »Hat Vera Afanassjewna dich auf diese Idee gebracht?«

»Nein, aber Shenja war leicht auf die Palme zu bringen.«

»Na und?«

»Unbeherrscht war er. Und sensibel. Und es war nicht immer gut Kirschen mit ihm essen.«

Sie schwiegen.

»Du fährst also?«, fragte Stepan vorsichtig.

Vitali nickte.

»Wird man dich denn lassen?«

»Ich werde es durchsetzen.«

Sie schienen die Rollen vertauscht zu haben.

»Na, sieh zu, Vitali«, sagte Stepan bereits in der Diele, als er sich verabschiedete. »Du wirst Rede und Antwort stehen müssen. Vor der ganzen Truppe. Also mach deine Sache gut. Und lass dich dort nicht um den Finger wickeln.«

»Ach, scher dich zum Teufel«, erwiderte Vitali finster.

»Soll ich dich hinfliegen?«, schlug Stepan vor. »In zwei Stunden bist du an Ort und Stelle. Sogar noch früher. Na, wie ist’s?«

»Ich reise lieber auf althergebrachte Art«, entgegnete Vitali grinsend. »Da kann man sich in Ruhe ausstrecken und nachdenken.«

Als Stepan gegangen war, sagte Jelena Georgiewna, während sie den Tisch abräumte: »Ich mache mir Sorgen um dich, Vitali.«

»Ach, diesmal wird’s ein Kinderspiel.«

»Wann fährst du denn?«

»Wenn schon, dann so bald wie möglich.«

Jelena Georgiewna seufzte.

Vitali aber dachte plötzlich: Und was wird mit Sweta? Stirnrunzelnd trat er ans Fenster. Es regnete. Wassertropfen rannen in Zickzacklinien über die Scheibe. Unter den spärlichen Laternen in der verträumten Gasse glänzte der nasse Asphalt. Heftige Windstöße fuhren mit übermütigem Pfeifen um die Ecken, und das schlecht verkittete Fenster antwortete mit einem dünnen Klagelaut.

Hol’s der Teufel! Wenn man sich die Sache richtig überlegte, dürfte natürlich nicht er, Vitali, fahren. Hier wurde ein erfahrener Mann gebraucht. Und Fjodor Kusmitsch täte recht daran, einen anderen zu schicken.

Diese Gedanken aber ließen seine Laune nicht gerade besser werden.

Wer weiß, was Sweta in diesem Moment machte. Vielleicht küsste sie sich gerade mit ihren »lieben Verwandten«...

 

»Bist du sicher, dass es ein Irrtum ist?«

»Ja! - Ich bin so gut wie sicher.«

»Hm... Welche Fakten sprechen dafür?«

»Erstens sein Charakter. Er war nicht der Mensch, der Selbstmord begehen würde. Zweitens hatte er Feinde.«

»Woher weißt du das alles?«

»Na, aus seinem eigenen Brief! Dem letzten!«

»Tja... Du bestehst also auf dieser Reise?«

»Ja, Fjodor Kusmitsch, ja!«

»Du bist mir bloß ein wenig zu voreingenommen.«

»Das muss man dabei auch sein.«

»Sieh mal an! Otkalenko meint gerade, dass man das nicht müsse.«

»Otkalenko ist ein Skeptiker. Das ist nichts Neues.«

»Denk mal an! Und was bist du in diesem Fall?«

»Das dürften Sie besser wissen.«

»Lossew ist ein jugendlicher, selbstsicherer Optimist. Das ist auch nichts Neues.«

»Na, na. Seit wann zählst du dich zu den Alten? Steh mal lieber auf und zieh die Vorhänge zu. Die Sonne blendet einen ja... So ist’s gut. Reicht. Und jetzt könnt ihr beide gehen.«

»Aber, Fjodor Kusmitsch...«

»Geh nur, geh. Wenn nötig, kommst du immer noch zum Nachtzug zurecht. Wirst es auch noch schaffen, deine Sachen zu packen und... dich zu verabschieden. Falls wir es beschließen sollten. Bis dahin aber lass dir noch mal die Sache mit der Apotheke durch den Kopf gehen. Verlangen kann ich da nichts mehr von dir: Der Diebstahl ist aufgeklärt. Und der Bericht für oben ist in Ordnung. Für uns aber sind da noch ein paar Fragen offen. Du kannst sagen, was du willst, aber die Apotheke liegt nur drei Wohnblöcke von dem bewussten Kraftverkehrsbetrieb entfernt. Und die Hexe treibt sich nicht allein mit Senka herum. Du weißt, was ich meine?«

»Ja.«

»Na, dann geh. Und du, Otkalenko, warst du in der Fräse?

Ich komme gerade von da.«

»Und, ist für uns da nichts zu holen?«

»Doch, es ist genau, wie wir vermutet haben, Fjodor Kusmitsch.«

»Mach Maslow mit diesem Fall vertraut. Also, zieht ab, meine Lieben.«

Vitali und Igor kehrten schweigend durch den langen Korridor in ihr Zimmer zurück, und erst als sich jeder an seinem Schreibtisch niedergelassen hatte, sagte Igor: »Der Alte brütet was aus, denk an meine Worte.«

In dem sonnendurchfluteten Raum war es stickig, und an der Fensterscheibe stießen sich summend die Fliegen.

Vitali lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, und gegen die Sonne blinzelnd, fragte er grimmig: »Was meinst du, wird’s klappen?«

Igor, der in einer dicken Mappe mit Papieren kramte, erwiderte spöttisch: »Kannst Sweta anrufen und dich für heute Abend mit ihr verabreden. Der Alte hat dir doch freigegeben.«

»Sieht ganz so aus«, meinte Vitali seufzend.

Da aber blickte Igor von seinen Papieren auf und fragte interessiert: »Du hast von einem Brief gesprochen. Ist das der von der Lehrerin?«

»Ja.«

»Zeig mal her.«

Vitali zog einen zerrissenen Briefumschlag aus der Innentasche seines Sakkos und warf ihn Igor zu. Der Umschlag segelte direkt in dessen Hände.

»Könntest glatt im Zirkus auftreten«, meinte Igor grinsend. »Die bemühen sich schon lange um mich...«

Igor entnahm dem Umschlag einen zusammengefalteten Brief und vertiefte sich in die Lektüre.

Verstohlen beobachtete Vitali seinen Freund. Beim Lesen verfinsterte sich Igors Gesicht zusehends, und sein schweres Kinn schob sich vor.

Der Brief schien in Hast und Eile abgefasst worden zu sein, die Zeilen standen krumm und schief da, die Abstände zwischen ihnen verkleinerten sich zum Ende hin immer mehr, und hin und wieder brachen die Zeilen sogar vorzeitig ab. Lutschinin schrieb:

 

Liebe Vera Afanassjewna!

Bekenne meine Sünden. Hätte Ihnen längst schreiben müssen. Entschuldigen können mich da nur außergewöhnliche Ereignisse. Und die sind eingetreten. Ich bin nicht mehr in Leningrad. An diese Stadt denke ich heute nur noch des Nachts wie an einen liebgewordenen Menschen zurück... 

Jetzt aber wohne ich in dem kleinen, vom Schnee verwehten und von allen Winden durchbrausten Okladinsk. Schon mal davon gehört? 

Bin hierhergekommen, um mich als Direktor zu versuchen. Man hat mir ein kleines Werk anvertraut. Eine schrecklich interessante Sache! Das Werk produziert übrigens ziemlich wichtige Dinge: Elektroden für die Industrie. Bloß mit der Technologie war’s nicht weit her. Wir haben ein halbes Jahr lang herumgetüftelt und wie ich glaube, auch etwas Anständiges zuwege gebracht. Die Elektroden werden jetzt nicht schlechter als in Amerika oder Schweden produziert. Natürlich ist uns nichts in den Schoß gefallen. Ich habe weder meine eigenen Nerven noch die meiner Mitarbeiter geschont. Besonders meine nicht. Manchmal ging’s hoch her. Auch Streit gab’s zur Genüge. Wie Sie wissen, ist mit mir nicht so leicht auszukommen. Manchen Leuten passt das nicht. Und immer wieder gibt’s Schwierigkeiten - bald fehlt’s an diesem, bald an jenem. Mit der Zeit habe ich mich zu einem Beschaffungsgenie entwickelt. Aber natürlich finden sich immer Leute, die versuchen, einem Beine zu stellen. Mitunter ist das recht bitter. Meine Seele ist oft unruhig. Der Teufel weiß, was ihr fehlt. Olga und ich leben einigermaßen friedlich miteinander. Sie arbeitet als Lehrerin. Aber mit Ihnen kein Vergleich! Ja, die Seele ist ein kompliziertes Ding. Wie soll man sich als Atheist dazu verhalten? 

Aber lassen wir das. Es steht mir nicht an, Ihnen Klagelieder zu singen. Sonst verpassen Sie mir noch eine Drei in Betragen. Ich bin nämlich auch so schon...

Wie geht es Ihnen, Vera Afanassjewna, wie steht’s um die Gesundheit? Ich würde schrecklich gern die ehemaligen Klassenkameraden wiedersehen! Grüßen Sie bitte alle von mir, die Sie treffen.

In tiefer Verehrung

Ihr (und auch aller anderen) schwierigen

J. Lutschinin

 

Vitali bemerkte, dass Igor die Lektüre bereits beendet hatte und ohne aufzublicken nachdachte. Nach wie vor auf seinen Stuhl gelümmelt und die langen Beine ausgestreckt, beobachtete er Igor eine Weile, hielt es aber schließlich nicht länger aus und fragte: »Na, was sagst du dazu?«

Igor warf ihm einen finsteren Blick zu und brummte: »Du musst hinfahren.«

»Der Alte hält’s für überflüssig.«

»Hat er den Brief gelesen?«

»Stell dir vor, er hat.«

»Dann gehe ich noch mal zu ihm.«

Igor stand entschlossen auf und legte die auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Papiere in eine Mappe.

»Übrigens, ein interessantes Detail«, meinte Vitali, sich ebenfalls erhebend. »Warum will der Alte, dass du Maslow das Material über die Fräse übergibst?«

Igor hob den Kopf. »Was meinst du?«

»Nichts... Habe nur laut gedacht.«

Das Telefon läutete. Vitali nahm mit einem Ruck den Hörer ab. »Lossew am Apparat.«

»Guten Tag, Genosse Lossew. Hier spricht Korschunow. Aus dem Ministerium. Können Sie jetzt gleich zu mir kommen?«

»Jawohl, Sergej Pawlowitsch. Das kann ich.«

»Und wo ist Otkalenko?«

»Auch hier, Sergej Pawlowitsch. Er steht mir gegenüber.« Vitali zwinkerte dem Freund vielsagend zu.

»Ich erwarte Sie beide. So schnell wie möglich.«

»Aber unser Chef, Sergej Pawlowitsch...«

»Der Chef ist im Bilde.«

Als sie auf die Straße kamen, erblickten sie an der Bordsteinkante der blauen Wolga der benachbarten Stadtbezirksabteilung. Der Fahrer warf gerade den Motor an.

Vitali stürzte als erster zu ihm, bückte sich und redete hastig auf ihn ein: »Hör zu, mein Freund, setz uns doch rasch mal am Ministerium ab. Wir müssen ganz dringend dorthin.«

»Na los, steigt ein.«

Den Weg über schwiegen sie.

Vitali blickte durchs Fenster auf die vor Hitze schmelzende Straße, auf der goldene Sonnenflecke tanzten. Ein heißer Windhauch blies ihm das helle Haar in die Stirn.

Igor dagegen lehnte sich auf seinem Sitz zurück und schaute gerade vor sich hin. Seinem gebräunten Gesicht mit dem schweren, vorgeschobenen Kinn konnte man nichts ablesen. Erst in dem kühlen, hohen Vestibül des Ministeriums sagte Vitali, nachdem sie sich dem Posten gegenüber ausgewiesen hatten und auf den Fahrstuhl warteten: »Ahnst du was?«

»Ja.« Igor nickte kurz. »Aber was soll ich dabei?«

»Hast du das mit Maslow vergessen?«

Igor hob eine Braue. »Du meinst...?«

Aber schon betraten sie zusammen mit anderen den Fahrstuhl.

Korschunows Zimmer war abgeschlossen. Die beiden Freunde schlenderten über den breiten Korridor. Igor traf auf Schritt und Tritt Bekannte. Vitali dagegen waren die Leute fast alle unbekannt.

Im Vorzimmer des Chefs sagte der Diensthabende: »Er ist hier. Warten Sie, er kommt gleich raus. Ihre Dienstreiseaufträge sind schon fertig.«

Die Freunde wechselten einen Blick.

Kurz darauf tauchte Korschunow in einem hellen, gutsitzenden Anzug in der Tür auf. Seinen gebräunten, kräftigen Hals umschloss ein enganliegender, blütenweißer Kragen. Beim Anblick der Freunde, die sich bei seinem Erscheinen erhoben, lächelte er breit und musterte sie mit einem raschen, eindringlichen Blick, als überlege er ein letztes Mal, ob sie das bevorstehende Gespräch wert seien oder nicht.

»Kommt mit, Jungs«, erklärte er energisch.

Wie jung er noch aussieht, dachte Vitali, während er Korschunow, der das Vorzimmer verließ, eilig folgte. Dabei ist er bestimmt schon seine fünfzehn Jahre im Dienst. Wie viele Fälle er aufgeklärt hat! Eine geradezu legendäre Persönlichkeit. Diesmal gingen sie zielstrebig über den Korridor, so dass Igor keinen Bekannten mehr traf. Nur Korschunow dankte ein paarmal für einen Gruß. Der eine oder andere versuchte ihn sogar anzusprechen.

»Später, später. Hab’ jetzt keine Zeit«, entgegnete Korschunow streng. »Und überhaupt entscheide ich solche Dinge nicht auf dem Flur.«

Als sie in Korschunows Arbeitszimmer kamen, sagte er: »Also, Jungs. Ihr fahrt nach Okladinsk. Klar? Wir haben alle möglichen Briefe und Anrufe bekommen und beschlossen, der Sache nachzugehen. Mit euch fährt Swetlow aus meiner Abteilung. Im Augenblick ist er unterwegs. Mit den Okladinsker Genossen habe ich schon gesprochen. Der Fall ist nicht einfach. Vor allem aber geht’s dabei ums Prinzip. Klar? Unter allen Umständen. Außerdem ist es...« - er lächelte - »...ein interessanter Fall. Das könnt ihr mir glauben. Langweilen werdet ihr euch nicht. Also haltet die Augen offen. Vielleicht besuche ich euch mal. Der Fall wurde meiner Abteilung übertragen.«

Die Freunde ließen kein Auge von Korschunow. Vitali schaute besorgt und ungeduldig drein, Igor konzentriert und misstrauisch, als überlege er noch, ob er fahren oder bleiben solle. »Jetzt müssen wir noch ein paar Dinge besprechen«, schloss Korschunow und fragte, an Vitali gewandt, sachlich: »Haben Sie den Brief bei sich, von dem Zwetkow gesprochen hat?«

»Jawohl. Ich habe ihn hier«, erwiderte Vitali hastig. Korschunow las den Brief aufmerksam durch, faltete ihn dann wieder akkurat zusammen und steckte ihn in den Umschlag. Sein Gesicht hatte einen konzentrierten Ausdruck angenommen.

»Tjaaa«, meinte er seufzend und wiederholte: »Wir wollen noch ein paar Dinge besprechen. Eure ersten Maßnahmen sozusagen. Dass Lossew Lutschinin gekannt hat und mit ihm befreundet war, halte ich sogar für nützlich. Und dass ihr unterschiedliche Meinungen zu diesem Fall habt, ebenfalls.« Korschunow schmunzelte. »Das ist sozusagen ein psychologisches Moment.«

 

Die bis zur Abfahrt verbleibenden Stunden waren mit hastigen Vorbereitungen ausgefüllt. Zum Bahnhof wegen der Fahrkarten. Nach Hause, die Sachen packen. Zur Arbeit - hier wussten sie nicht, was sie zuerst erledigen sollten. Die zurückbleibenden Kollegen konnten sich kaum merken, was noch zu tun war.

Kurz vor der Abfahrt rief Igor noch einmal zu Hause an und sagte streng in den Hörer: »Pack ihn bloß nicht zu warm ein. Sonst schwitzt er und erkältet sich wieder. So was will nun Medizinerin sein! Jetzt hast du keinen mehr, den du in die Apotheke schicken kannst... Brauchst nicht zum Bahnhof zu kommen. Hast auch so schon genug Laufereien...«

Am anderen Apparat schrie Vitali aufgeregt: »Wagen Nummer drei! Hörst du? Aber komm nicht zu spät! Es geht gleich los! Heiße Grüße an die Verwandten! Die haben ein Glück! Wenn ich nicht weg müsste, bekämen sie von dir nichts mehr zu sehen!«

Auf dem Bahnhof, im Durcheinander vor der Abfahrt des Zuges, schaute sich Vitali in Erwartung etwas ungeduldig in der Menge um.

Ab und zu nahm er mit einem Seitenblick die dunkle Gestalt Igors wahr, der sich ungerührt mit seiner Frau unterhielt. Als die beiden später zu ihm traten, erklärte Alia ihm, dass in der Metro zu dieser Zeit ein schreckliches Gedränge herrsche, dass es unmöglich sei, ein Taxi zu bekommen, und dass es für sie überhaupt an der Zeit wäre, einzusteigen. Vitali hörte ihr nur mit halbem Ohr zu.

Igor äußerte sein Erstaunen darüber, dass Swetlow sich verspätete. Auch Vitali beunruhigte das.

In diesem Augenblick aber trat ein Unbekannter auf sie zu, wies sich aus und teilte ihnen mit, dass Swetlow aufgehalten worden sei, dass sich in dem Fall plötzlich Komplikationen ergeben hätten und dass Oberstleutnant Korschunow ihnen auftrage, vorerst allein zu fahren. Swetlow und vielleicht auch Korschunow selbst würden später nachkommen.

Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Da lehnte sich Vitali plötzlich so weit vor, dass er fast aus dem Zug hing. Er sah nämlich in diesem Moment neben Alia eine schlanke, blonde Gestalt in einem dunkelblauen Kleid und mit einer weißen Handtasche auftauchen. Sweta...!

»Vorsicht, junger Mann«, sagte die Schaffnerin und fügte brummig hinzu: »Na, da ist Ihr Mädchen ja doch noch gekommen. Früher ging’s wohl nicht.«

Dann traten sie in ihr Abteil und verstauten ihre Koffer und Mäntel. Das alte Netz, das seine Frau ihm auf dem Bahnsteig in die Hand gedrückt hatte, schob Igor verstohlen in eine Ecke.

»Sie hat extra noch Pasteten gebacken«, brummte er unwillig. »Als ob ich ohne sie verhungern würde.«

Sie mussten ihr Abteil mit einer älteren, traurig aussehenden Frau im dunklen Kostüm und einem jungen, spitznasigen Mädchen teilen, das muntere schwarze Kulleraugen und einen eigensinnigen Mund hatte, der noch mit keinem Lippenstift in Berührung gekommen war.

Erst spät am Abend, als die beiden Frauen schliefen, gingen Vitali und Igor in den leeren Gang hinaus, um sich leise über den Zweck ihrer Reise zu unterhalten, über den im Verlauf des ganzen Abends noch kein Wort gefallen war.

»...Da müssen besondere Gründe vorgelegen haben«, flüsterte Vitali eindringlich. »Hier handelt sich’s weder um eine Prügelei zwischen Betrunkenen noch um einen Raubüberfall.«

»Du klammerst dich nur an die eine Version. So geht das nicht. Es kann auch Selbstmord gewesen sein.«

»Er war nie ein Neurastheniker. Und auch kein Panikmacher. Oder gar ein Feigling. Du hast seinen Brief doch gelesen.«

»Dazu muss man nicht unbedingt ein Neurastheniker sein. Und auch kein Panikmacher. Angst aber... Angst haben nicht nur Feiglinge. Vielleicht hat er gegen die Gesetze verstoßen, oder er ist jemandem auf den Leim gegangen. Schließlich kann er auch selbst in etwas hineingeraten sein. Er war stolz und ehrgeizig. Für so einen Menschen kann eine öffentliche Bloßstellung schlimmer sein als der Tod. Die Dinge liegen eben komplizierter, als wir glauben.«

Das Licht im Wagen war längst erloschen, nur das blaue Nachtlämpchen an der Decke blinkte schwach.

Zu guter Letzt sagte Igor müde: »Na schön. Gehen wir schlafen.«.

Sie kehrten ins Abteil zurück und nahmen ihre Schlafplätze ein.

Vitali überkam eine plötzliche Traurigkeit. Shenja lebte nicht mehr. Wie kurz sein Leben gewesen war! Zu Hause gab’s Ärger mit seiner Frau. Und auf der Arbeit mit den Kollegen. Unmerklich schlief Vitali ein. Seinen letzten Gedanken überlagerte unbegreifliche Unruhe. Diese Unruhe galt der Zukunft, die ihn erwartete, jenem ihm unbekannten Okladinsk, in dem etwas Nichtwiedergutzumachendes geschehen war.

 

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

 

Niemand hegt Zweifel

 

 

Im Abteil schliefen noch alle. Durch die geschlossenen Fenstervorhänge fiel grünliches Licht, in dem man sich wie in einem Aquarium fühlte, und nur ein schmaler Spalt zwischen den Vorhängen ließ einen verwegenen goldenen Sonnenstrahl eindringen, in dem unzählige Staubkörnchen tanzten.

Als Vitali an jenem frühen Morgen erwachte, erinnerte er sich jenes verworrenen, ungewöhnlichen Falls, den er aufklären sollte. Was hat sich in diesem unbekannten Okladinsk zugetragen? Was ist dort geschehen? Er, Vitali, hat Shenja Lutschinin, jenen schwarzäugigen Burschen mit der runden Stirn, jenen Anführer und Anstifter aller Unternehmungen, gekannt, der die ganze Klasse mitriss. Er erinnert sich seiner übermütigen Streiche, seines Lachens, seiner leidenschaftlichen Dispute, seiner starrköpfigen, schroffen Geradlinigkeit. Er erinnert sich daran, wie Shenja es ablehnte, sich vorsagen zu lassen, indem er so tat, als höre er nichts - selbst wenn er vor den Augen der Klasse an der Tafel durchhing.

Nein, ein Mensch wie Shenja kann sich nicht das Leben genommen haben, das ist ausgeschlossen! Was immer Igor auch vom Leben sagen mag, das die Menschen verändert. In einem Punkt aber hat Igor recht: Er darf sich jetzt nicht durch Erinnerungen den Blick auf die neuen Fakten verstellen. Also wird er von nun an nicht mehr in diesen Erinnerungen wühlen, um sich durch sie nicht das Herz schwer zu machen. All das muss er jetzt vergessen. Da hat Igor völlig recht..

Als Vitali einen vorsichtigen Blick zu Igor hinüberwarf, merkte er plötzlich, dass dieser nicht schlief und ihn, die Hände hinterm Kopf verschränkt, ebenfalls ansah.

»Warum meldest du dich nicht?«, fragte Vitali. »Bist wach und sagst keinen Ton.«

»Ich denke nach...«

Vitali beugte sich hinunter. Mutter und Tochter schliefen ebenfalls nicht mehr und unterhielten sich mit leisen Stimmen.

Nachdem sie gefrühstückt hatten, gingen die Freunde wieder auf den Gang. Vitali warf einen Blick auf die Uhr. »Wir sind bald in Okladinsk. In drei Stunden und sechzehn Minuten.«

»Ja. Anscheinend hat der Zug keine Verspätung.«

»Dort erwartet man uns schon. Wahrscheinlich nicht gerade begeistert.«

Ratternd überquerte der Zug einen kleinen Fluss, der sich gleich einer blauen Serpentine zwischen den von hohem Gras überwucherten Ufern dahinschlängelte.

»Ach, hier müsste man mit einer Angel sitzen...«, meinte Vitali seufzend. »Gibt’s in Okladinsk nicht auch einen Fluss? Ach ja!«

Die Mienen der beiden Freunde verdüsterten sich. Schließlich hatte man Lutschinins Leiche aus dem Fluss gefischt.

Sie kehrten ins Abteil zurück.

An der Tür erschien die dicke Schaffnerin. »Wir sind gleich in Okladinsk. Sie müssen noch Ihren Tee bezahlen.«

Der Zug fuhr bereits merklich langsamer. Am Fenster huschten Holzhäuser mit hohen Fernsehantennen auf den Dächern vorbei.

Okladinsk...

Allmählich tauchten mit Kopfsteinen gepflasterte Straßen auf, die von asphaltierten Fahrbahnen mit akkuraten Bürgersteigen abgelöst wurden, auf denen kümmerliche Bäume wuchsen. Zwei- oder dreistöckige Häuser und ein Wald von Fernsehantennen wurden sichtbar, Schilder huschten vorüber. Über die Straße rollte ein erbarmungslos qualmender gelbroter Bus, dem bald darauf ein zweiter folgte. Eine Lastwagenkolonne brauste dröhnend vorbei, und ein brauner Pobeda raste vorüber... Allmählich trat die Stadt zurück, um bald völlig hinter einem hohen, verrußten Zaun zu verschwinden. Die Gleise teilten und vervielfachten sich...

Schließlich erreichte der. Zug einen langgestreckten grauen Bahnsteig und hielt so sacht vor einem kleinen Bahnhofsgebäude, dass man es kaum merkte. Über dessen breiten, in der Sonne unerträglich glitzernden Fenstern hing ein weißes, mit korrekten, strengen Buchstaben beschriebenes Schild: Okladinsk.

Vitali und Igor sprangen auf den heißen Asphalt. Nur wenige Passagiere verließen die anderen Wagen. Mit Koffern, Bündeln und Körben beladen, bewegten sie sich auf die weitgeöffneten Türen des Bahnhofsgebäudes zu. Einige der Leute führten Kinder an der Hand.

»Ich vermisse das Orchester«, sagte Vitali.

»Das Orchester sind wir«, erwiderte plötzlich eine ruhige Stimme in ihrem Rücken.

Wie auf Kommando drehten die beiden Freunde sich um.

Mit einem Lächeln in den Mundwinkeln stand vor ihnen ein hochgewachsener Mann mit leicht gekrümmtem Rücken, einem langen, abgespannten Gesicht und müden Augen. Er trug einen etwas zerdrückten dunkelblauen Anzug. Neben ihm wartete ein zweiter Mann.

»Tomilin!«, rief Igor aus. »Nikolai!«

»In eigener Person.«

»Hier trifft man sich wieder! Darf ich vorstellen? Oberleutnant Lossew.«

»Ich weiß.« Tomilin reichte Vitali seine breite, kräftige Hand. »Herzlich willkommen. Hier, machen Sie sich bekannt.« Er wies auf seinen Begleiter. »Hauptmann Wolow. Aus der Gebietsverwaltung.«

»Hör mal. Du hast doch in Swerdlowsk gedient«, sagte Igor. »Wie kommst du jetzt hierher?«

»Aus familiären Gründen«, erwiderte Tomilin unbestimmt und fügte hinzu: »Bitte, folgen Sie mir.«

Sie gingen zum Bahnhofsgebäude hinüber.

»Wohin fahren wir jetzt?«, fragte Otkalenko.

»Ins Hotel. Ihr stellt eure Sachen ab, und dann geht’s zur Stadtabteilung. Der Genosse Oberstleutnant erwartet euch.«

»Ist das dein Chef?«

»Der Leiter der Stadtabteilung, Oberstleutnant Raskatow, Wikenti Petrowitsch.«

Sie durchquerten den halbdunklen, leeren Wartesaal mit den langen, abgenutzten Bänken und dem typischen abgestandenen Bahnhofsgeruch und kamen auf einen kleinen Platz, in dessen Mitte eine staubige Grünanlage in der Hitze vor sich hin welkte.

Ganz in der Nähe standen auf einem asphaltierten Parkplatz ein schmutzbespritzter Lastwagen, zwei mit Heu ausgelegte Fuhrwerke und ein Pobeda. Auf diesen ging Tomilin zu. »Bitte«, sagte er kurz angebunden, während er die hintere Wagentür öffnete.

Sie fuhren nicht lange. Am Fenster huschten die Auslagen kleiner Geschäfte vorbei. Der Wagen hielt vor einem säuberlich verputzten zweistöckigen Haus. Über der schmalen Eingangstür hing ein Schild, auf dem in verschnörkelter Schrift rot auf blau zu lesen stand: »Hotel Morgenröte«. Hinter der Türscheibe blinkte ein weißes Täfelchen: »Im Moment keine Zimmer frei.«

Trotzdem empfing in dem kühlen, kleinen Vestibül ein über der Treppe angebrachtes handgeschriebenes Plakat die Gäste mit einem »Herzlich willkommen!«

In Begleitung der diensthabenden Empfangschefin stiegen sie in den zweiten Stock hinauf. Sie schloss eine Tür mit der Aufschrift 1. Kategorie auf. Hinter der Tür kam ein kleines weißgetünchtes Zimmer mit einer unter einem Schutzüberzug verborgenen Couch und einem quadratischen Tisch in der Mitte zum Vorschein.

Durch die zu einem Nebenraum führende Türöffnung erblickte man zwei breite Betten mit dicken Federbetten unter einer grünen Tagesdecke und einen alten Spiegelschrank.

»Machen Sie es sich bequem«, sagte die Empfangschefin sachlich. »Ihre Sachen können Sie im Schrank verstauen. Gleich daneben ist ein Waschbecken. Im Moment gibt’s gerade Wasser. Spritzen Sie aber nicht herum. Heißes Wasser bekommen Sie am Ende des Ganges. Das Radio schließe ich Ihnen gleich an.«

»Großartig«, stieß Vitali munter hervor. »Das Radio mag sich vorläufig noch ausruhen. Der Heißwasserspeicher auch. Und spritzen werden wir auch nicht. Aber wo ist hier...«

»Auf der Etage sind zwei Toiletten«, fügte die Empfangschefin hastig hinzu.

»Ja, ja. Das mit den zwei Toiletten ist eine großartige Idee.« Vitali grinste leicht verlegen. »Aber ich wollte nach dem Telefon fragen.«

»Ach, das Telefon? Unten, bei mir. Wenn was ist, lassen wir Sie rufen.«

Zur Stadtabteilung fuhren sie mit demselben Pobeda. Die Sonne brannte unbarmherzig, und in dem glühend heißen Wagen konnte man kaum atmen. Zum Glück brauchten sie nicht lange zu fahren.

Raskatow, ein älterer, untersetzter Oberstleutnant mit rotem Gesicht und grauem Igelhaar, sprach, in seinem kleinen Arbeitszimmer auf und ab stampfend, mit Nachdruck und Überzeugung: »Die Sache ist bereits in der ganzen Stadt herum. Das ist

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Arkadij Adamow/Apex-Verlag. Successor of Arkadij Adamow.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx (Model: Victoria Borodinova).
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Helga Gutsche und Christian Dörge (OT: Круги по воде).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 29.05.2021
ISBN: 978-3-7487-8436-4

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