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Leseprobe

 

 

 

 

ERNESTINE WERY

 

 

Auf dünnem Eis

 

Roman

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

AUF DÜNNEM EIS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Als Irmgard Rübsam, vorzeitig aus dem Urlaub zurück, die Münchener Wohnung der von Aucks betritt, wo sie zur Untermiete wohnt, macht sie eine grauenvolle Entdeckung: Auf dem Teppich des Wohnzimmers liegt Mischa, der Sohn ihrer Vermieterin, auf dem Hemd große, dunkle Flecke. Und auf dem Sofa seine Mutter, Frau von Aucks, leblos wie der Sohn, ebenfalls dunkle Flecke auf der hellen Bluse.

Und das Radio spielt Tanzmusik...

 

Ernestine Wery (* 21. April 1909 in München als Ernestine Fentsch; † 26. November 1997) war eine deutsche Schauspielerin sowie Drehbuch- und Romanautorin. Nach ihrer Heirat mit dem Schauspieler Carl Wery zog sie sich von der Schauspielerei zurück und schrieb ab 1943 Filmdrehbücher. Auch als Autorin blieb sie häufig dem bayerischen Lokalkolorit verbunden. Mit ihren insgesamt 22 Drehbüchern, von denen 16 verfilmt wurden, trug sie einen nicht unwesentlichen Teil zum Charakter des bundesdeutschen Kinos der 1950er Jahre bei. In späteren Jahren verlegte sie sich auf die Schriftstellerei. Sie schrieb mehrere Romane, insbesondere Kriminalromane, die teilweise ihre Drehbücher für die Krimiserie Tatort als Grundlage haben.

Der Roman Auf dünnem Eis erschien erstmals im Jahr 1979.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  AUF DÜNNEM EIS

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

In München goss es, eiskalt war’s an diesem Augustabend, und Taxi stand auch keins am Bahnhof. Für Irmgard Rübsam, Heimkehrerin aus einem missratenen Urlaub, zählte das nicht – sie war zu Hause. Geduldig mühte sie sich mit ihrem Gepäck, Träger: schien auch ein ausgestorbenes Gewerbe. In einer Hand einen großen Koffer, in der anderen Reisetasche, Handtasche, Waschbeutel und Zeitschriften, so trat sie hinaus in den mittleren Wolkenbruch und holte sich, weil sie nicht wusste, mit welchem Körperteil sie noch einen Schirm hätte tragen sollen, nasse Haare. Auch egal, sie war zu Hause.

Weit vorne an der Zufahrt, wo ihr der Fang eines Taxis aussichtsreich schien, postierte sie sich, und jetzt spannte sie auch ihren Knirps auf. Ganz schön klatschig, ihre Haare.

Irmgard Rübsam, 48, Bankangestellte, ein Sand-am-Meer-Korn, das niemandem abging und auch so aussah. Zum ersten Mal in ihrem ereignislosen Leben hätte sie sich von einem Werbeprospekt in den angeblich sonnigen Süden locken lassen, und was gefunden? Regen, eine mit einem Bett zweckentfremdete Abstellkammer, und ein Essen, zu dem ihre Galle nein sagte. Nach einem Disput mit den Banditen, die sich Reisebüro nannten, erfolglos natürlich, reiste sie ab. Eine Woche früher. Da vertat sie den Rest ihres Urlaubs besser in ihren behaglichen vier Wänden daheim.

»Taxi... Hallo, Taxi...«

Sie schwenkte den Schirm. Eine gelbe Lichtwarze, die über der Buckelflut nasser Autodächer schwamm, scherte aus. Andere liefen nun auch, wollten ihr das Taxi wegschnappen; sie war schneller, kriegte die Tür auf, noch ehe es richtig zum Halten kam, warf ihr Gepäck hinein. Äh, stank das nach Rauch da hinten.

Sie setzte sich zum Fahrer. »Widenmayerstraße.«

Er nickte. »Ich fahren – du sagen.«

Ausländer; auch gut. Sie machte sich’s bequem. Grüß dich, München! Grieche, Türke: von da unten mochte der Dunkelgesichtige her sein. »Erst mal Odeonsplatz«, wies sie, »den werden Sie doch wissen, dann Richtung Isar.«

Er verstand. »Isarr – Fluss?«

»Ja, Fluss. Wenn sie Wasser hat.«

Zähne hatten die noch, richtige Hauer. Wenn sie da an ihre Restbestände dachte! Nur unten noch. Der Mund von dem Burschen, sie beguckte ihn von der Seite: fast negroid. Und darüber ein Bärtchen. Sinnlich. Ein Altjungfernschauder huschte ihr nicht nur unangenehm über die Haut. Nein, sie wollte lieber nicht versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen – diese Orientalen, was wusste man.

Sie sah durch die Scheiben und erfreute sich ihrer frischgewaschenen Heimatstadt. Leere Straßen schon nach dem Stachus. Bei dem Wetter fuhr nur noch, wer musste. Als sie in die Prinzregentenstraße einbogen: ein verlassener Schwarzwasserstrom, auf dem bloß noch ein einzelnes Auto vor ihnen her pflügte, und am Ende des Stroms, schwebend über den Wassern, der von Scheinwerfern angestrahlte Friedensengel. Ihr gefiel er. Manche taten ihn ja als Kitsch ab. Wer schon: die jungen und brutalen, die alles verändern wollten. Nur gut, dass die auch alt wurden, und schneller, als sie dachten.

»Nummer?«, fragte der Fahrer.

Sie fuhren jetzt an der Isar entlang.

»An der nächsten Seitenstraße, das Eckhaus.«

Ah ja, sie freute sich auf ihre Wohnung. Einer der wenigen Glücksfälle, die ihr unterlaufen waren, Untermiete zwar nur, aber ein regelrechtes Appartement innerhalb einer großen Wohnung. Und erschwinglich.

Der Fahrer hielt und machte Licht. Beim Bezahlen sah sie seine Augen. Unerwarteter Kontrast: ein melancholischer Blick über dem leichtsinnigen Bärtchen.

Er stieg mit aus. »Ich tragen.«

Er nahm ihr Gepäck heraus, als seien es leichte Tüten. Sie sperrte die Haustür auf und stieg mit ihm die Stufen zum Lift hinauf. In einer Anwandlung, die sie selbst wunderte, gab sie ihm fünf Mark Trinkgeld.

»Danke, Madam! Danke särr.«

Eine beinahe ritterliche Verbeugung, und er sprang die Stufen hinunter. Schmale Hüften hatte er und einen geschickten Körper. Einsam war er wohl auch.

Sie fuhr mit dem Lift hoch. Madame! Vielleicht wäre sie ihm noch nicht zu alt gewesen, Einsame sind nicht wählerisch. Aber dazu hätte sie ihren eigenen Schatten überspringen müssen.

AUCKS stand an der Tür, die sie aufschloss.

RÜBSAM klein darunter.

 

In der Diele, weitläufig und still wie ein klösterlicher Kreuzganz, brannte Licht. Es roch wie immer ein wenig nach Ölfarbe und Firnis, und wie immer fühlte sich das späte Mädchen von diesem Entree erhoben. In der Diele hätte eine ganze Neubauwohnung Platz gehabt. An der Stirnwand stand ein Sekretär, eine honigfarbene Beauté aus einem verflossenen Jahrhundert, den Boden bedeckte ein Teppich, auf den die Untermieterin Rübsam lange nicht fest aufzutreten gewagt hatte.

An der Ecke der Diele ging’s noch einen Korridor hinter zu ihr. Den Korridor hätte sie abschließen können, eine schwere Filzportiere hing da, aber sie zog nie zu, man hörte und sah auch so nichts voneinander.

Im Vorbeigehen begegnete sie ihrem Gesicht im Spiegel der Ablage vor ihrem Zimmer. Sie sah ja aus: Verregnete Spitzmaus! Aber erst mal die Koffer rein...

Sie öffnete die Tür, knipste das Licht an – es flammte auf und erlosch mit einem kleinen Knall. Kurzschluss.

Auch ein Empfang. Wo hier wohl die Sicherungen waren? Stolpernd über Koffer suchte sie in ihrem finsteren Zimmer Kerze und Streichhölzer, zündete an und ging in die Diele zurück. Wie in einem Spukfilm: Überlebensgroß ihr Schatten, der bis zum Plafond hinaufragte.

Sie öffnete Türen. Aber das war die Garderobe. Die andere ein Wandschrank. Der Kuckuck mochte wissen, wo sich in dieser vieltürigen Wohnung der Zähler verbarg. Sie drehte sich um – und sah Licht schimmern im Türspalt der vorderen Zimmer. Na also! Die Aucks waren noch wach.

Sie klopfte.

»Frau von Aucks...«, rief sie leise, als niemand antwortete, »ich bin’s – Rübsam. Bin schön zurück. Der Stromkreis bei mir – ich hab’ kein Licht...«

Musik war von drinnen zu hören; das Radio.

Sie klopfte noch einmal. »Entschuldigen Sie die Störung, aber ich hab’ Kurzschluss...«

Keine Antwort.

Schlief Frau von Aucks?

»Tut mir leid, dass ich Sie belästigen muss...«Sie bewegte die Klinke. Die Tür gab nach, ging aber nur spaltbreit auf. Etwas hemmte. Mit einigem Nachdruck und dem unguten Gefühl ihrer Zudringlichkeit verschaffte sie sich Eintritt- dann setzte ihr Herzschlag aus. Sie spürte, dass sie weiß wurde bis in die Mundwinkel.

Das Hemmnis war ein Fuß.

 

Der Fuß gehört dem jungen Aucks.

Er liegt auf dem Boden und rührt sich nicht, sein Hemd hat große, dunkle Flecke. Gegenüber auf dem Sofa liegt seine Mutter, ebenso leblos wie der Sohn, ebensolche Flecke auf der hellen Bluse. Eine Pistole liegt auch da. Das Radio spielt Tanzmusik.

Die Rübsam tut einen taumelnden Schritt hinaus in die Diele – und rennt zum Ausgang. Will sie weg? Sie fängt sich und steht da. Alles dunkel bis auf die Kerze, die sie vor jenem Zimmer abgestellt hat. Ihr Herz rast jetzt. Ein Rest funktionsfähigen Verstandes sagt ihr, dass sie nicht davonlaufen darf.

Wie sie ans Telefon kommt, weiß sie nicht. Es steht in der Diele. Mit der Kerze sucht sie die Nummer der Polizei, wählt, verwählt sich, kann kaum sprechen, weiß auch nicht, was sie spricht. Kommen sollen sie, kommen! Sie wirft den Hörer auf die Gabel und stürzt aus der Wohnung hinaus, lässt die Tür weit offen, drückt den Lichtknopf draußen und kauert sich auf die Stufen der Treppe. So erwartet sie die Polizei.

 

Es dauerte nur Minuten. Sirenen heulten, gleich darauf waren Lift und Treppenhaus voller Polizisten.

»Haben Sie angerufen?«

Sie ging voran in die Wohnung und deutete auf die halboffene Tür, aus der Licht herausquoll. Mit hineinzugehen, hätte sie sich geweigert. Es wurde auch nicht verlangt. Sie wollten nur ihre Personalien. Einer, der keine Uniform trug, fragte, wer die Aufgefundenen seien, Namen und so weiter. Sie sagte es.

»Vorname des Sohns?«

»Mischa. Michael von Aucks.«

Der Nichtuniformierte schrieb es auf. Fürs erste genügte es. »Bleiben Sie aber da, wir brauchen Sie noch.« Er ging in das Zimmer und sah vor der Schwelle die Kerze stehen. »Warum brennt denn kein Licht?«

»Kurzschluss.«

Sie versuchte zu erklären, dass sie nicht wisse, wo der Zähler sei. Der Blick, den er ihr zuwarf, registrierte ihren Zustand. »Schau einer nach dem Licht«, hörte sie ihn sagen, ehe er verschwand. Die Tür blieb angelehnt.

Sie drehte sich weg. Nicht hinsehen! In den Kniekehlen spürte sie, dass sie vor der großen Truhe stehen musste. Sie hievte sich hinauf und saß mit hängenden Beinen einer Gliederpuppe. Schlecht war ihr.

Polizisten mit Scheinwerfern machten sich über die Wohnung her und fanden den Zähler rasch. In der Kofferkammer war er. Es wurde hell.

Kofferkammer, dachte sie.

Hätte sie eigentlich wissen müssen. Diese Kammer durfte sie mitbenützen, und hinter der Tür, dass ihr das nicht eingefallen war, hing die schwarze Tafel.

Sie trampelten durch die Wohnung, riefen Hallo, trampelten hinunter und wieder herauf, dazwischen ständig ihr Hallo, brachten Sachen – nur nicht hinschauen! Ihr Magen schlingerte.

»Hallo! Sie! Ja, Sie meine ich.«

Galt das ihr? In dem Zimmer winkte jemand.

»Kommen Sie mal!«

 

Es war der Arzt.

»Halten Sie!« Er reichte ihr eine Infusionsflasche. »Hier ist jeder beschäftigt. Hochhalten!« Der Arzt kniete bei dem jungen Aucks und klebte eine Nadel in dessen Armvene fest; die Schläuche eines Stethoskops hingen ihm aus den Ohren.

»Nicht auf den Kreidestrich!«

Auch das galt ihr. Ein Polizist schob sie zurück. Um den Liegenden war ein Rand mit Kreide gezogen. Die Rübsam suchte sich an der Wand oben einen Punkt, auf den sie starren konnte, aber die Wand gleißte in Blitzlichtern, mit denen sie fotografierten, da war kein Punkt. Sie begann zu schwanken.

»Was machen Sie denn?«

Der Arzt sah hoch. »Warum sagen Sie denn nichts?!« Erstand auf und verfrachtete sie auf eine Sitzgelegenheit, drückte ihr die Flasche in die rechte Hand, nahm ihren linken Arm, schob den Ärmel zurück und gab ihr eine Spritze. »Werden Sie gleich spüren.« Dann kniete er wieder bei dem Toten, »Es läuft nicht! Halten Sie das Ding hoch und kontrollieren Sie! Laufen muss es.«

Infusion, ging es ihr durch den Kopf; mit Spätzündung brachte sie das zusammen. Wenn er noch eine Infusion bekam, dann war er nicht tot?

Sie wollte fragen, aber der Arzt machte eine Handbewegung. Mund halten, hieß das, er konnte sonst nichts hören.

Eine Bahre kam.

»Das wär’s.« Der Arzt stand auf und nahm ihr die Flasche weg. »Können sich wieder raussetzen.«

 

In der Diele ließ sie sich in einen der Sessel fallen. Wolkiges schwamm heran, die Spritze wirkte, die Geräusche ertranken in Watte. Sie strich sich die strähnigen Haare aus dem Gesicht, am Ärmel sah sie, dass sie immer noch im Mantel war. Nein, jetzt stand sie nicht auf, um ihn auszuziehen, sie war so angenehm müde jetzt, und von dem Zustand wollte sie sich nicht trennen.

Sie trugen den jungen Aucks weg; der Arzt ging nebenher und hielt die Infusion hoch. Danach trugen sie die zweite Bahre weg; sie war zugedeckt. Die Rübsam sah es vorübergleiten wie eine Kinosequenz.

Dann war sie an der Reihe.

Der Mann, der sie nach den Personalien gefragt hatte, setzte sich zu ihr und stellte sich vor. Kündig hieß er, war Leiter des Morddezernats, Oberinspektor – alles keine Begriffe für sie. Wohltuend gleichgültig.

»Ein Schock so was«, begann er, »tut mir leid, dass ich Ihnen die Fragerei nicht ersparen kann. Zuerst zu Ihnen.« Er holte sein Notizbuch hervor und wollte, angefangen vom Geburtsdatum, so Ungefähr ihren ganzen Lebenslauf wissen.

Ruhig gab sie Auskunft.

Dann hatte auch sie Fragen. »Was ist passiert? Was ist mit Frau von Aucks, was mit ihrem Sohn?«

»Was passiert ist, müssen wir erst, und ich hoffe, mit Ihrer Hilfe, klären. Und was ist: Tot die Frau, der Sohn – das bleibt abzuwarten. Reflexe, sagt der Arzt, sind noch da, Herztöne nicht mehr. Nun zum Hergang: Wann haben Sie beide gefunden, Uhrzeit, und wie?«

Wieder gab sie ruhig Auskunft.

»In Italien waren Sie?«

»Ja.«

»Können Sie das nachweisen?«

Sie schaute irritiert. Nachweisen? Sie konnte natürlich das Hotel angeben. Auch die Reisegesellschaft.

»Um wieviel Uhr kamen Sie an?« Er streckte ihr die Hand entgegen: »Ihre Fahrkarte.«

»Fahrkarte?«

Sie erschrak. Ja, hatte sie die nicht abgegeben? Sie griff in die Manteltaschen – da war sie wieder, die Erregung. Schlagartig weg die Wirkung des Medikaments. Ihre Hände flogen. »Ja, hab’ ich die... Ich weiß nicht... Musste doch auf mein Gepäck aufpassen... Hab’ ich die nicht abgegeben... Aber wozu brauchen Sie die Fahrkarte? Glauben Sie mir etwa nicht?«

Glauben darf ein Kriminalist grundsätzlich nichts, auch wenn ihm der geübte Blick sagt, dass er ein einfältiges Huhn vor sich hat. »Es besteht kein Grund zur Aufregung, Ihre Angaben sind ja nachzuprüfen.«

»Das meine ich doch auch!« Sie spürte, dass sie rote Flecke im Gesicht bekam. »Ich weiß auch noch das Taxi. Das heißt, den Fahrer. Ich kann ihn beschreiben.«

Sie beschrieb.

»Sie saßen neben ihm?«, warf Kündig ein.

»Vorne, ja.«

»Und haben ihn so genau gesehen? Im dunklen Auto? Auch die Körpergröße?«

»Er ist doch ausgestiegen! Hat mir die Koffer getragen. Und ich gab ihm ein Trinkgeld. Fünf Mark.«

»Für das bisschen Tragen. Nobel.«

Ironie vertrug sie nicht. »Und wenn! Es waren ja meine fünf Mark. Ich sag’ das alles doch nur, weil ich auf einmal dastehe – ja, wie? Als müsste ich erst beweisen, dass ich aus Italien kam. So schauen Sie mich doch an!« Sie sprang auf und zeigte auf ihren Mantel. »Ich habe ja noch nicht mal abgelegt! Und mein Haar! Es hat doch gegossen. Und da – bitte...« Sie lief durch den Korridor nach hinten zu ihrem offen gebliebenen Zimmer: »Da stehen meine Koffer noch!«

 

Kündig war ihr gefolgt.

»Hier wohnen Sie?«

Sie wühlte in ihrer Handtasche – und da war sie, die Fahrkarte. »Na, bitte.« Sie reichte sie ihm mit einem Blick des Vorwurfs.

»In Ordnung.« Er gab sie zurück.

»Von mir aus behalten Sie sie.«                       

Sie war gekränkt jetzt.

»Das ist Ihr Zimmer?« Kündig sah sich um.

Sie nickte. Kein Wort mehr als unbedingt nötig würde sie noch von sich geben. »Wohnzimmer.« Mit dem Kopf wies sie. »Schlafzimmer. Bad. Küche.« Sie rührte sich nicht vom Fleck. »Muss ich zeigen?«

»Wenn Sie die Güte hätten.«

Ungnädig öffnete sie die Türen, ließ ihn hineinsehen. »In der Kofferkammer habe ich Mitbenützung. Wollen Sie die auch sehen?«

»Nein.« Er sah, dass sie eingeschnappt war. »Sie nehmen das so persönlich. Das sind Dinge, damit hat doch jeder Staatsbürger mal zu tun.«

»Ich nicht. Ich bin noch nie vernommen worden.«

»Daran liegt’s wohl. – Hätten Sie was dagegen, wenn wir Platz nehmen?«

Sie deutete wortlos auf einen Sessel.

Er trat hinter sie, um ihr aus dem Mantel zu helfen. »Na, wie wär’s?«

»Ach so.« Auf den Mantel hatte sie wieder vergessen. Sie schlüpfte heraus. »Anbieten«, sagte sie patzig, »kann ich nichts. Hab’ noch nichts im Haus.«

Er hielt ihr Zigaretten hin.

»Bin Nichtraucherin.«

»Dachte ich.«

»Aber wenn Sie wollen...«

Er steckte die Zigaretten wieder weg. »Tut auch mir gut, wenn ich Ihnen die Bude nicht verqualme. Eine bemerkenswert schöne Bude.« Er blickte herum. Eine alte Kommode, die echt schien, ebenso ein Intarsien-Schrank. »Ihre Sachen?«

»Wohne möbliert.«

»Eigentlich eine Wohnung für sich.«

»Weiß ich auch zu schätzen.«

»War die Wohnung immer so? Oder ist sie erst für Sie geteilt worden?«

»Hier wohnte die Mutter.«

»Mutter von wem?«

»Von Frau von Aucks.«

Er holte sein Notizbuch aus der Jackentasche. »Wo wohnt sie jetzt?«

Es lag ihr auf der Zunge, zu sagen: Im Waldfriedhof. Sie fand es unschicklich und sagte schicklich: »Sie ist tot.«

»Besten Dank für die freiwillige Auskunft. Und jetzt schlage ich vor, Fräulein Rübsam, wir vertragen uns wieder, sonst sitzen wir um Mitternacht noch da. – Wo waren wir stehengeblieben: Sie kamen an mit dem Taxi, sperrten auf – weiter? Erzählen Sie der Reihe nach.«

Sie erzählte, und es war gut, dass sie es endlich konnte. Sie erzählte nicht nur der Reihe nach, sie erzählte, da sie mehr und mehr das Gefühl hatte, dass der Polizeimensch ihr glaubte und von der absurden Idee, sie zu verdächtigen, abgerückt war, schließlich auch von sich. Wie das für sie war! Dieser unbeschreibbar grässliche Schrecken! Nicht viel hätte gefehlt, und sie wäre davongerannt. »Aber nun sagen auch Sie mir: Was ist – Ihrer Meinung nach – passiert? Ich frag’ doch nicht aus Neugierde, schließlich wohne ich hier, und Sie müssen verstehen, wie mir zumute ist.«

Damit hatte sie nicht unrecht. Als Zurückbleibende in dieser Wohnung brauchte sie jetzt Nerven, und die schienen ihre Stärke nicht. »Raubmord«, sagte Kündig vorsichtig, »da kann ich Sie beruhigen, ist es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. Dafür fehlt jedes Indiz. Selbstverständlich muss das Spurenmaterial erst ausgewertet werden. Wie es nach dem ersten Eindruck aussieht, könnte – ich betone: könnte es Selbstmord gewesen sein.«

Selbstmord? Unbegreiflich für sie. »Wie denn Selbstmord – und beide tot?«

»Es sieht so aus – Betonung wieder: auf den ersten Blick –, als hätte der Sohn die Mutter erschossen und dann die Waffe gegen sich gerichtet.«

»Mischa? Ausgeschlossen!«

»Haben Sie die Familie näher gekannt?«

»Was heißt kennen?« Als Untermieterin hat Irmgard Rübsam in dem Jahr, das sie hier wohnt, Worte gewechselt, man grüßte sich, wenn man sich auf der Diele begegnete. »Aber kennen?« Oft sah man sich tagelang nicht. Sie ging früh aus dem Haus, um die Zeit schlief Frau von Aucks sicher noch, und wenn sie abends nach Hause kam – es waren doch zwei Wohnungen: »Wir hatten«, so definiert sie es, »ein gutes Verhältnis und störten uns gegenseitig nicht.«

»Kontakt bestand also keiner?«

»Kaum, möchte ich sagen.«

Ein mageres Ergebnis für den Polizisten, der selbst zugeben musste: In dieser raumverschwenderischen Altbauwohnung war es möglich, dass zwei Parteien nebeneinander her lebten. »Wie alt«, fuhr er weiter, »war Frau von Aucks? Fünfzigerin?«

»Würde ich auch sagen. Genau weiß ich es nicht.«

»Und der Sohn?«

»Anfang zwanzig. Schätze ich.«

»Wovon lebte die Familie?«

Darüber hatte die Untermieterin nie nachgedacht. Vermögen, nahm sie an. »Und dann lebten sie ja sehr zurückgezogen und, was ich so sah, auch sparsam. Gingen nie aus, hielten keine Putzfrau.«

»Und der Sohn? Hatte er einen Beruf?«

»Musikstudent ist er – war er, soviel ich weiß. Manchmal hörte ich ihn spielen, wenn ich über die Diele ging.«

»Welches Instrument?«

»Klavier. Und dann auch Saxophon. Oder Klarinette, ich kann das nicht auseinanderhalten. Außerdem hörte ich auch Schlagzeug.«

»Moderne Musik also.«

»Ja, Jazz. Aber auch Klassisches. Es hörte sich schön an. Das hat er von ihr, das Künstlerische. Sie hat ja gemalt. Und Geschmack hatte sie. In ihrer Jugend war sie Schauspielerin.«

»Haben Sie irgendwelche Differenzen bemerkt?«

»Zwischen beiden? Nie. Mischa hat seine Mutter vergöttert. So was von Sohn, wo gibt’s das noch!«

Kündig steckte sich nun doch eine Zigarette an. »Ich denke, Sie hatten keinen Kontakt?«

»Das merkt man. Er hat doch alles für sie getan. Den Haushalt geführt, gekocht, eingeholt; sooft ich ihm begegnet bin, immer kam er mit Taschen an. Staub gesaugt hat er, den großen Teppich, wissen Sie, auf der Diele, und die Polstermöbel.«

Kündig überlegte: Eine Fünfzigerin? »Warum hat sie das nicht selbst gemacht?«

»Ich weiß es zwar nicht sicher, aber ich hatte den Eindruck, ihre Gesundheit war nicht in Ordnung, öfter scheint sie gelegen zu haben. Sie war ja sehr, sehr zart. In jungen Jahren muss sie eine Schönheit gewesen sein. Das Bild in Mischas Zimmer, das große Porträt über dem Bücherregal, das ist sie.«

»Und der Mann von ihr?«

»Kenn ich nicht. Sie war geschieden.«

»Hat sie Ihnen das erzählt?«

»Nein. Das...« musste sie eingestehen, und es war ihr nicht ganz angenehm, sie wurde ein wenig rot, »...das habe ich vom Hausmeister.«

Kündig tat, als sehe er ihre Verlegenheit nicht. »Machen wir Schluss für heute.« Er steckte sein Notizbuch ein und stand auf. »Wir sprechen uns noch mal.«

Sie geleitete ihn hinauf.

Stille lag wieder über der Wohnung, die Polizisten waren verschwunden.

»Wissen Sie«, sagte die Rübsam im Hinausgehen, »Frau von Aucks war noch, das gibt es ja heute nicht mehr, sie war eine Dame. Und auch der Sohn – vielleicht finden Sie’s altmodisch und lachen Sie mich aus –, so was von wohlerzogen, ein Kavalier.«

Der Polizist lachte nicht, warum auch. Er hatte die alte Jungfer längst eingereiht. Pechvogel, hineingetappt und Erster am Tatort – als Zeugin eine komplette Niete.

Er ging zu den drei vorderen Zimmern und überzeugte sich, dass sie abgesperrt waren; die Schlüssel nahm er an sich. »Versiegeln«, sagte er, »wird dann wohl die Staatsanwaltschaft. Kann noch unruhige Tage für Sie geben.«

»Versiegeln?«

»Kommt auf den Staatsanwalt an. Danke einstweilen.« Er reichte ihr die Hand. »Und schauen Sie, dass Sie schlafen können, sehen mitgenommen aus.«

Sie gab ihm ebenfalls die Hand. »Und was, meinen Sie, wird mit der Wohnung? Auch was mich betrifft?«

»Abwarten. Gute Nacht.« Er ging.

»Gute Nacht.«

 

Allein blieb sie zurück.

Sie jagte, als würde sie verfolgt, zurück in ihr Zimmer und tat, was sie kaum jemals getan hatte, seit sie hier wohnte: Sie schloss sich ein. Sperrte noch einmal auf und tat etwas noch Ungewöhnlicheres: zog den schweren Filzvorhang zu und schloss sich wieder ein.

Koffer standen herum, ihr Mantel lag da – sie ließ alles liegen und stehen und kroch in ihr Bett. Angst hatte sie. Sie schlotterte. Endlich kamen auch Tränen. Wieder einmal tat sie sich aus tiefstem Grund ihres als sentimental belächelten Herzens leid. Immer wurde man betrogen. Da freute man sich auf das Zuhause – und kam vom Regen in die Traufe. Und so ging es das ganze Leben. Sie heulte sich in den Schlaf.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Als Mischa zu sich kam, sah er Schläuche und das Gesicht einer Krankenschwester. Es war das Gesicht einer gerupften Gans, deren scharfäugiger, wimpernloser Blick widersprüchlicherweise Intelligenz zeigte. Sie wartete darauf, dass er ein Wort oder sonst eine Reaktion von sich geben würde.

In der Ecke des hellgetünchten Zimmers saß vor einem Tischchen ein Mann in weißen Hemdsärmeln und wartete anscheinend auch auf den Moment.

Mischa sagte nichts. Seine Augen notierten die Umgebung: Personen, Raum, Gegenstände – und schlossen sich wieder.

Schlief er?

»Noch nicht da?«, flüsterte der Hemdsärmelige der Schwester zu.

Sie winkte ab. Er war da! Sie hatte schon viele aus der Narkose erwachen sehen und erkannte es an der Iris, ob sie noch im Zwischenbereich schwammen, auch wenn sie offenen Auges und mit gesprächiger Zunge Daseinskundgebungen verlauten ließen, an die sie später nicht den Krümel einer Erinnerung hatten. Dieser war da.

Schließlich, als das eine Weile so bei ihm ging: Augen auf – schauen – Augen zu, sprach sie ihn an. »Wie fühlen Sie sich?«

Er sah in ihr gerupftes Gesicht und schwieg.

»Glück gehabt.«

Keine Antwort.

»Ging um Haaresbreite.«

Es schien ihn nicht zu interessieren.

»Und Zufall, dass Professor Laubmann gerade in München war; reiner Zufall.«

Sie redete gegen eine Wand. Er fragte weder, wer Laubmann war, noch was dieser Laubmann gemacht hatte. Als sie’s ihm ungefragt erklärte – Laubmann, Herzchirurg, Kapazität, zurzeit nur hier anlässlich einer Tagung –, blieb es ohne Eindruck. Er schaute an ihrem abenteuerlich reizlosen Gesicht vorbei und sagte nichts.

Dann eben nicht.

Mit einem Achselzucken zu dem Mann an dem Tischchen zog sie sich zurück, nahm ihm gegenüber Platz und begann, ihren Krankenbericht zu schreiben.

In die Stille kam das erste Wort.

»Wo ist meine Mutter?«

»Ihre Mutter?«

Darauf war die Schwester vorbereitet, sie trat heran. Vom Chef hatte sie Weisung, dass er die Wahrheit nicht erfahren durfte, solange er nicht über den Berg war. »Da müsste ich erst nachfragen«, gab sie ihm zur Antwort, »ich weiß es nicht.«

»Lügen Sie nicht«, sagte er ruhig. »Sie ist tot.«

»Aber wie könnte ich! Sie liegt nicht bei uns, ich muss erst den Chef fragen.« Und sie ging, um das zu tun, schnell hinaus.

Der Mann in der Ecke blieb.

»Wer sind Sie?«, fragte Mischa.

Auch der Mann war vorbereitet. »Ich bin Praktikant hier«, behauptete er und kam, um das unter Beweis zu stellen, an das Bett. »Sie dürfen sich nicht bewegen, dürfen auch nicht viel sprechen. Sie haben eine große Operation hinter sich.«

 

Der Chef, ein Gott, an dessen autoritärem Thron gesägt wurde, der sich aber mit Können, Persönlichkeit und einer selbst mit den Wölfen heulenden Schlauheit noch ziemlich unangefochten halten konnte, war ungewöhnlich rasch zur Stelle.

»So weit wären wir, gratuliere.«

Die Freude, die er zu erkennen gab, war keine Pose; ein schwerer Fall hatte die erste Hürde genommen, und ein Fall war der junge Mensch für ihn, alles andere ging ihn nichts an. Die Operation – dem sich anbietenden Gastchirurgen neidlos überlassen – war ein Ritt über den Bodensee gewesen. Die Kugel hatte den Herzbeutel durchschlagen und war in der Lunge steckengeblieben. »Und wie geht’s uns jetzt?«, fuhr der Arzt fort. »Allem Anschein nach relativ ordentlich.«

»Wo ist meine Mutter?«, fragte Mischa.

»Sie liegt nicht hier«, antwortete ihm der Arzt, »da müsste ich erst mal...«

»Sie lügen ja auch; sie ist tot.«

»Aber wenn ich Ihnen sage!«

»Sie ist tot, ich habe ihren Puls gefühlt, sie hatte keinen mehr.«

Eine scheußliche Situation für den Arzt, der Teufel hole sie.

Der Mann in der Ecke schrieb mit.

Wie zieht sich ein Chefarzt aus der Klemme? »Erst mal geht’s hier um Sie, und hier bestimme ich.« Die Flucht in die Autorität. »Zunächst

haben Sie Sprechverbot und müssen abschalten. Verstehen Sie: müssen. Seien Sie vernünftig, Menschenskind, Sie haben eine geflickte Lunge; Emotionen und so weiter, das steht nicht drin. Kommen Sie, Schwester.«

 

Der Arzt trat mit ihr auf den Gang hinaus.

»Schöne Scheiße.« Wohl war ihm in seiner Haut nicht. »Ist auf den Polizisten Verlass?«

»Hoffentlich. Sie wechseln sich ab.«

»Ihr könnt nicht genug aufpassen – der wiederholt’s. Haben Sie die Augen gesehen?«

Sie hatte. »Dank erleben Sie von dem nicht.«

»Wenn wir ’n nur erst so weit haben, dass er verlegt werden kann! Dann nichts wie ab mit ihm.«

»Chef – Sedativa.«

Das Krankenschwesternbrevier: Spritzen, dann war Ruhe im Laden. Würde in dem Fall auch gar nichts anderes übrigbleiben.

»Äußerstenfalls«, gab der Arzt zu. »Wenigstens die ersten Tage. Wie alt ist er?«

»Dreiundzwanzig, vierundzwanzig.«

So alt wie einer seiner Söhne. »Dreiundzwanzig...« Er schüttelte den Kopf. »Ist das vorstellbar: erschießt die Mutter, nimmt ihren Puls – und jagt sich selber eine Kugel rein.«

»Konsequent.«

»Ja, schauderhaft konsequent.«

»Sedativa!«

»Altes Schlachtross!« Er schlug dem hässlichen Mädchen auf die Schulter und enteilte. Kamen immer an, die vertraulich kollegialen Derbheiten. »Und nichts darf liegenbleiben«, rief er noch zurück, »nicht die Spitze einer Nadel!«

 

In einer Klinik bist du ausgeliefert; sie machen mit dir, was sie für richtig halten, einen eigenen Willen hast du nicht, auch wenn du ein freier Mensch bist. Frei war der junge Aucks nicht mehr, und sein Wille befand sich in der Verfügungsgewalt der anderen.

Die ersten Tage verbrachte er im Dämmer. Wie viele Tage? Zwei, drei, vier? Er hatte das Zeitgefühl verloren. Zwischen fernen Anstürmen von Schmerzen und Brandungen, in deren Tiefe Übelkeit rollte, glitt er immer wieder ins Aus, wo es nur Farben und elektronisch verzerrte Geräusche gab. Als er endlich zu sich kam, sah er keine Schläuche mehr, auch nicht das Gesicht der gerupften Gans; stattdessen stieg das Bett mit ihm, fuhr und schaukelte – ein Zustand wie nach einem Rausch. Hirn verwüstet, Magen verwüstet.

Der Mann saß noch in der Ecke.

Am Waschbecken stand die Schwester und zählte Tropfen in ein Glas. Sie nickte herüber zu ihm. »Und wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Zum Kotzen.«

»Kann ich mir denken.«

»Was habt ihr mir gegeben?«

Der Polizist griff in seine Hosentasche, wo ein Taschentonband steckte, ein lausiges Ding, das nicht viel taugte, manchmal als Primärträger aber doch nützlich war. Er schaltete es ein und versuchte es unauffällig näher zu schieben.

Der Patient meuterte.

»Fragen, das gibt’s nicht! Ihr manipuliert. Und das Subjekt wird zum Objekt gemacht. Ob einer will, schert euch nicht. Er muss.«

»Immerhin sprechen Sie jetzt.« Die Schwester schob einen Stuhl heran und setzte sich ans Bett. »Das Gröbste hätten wir hinter uns.«

Mischa schickte ihr einen Blick hin und hielt den Mund. Sie betrachtete ihn: Augen hatte er – wenn sie wenigstens solche Augen gehabt hätte. Was brauchte ein Mann auch noch schön zu sein, er war doch ohnehin im Vorteil.

»Eigentlich«, sagte Mischa, »sollte ich Ihnen das Bett vollkotzen.«

»Tun Sie’s, rührt mich nicht.«

»Es ist das Ekelhafteste, was es gibt.«

»Kleine Fische, kenn’ ich größere.«             

Wieder schwieg er.

Dann aus einer anderen Ecke sagte er plötzlich: »Aber Sie geben zu, dass meine Mutter tot ist?«

»Ja.«

»Und der Mann da ist kein Praktikant?«

»Nein.«

Es war ihm nichts vorzumachen, in diesem Stadium auch nicht mehr nötig. »Er ist nicht vom Krankenhaus; er hat den Auftrag, Sie zu bewachen.«

»Polizist.«

»Ja, ein Polizist.«

Hatte er gewusst. Wenigstens logen sie jetzt nicht mehr. »Wo bin ich?«

»Auf der Intensivstation der Chirurgischen Abteilung der Universitätsklinik. Und ich«, sagte sie, weil er sie nicht aus den Augen ließ und sie abzulesen glaubte, wie hässlich er sie fand, »bin Schwester Beatrix. Den Namen hab’ ich mir nicht gegeben, das Gesicht auch nicht.« Sie stand auf und straffte sich. Gewachsen wusste sie sich passabel. Und tüchtig wusste sie sich. Letzteres war ihre einzige Chance. Wenn man als Frau so aussah, konnte man nur mit Tüchtigkeit überleben. Und mit Intelligenz. Sie brachte ihm eine Mundschale. »Falls Sie brechen müssen. Sie können es auch ins Bett, mich erschüttern Sie nicht.«

 

Abends fehlte die Ampullenfeile.

»Sie war in der Packung!«

Beatrix legte sich mit dem Polizisten an. Die Packung stand auf dem Nachttisch.

»Und jetzt ist sie nicht mehr drin!«

»Was weiß ich.« Der Mann ließ sich von dem Frauenzimmer doch nicht anfegen. »Was gehen mich Ihre blöden Ampullen an!«

»Zehn Minuten höchstens war ich in der Stationsküche. Haben Sie nicht aufgepasst?«

»Jetzt halten Sie aber die Luft an!«

»Wo wäre sie denn dann?«

Sie suchte Patient und Bett ab, fand nichts.

Sie läutete. »Ein neues Bett!« Weil sie nicht auf die verständnisvollste Miene bei der hübschen kleinen Hilfsschwester stieß, machte sie ihr Beine. »Los, los! Auf acht steht ein frisch bezogenes.«

Sie legte ihren Patienten frei bis auf seine Verbände, untersuchte alle seine Körperhöhlen und -öffnungen, beförderte ihn schließlich mit Hilfe der hübschen Kleinen in das neue Bett und machte sich über das alte her. Und wenn sie es zerlegen musste!

In der Matratzenritze fühlte sie’s. 

Triumphierend zog sie das Metallstückchen hervor und hielt es diesem Wächter mit einem Blitz aus ihren kahlen Sehschlitzen hin.

»Und was ist das?!«

»Versteh’ ich nicht.«

Der Polizist hatte eine Wut und beschloss, diesem schiechen Vogel bei nächster Gelegenheit eines auszuwischen. Gar so unfehlbar, wie die sich aufspielte, war sie wohl wieder nicht. Und der Bursche da: Er verpasste ihm einen Blick. Wie konnte der nur unter seinen Augen an die Schachtel kommen!

Mischa schwieg.

Beatrix rollte das Bett auf den Gang hinaus und kehrte unverzüglich zurück.

»Sie machen uns nur Arbeit. Und gelingen tut’s Ihnen nicht. Solange Sie bei uns sind und ich die Verantwortung habe, können Sie sich verlassen drauf – es gelingt Ihnen nicht! Merken Sie sich das.«

 

Tage später kam der Staatsanwalt.

Wäre es nach ihm gegangen, hätte sein Besuch schon am Morgen nach der Operation stattgefunden. Der Arzt jedoch ließ sich auch durch tägliche Anrufe nicht umstimmen. Die Schwere des Eingriffs erforderte absolute Ruhe. Jeder Besuch wurde abgewiesen. Die Untermieterin Irmgard Rübsam ebenso wie Journalisten, deren einige sich wie Zecken festsetzten. Dass einer mit schussbereiter Kamera plötzlich im Zimmer stand, passierte Schwester Beatrix nur einmal. Ehe er den Auslöser betätigen konnte, sah er sich gefeuert.

Seither sperrte sie zu.

Staatsanwalt Dr. Ernst Messering bekam schließlich zehn Minuten vom Chefarzt bewilligt und musste die Einschränkung akzeptieren, sich von keinem Fotografen begleiten zu lassen. Auch von keinem Journalisten. Messering erklärte sich einverstanden und ließ bestellen, dass er ganz allein käme.

Er hielt Wort.

Das Auftreten des mittelgroßen Mannes, der leise an die Tür klopfte, war so bescheiden, dass er, zumal er auch etwas früher als vereinbart erschien, von Beatrix beinahe nicht eingelassen wurde.

»Messering«, stellte er sich vor.

»Ah, Sie sind das.«

Beatrix geriet nicht in Verlegenheit. Etwas konnte ihr niemand: imponieren. Wer des Menschen Hinfälligkeit kannte wie sie, für den war auch ein Staatsanwalt eine vergängliche Größe, der einmal der Hintern gewischt werden musste.

»Sie sind zu früh dran«, sagte sie. »Macht nichts, ich geh’ raus. Und wie vom Chefarzt angeordnet: zehn Minuten. Bitte.«

Sie ging.

Der Polizist blieb.

Unscheinbar wirkte der Sitzriese Messering nur, solange er stand. Saß er, verbreitete er Persönlichkeit, und sein kantig behauener Kopf kam zur Geltung. Im Übrigen war er ein um Loyalität bemühter Mann, dem es darauf ankam, Vertrauen zu gewinnen.

»Solange Sie ohne Rechtsbeistand sind«, begann er das Gespräch mit einer Belehrung, »steht es Ihnen frei, die Aussage zu verweigern. Sie haben das Recht auf einen Anwalt.«

»Ich brauche keinen«, sagte Mischa.

»Ich möchte mit Ihnen allein sprechen, und ich halte mich strikt an die zehn Minuten. Sie«-das galt dem Polizisten – »können auch hinausgehen.«

Der Bewacher zögerte, er hatte seine Weisung.

»Auf meine Verantwortung.«

Messering nickte ihm ermunternd zu. Darauf verzog sich der Polizist.

 

Er hatte die Klinke noch in der Hand, da schoss aus einer Nische des Gangs Beatrix auf ihn los.

»Sind Sie verrückt?«

»Der Staatsanwalt hat mich rausgeschickt.«

»Der kann von mir aus ein Genie sein, als Krankenwärter ist er ein Idiot. Gehen Sie rein!«

Sie machte die Tür auf und schob den Polizisten mit sich hinein. »Herr Staatsanwalt, das geht nicht, der Patient darf nicht ohne Bewachung bleiben.«

Verwundert sah sich Messering, der gerade neben dem Bett Platz genommen hatte, nach ihr um. »Ich«, meinte er mit einem Anflug von Humor, »bin ja auch da.«

»Sie entschuldigen, wir haben unsere Erfahrungen.«

»Meinetwegen«, sagte jetzt Mischa, »kann er bleiben. Was ich zu sagen habe, kann er hören.«

Eine Geste des Staatsanwalts – der Polizist blieb, die Schwester verschwand.

»Sie wollen doch«, begann Mischa, ehe der Staatsanwalt wieder seine Präliminarien ausbreiten konnte, »ein Geständnis. Denke ich.« Er wirkte ruhig und vorbereitet. »Hier ist es, ich habe es getan.«

»Was haben Sie getan?«

»Das wissen Sie.«

»Aber Sie müssen es aussprechen.«

Eine Sekunde zögerte Mischa, als müsse er an sich halten, dann sprach er es, wie gewünscht, aus. »Ich habe meine Mutter getötet; erst sie, dann mich.«

»Wie haben Sie es ausgeführt?«

»Auch das wissen Sie. Ich schoss.«

»Beschreiben Sie es näher.«

»Was ist da zu beschreiben, ich schoss, überzeugte mich, dass sie tot war, dann schoss ich auf mich.«

»Überzeugt haben Sie sich? Wie?«

»Ich nahm ihren Puls und horchte am Herzen.«

»Und das Ergebnis?«

»Das Herz schlug nicht mehr, der Puls auch nicht.«

»Wie lange haben Sie Puls und Herz kontrolliert?«

»Ich sah nicht auf die Uhr. Lange. Minuten.«

»Und dann schossen Sie auf sich?«

»Ja.«

Bis hierher stimmten die Aussagen überein mit den Untersuchungsbefunden. Der Tod der Frau, festgesetzt von den Gerichtsmedizinern, war zwanzig bis dreißig Minuten vor der Auffindung eingetreten. Nicht ganz so lange schätzten die Mediziner die Ausblutung beim Sohn.

»Waren Sie sofort bewusstlos«, ging Messering mit dem Verhör weiter, »oder haben Sie irgendwelche Erinnerungen?«

»Ich weiß nur, dass ich einen Schlag spürte, dann weiß ich nichts mehr. – Ich begreife nicht, dass man uns finden konnte, die Schüsse hat niemand gehört.«

»Wie können Sie das annehmen?«

»Im ganzen Haus war niemand. Über uns ist eine Versicherung, unter uns eine Zahnarztpraxis. Beide abends geschlossen. Geputzt wird gleich nach Büroschluss. Außerdem stellte ich das Radio an.«

»Wozu das?«

»Damit tagsüber die Stille nicht auffallen sollte.«

»Durchdacht. – Sie wissen, wer Sie fand?«

»Nein. Die sägen mir hier nichts.«

»Ihre Untermieterin.«

»Fräulein Rübsam?«

»So heißt sie.«

»Das glaube ich nicht. Die war in Urlaub.«

»Den sie abbrach.«

»Abbrach – warum?«

»Aus einem nebensächlichen Grund; sie war nicht gut untergebracht. Am siebten August, das ist nachgewiesen, kam sie mit dem Zug um zwanzig Uhr vierzig an.«

Es war eine Ohrfeige für den Geretteten. Und ein ganz schlechter Witz.

»Zufall...«      

»So muss man’s wohl bezeichnen.«

Messering sah auf die Uhr, die Zeit drängte.

»Fassen wir zusammen, Punkt eins: Die Tat war eine vorsätzliche und geplante?«

»Geplant. Bis auf den Zufall. Den konnte ich nicht planen.«

»Punkt zwei: Warum haben Sie es getan?«

»Das ist meine Sache.«

Die Antwort kam so rasch und schroff, dass der Fragende sofort das Signal erkannte. Messering ließ eine kleine Pause vergehen. »Bis zu einem gewissen Grad«, fuhr er dann etwas behutsamer weiter, »ist das verständlich, nur – ich kann mich damit nicht zufriedengeben. Es ist nicht Ihre Sache allein. Sie müssen mir schon auch die Gründe sagen.«

Mischa schwieg.

»Warum haben Sie es getan?«

Schweigen.

»Mit Ihrem Geständnis ersparen Sie dem Gericht viel Mühe, das wird auch anerkannt – Sie müssen ihm aber bei der Urteilsfindung helfen.«

»Verurteilen Sie mich«, sagte Mischa.

»Ein gerechtes Urteil kann nur gefunden werden, wenn das Gericht die Motive der Tat kennt.«

Keine Antwort.

Messering sah wieder nach der Uhr. »Besprechen Sie es mit Ihrem Anwalt. Haben Sie einen?«

»Ich will keinen.«

»Dann wird ein Pflichtverteidiger bestellt.«

»Verstehen Sie nicht: Ich will keinen!«

»Das ist Gesetz.«

Die Tür ging, Schwester Beatrix kam. »Herr Staatsanwalt, die zehn Minuten sind vorbei.«

»Auf die Sekunde.«

Messering stand auf und verabschiedete Vieh mit einem Händedruck, der nicht erwidert wurde; die Hand des Jungen fühlte sich an wie ein schlaffes Bündel.

»Bis zum nächsten Mal.«

 

Das nächste Mal verlief genauso.

Zwanzig Minuten hatte er diesmal für das Verhör, es brachte Messering keinen Schritt weiter.

Mischa, von Schwester Beatrix der Sicherheit halber ins Bett gesteckt, obwohl er jetzt schon unter Beaufsichtigung auf dem Gang auf und ab gehen konnte, widerrief nichts, was er beim ersten Verhör gesagt hatte, er gab die Tat ohne Einschränkungen zu; sobald Messering jedoch auf die Gründe zu sprechen kam, stand die Wand, lief eine Dublette ab. Dieselben Argumente, dieselben Worte. Meine Sache. »Verurteilen Sie mich.«

Messering begann sich allmählich zu ärgern; er hatte schon andere Jahrgänge zum Sprechen gebracht, verdammt, er schlug eine härtere Tonart an, aber es gelang ihm nicht, aus diesem blassen und in seinen Augen nun schon hochmütig abweisenden Jungen nur ein Wort herauszuholen, was dieser sich vorgenommen hatte, nicht zu sagen. Und vorgenommen war alles. Was er sagte oder nicht sagte, es war überlegt und vorbereitet.

Lediglich Details über die Pistole kamen neu hinzu. Es war eine alte Walther 7,65 mm. Messering fragte, woher er sie hatte.

»Die gab es bei uns«, antwortete Mischa.

»Wo bei Ihnen, bei wem?«

»War noch vom Krieg da. Sie nahmen sie in den Keller mit. Hat mir meine Mutter erzählt. Falls sie verschüttet würden oder so.«

»Familienbesitz also?«

»Wenn Sie so wollen.«

Die Angaben stimmten mit den Befunden überein. Die Walther 7,65 war ein Modell zirka 1940.

Zuletzt legte Messering ein Verzeichnis hin. »Die Anwaltsliste. Suchen Sie sich einen aus.«

»Ich nehme keinen.«

 

Danach sprach Messering mit dem Chefarzt.

»Drei Kreuze hinter ihm!« Mit einer schon an Sarkasmus grenzenden Offenherzigkeit gab der Arzt zu, wie heilfroh sie seien, dass sie den schwierigen Fall nun in Bälde der Krankenabteilung des Untersuchungsgefängnisses überweisen konnten. »Ich kann Ihnen nur raten«, fügte er grinsend hinzu, »sorgen Sie für Bewachung! Sonst findet Ihr Prozess mangels Hauptakteur niemals statt.«

»Hat er denn das noch immer nicht aufgegeben?«

»Er denkt an nichts anderes. Wie oft und mit welchen Mitteln er versucht hat, an irgendwelche Gegenstände zu kommen – angefangen von Luminal, das er, unerklärbar wie, hatte klauen können, bis zu Pinzetten, Scheren, Ampullenfeilen, Thermometer und so weiter, das ist absoluter Hausrekord. Wir haben ihm das Beste an Schwester reingesetzt, was wir haben. Eine Würgerin, wenn Sie verstehen, was ich damit meine – zwölf Stunden Dienst Tag für Tag –, gelungen ist es ihm nicht, aber sie hat er geschafft. Jetzt kann ich sie erst mal in Urlaub schicken.«

»Aussichten!« Eine reine Freude war die Zukunftsprognose, die ihm der andere entwarf, für den Staatsanwalt nicht.

»Wann, glauben Sie, ist es soweit, dass wir ihn beobachten lassen können?«

»Psychiatrisch? Jederzeit. Medizinisch nichts mehr einzuwenden. Aber zwecklos. Hinausgeschmissenes Geld, wenn

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Ernestine Wery/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2021
ISBN: 978-3-7487-8339-8

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