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Leseprobe

 

 

 

 

ERNESTINE WERY

 

 

Im kalten Licht

des Mondes

 

Roman

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

IM KALTEN LICHT DES MONDES 

1. Familie Exter 

2. Das Fest 

3. Der Junge tanzte so gern 

4. Der Fall bietet sich an 

5. Der Mann, der nicht schießen kann 

6. Es ist seine Handschrift 

7. Glücksschwein 

8. Sie schüttelte nur den Kopf 

9. Schlaflose Nacht 

10. Das Gefühl Fahrerflucht 

11. Noli me tangere 

12. Man muss es gleich tun 

 

 

Das Buch

Es scheint eine heile Welt zu sein: Die Familie an der Peripherie von München, Besitzer eines großen Holzwerks, zwei Kinder, ein schönes Haus, das häufig Gäste sieht. Aber die Fassade hat Sprünge. Johnny, der Sohn, ist für die Leitung der Firma ungeeignet, ein Träumer, also übernimmt die Tochter den Familienbetrieb.

Bei einem Fest wird ein Gast erschossen. Als Motiv bietet sich Eifersucht an, als Täter Guido Beyfuß, der Verehrer der Tochter. Dr. Baumgarten, Hausarzt und Freund der Familie, erscheint diese Lösung jedoch zu einfach...

 

Ernestine Wery (* 21. April 1909 in München als Ernestine Fentsch; † 26. November 1997) war eine deutsche Schauspielerin sowie Drehbuch- und Romanautorin. Nach ihrer Heirat mit dem Schauspieler Carl Wery zog sie sich von der Schauspielerei zurück und schrieb ab 1943 Filmdrehbücher. Auch als Autorin blieb sie häufig dem bayerischen Lokalkolorit verbunden. Mit ihren insgesamt 22 Drehbüchern, von denen 16 verfilmt wurden, trug sie einen nicht unwesentlichen Teil zum Charakter des bundesdeutschen Kinos der 1950er Jahre bei. In späteren Jahren verlegte sie sich auf die Schriftstellerei. Sie schrieb mehrere Romane, insbesondere Kriminalromane, die teilweise ihre Drehbücher für die Krimiserie Tatort als Grundlage haben.

Der Roman Im kalten Licht des Mondes erschien erstmals im Jahr 1984.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  IM KALTEN LICHT DES MONDES

 

 

 

 

 

 

 

  1. Familie Exter

 

 

Die drei Kätzchen, die Susi geworfen hatte, waren rührend; rührend blind und hilflos. Susi, kohlrabenschwarz, smaragdfarbene Augen und sieben weiße Härchen auf der Brust, war eine schlaue Mutter. Als sie ihre Stunde nahen fühlte, kletterte sie an dem Weichselbaum hoch, der sich über ein Spalier hinaufrankte bis ins Dachgeschoss. Hier hatte Johnny, der Sohn des Hauses, seine Bude; und Johnny, das wusste die Katze, liebte Tiere.

Bei ihm kam sie nieder. Im Bett.

Johnny staunte, als er schlafen gehen wollte und auf seiner flauschigen Wolldecke die Bescherung fand. Erstaunlicherweise fleckenlos. Kein bisschen Blut. Wie Katzen das machten? Wahrscheinlich hatte Susi mit ihrer rauen Zunge alles weggeleckt. Sie zeigte ihm gleich voller Vertrauen ihre Wonnepröppchen. Da hingen an Mamas lustvoll geschwollener Tankstelle drei Fellknäuel, konnten noch nicht sehen, wussten aber schon, wo’s zur Milch ging.

Damit war die Beschlagnahme von Johnnys Mansarde als Wochenstube vollzogen. Der junge Mann, das sagte Susi der Instinkt, würde sie mit ihren Kindern nicht hinauswerfen. Er ging auch schon und besorgte einen Korb. Da hinein, mit was Weichem ausgestopft, kam die Familie. Er besorgte außerdem Nahrung für Susi. Es konnte ja sein, dass sie bereits stundenlang bei ihrem Wurf lag und hungrig war. Das Tatar, das er im Kühlschrank unten in der Küche fand, übriggeblieben vom Abendessen seines Vaters, war genau das richtige. Wie man das rohe Fleisch nur mochte! Ihn, Johnny, widerte es an. Schließlich besorgte er noch Sägemehl, falls Susi mal musste. Gute Katzenmütter, das hatte er irgendwo gelesen, verließen ihre Jungen in den ersten Stunden nicht einmal zur Notdurft.

Sägemehl gab es im Säge-, Hobel- und Spaltwerk Exter tonnenweise. Johnny brauchte nur den Weg vorzugehen, wo in den Hallen die großen Gattersägen standen, jetzt in der Nacht schweigende, tagsüber brüllende, Bäume verschlingende Ungeheuer.

 

Als Johnny am nächsten Morgen zum Frühstück erschien – die kleine, aus drei Köpfen bestehende Familie nahm es aus Gründen der Zeitersparnis in einer Ecke der Küche ein –, pflaumte ihn Irm, seine Schwester, an.

»Hallo, Dicker«, so nannte sie ihn, weil er das Gegenteil war, »was klapperst du nachts am Kühlschrank? Süffelst du?«

Johnny nahm seinem Vater gegenüber Platz. »Susi«, antwortete er der Schwester, »hat was gebraucht.« Er nickte über den Tisch. »Morgen.«

Sein Vater murmelte hinter der Zeitung.

»In der Nacht fütterst du Katzen?« Irm lachte.

»Sie hat Junge.«

Jetzt hob auch der Vater den Kopf von der Zeitung. »Junge hat sie? Seit wann?«

»Seit gestern.«

»Wo denn?«, fragte Irm.

»Bei mir.«

»In deinem Zimmer?« Irm wollte Genaueres wissen. »Nun mach’s nicht spannend«, sagte sie und zermalmte ein Stück Toast zwischen ihren prachtvollen Zähnen, »berichte!«

»Kannst sie ja anschauen.« Johnny vermischte Cornflakes mit Honig. Mitteilsam war er nicht.

»Vielleicht lässt du uns an den Ereignissen unter unserem Dach teilhaben!« Mit der Ungeduld ging es bei Irm rasch; die Schweigsamkeit des Bruders war ein Reizthema. »Hat sie dir die Jungen gebracht, oder wie?«

»Ich fand sie.«

Mehr ließ er nicht verlauten. Aus einer Sache etwas zu machen, war ihm nicht gegeben.

»Mensch...« Irm stieß Luft aus und köpfte ihr weiches Ei: ein Schlag mit dem Messer, durch war es. »Stockfisch!« Sie löffelte.

 

Sie waren Gegensätze, die Geschwister. Johnny, introvertiert, einundzwanzig Jahre jung und noch wie achtzehn aussehend, und Irm, seine große Schwester, ein paar Jahre älter. Neben ihr wirkte er schattenhaft. Schmächtig gewachsen, ein Gesicht, in dem alles noch weich und unfertig war. Lediglich die Augen, groß und dunkel, umsäumt von langen Mädchenwimpern, diese schönen, irgendwie verträumten und keinen Zutritt gewährenden Augen, sie blieben als Eindruck. Wie sein Gesicht war seine Zukunft, ungeformt. Er studierte. Was er werden wollte, wusste er nicht. Er wusste nur: Holzhändler wie sein Vater nie.

Die Katastrophe, die das bedeutete – HOLZ-EXTER zum Aussterben verurteilt –, war von Irm abgewendet worden. Sie sprang ein. Nicht, dass sie Lust gehabt hätte zu dem unkreativen Laden, Lust hatte sie nur zum Sport; wenn sie trotzdem zum Holz ging, war’s das: Ein knallhartes Männergeschäft in Händen einer Frau – das reizte sie. Eitelkeit also, Mut. Da sie kapierte, dass sich Frauen in einem Männerberuf nur halten können, wenn sie besser als der Männerdurchschnitt sind, hatte sie von der Pike auf gelernt. Richtig als Stift mit Bretterschleppen, Sägestaub im Haar und Lederschurz über der Latzhose.

Irmgard hieß sie, Irmi hatten sie sie gerufen. Als sie zum Holz ging, strich sie das i und nannte sich Irm. Sie setzte auch durch, dass ihr stiller Bruder Hans auf Johnny umstieg. Es passte ihr nicht, dass ihn manche mit Hansl aufzuziehen begannen.

Sie war kein liebliches, auch kein unbedingt schönes Mädchen, aber sie war jemand. Selbstbewusst der etwas zu große Mund, eine eigensinnig vorspringende Nase und weit auseinanderstehende, zartgraue Augen. Das kupfrige Haar trug sie, wie’s ihr einfiel: mal hintergestriegelt, mal Löwenmähne. Die Figur hatte sie vom Sport. Einen schmalen Bubenhintern, Endlosbeine und einen apfelkleinen, apfelfesten Busen. Mit 1,76 war sie so groß wie ihr Bruder Johnny.

Sie sagte zu ihm: »Du warst also nicht dabei?«

»Wobei?«

»Bei der Niederkunft.«

»Ich hab’ gesagt, ich fand sie.«

Der Vater blätterte eine Seite seiner Zeitung um. »Wo ist sie denn niedergekommen?«

»Im Bett.«

»Na, Prost Mahlzeit!« Ein Lachen stieß Irm. »Und wo schläfst du? Auf’m Fußboden?«

 

Nach dem Frühstück besichtigten sie zu dritt die Katzenfamilie in Johnnys Mansarde.

Irm war entzückt.

»Sind natürlich süß.« Sie streckte die Hand in den Korb, um die schwarze Susi zu kraulen.

Die Katze ließ einen Warnlaut hören.

»Na komm, Susi...« Irm streichelte.

Susi fauchte. Sie wollte nicht angefasst werden.

»Wenn sie Junge haben«, nahm Johnny sie in Schutz, »sind sie komisch.« Beruhigend strich er der Katze über das Fell. Er durfte.

»Drei?« Exter senior schien zu überlegen.

Johnny nickte. »Drei.«

»Willst du sie ihr lassen?«

»Was sonst?«

»Ich meine ja nur«, erwiderte sein Vater. »Weißt du einen Platz? Drei junge Katzen?«

»Natürlich nicht.« Sofort war Johnny aufsässig.

»Wenn man ihr eines nimmt, auch zwei, muss man es tun, ehe sie sich an alle gewöhnt hat.«

»Nehmen?« Johnny reagierte unverhältnismäßig schroff. »Umbringen, meinst du. Das mach’ ich nicht.«

»Man wird doch noch was sagen dürfen!« Der Ton des Jungen ärgerte Exter. »Ich hab’ es zur Diskussion gestellt. Drei Katzen mehr, die herumlaufen... Aber mach, was du willst!«

Exter verließ das Zimmer. Die Tür hinter ihm fiel nicht geräuschlos zu.

»Bumm!«, sagte Irm und grinste. Im Stiegenhaus draußen wuchteten die Tritte ihres Vaters die Stufen hinunter. »War bisschen barsch von dir, Dicker.«

»Er!« Johnny streichelte an der Kätzin herum. »Umbringen, was anderes fällt ihm nicht ein.«

»Hat er nicht gesagt. Da muss ich ihn ausnahmsweise in Schutz nehmen.«

»Bei uns laufen so viele Katzen rum...«

Damit hatte Johnny recht. Auf dem Lagerplatz tummelten sich die Katzen der gesamten Nachbarschaft und führten ein Herrenleben. Unter den Holzstapeln gab es jede Menge Mäuse.

Irm schaute auf ihren Chronometer. »Ja, aufs Trapez! Und für dich ist es auch Zeit.«

 

Johann Exter ging den zu einem Fahrsträßchen umgewandelten, langen Weg von der sogenannten Villa zum Werk. Villa, dieses Wort war aus der Belegschaft gekommen und hatte sich gegen alle Abschaffungsversuche gehalten. Es war schlicht und einfach ein Haus. Unten wohnten die Exters, oben schliefen sie. Das Dachgeschoss war für den heranwachsenden Sohn ausgebaut worden.

Der Weg zog sich in die Länge. Das Grundstück war groß, noch größer das angrenzende Werksgelände. Exters einziger Spaziergang, den er täglich machte. Morgens hin zum Werk, abends zurück vom Werk.

Der schwere Mann hatte etwas von einem Bären. Er schob sich. Die Füße traten mit ganzer, platter Sohle auf. Aus männerschmalen Hüften türmte sich ein mächtiger Oberkörper. Kein Bauch, kein Fett, nur Muskelmasse. Die Schultern etwas vornüber gesunken, die Arme hängend. Ein Boxer, so kam er daher; ein alter, geschlagener Boxer. Geboxt hatte er nie. Er hatte nur gearbeitet.

Vom Werk her schrien die Sägen, sie liefen schon. Früher, lange her, war dieser Lärm etwas Erhebendes für ihn gewesen, eine Art Musik. Damals war er jung und vollgestopft mit Plänen gewesen. Einer wie er, dem Krieg entronnen, davongekommen – was kostet die Welt! Vorbei, alles vorbei und hinuntergeschwommen den Bach.

Hinter ihm wurde ein Motorrad hörbar. Er brauchte sich nicht umzudrehen, er kannte es am dunklen, satten Schlag: Die Tochter war’s.

Irm überholte ihn und hielt. Wie ein Kerl, ein junger, schlanker Kerl saß sie im Sattel der starken Maschine. Sie nahm das Gas weg und ließ den Motor flüstern.

»Aufsteigen, Johannes?« frotzelte sie.

Einer ihrer Sprüche! Exter konnte es nicht ausstehen, wenn sie ihn so benamste. Er hieß nicht Johannes, er hieß Johann und wurde Hans genannt. Aber er sagte längst nichts mehr. Er sagte:

»Hau ab!«

Sie hatte es nicht anders erwartet und tat es, drehte voll auf und hinterließ einen Donnerschlag nebst bläulich-schwarzem Qualm.

Dieser Karren! Exter schickte einen Blick hinterdrein, die Auspuffwolke flog ihm um die Nase. Er hatte ihr den Karren verbieten wollen, weil er um ihre Knochen fürchtete. Die Selbstherrliche ließ sich nichts verbieten. Zugeredet hatte er ihr, wenigstens nur auf dem Gelände herumzukurven, als wendiges Fahrzeug in den Gassen der Holzstapel hätte er sich den Karren, wie er die rassige Maschine nannte, noch eingehen lassen – abgelehnt. Alles, was nach Freiheitsbeschränkung bloß roch, dafür gab’s bei ihr ein Wort: nein. Wenn dir was nicht passt, hatte sie zur Antwort gegeben, ich bin auf deinen Laden nicht angewiesen, ich kann jeden Tag in die Industrie gehen. Na, da hatte er den Mund gehalten und einmal mehr seine Position begriffen. Er war der Erzeuger. Zu sagen hatte er nichts.

Der des Weges sich schiebende Mann sah die Tochter mit Feuerstuhl entschwinden. Als Kind, dachte er, war sie zärtlich gewesen. Später musste sie den Begriff in ihrem Lexikon gelöscht haben. Ja, wenn er sie nicht so bitter nötig brauchte... Ach, es war ein Kreuz! Er ertappte sich dabei, wie er vor sich hinzureden begann. Hart hatte er daran gebissen, und noch immer lag ihm der Brocken im Magen: Die Arbeit seines Lebens, weitergeführt von einem Weibsbild... Tüchtig, das musste er ja zugeben, war sie. Wenn sie nur auch berechenbar gewesen wäre! Nicht nur, dass es ruck-zuck ging mit ihrem Ich-brauch-dich-nicht und er, ein gestandener Mensch mit einem gestandenen Besitz, das Gefühl bekam, auf einem ständig vor sich hin grummelnden Erdbebenherd zu sitzen – die Frage, die ihn am meisten beunruhigte, war: Wann heiratete sie? Und wen?

Sechsundzwanzig wurde sie. Kandidaten, wie sie ihm, dem nichts zu sagen habenden Vater gefallen hätten, fanden keine Gnade. Das Wort Spießer ging ihr flott vom Mund. Brachte sie einen an, war’s zum Schlagtreffen. Der Bergsteiger, der Sechstausender wie Briefmarken sammelte, hatte sich zum Glück den Hals gebrochen. Ein Rennfahrer bestand nicht, weil er, so die Analyse von Irm, statt eines Gehirns einen Vergaser im Kopf hatte, und ein Stuntman wurde als eitler Tropf des Feldes verwiesen. Andere folgten, sie waren nicht beruhigender.

Ein Auto kam von hinten angescheppert. Auch das erkannte Exter mit den Ohren.

Der alte VW seines Sohns.

Johnny, seinen Vater überholend, hielt nicht an. Immerhin hob der Lümmel eine Hand zum Gruß. Obzwar Lümmel – gerechterweise musste sich der hadernde Mann korrigieren: Lümmel war Johnny eigentlich keiner. Unzugänglich war er. Aber das Auto, werkelte das angeworfene Gedankenkarussell weiter, dieses von einem vergeblich werbenden Vatertrottel geschenkte Auto, hatte er angenommen, der Unzugängliche! War nur ein gebrauchtes gewesen, schön war’s auch nicht, aber es lief. Wenn er mit seinen rund sechzig Jahren sich erinnerte, was er im Alter seines Sohns in der Hand gehabt hatte, stieß ihn ein lautloses Lachen: Knarre und Panzerfaust. Und statt zur Universität war er nach Rußland gefahren. Flachgefallen, die akademische Bildung, und zeitlebens als Mangel, als irreparabler Mangel vermerkt. Exter schluckte. So waren sie, die Kinder heute – Ansprüche, nichts als Ansprüche. Es ging ihnen zu gut.

 

Er hielt an und kramte nach Zigaretten, zündete sich eine an. Sollte er nicht, sein Arzt und Freund Baumgarten lag ihm in den Ohren. Aber was scherten ihn seine verengten Gefäße! Wenn ’s schnell ging, jederzeit. Nicht den Infarkt fürchtete er, bloß daliegen wollte er nicht. Das bitte nicht. Er sog den Rauch in die Lungen und schob sich weiter.

Ging es ihnen wirklich so gut? Seine Kinder hatten früh die Mutter verloren. Und er, der Vater, hatte es mit ihnen nicht geschafft. Das war der Stand der Dinge. Unter vielen, vielen Fehlern war es sein wahrscheinlich größter gewesen, dass er nicht noch einmal geheiratet und den Kindern eine Mutter gegeben hatte. Er hatte es nicht über sich gebracht.

Acht Jahre war es jetzt her.

Zeit, sagt man, heilt. Stimmt nicht. Man ergibt sich nur. Die Wunden bleiben.

Da waren sie wieder, die Gedanken, die ihn seither wie ein Rudel anhänglicher Hunde verfolgten. Er kannte die Worte, die er dachte; es waren immer die gleichen, weil ihm neue nicht mehr einfielen; er hatte alle Worte verbraucht.

Du meinst, ein Mensch gehört dir, und du meinst, du kennst deinen Menschen. Eines Tages geht dieser Mensch weg, einfach weg und hinterlässt nichts; keinen Brief, keine Zeile. Noch bist du ganz ruhig. Deine Frau, denkst du, die kommt doch selbstverständlich wieder. Es wird Abend, es wird dunkel, und sie ist immer noch nicht da. Jetzt packt dich die Angst. Du alarmierst die Polizei. Sie suchen, und du suchst mit. Alle suchen schließlich, Freunde, Bekannte, sogar die Kinder. Anderntags wird sie gefunden – im Wald. Hunde stöbern sie auf. Sie, die sich immer gefürchtet hat, allein in einen Wald hineinzugehen, liegt verkrochen im dichten Unterholz. Neben ihr eine leere Flasche und ein Tablettenröhrchen, in dem Luminal war. Deine Frau ist tot.

Die Polizei fragt dich, warum.

Du weißt es nicht.

Seither fragst du dich, warum.

Mit dem Tag, als sie gefunden wurde, brach für ihn etwas in der Mitte auseinander. Wie wenn Wirbel brechen, und man bleibt querschnittgelähmt zurück. Er hatte immer geglaubt, Hille, so hieß seine Frau, sei mit ihrem Leben bei ihm soweit zufrieden gewesen. Mit jenen Einschränkungen eben, die in der Unvollkommenheit eines jeden Daseins stecken. Dass sie unglücklich war, so unglücklich, dass sie sich umbrachte, erschütterte ihn. Es erschütterte ihn so nachhaltig, dass er sich zu fragen begann, ob alles, was er getan und gedacht hatte, falsch gewesen war. Sein ganzes Leben ein Irrtum?

Er hatte versucht, sich an die Kinder zu halten und sie zu erziehen, soweit ihm neben der Arbeit Zeit blieb – die Kinder entglitten ihm. Als sie volljährig wurden, ließen sie sich nichts mehr sagen. Es kam schließlich dahin, dass er, der einst ein Autoritärer gewesen, gemäßigt aber, wie er sich selbst einschätzte, gemäßigt autoritär, Worte abzuwägen begann. Und immer mehr zog er sich, ein Familienvorstand ohne Stimmrecht, in sich zurück, ging Gesprächen, die Auseinandersetzungen bargen, aus dem Weg. Beim Frühstück las er die Zeitung, abends lief der Fernseher.

 

Der Lagerplatz war erreicht. Ohne Abgrenzung schloss er sich an das große Privatgrundstück. Dieses Gelände war das einzige Kapital gewesen, das der Kriegsheimkehrer Exter vorgefunden hatte. Ein totes Kapital damals, Grundstücke gab’s in den Ruinenstädten wie Sand am Meer. Von der Sägemühle der Eltern war nur noch Asche übrig gewesen. Ein paar verirrte oder ziellos abgeworfene Bomben der Royal Air Force hier draußen vor der Stadt hatten den Holzbau wie Zunder abbrennen lassen.

Exter nahm einen letzten Zug und warf den Zigarettenstummel weg. Sorgfältig trat er ihn aus. Von seinen Leuten verlangte er, dass sie im Lager nicht rauchten. Sie sollten ihm kein schlechtes Beispiel nachsagen. Gestern waren kanadische Zedern gekommen, die hatte er noch nicht gesehen.

Der Platzmeister sah ihn von fern und grüßte.

Exter grüßte zurück.

Er ging Stapel für Stapel durch. War denn wirklich alles falsch gewesen und hatte er sich nur etwas vorgemacht? Ein Satz fiel ihm ein, den er einmal gelesen hatte. Wo, wusste er nicht mehr; er kam nur selten zum Lesen. Der Satz, der bei ihm hängengeblieben war, lautete: Jedermann erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.

Sein Leben – eine erfundene Geschichte?

Nein, da hinunterzutauchen, weigerte er sich. Er schob den seinen Verstand bedrohenden Gedanken weg und dachte – ans Wetter. Heute, dachte er und rettete sich, würde es noch regnen, sie mussten mit dem Schälen der Furnierhölzer umdisponieren. Die Sonne im Osten des weithin überblickbaren Horizonts wühlte in Wolken, dick und schwarz wie Walfische.

Ein Geruch kam ihm entgegen, herb-aromatisch. Exter hob witternd den Kopf. Eines seiner Sinnesorgane, das noch nicht nachgelassen hatte, war seine Nase.

Er roch die Zedern. Dann erst sah er sie.

Zehn Meter weiter lagen die Stämme.

 

 

 

 

  2. Das Fest

 

 

24. Juni, Johannis. Sonnenwende.

HOLZ-EXTER, Nadel-, Laub- und Überseehölzer en gros, beging alljährlich das Betriebsfest als Sonnwendfeier. Angefangen hatte das einst spontan. Exter, Chef damals im Zenit seiner Jahre, hatte außer einer vom Bauboom atemlos angetriebenen Hochkonjunktur einen kleinen Sohn. Seinen Thronfolger. Der hieß wie er, Hans. Damals hieß der Purzel noch so. Exter fand das so bedeutsam, dass er alles zusammenwarf, Namenstag von Vater und Sohn, Sonnwend und Betriebsfest, und das Ganze in einem Aufwaschen feierte. Er feierte mit einer tollen Nacht auf seinem Gelände, das dafür wie geschaffen war, mit Freudenfeuern, die in den dunklen Himmel loderten, mit Musik, Gesang und Tanz und allem, was an Essen und Trinken zu wünschen war.

Dabei blieb es. Auch später, als Exter die etwas naive Zutraulichkeit zum Leben abhandengekommen und sein familiäres Glück nicht mehr dazu angetan war, Holzstöße in Flammen aufgehen zu lassen, wurde der 24. Juni so gefeiert. Es war Tradition geworden.

 

Das Wetter meinte es diesmal bestens. Ein voller Mond, der schon für eine Strähne praller Sonnentage gesorgt hatte, hielt die Nacht warm und trocken.

Exter hatte wie immer die ganze Firma geladen. Ein paar Dutzend Leute, größer war HOLZ-EXTER nicht, jeder aber konnte einen Angehörigen oder sonstwen mitbringen, so kamen schon Scharen zusammen. Exter lud außerdem Geschäftsfreunde ein, alles gesetztere Jahrgänge, mit, denen er seine Späße abzog, knatternde Lustigkeiten, deren er ein schönes Repertoire auf Lager hatte. Reden aber, was er darunter verstand, mochte er nur mit seinem Freund Baumgarten.

Er, Dr. med. Lukas Baumgarten, war auch da.

Exter lud außerdem einen gewissen Guido Beyfuß.

Dieser noch junge Mann, der kürzlich bei ihm aufgetaucht war, kam aus der Branche. Spanplatten hatte auf seiner Karte gestanden. Um Rohmaterial für Spielzeug war es gegangen. Exter konnte nicht liefern. Das Holz hätte er gehabt, für die Zuschnitte fehlten ihm die Maschinen. Damit wäre der Fall Beyfuß gelaufen gewesen. Es tat sich aber etwas ganz Ungewöhnliches.

Tochter Irm zeigte Interesse an einem Kunden. Und Kunde Beyfuß seinerseits zeigte sich beeindruckt von Irmgard Exter. Blumen kamen. Ohne ersichtlichen Grund tauchte Guido Beyfuß noch mal im Werk auf. Telefongespräche der Tochter blieben dem nichts zu sagen habenden Vater wegen eines gewissen Untertons im Ohr. In die Karten ließ sich das Mädchen ja nicht schauen. Exter beschloss, diesen Beyfuß, der im Übrigen blendend aussah, zum Betriebsfest am 24. Juni einzuladen. Dann würde man ja sehen.

Man sah es bereits. Irm tanzte mit Beyfuß.

Exter, an einem Tisch abseits mit Baumgarten zusammensitzend, wenn es seine Obliegenheiten als Gastgeber erlaubten, beobachtete die Tochter.

Das Fest war noch im Anfang. Die lärmenden Geister des Alkohols spielten noch nicht auf, vereinzelt klingelte Gelächter, sonst war’s das Summen eines friedlichen Bienenschwarms. Wie jedes Jahr bestand alles Hölzerne, worauf man saß, aß und trank und tanzte, aus hauseigenen Bohlen. Die waren über schwere Kanthölzer gelegt und mit Eisen verklammert. Man war bei HOLZ-EXTER, das sollte man sehen. Die Bewirtung besorgte, ebenfalls wie jedes Jahr, ein Schlemmerladen, der mit Sack und Pack ankam und vom Ochsen am Spieß bis zum Zahnstocher alles mitbrachte. Eine Band spielte:

Die Feuer brannten noch nicht. Auch der Mond war noch nicht aufgegangen. Windlichter flackerten auf den Tischen,

Girlanden bunter Lampions, die im Luftzug sachte schwankten, hingen über dem Festplatz, und Legionen von Mücken starben den Tod der versengten Flügel.

Exter, seine tanzende Tochter im Auge, wurde von einem sentimentalen Wohlgefallen heimgesucht. Was war sie doch für ein Mädchen! Die langen Beine in Leder, handschuhweiches Leder in einem dunklen, lilastichigen Rot, dazu eine feuerrote Bluse, die sie zusammengeknotet unterm Apfelbusen trug. Zwei Farbtöne, die sich wider Erwarten nicht bissen. Das Haar hochtoupiert und wehend offen. Löwenmähne heute. Und Beyfuß neben ihr. Größer als sie, die schon gewiss nicht klein war, braungebrannt und drahtig. Mein Gott, ja, dachte Exter, so hätte er in der Blüte seiner Jahre auch gern ausgesehen. Er war immer ein Bär gewesen.

»Wie findst du den?«, fragte er Baumgarten mit einem Blick in die Richtung.

»Wie soll ich ihn finden, ich kenn’ ihn nicht.«

»Sieht doch gut aus, oder?«

»Marlboro-Typ.« Baumgarten nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Wie einer auf den ganzseitigen Zigarettenreklamen, diese Superkerle, denen die Männlichkeit aus allen Poren knallt. Ist er vom Film?«

Kopfschütteln von Exter und die bedeutungsschwangere Erklärung: »Er kommt aus der Branche.«

»Der?« Baumgarten fand das verwunderlich. Er begriff. »Daher weht der Wind?«

Exter gestand seine kupplerischen Wünsche.

Baumgarten war nicht nur sein Freund, er war Arzt der Familie und Weggefährte seit Kriegsende. Heimkehrer Exter und Heimkehrer Baumgarten, beide damals bei null. Manchmal sprachen sie noch davon, wie sie angefangen hatten. Exter, Brennholz verkaufend mit einem Holzvergaser, ein wildes Fahrzeug, das seinen Treibstoff in einem eisernen Ofen hinten auf der Ladefläche erzeugte, und Baumgarten in zerbombten Universitäten sich durchs Medizinstudium hungernd. Anfänge, die trotzdem als Glück notiert wurden, denn man war am Leben. »Und Irm?«, fragte Baumgarten.

»Kennst sie ja.« Exter konnte nur die Schultern Hochziehen und sinken lassen. »Spießer hat sie ihn nicht genannt, das ist bei ihr schon etwas.«

»Spießer ist das auch keiner. Wie steht’s mit seiner Firma?«

»Muss ich mich erst erkundigen.« Exter kramte Zigaretten aus der Hosentasche. »Einen Schlitten fährt er, demnach ist er kein armer Mann.«

Baumgartens Hand legte sich ihm auf den Arm. »Die wievielte is’n das heute?«

»Nu lass mich. Heute wird gefeiert.« Exters Feuerzeug machte klick.

»Mein Herz«, so Exter, »ist es nicht.«

»Und mir ist es egal. Ehrlich, schert mich nicht so viel.« Exter schnippte mit den Fingern. »Ob ich meinen Infarkt heut oder morgen kriege, was soll’s.«

»Geschwätz.« Als Mediziner sah Baumgarten das anders. »Es kommt nicht drauf an, wann man stirbt, sondern wie. Umfallen und weg sein, das möchte dir so passen. Steht aber nur für Ausnahmen drin.«

»Sei friedlich, Luk.« Exter rauchte und war wieder bei seinem Thema. »Bis jetzt, weißt du, war in ihrer Sammlung keiner aus der Branche. Der da«, sein Blick wies zum Tanzboden, »lässt mich hoffen. Schon wie er tanzt... Vom Typ her, dachte ich, wie wird er tanzen: epileptische Zuckungen. Heutig eben. Siehe da, er tanzt...«

»Gestrig.« Baumgarten grinste.

»Na, erlaube! Für uns war Tanzen doch auch – also, wenn ich’s mal so sagen will: erotische Erkundung war’s. Zu dem Zweck kann man Mädchen nicht über den Kopf reißen und zwischen den Beinen durchschlenzen, man muss sie spüren und im Arm haben. Das, meine ich, ist Tanzen.«

»Sie sind anders heute«, entgegnete Baumgarten.

»Anders...« Es war ein alter Streit zwischen ihnen. »Meinetwegen: anders. Sie sind deshalb nicht fähiger und schon gar nicht, was du immer behauptest: Sie sind nicht intelligenter, als wir in ihren Jahren waren.«

»Sie sind es.«

Das gab Exter nicht zu. »Sie schalten schneller. Einerseits. Andererseits sind sie ein Haufen Dummheit wie wir zu keiner Zeit. Das hätten wir uns gar nicht leisten können, soviel Unverstand. Aber lassen wir’s. Du bist ja leer!« Exter griff nach der Flasche und füllte das ausgetrunkene Glas. »Auf der Suche nach Pluspunkten gefällt’s mir halt, dass er gestrig tanzt. Dein Wohl!« Er trank Baumgarten zu. »Außerdem gefällt mir, dass er so leger und salopp hier aufkreuzt.«

»Was nennst du salopp?«

»Na, Jeans und Pullover...«

»Jeans aus Seide.« Wieder grinste Baumgarten.

»Aus was?«

»Seide; auf Baumwolle getrimmt.«

Das glaubte Exter nicht. »Seine Jeans sehen aus wie alle, abgewetzt und verschossen.«

»Das ist ja die Kunst. Gemarterte Seide.«

Exter setzte seine Fernbrille auf. »Wie willst’n du das auf die Entfernung erkennen?«

»Am Namenszug über seiner Arschbacke. Cartucci. Oder so ähnlich. Mailand. Ein brandneuer Couturier, zu dem sie jetzt alle pilgern. Und der Pullover mit den Löchern«, fuhr Baumgarten mit seinem Grinsen fort, »der ist auch letzter italienischer Schrei. Auch Cartucci.«

»Was hat der?«

»Löcher. Siehst du nicht: am Oberarm... Und jetzt, wo er sich dreht, auch seitlich: ein Loch. Feine Kaschmirwolle, in die wird reingeschnitten. Trapezförmige Löcher. Keine gewöhnlichen, Cartucci-Löcher.«

Löcher in neuen Pullis, dafür fehlte Exter der modische Esprit. Er hielt den Mund.

»Unter meinen Patienten«, lüftete Baumgarten das Geheimnis seines Fachwissens, »ist ein Snob. Der zieht sich bei dem in Mailand an. Und zahlt ein Heidengeld.«

Exter stellte die Suche nach Pluspunkten vorerst ein. Er schaute umher. »Weißt du eigentlich, wo Johnny ist?«

»Hab’ ihn noch nicht gesehen.«

 

Johnny saß, richtiger, er kauerte in seiner Mansarde und träufelte einem der Katzenkinder, das sehr krank war, warme Milch ein.

Dem Tier ging es schlecht. Es war, kaum dass es die blinden Augen aufgetan und aus verklebten Lidern sehen hatte können, von einem Virus oder der Teufel was befallen worden, lag herum, nahm keine Nahrung mehr an, wurde schwach und schwächer, und das schlimmste: Die eigene Mutter hatte es aufgegeben. Susi, die Schwarze, Grünäugige, hatte es anfangs hingebend geleckt und auch in die warme Bucht zwischen Bauch und Schenkeln genommen, dann aber, als nichts half, verstieß sie es. Johnny war an dem Tag im Kolleg. Abends sah er die Kätzin mit ihren zwei gesunden Jungen im Korb liegen. Das dritte fehlte. Er suchte es. Hinter der Garage fand er es. Es fühlte sich schon kalt an. Susi musste damit zum Fenster hinaus- und den Weichselbaum hinuntergeklettert sein. Nun wollte sie nichts mehr wissen von ihrem Kind. Als Johnny es ihr in den Korb legte, zog sie mit ihren zwei gesunden Jungen aus und sprang aufs Bett.

Johnny machte dem Tierchen ein Nest. Das stellte er, damit Susi nicht daran konnte, in sein kleines Duschbad. Er versuchte es mit Einflößen von Nahrung. Das entkräftete Junge verweigerte. Er rief den Tierarzt an. Der sagte, da sei nichts mehr zu machen. Wenn die Mutter es nicht mehr annehme, gebe es nur den Gnadentod. Er, Johnny, solle es ihm bringen.

Johnny brachte es ihm nicht.

Ihm kam der Gedanke mit der Pipette. Er besorgte sich eine, und mit diesem puppenkleinen Stechheber saugte er angewärmte Milch hoch und ließ sie tropfenweise in das Schnäuzchen fließen. Und jetzt endlich tat sich etwas – die winzige Kehle begann zu schlucken. Erst nur einen Tropfen. Dann, nach einer Pause, einen zweiten. Und so ging es weiter. Tropfen. Pause.

Das geschah, während unten gefeiert wurde. Durch das offene Fenster kam Musik herauf, dazwischen das friedliche Summen des Bienenschwarms. Johnny kniete in dem engen Gehäuse auf dem Fliesenboden; und allmählich brach ihm der Schweiß aus, und das Kreuz tat ihm weh.

 

An der Zimmertür war jetzt ein Geräusch; herein kam sein Vater. Das Licht im Bad wies ihm den Weg.

»Da bist du?« Der Anblick, der Sohn auf dem Boden bei der Katze, freute Exter nicht.

»Es nimmt Milch«, sagte Johnny und blieb, wo er war.

»Sag mal, was denkst du dir...« Exter ließ den Arger nicht ganz so massiv heraus, wie er ihm hochstieg. »Wir haben einen Haufen Gäste, und der Sohn des Hauses erscheint nicht. Er spielt mit Katzen.«

»Ich spiele nicht. Das Tier ist krank.«

Sofort war die Mauer da. Der Sohn hatte keine Tür zum Vater und der Vater nicht zu ihm.

Exter beherrschte sich. »Ich habe dir gesagt, geh zum Tierarzt.«

»Der weiß nichts.«

»Warst du bei ihm?«

»Angerufen hab’ ich. Der kann nur spritzen. Totspritzen«, sagte Johnny und saugte Milch hoch.

»Er wird wissen, dass es keine Chance mehr hat.«

»Es hat eine.«

»Weil du willst, dass es eine hat. Johnny...« Exter schaltete auf Geduld. »Was du da machst, ist schön von dir, medizinisch sinnvoll ist es nicht.« Das Verhalten der Katzenmutter, so versuchte er den Sohn zu überzeugen, sei nicht Grausamkeit, sondern Instinkt. Eine Art höhere Vernunft. Johnnys Anstrengungen waren, so fand Exter, gegen diese Vernunft. Die geradezu verbissene Hingabe, die Mühe und Zeit, die er darauf verwendete, das hatte für einen Realisten – als solchen verstand sich Exter – etwas Übersteigertes.

Johnny träufelte Milch und hörte nicht zu.

»Glaube mir, es ist nicht lebensfähig«, predigte sein Vater. »Hör auf den Arzt! Die Natur ist unsentimental. Sie verwirft, was zu schwach ist. Bilde dir nicht ein, dass du’s besser weißt.«

Johnny stand auf, verkrümmt und mit feuchter Stirn. An seinem Vater vorbei ging er mit dem Milchtopf zu einer Kochplatte, die mitten auf dem Schreibtisch stand. Er schaltete ein und wischte sich mit dem Hemdärmel übers Gesicht.

Sein Vater sah es. »Schwitzt du?«

»Nö.« Johnny achtete auf die Milch.

»Natürlich schwitzt du!« Exter war mit seiner Geduld am Ende. »Du ziehst dir jetzt ein frisches Hemd an und kommst runter.«

In diesem Ton ging bei Johnny nichts. Er blieb bei dem Topf. »Ich mag die Leute nicht.«

»Diese Leute...« Für Sekunden brach der alte Exter durch. »Von diesen Leuten und ihrer Arbeit leben wir!«, fuhr er den Sohn an. »Auch du! Ich dulde nicht, dass du das Betriebsfest missachtest!«

»Ich habe nicht gesagt, diese Leute.« Johnny tauchte den Finger in die Milch, prüfte die Temperatur. »Ich sagte: Ich mag Leute nicht. Leute in Massen. Ich mag nicht tanzen. Und ich trinke nicht.« Er nahm den Topf und ging ins Bad.

»Dann überwindest du dich!« bellte ihm sein Vater nach. »Du lebst nicht unter einer Glasglocke.«

»Was soll ich bei dem Rummel?« Johnny ließ sich auf den Boden des Kabäuschens nieder.

»Du bist der Junior und erscheinst! Vielleicht bedenkst du auch, dass wir beide heute – eigentlich – Namenstag haben.«

 

Als Exter auf den Festplatz zurückkam, hatte sich die Szene verändert. Die Geister des Alkohols waren aufgewacht und mischten vorlaut mit, Scheiterhaufen brannten, von der Musik kamen Rock-Synkopen, und hinter den schwarz ragenden Wipfeln des nahen Waldes stieg wie eine Riesenorange der oval-runde Mond herauf.

»Drücken wollte er sich.«

Exter ließ sich zu Baumgarten auf die Bank aus hauseigenen Bohlen nieder. »Ein Junge in seinem Alter – und Ansichten eines Mönchs. Und diese Tierliebe...«

»Spricht für ihn«, fand Baumgarten.

»Man kann auch übertreiben.« Exter zog Zigaretten heraus, und Baumgarten ließ ihn gewähren. »Unsere Katze, weißt du«, Exters Feuerzeug klickte, »die hat Junge; eins davon kriegte die Seuche...«

»Ich weiß; Johnny hat mich angerufen.«

»Dich auch? Dann bist du ja im Bilde. Du kannst es dir nicht vorstellen, was der Junge treibt, seit Tagen treibt, um das Tier – ich sage dir: aussichtslos, die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Ernestine Wery/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2021
ISBN: 978-3-7487-8265-0

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