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Leseprobe

 

 

 

 

WILL HENRY

 

 

Ich, Tom Horn

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex Western, Band 38

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

ICH, TOM HORN 

In eigener Sache 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Nachwort 

 

Das Buch

Tom Horn war der erbarmungsloseste Menschenjäger des amerikanischen Westens. Er hing wie ein einsamer Wolf an einer Fährte und hielt erst an, wenn er seinen Mann gefunden hatte. Die Armee verpflichtete ihn, um aufständische Apachen in der Wüste aufzustöbern. Die Indianer schätzten seinen Mut und sein großes Herz und nahmen ihn in den Stamm auf. Er ritt als Cowboy die wildesten Pferde zu und machte sich als Pinkerton-Detektiv auf die Suche nach gefährlichen Verbrechern. Sein Name war an jedem Lagerfeuer zu hören. Dies ist seine Geschichte - so, wie er sie selbst erzählt hätte...

 

Will Henrys Roman Ich, Tom Horn basiert auf den Aufzeichnungen von Thomas »Tom« Horn Jr. (* 21. November 1860; † 20. November 1903) und erschien erstmals im Jahr 1977; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1979. Der Roman gilt bis heute als einer der besten und dramatischsten Western aller Zeiten. 

Tom Horns Aufzeichnungen waren auch die Vorlage des Films Ich, Tom Horn (USA 1980, Regie: William Wiard) mit Steve McQueen, Linda Evans und Richard Farnsworth. 

Ich, Tom Horn erscheint in der Reihe APEX WESTERN. 

  ICH, TOM HORN

 

 

 

 

 

  

Ist noch ein Krieger übrig, der sich an mich erinnert? Gibt es noch eine Frau, die weinen wird, wenn sie erfährt, dass Talking Boy niemals mehr zum jacal ihres Vaters reiten wird? Ein einziges Kind, eine Schwester, einen alten Mann, deren dunkle Gesichter von der Kerze ihres Lächelns erhellt werden, wenn sie an den Mann zurückdenken, den die Soldaten Tom Horn genannt haben?

Yo no sé, amigos. Montad en vuestros caballos. 

Reitet weiter, reitet weiter!

 

Tom Horn (im Cheyenne-Gefängnis)

 

 

 

 

  In eigener Sache

 

 

»Ich, Tom Horn, schwöre feierlich...«

So würde ein Anwalt anfangen, und deshalb werde ich es auch tun. Ich werde alle, die gegen mich sind, wissen lassen, dass hier ein Mann Zeugnis ablegt und etwas sagt, das nichts mit dem Unsinn zu tun hat, der in den Zeitungen über mich geschrieben worden ist. Tom Horns Freunde werden keinen Eid brauchen, um zu wissen, wer das hier geschrieben hat, und sie werden auch wissen, dass es die Wahrheit ist, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Es wurde nichts weggelassen und nichts hinzugefügt.

Ich hätte das alles auch bei der Gerichtsverhandlung unter Eid aussagen können. Ich hätte es auch getan, aber man wollte es ja nicht hören. Man wollte nicht zulassen, dass es auf meine Art geschah. Wäre Jesus selbst vom Himmel herabgestiegen, um für mich Zeugnis abzulegen, hätte man auch seine Worte aus dem Protokoll gestrichen und ihm eine Freifahrkarte für den nächsten Zug aus der Stadt gekauft.

Aber das alles gehört ja nun der Vergangenheit an. Inzwischen ist viel Wasser den Strom hinabgeflossen. Nichts kann mehr stromaufwärts gezogen werden. Aber ein Mann muss es eben versuchen. Er muss die Dinge richtigstellen, wenn er es kann. Er muss sagen, was ihn ins Cheyenne-Gefängnis brachte. Wie die Zeiten damals waren. Wie die Gesetze waren... und wie sie nicht waren. Warum die Justiz versagt hat. Warum die Zeugen unter Eid gelogen haben. Warum die Richter sich taub stellten. Weshalb die Geschworenen blind waren. Oh... und wie unterschiedlich die Vorschriften ausgelegt wurden, wenn es sich darum handelte, einen Unschuldigen zu verurteilen! Die Leute sollen wissen, was aus dem Gesetz im Westen wurde.

Im Westen vertraute ein Mann dem Gesetz wie seinem eigenem Wort. Das er offen und rundheraus aussprach. Ohne Schnörkel. Er jammerte nicht. Er zog nicht den Kopf ein, wenn Lügen und Beleidigungen auf ihn herabprasselten. Und er stand zu seinem Wort. Wenn er es einmal ausgesprochen hatte, nahm er nichts davon zurück. Das galt auch für seine Handlungen. Deshalb verließ er sich darauf, dass es mit dem Gesetz genauso war.

Aber manchmal brachte ein Mann beim ersten Treiben nicht gleich die ganze Herde zur Bahnstation. Selbst wenn er die Rinder sicher verladen glaubte, konnte immer noch allerhand passieren. Er sah das nicht sofort. Es kam ihm erst später zu Bewusstsein. Wenn die Treibmannschaft ausbezahlt war, wenn sich die Staubwolke der Ponyhufe auf den südlichen Prärien in Richtung Texas gelegt hatte, dann erst blickte ein Mann in die andere Richtung, nach Norden, nach Wyoming, und dann kniff er die Augen zusammen und murmelte leise vor sich hin: »Verdammt!«

Denn was er dort oben sah, war der Rest seines Lebensweges... und es ließ ihn zusammenzucken. Ich weiß, dass ich die Wahrheit über diesen letzten Teil des dunklen, düsteren Weges sagen muss. Den Teil, den mein großer, guter Freund John C. Coble nicht in dem Buch erwähnen will, das er zu schreiben gedenkt, denn man könnte es als »Rechtfertigung« alles dessen auffassen, was in Wyoming als Unrecht geschehen ist.

Coble hatte darauf bestanden: Dieser erste, helle Teil des Weges, das ist der wahre Teil. Schildere ihn offen und ehrlich, hatte er geraten. Deine glückliche Kindheit im Scotland County von Missouri. Wie du als derbknochiger Bursche, noch nicht mal fünfzehn Jahre alt, draußen in Kansas bei der Atchison, Topeka & Santa Fé gearbeitet hast. Wie du geholfen hast, die Gleise von Kansas City bis zur fernen Küste des Pazifik zu legen. Wie du schon im Alter von reichlich fünfzehn Jahren in New Mexico ein berühmter Kutscher wurdest. Wie du mit knapp achtzehn Jahren in das berühmte Apache-Scout-Corps der US-Kavallerie im Arizona-Territorium auf genommen wurdest und unter dem legendären Al Sieber gedient hast. Wie du damals den berüchtigten Geronimo beinahe eigenhändig gefangengenommen hättest. Wie du zum Blutsbruder der wilden Apachen wurdest. Warum man dich mit dem Namen Talking Boy geehrt hat, warum du ihre Sprache reden konntest, wie es bis dahin keinem anderen weißen Mann gelungen war. Wie du – von der Pinkerton Detective Agency an die riesige Swan Land & Cattle Company empfohlen – auf verwegene Art und ganz allein auf dich gestellt in den beiden Jahren 1894 und 1895 das ganze südliche Wyoming von Viehdieben gesäubert hast. Und so weiter und so fort.

Herrje, hatte Coble gedacht. Für die Bewunderung eines solchen Lebens konnte es doch gar kein Ende geben!

»Erzähle alle diese guten, schönen, aufrechten Dinge«, hatte John Coble am Schluss gesagt. »Dann wirst du frei ausgehen! Dann werden die Leute wissen, dass die Justiz den falschen Mann wegen des schrecklichen Mordes an Willie Nickel beschuldigt und vor Gericht gestellt hat!«

Nun, für Coble wäre das alles vielleicht gut und recht gewesen, aber für mich hörte es sich irgendwie falsch an. Coble wollte und würde die Geschichte nur bis zum Rand der wahren Hölle schildern, in die Tom Horn kam, als er nach Wyoming ritt. Der dunkle Teil sollte nicht erwähnt werden. Davor schreckte Coble zurück.

Das musste ein Mann wie ich wissen, den man beim morgigen Sonnenaufgang im Cheyenne-Gefängnis hängen wird.

Ich habe niemals an John Coble gezweifelt, und ich zweifele auch jetzt nicht an ihm. Er war der beste Freund und Kamerad, den ein Mann in diesem harten Leben finden konnte.

Aber das war im vergangenen Jahr.

Inzwischen haben die Bäume das Laub gewechselt. Zwar hält Mr. Coble immer noch zu mir, aber seine Besuche werden immer seltener. Alle anderen Männer, für die ich je gearbeitet habe, deren Vieh ich retten konnte, deren Weiden ich von unwillkommenen Siedlern und noch unwillkommeneren Viehdieben säubern und auf diese Weise retten konnte, haben sich längst von mir abgewandt.

Sheriff Ed Smalley, ein treuerer Freund als die meisten, die das von sich behaupteten, sagt mir, dass alles vorbei ist. »Es ist zu Ende, Tom«, sagt er. »Gott weiß es, und du weißt bestimmt auch, dass es mir schrecklich leid tut.«

Nun, für Tom Horn ist es noch nicht vorbei.

Ich bin schon früher dort gewesen, wo der Bär sich nach mir umgedreht hat. Ich wurde vom Wolf verfolgt und habe ihn zum Winseln gebracht. Ich habe die Kugel an meinem Ohr vorbeizischen hören und den Pfeil an meinen Augen vorbeifliegen sehen. Zweimal habe ich ein Messer zwischen die Rippen bekommen. Eine Lanze hat sich in meinen Bauch gebohrt. Eine Axt ist bis auf den Knochen in mein Fleisch eingedrungen. Das alles hat mir nichts anhaben können. Ein Mann weiß, wann seine Zeit gekommen ist... und meine Zeit ist noch nicht gekommen.

Meine Freunde werden mich herausholen.

Ich habe schon Bescheid bekommen, dass sie es tun werden. Es sind wahre Freunde, und ich glaube ihnen. Es ist alles bereit, sagen sie. Und die Falltür des Henkers wird sich für mich niemals im Cheyenne-Gefängnis öffnen. Der Plan kann gar nicht schiefgehen. Die Männer, die ihn ausführen sollen, verstehen ihren Job. Sie werden mich gewaltsam aus diesem Gefängnis befreien. Diesmal ist es ganz sicher. Es wird keine Fehler mehr geben.

Aber bevor meine Freunde kommen, um mich herauszuholen, muss ich diesen wahren Bericht dort hinterlassen, wo er gefunden werden kann. Es ist alles niedergeschrieben und wartet nur noch darauf, an jemanden weitergegeben zu werden, der mich heute Abend zum letzten Mal besuchen wird. Niemand außer mir hätte diese Geschichte schreiben können. Ich bin diesen Weg in Wyoming allein geritten. Was beim Iron Mountain und dahinter geschehen ist, hat nichts mit den Tagen in Arizona oder New Mexico zu tun, nicht einmal mit der Zeit in Denver.

Vom ersten Tag im Wyoming Country an hieß es nur noch: Tom Horn gegen die Meute. Und die Meute war gemein und hat mir hart zugesetzt. Es gab kein Pardon.

In Wyoming gab es keinen Mann namens Al Sieber, der einem anderen Mann hätte den Weg weisen können. In Wyoming war ich ganz allein auf mich gestellt. Ich hatte mich nur auf mein Pferd, auf meinen eigenen Proviant und auf meine 30-30er-Winchester Modell '94 verlassen können.

Nicht John Coble, nicht Marshal Joe LeFors, nicht Deputy Snow, nicht Sheriff Smalley, nicht Ankläger Stoll, nicht sonst irgendein lebender Mann wusste, wohin Tom Horn ging oder was Tom Horn machte.

Dies hier ist also meine andere Geschichte.

Meine Feinde werden sie bestreiten; meine Freunde werden sie zu spät hören.

Anfangs sah es für alle so aus, als würde ich wie ein weißes, unschuldiges Lamm aus allem hervorgehen. Man sagte: Tom Horn wird keine dreißig Tage im Cheyenne-Gefängnis verbringen und niemals vor Gericht kommen. Aber selbst wenn es geschieht, wird er niemals verurteilt werden können. Die schändliche Anklage gegen ihn wird man fallenlassen müssen, weil es einfach keine Beweise dafür gibt.

Aber inzwischen ist ein ganzes Jahr vergangen. Die Bäume sind wieder kahl geworden und warten auf den nächsten Winter. Es ist später November. Der gute Sheriff Smalley würde mich niemals belügen.

Mein Gott... was war das eben? Dort draußen? Im Gang hinter dem Gefängnis? Dort unten in der frühen Winterdämmerung? Ich kann es von meinem vergitterten Zellenfenster aus sehen. Die Gestalt eines Mannes, der zu Fuß dahinhuscht. Nein...zwei, drei Gestalten! Vorbei an den Mülltonnen! Wie es in dieser Nachricht gestanden hat!

Dort...! Oh, Jesus Christus sei gepriesen!

Der erste Mann bewegt die Arme, als wolle er sich aufwärmen. Dreimal gibt er mir das Signal! Jesus, Jesus... es geht los!

Weg vom Zellenfenster! Schnell, ganz schnell weg! Stiefelschritte draußen auf dem Zellengang. Es kommt jemand.

Aber... Gott der Allmächtige! Lass sie nur kommen!

Nur noch Stunden, dann werde ich fort sein! In dieser allerletzten Nacht, im Schatten des Schafotts, das der bekannte Architekt James Julian eigens für mich errichtet hat, werden sich die Freunde versammeln, schnell wie ein Chiricahua-Messer zustoßen und mich herausholen! Dort im tiefsten Dunkel der Nacht wird Old Pacer auf mich warten... fix und fertig gesattelt, das Gewehr im Sattelschuh, Brot und Speck und Käse in einem Bündel am Sattelknauf befestigt. Ich werde mich in den Sattel schwingen, und dann werden wir auch schon verschwunden sein, Old Pacer und ich... wie zwei Wolkenschatten auf der Unterseite des Mondes!

Nach Süden! Nach Süden! Nach Arizona! Innerhalb einer Stunde nach meiner Befreiung werden der alte, großartige Wallach und ich schon in der Nähe von Lost Range sein und auf die Grenze von Colorado hinabblicken können! Eine Stunde? Was rede ich da?! Ich und Pacer werden schon nach dreißig Minuten nichts mehr von Cheyenne sehen! Wenn die Sonne am nächsten Morgen aufgeht, um auf Granite Gap, Lone Tree River und Buck Eye zu scheinen, werde ich Wyoming schon verlassen haben.

Meine Apache-Frau Nopal, Old Pedros dunkelgesichtige Tochter, wird dort unten, wo die Sonne überwintert, immer noch auf ihren Talking Boy warten. Wir werden wieder so zusammenliegen wie damals, als wir noch ganz jung waren. Ich werde ihr erzählen, warum es seit diesem letzten Frühling, als ich sie verlassen musste, schon so viele Male Winter geworden ist. Sie wird es schon verstehen. Die Apachen werden wieder mein Volk sein. Es wird alles wieder so wie in alten Zeiten sein... schön und wild und sicher.

Jetzt muss ein Mann im Cheyenne-Gefängnis nur noch eins tun... sein geheimes Testament dem jungen Verteidiger aushändigen, der für heute Abend seinen Besuch versprochen hat. Befreit von der Last dieses Testaments, eigenhändig und wahrheitsgetreu niedergeschrieben, um begangenes Unrecht wieder in Recht zu verwandeln... dann braucht Tom Horn nur noch darauf zu warten, dass seine Freunde ihn befreien.

Dann wird er wieder frei sein und reiten können... weit, sehr weit fort. Nach Arizona! Zurück zu den alten Zeiten!

Nur er, Tom Horn, und der Wind und der Wolf... diese drei Einsamen.

Dort draußen! Dort draußen!

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Die Schilderung des dunklen Teils meines Lebensweges beginne ich wohl am besten damit, dass ich von dem Brief erzähle, den ich damals von der Pinkerton Detective Agency bekam. Darin wurde mir geraten, zunächst nach Tucson zu gehen. In einem bestimmten Saloon im mexikanischen Viertel sollte ich mich mit einem Mann treffen. Mit diesem Arrangement wollte man mir wohl den langen Ritt nach Colorado ersparen, falls bei dieser ersten Kontaktaufnahme kein Einverständnis erzielt wurde. Es war ja immerhin möglich, dass der Pinkerton- Abgesandte in mir nicht das sah, was die Zeitungen von Arizona über mich geschrieben hatten. Demzufolge sollte ich ein Lügner, Betrüger, Indianer-Liebhaber, Hinterhaltschütze, Raufbold, Schürzenjäger, Großmaul, Aufschneider... und erstklassiger Fährtenleser sein. Wie sich heraussteilen sollte, war Auge, das niemals schläft nur an letzterem interessiert... zum Glück für den Lügner, Betrüger und Raufbold.

Als Treffpunkt war die Cantina El Coyotero vorgesehen. Ich zog mir einen Stuhl an die Vorderwand und setzte mich hin. An sich hege ich ein gesundes Misstrauen gegen solche Begegnungen, und deshalb ließ ich mich auch nie blindlings darauf ein. Ich würde an meinem dunklen Platz warten, bis der andere Bursche im Lampenlicht auftauchte. Dann würde ich mich mit ihm in Verbindung setzen. Vorausgesetzt natürlich, dass ich es für angebracht und sicher hielt. Mit anderen Worten... ich musste von ihm den Eindruck haben, dass er tatsächlich Leute einstellen und nicht etwa nur Kopfgeld kassieren wollte.

Aber heute Abend erwartete ich eigentlich keinen Ärger. Immerhin waren die Pinkertons nicht gerade irgendwer. Sie hatten im Bürgerkrieg den US-Geheimdienst geleitet und waren im gesamten Westen das Gesetz, das von allen Schuldigen am meisten gefürchtet wurde. Wenn man einen Brief von ihnen bekam, handschriftlich von Mr. James McParlan, dem Chef der Denver-Abteilung, geschrieben, also von dem Mann, der eigenhändig die Molly Maguires, jene gesetzlose Kohlenarbeiter-Bande, zerschlagen hatte, dann rechnete man nicht damit, von ihrem Agenten niedergestreckt zu werden.

Aber eine gewisse Vorsicht war trotzdem immer angebracht.

»Hallo!«, sagte die leise Stimme hinter mir. »Wenn Sie bereits auf der Lohnliste stünden, würde ich Sie jetzt feuern!«

»Ja«, sagte ich. »Und wenn Sie sich eben nicht gemeldet hätten, müsste sich Ihre Frau jetzt ein schwarzes Kleid kaufen! Als Sie durch dieses Fenster einstiegen, haben Sie doch mehr Lärm gemacht als ein Betrunkener, der über die Dachrinne in sein Haus einsteigt, nur weil er die Vordertür nicht benutzen will! Was hat Sie denn so lange aufgehalten?«

Das war ein eiskalter Bluff. Ich hatte mich an das scheibenlose Fenster in der Adobemauer erinnert und sofort vermutet, dass er dort hereingestiegen war. Ein Schuss ins Blaue, aber manchmal traf man eben auch damit.

»Sie sind eingestellt!«, sagte er und lachte leise.

Und so lernte ich W. C. Doc Shores keimen, den Sheriff vom Gunnison County in Colorado. Er stellte sich vor, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich Tom Horn war, sagte er: »Kommen Sie! Ich werde uns eine Flasche kaufen. Man hat hier ein Hinterzimmer, wo wir uns ungestört und in aller Ruhe unterhalten können.«

Ich kannte das Innere vom El Coyotero wie den Wigwam von Sister Sawn. Da ich Mexikaner bin, entsprach dieser Saloon genau meinem Geschmack. Ich mochte die Leute hier; ihre Art zu kochen, ihre Art, das Leben zu betrachten. Deshalb sagte ich zum Besitzer Manuel Arroyo: »Wir wollen nicht gestört werden, hombre. Schicken Sie uns einfach eine Flasche vom Besten, was Sie haben. Wir werden ins Hinterzimmer gehen und brauchen keinerlei compañeras de cuarto. Comprende?« Ich blinzelte ihm zu. »No chanza esta noche!« 

Manuel nickte. »Lo entiendo«, sagte er. »Heute Nacht also kein Spaß!«

»Jawohl!«, betonte ich nachdrücklich. »Und keine Zimmergefährtinnen!«

»Si, amigo. Nur das Mädchen mit Flasche und Gläsern.«

»Bueno.« 

»Gracias. Genießen Sie die Nacht.«

»Si, bueno. Lo mismo. Saludos.«

»Suerte«, sagte Manuel. »Wo steckt denn nur dieses verdammte Mädchen?«

Shores trat beiseite, hielt den Fellvorhang zurück und ließ mir den Vortritt in den Alkoven. »Jetzt verstehe ich, warum die Indianer Ihnen den Namen Talking Boy gegeben haben«, sagte er.

»Wenn man redet, erfährt man viel«, antwortete ich.

»Man kann sich aber auch um den Kopf reden«, sagte er. »Vergessen Sie das lieber nicht.«

Daran sollte ich, weiß Gott, noch erinnert werden! Aber bis dahin war noch ein paar Jahre Zeit. Im Moment saß ich ganz schön auf dem hohen Roß. Die Leute kannten Tom Horn. Große Leute. Bedeutende Leute. Sogar die Pinkertons. Größere oder bedeutendere Leute als sie gab es im Geschäft der Menschenjagd nicht mehr. Und sie hatten nach Tom Horn geschickt! Wer war schon Doc Shores, um mich schulmeisterlich zu behandeln? Der Sheriff vom Gunnison County? Teufel, ich hatte doch schon für Buckey O'Neill von Yavapai gearbeitet! Und für Glenn Reynolds vom Gila County! Ja, und für Commodore Owens drüben im Apache Country! Also für die allerbesten Gesetzesvertreter! Aber hatten die Pinkertons etwa nach ihnen geschickt? Teufel, nein! Sie hatten nach Tom Horn geschickt!

Nachdem wir uns an den wackeligen Tisch gesetzt hatten, sah ich dem Gunnison-Sheriff in die Augen und sagte: »Wissen Sie was? Verhalten Sie sich still, Sheriff, und überlassen Sie mir das Reden, ja? Ist nicht mein Stil, leise zu singen. Sonst hätte Mr. McParlan wohl nie was von Tom Horn gehört!«

Shores starrte zurück. Er hatte die hellblauesten Augen, die ich jemals gesehen habe. Und er war ein großer Kerl. Genau wie ich. Vielleicht einsneunzig. Annähernd zweihundert Pfund schwer. Und fast alles Muskeln und Sehnen. Ich dachte ein bisschen spät daran, dass Mr. Sheriff W. C. Doc Shores zu seiner Zeit wohl auch allerhand Männer zur Strecke gebracht hatte.

»Horn...«, sagte er nicht unfreundlich, aber auch nicht lächelnd. »McParlan hatte noch nie etwas von Tom Horn gehört. Ich hab' ihnen gesagt, dass man Ihnen schreiben soll.«

»Sie haben...? Also, ich will doch gleich verdammt sein! Hm, danke.« Nachdem ich einen Moment darüber nachgedacht hatte, runzelte ich die Stirn. »Aber sagen Sie mal... wie kommt's denn, dass Sie von mir gehört haben?«

»Es gehört nun mal zu meinem Geschäft, genau zu wissen, wer einen Mann töten wird, wenn's unbedingt sein muss. Ich führe eine Liste. Sie stehen auch darauf.«

»Also, mich soll doch gleich der Teufel holen!«, explodierte ich. »Ich habe noch nie einen Mann getötet! Jedenfalls keinen Weißen!«

Shores klopfte auf seine Westentasche. »Hier drin hab ich 'nen Steckbrief aus New Mexico. Darauf steht, dass Sie's doch schon getan haben.«

»Verdammt!«

»Und auch einen aus Texas.«

»Du lieber Himmel! Ich bin doch noch niemals in Texas gewesen!«

»Na, dann sagen Sie den Leuten das doch mal. Dort glaubt man jedenfalls das Gegenteil.«

»Das alles ist doch nur leeres Gerede, verdammt noch mal!«

»In Texas nennt man's Zeugenaussage. Geschworene glauben daran. Richter fällen danach ihre Urteile. In New Mexico ist's genauso. Aber ein Strick um den Hals... der sagt nichts mehr!«

Ich kannte diese Geschichten über Tom Horn in Texas und New Mexico. Jedes Mal, wenn irgendein armer Hundesohn an einer einsamen Stelle erschossen oder sonstwie getötet aufgefunden wurde, gab man Tom Horn die Schuld. Immer sollte es meine Kugel gewesen sein. Ich hatte diese Lügen stets mehr oder minder hingenommen und mir keine sonderliche Mühe gegeben, ihnen entgegenzutreten oder zu widersprechen. Hatte ich doch gesehen, wie blass die Leute wurden, wenn sie mich einmal zu Gesicht bekamen. Da konnte ein Mann sich schon groß vorkommen. Geheimnisvoll. Aber er wusste natürlich, dass er all diese Dinge gar nicht getan hatte. Was konnte es also schon groß schaden, wenn man den Leuten zu schaurigem Gruseln verhalf? Das schien ihnen doch Spaß zu machen.

Shores beobachtete mich und wartete auf meine Antwort.

Ich griff nach der Flasche und wunderte mich, wo das Mädchen mit den Gläsern blieb. Ich zog den Korken aus der Flasche, nahm einen kräftigen Schluck und schob sie dann zu Shores hinüber. Er setzte sie sofort an den Mund, ohne den Flaschenhals zuvor abgewischt zu haben. So bekam ich eine Minute Zeit.

Das Dumme an diesen Lügen über Tom Horn, den eiskalten Killer, war die Tatsache, dass sie über mich verbreitet worden waren, nachdem ich aus dem indianischen Scout-Dienst ausgeschieden war. Den größten Teil der letzten drei, vier Jahre, die seit meiner Entlassung aus der US-Armee vergangen waren, hatte ich damit verbracht, Rinder zu treiben oder Pferde zuzureiten, meistens für irgendeine große Ranch oder auch für eine bedeutende Organisation wie die Chiricahua Cattle Company oder Hash Knife (Aztec Land & Cattle Company). Ich war sogar für verschiedene kleinere Rancher geritten; zum Beispiel für Ed Tewksbury, bis es ihn und die Grahams im Pleasant Valley bei einem Kampf um Schafe erwischt hatte. Aber, wie gesagt, wenn es einmal irgendwo jemanden erwischt hatte, ohne dass erkennbare Spuren von einem möglichen Täter zurückgeblieben waren, dann hatte es stets geheißen: Das hat Tom Horn getan! Das war zu einer ganz automatischen Schlussfolgerung geworden. Bei mehreren dieser Toten hatte es sich um Weiße gehandelt. Das waren Fälle, die man nicht auf seinem Konto haben wollte.

Verdammt! Und Doc Shores hatte diese Haftbefehle gegen mich in der Tasche, denen ich jetzt nicht zu widersprechen wagte. Er sah mich immer noch aus diesen frostigen blauen Augen an.

»Sie haben recht mit dem, was Sie vorhin über Richter und Geschworene gesagt haben.«

»Daraus darf ich dann wohl schließen, dass Sie den Fall übernehmen werden?«

»Wäre doch den Pinkertons gegenüber nicht fair, es nicht zu tun, oder?«

»Was ich an einem Mann stets ganz besonders bewundere, ist Fairness«, sagte der Sheriff. »Und ich sehe schon, dass Sie genügend Fairness ausstrahlen, um die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Will Henry/Apex-Verlag/Successor of Will Henry.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Alfred Dunkel (OT: I, Will Henry).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2021
ISBN: 978-3-7487-8275-9

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