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Leseprobe

 

 

 

 

ERNESTINE WERY

 

 

Nachtkerze

 

Roman

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

NACHTKERZE 

Erster Teil 

Zweiter Teil 

Dritter Teil 

 

 

Das Buch

Isabella Haustein liebt ihren Vater so sehr, dass sie ihn für sich allein besitzen will. Aber der Vater, ein Witwer, denkt daran, wieder zu heiraten. Isabella stellt ihrem Vater insgeheim auf einer angeblichen Geschäftsreise nach und kommt dahinter, dass er sich in Wirklichkeit mit seiner Geliebten trifft. Bei einer Auseinandersetzung macht sie ihrem Vater Vorwürfe und entschließt sich, aus dem gemeinsamen Haus auszuziehen.

Doch die Eifersucht gegenüber der neuen Frau ihres Vaters lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Und Isabella hat allen Grund, sich um das Leben ihres Vaters Sorgen zu machen...

 

Ernestine Wery (* 21. April 1909 in München als Ernestine Fentsch; † 26. November 1997) war eine deutsche Schauspielerin sowie Drehbuch- und Romanautorin. Nach ihrer Heirat mit dem Schauspieler Carl Wery zog sie sich von der Schauspielerei zurück und schrieb ab 1943 Filmdrehbücher. Auch als Autorin blieb sie häufig dem bayerischen Lokalkolorit verbunden. Mit ihren insgesamt 22 Drehbüchern, von denen 16 verfilmt wurden, trug sie einen nicht unwesentlichen Teil zum Charakter des bundesdeutschen Kinos der 1950er Jahre bei. In späteren Jahren verlegte sie sich auf die Schriftstellerei. Sie schrieb mehrere Romane, insbesondere Kriminalromane, die teilweise ihre Drehbücher für die Krimiserie Tatort als Grundlage haben.

Der Roman Nachtkerze erschien erstmals im Jahr 1982.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  NACHTKERZE

 

 

 

 

 

 

 

  Erster Teil

 

 

 

1. Veränderungen

 

 

Isabella, genannt Isi, war schreiend aus dem Traum erwacht. Ihr Herz raste, ihr gesunder, junger Körper war nass von Schweiß; er zitterte. Sie hielt sonst nichts von Träumen. Dieser verfolgte sie. Sie stand schon in der Badewanne und duschte sich den Angstschweiß von der Haut, als die Bilder sie noch immer nicht losließen.

Es war in einer Kirche. Vor dem Altar ein Brautpaar. Irgendwo dahinter stand oder saß oder kniete Isi. Die Braut: ein ätherisches, fast körperloses Wesen in einer Wolke aus weißem Tüll. Der Bräutigam nicht mehr jung, leicht graumeliert, schlank und elegant in einem Cut. Als er den Kopf ins Profil wandte, um der Braut den Ring anzustecken, erkannte ihn Isi – es war ihr Vater.

Ein Schuss fiel. Das Echo im Kirchengewölbe rollte wie in den Bergen, vielfach sich wiederholend. Die Braut stürzte vornüber zu Boden, und im Nu war alles rot. Die Tüllwolke, die zarte Gestalt, der Marmorboden, das schwamm in Blut, und es rann und rann, rann als roter Fluss die Stufen hinunter. Eine schreckliche Stimme rief: »Mörderin!« Isabella, genannt Isi, begriff, dass das ihr galt, und jetzt begriff sie auch, dass sie es gewesen sein musste, die geschossen hatte. Sie begann zu rennen.

Schnitt. Ein unterirdischer Höhlengang. Hierher hatte sich Isi geflüchtet, und sie lief, lief um ihr Leben. Aber sie waren schon hinter ihr her. Isi hörte ihre Schritte. Dunkel und immer dunkler, der Höhlengang, er wurde eng, wurde niedrig. Isi musste gebückt laufen. Sie lief nicht mehr, sie taumelte. Und die Verfolger so nah, dass sie ihr Keuchen hörte. Ich kann nicht mehr... Isi wollte sich fallen lassen und aufgeben, im gleichen Moment sah sie in weiter Ferne einen hellen Punkt. Wie in einem Tunnel, wenn er ins Freie mündet. Tageslicht! Da vorn war die Rettung.

Doch jetzt wurde der Gang zur Röhre. Isi konnte nur noch kriechen. Mit ihrer letzten Kraft robbte sie sich dem hellen, sich vergrößernden Punkt entgegen, immer fürchtend, die Röhre würde so eng werden, dass sie darin steckenblieb. Sie schaffte es, erreichte den Ausgang der Höhle, die sich quer durch einen Berg zog, richtete sich schwankend auf und stand auf einer winzigen Felskanzel über einem tiefen Abgrund. Nach oben kein Weiterkommen, alles Wände, so glatt wie Kirchtürme. Als sie sich vorbeugte, um einen Einstieg in die Schlucht zu suchen, sah sie es: Auf dem Grunde dieser Schlucht – Schlangen. Hunderte, Tausende von verwickelten Leibern und züngelnden Rachen. Isi fuhr zurück – und bekam einen Tritt in den Rücken. Schreiend, die Arme weit ausgebreitet, stürzte sie hinunter in die Schlangengrube. Von ihrem eigenen Schrei erwachte sie.

Samstag ist heute.

 

Isabella, genannt Isi, hat mit ihrem Vater gefrühstückt, etwas später als sonst, beide müssen sie heute nicht arbeiten. Der Vater allerdings tritt eine kleine Reise an, eine jener Klausurtagungen, die zwei- oder dreimal im Jahr auf alten Schlössern, in Klöstern und sonstigen Gemäuern anberaumt werden, freiwillige Zusammenkünfte von Denkmalschützern, Restauratoren und Leuten, die die gleiche Sprache sprechen; und Isi wird ihren Vater, so nimmt sie an, zum Bahnhof fahren; wie immer, wenn er gelegentlich verreist.

Sie, die Tochter, hat ein Auto. Der Vater hat keines. Er hat nicht einmal einen Führerschein. Wozu auch? Technik interessiert den Kunsthistoriker Friedrich Haustein wenig. Ein motorisiertes Fahrzeug zu lenken? Von diesem Wunsch ist er zu keiner Zeit seines Lebens geplagt gewesen. Mit der heranwachsenden Tochter war dann, als Belohnung für ein rühmlich bestandenes Examen, solch ein Vehikel ins Haus gekommen, und mit diesem fiel Haustein auf seine alten Tage noch die Rolle eines sich um nichts kümmern müssenden Beifahrers zu. Eine Annehmlichkeit, die er als Luxus vermerkte und sich gern gefallen ließ. Heute ist der Luxus nicht gefragt.

Überraschenderweise.

Als Friedrich Haustein nach dem Frühstück mit einer Reisetasche aus seinem im Obergeschoss gelegenen Schlafzimmer herunterkommt, umgezogen, wie Isi sofort und leicht verwundert registriert – jetzt trägt er einen Glencheck-Anzug gibt er das Gepäck, das die Tochter schon mal zum Auto bringen möchte, nicht her.

»Nein, danke, ich fahre mit dem Taxi.«

Das Gespräch findet in der Diele des Hauses statt.

»Aber warum denn?« Isi versucht, sich des weichen Dings aus altem, schon etwas lilastichigem Schweinsleder zu bemächtigen. »Ich fahr’ dich doch gern.«

Er lässt die Tasche nicht aus der Hand. »Ruf mir bitte ein Taxi«, beauftragt er die Tochter, und an ihr vorüber verschwindet er in sein Arbeitszimmer.

Sie kommt ihm nach. »Du hast doch mich!«

»Hör zu, Isikind«, sagt er, und wenn er dieses Wort aus einem selten benutzten Winkel holt, birgt es immer Kritik, »du musst nicht unbedingt alles auf die Spitze treiben.«

Von da an hält sie den Mund.

Haustein greift sich von einem Bord der Zelle, die sein Arbeitszimmer ist – Zelle mit Bücherwänden und Schrägentisch –, einen Feldstecher, greift sich ein paar Schreibsachen, legt alles in die Ledertasche, telefoniert nach einem Taxi, geht hinaus, greift sich von der Ablage Hut, Schirm und Regenmantel und verlässt das Haus.

Die Tochter begleitet ihn. Wie ein gescholtenes Hündchen folgt sie ihm bis zur Gartentür. Bei Fuß, wie sich das für ein Hündchen gehört.

Kein lautes Wort ist gefallen, auch kein böses.

Irgendwie scheint dem höflichen Mann das Hündchen leid zu tun, aber zwischen Tasche, Schirm und Mantel hat er keine Hand frei. Als das Taxi vorfährt, streicht er Isi nur noch mit dem Handrücken über die Wange.

»Mach dir ein hübsches Wochenende.«

Er steigt ein. Kein Blick zurück durch das Fenster. Rasch entfernt sich das Taxi unterm Laubdach blühender Kastanienbäume. Leer und samstagsstill, die Straße; eine Gartenstraße am Rande der Stadt. Hier lebt sich’s noch relativ ruhig.

 

Trägt den Glencheck-Anzug und fährt mit dem Taxi... Isabella, genannt Isi, kehrt ins Haus zurück. Ihr wünscht er ein hübsches Wochenende. Jahre hat der Glencheck-Anzug im Schrank gehangen; vier genau. So lange ist ihre Mutter tot. Kurz vor diesem plötzlichen Herztod hatte er sich den Anzug machen lassen und ihn dann nie mehr getragen. Einmal erinnerte ihn Isi daran. Warum er ihn nicht trage? Er hatte keinen richtigen Grund gewusst; nur so. Keine Lust mehr zu diesem Anzug, den er sich in einem Anfall verspäteter Jugendlichkeit zugelegt habe. Und nun zog er ihn aus dem Schrank. Für eine Tagung. Zu der er per Taxi zum Bahnhof zu fahren wünschte...

Isi ertappt sich dabei, dass sie schon seit Minuten in dem großen Wohnraum umherwandert. Einst der Wohnraum der Familie; heute bewohnen sie ihn zu zweit. Sie unterbricht die Wanderung und lässt sich auf irgendeine gepolsterte Sesselkante nieder, lehnt halb, halb sitzt sie, die Beine mit den flachen Ballerina. Schuhen von sich gestreckt. Warum, so fragt sie sich, bestand er darauf, ein Taxi zu nehmen?

Er schloss sie aus, klar. Nur, warum? Ihr Vater hat sich, das wird ihr jetzt erst bewusst, als sie nachgrübelt – er hat sich verändert. Und das geht auch schon eine ganze Weile. Angefangen hatte es damit, dass er ihren Geburtstag vergaß. Der 7. März, eine Fischegeborene ist sie; anlehnungsbedürftig. Die ersten Schneeglöckchen spitzten am 7. März aus dem braunen Rasen, heute blüht der allererste Flieder. Und in diesen knapp zwei Monaten hat er sich – ja, was? Entfernt hat er sich von ihr. Das mit dem Geburtstag war ihm peinlich gewesen. Jüngferchen..., sagte er, als er es merkte, mein Gott, Jüngferchen..., so nannte er sie nur, wenn er besonders zärtlich oder intim sein wollte, das ist ja unverzeihlich. Nie hatte er ihren Geburtstag vergessen. Nicht einmal damals, als Mama gerade gestorben war und er wie betäubt weiterlebte. Sogar damals standen auf dem Frühstückstisch, den er deckte – er –, Freesien, ihre Lieblingsblumen, und neben ihrem Teller lag die kleine, türkisfarbene Wiener Email-Uhr, die sie lange vorher in einem Auktionskatalog entzückt hatte. Isi war ihrem Vater um den Hals gefallen, und sie hatten beide geweint. Er um seine Frau, sie, weil sie diesen Vater hatte. So war es damals gewesen. Diesmal kam er mit Parfüm an, und drei Tage zu spät.

Der vergessene 7. März, das weiß sie jetzt, ist ein Signal gewesen. Sie hatte es bloß nicht erkannt. Wenn sie jetzt überlegt, wie selten er sie seither mitgenommen hat, fallen ihr die Schuppen einzeln von den Augen: ganze zwei Mal. Einmal ins Konzert, da traf das Abonnement; das andere Mal in die Ausstellung; da stand auch ihr Name auf der Einladung: und Tochter Isabella. Sonst war er abends allein aushäusig.

Da ist der Traum wieder, der Wahnsinn dieser Bilder. Unwillig erwehrt sich Isi. Was sind Träume: sinnlos wuchernde Phantasien ohne realen Bezug. Zwischen dem Mann am Traualtar und ihrem Vater besteht kein Zusammenhang. Was möglich wäre bei jedem anderen, bei ihrem Vater ist es unmöglich. Im Weg steht die Ehe, die er geführt hat, und das Andenken an diese Frau. Unfug, der Traum.

Mit einem steifen Ruck erhebt sie sich. Sie hatte mit dem Rücken zum Porträt ihrer Mutter gesessen, jetzt steht sie ihm gegenüber. Ein gutes Bild, aber sie mag es nicht. Eine Frau mit hellen Haaren, in einem hellen Kleid, vor einem hellen Fenster, alles Messingtöne ineinander und in impressionistischer Manier hingeworfen. Auf dieses Bild ist der Raum abgestimmt, es dominiert. Sie hat auch in diesem Haus dominiert, die Frau. Auf eine merkwürdig zurückhaltende, kühle und durchaus nicht herrische Art hat sie hier geherrscht. Ihr Tod traf Isi als Ereignis; das Endgültige, das der Tod ist. Aber betrauert – nur sich selbst gesteht sie das –, betrauert hat sie die ferne Dame nicht. Sie, Isi, ist kein Mutterkind gewesen. Geliebt hat sie immer nur den Vater.

Dessen Arbeitszimmer liegt neben dem Wohnraum. Störrisch entschlossen drückt sie auf die Klinke und geht hinein.

 

Ihr Blick huscht über den Schreibtisch. Irgendwo was Geschriebenes, das Aufschluss hätte geben können? Wohl fühlt sie sich bei der Visitation nicht. Das Kalenderblatt zeigt den heutigen Tag. Mit etwas spitzen Fingern blättert Isi zurück. Keine Eintragungen. Ein geordneter Schreibtisch. Ordentlich wie der Mann, der abends hier zu sitzen pflegt. Stahlstiche, geschützt in Klarsichtfolien, liegen in Mengen da. Auf einem Stoß als Beschwerer obenauf der Bildband über den Rosenstecher Pierre-Joseph Redoute. Das Vorwort hat ihr Vater geschrieben. Stiche, sein Spezialgebiet. Rechter Hand ein Buch, gespickt mit vielen Zetteln:

 

Friedrich Haustein

Pilze

 

Seine alte Pilze-Fibel, deren Neuauflage er vorbereitete. Pilze, eine seiner Liebhabereien; am liebsten wäre er Botaniker geworden. Wandern und sammeln. Wie oft hatte er sie mitgenommen!

Schon als Kind ist sie mitgetippelt. Auch das vorbei? Die letzte Wanderung, wann war die? Spätherbst ist es gewesen.

Auf dem Schreibtisch findet sie nichts.

Und im Schreibtisch? Dieser Anwandlung widersetzt sich Isi. In ihres Vaters Schubfächer hineinzugreifen, nein. Sie hat es plötzlich eilig, hinauf in ihre Burg zu kommen. Mit ihren langen Schritten, zwei Stufen auf einmal, läuft sie über die Treppe nach oben.

 

Der Name stammt noch aus der Schulzeit. Indessen hat sich die Burg zum Apartment gemausert. Haustein richtete es für die Tochter ein, so, wie er sie sieht: artig und stilvoll gestrig. Ob er mit dieser Beurteilung richtig liegt, steht dahin. Das Bild eines artigen Mädchens lässt sich eigentlich mit Unergründlichkeiten nicht vereinbaren.

Isi drückt die Tür ins Schloss und ist zu Hause.

Nicht der bemerkenswerte Wohnraum unten, nicht das ganze Haus, nicht der Garten – das hier ist ihr Zuhause. »Jugendstils hatte ihr Vater entschieden, das sei der Stil für sie. Achtzehn war sie damals, und es war gerade Mode geworden, den auf den Müll geworfenen Stil der Jahrhundertwende als antik auszubuddeln. Mit etwas Spürsinn konnte man auch als Normalverdienender noch kaufen. Die alte Burg wurde umgebaut, Wände kamen hinein, die nur aus Schränken bestanden, ein Alkoven für das Bett, und dahinter hineingezaubert das Bad. Die Tapete zog sich über Wände und Plafond, ein verwaschenes Grün. Auch grün, nur wie dunkles Moos, der Bodenbelag. Und auf die schöne, weite Fläche inmitten des umbauten Raums kamen die Stücke aus der Zeit, die Haustein zu finden verstand. Zweiunddreißig ist Isi heute, und wenn es außer ihrem Vater noch eine Liebe gibt, ist es diese Burg.

Hier wird sie das Wochenende verbringen. Sich einigeln, ausschlafen und in einem bequemen Schlabberkittel herumlaufen. Sie legt den Hosenanzug ab und greift sich einen Hänger aus Nickisamt. Für Augenblicke steht sie nackt vor dem Spiegel. Nein, sie gefällt sich nicht. Zu dünn findet sie sich. Die Bögen der Rippen, die sich bei jedem Atemzug abzeichnen, die Rosenkranzschnur der Wirbelsäule und die flachen, langen Schenkel, die wie bei einem Knaben sind – nein. Lediglich die hohen, gotischen Brüstchen bestehen vor ihrer Kritik. Aber du liebes bisschen, bei so wenig Busen ist’s ja selbstverständlich, dass er nicht auf die Knie fällt. Angezogen, ja, da kann sie sich sehen lassen, und mit ihren Mannequinmaßen könnte sie alles, auch das Ausgefallenste tragen, wenn das ihr Geschmack wäre. Einsfünfundsiebzig misst sie. Bloß zwei Zentimeter größer ist ihr Vater. Um ihn nicht zu überragen, verzichtet sie auf hohe Absätze. Schön, eine Kleiderfigur. Aber der Kopf! Dieser Kopf... Isi vermeidet den Blick in den Spiegel. Ein großes V das Ganze. Mausgesicht auf zu langem Hals. Ihre Mutter war schön gewesen; auch ihr Vater ist ein gutaussehender Mann, weiß Gott, das ist er immer noch mit seinen sechzig Jahren; und das Produkt dieser beiden Menschen – eine graue Maus.

Wenigstens ist die Maus intelligent. Hat den zweifachen Doktor gebaut, die Maus.

Das Telefon läutet.

Isi stülpt den Hänger über und läuft zu ihrem Schreibtisch, der, ein schönes Stück Jugendstil, mit harfenähnlichen Verstrebungen vorm Fenster steht. Sie nimmt den Hörer ab.

»Haustein.«

Eine rissige, tiefe Stimme. »Emma ruft Isi!«

Ebbs! Emanuel Ebbs.

Isi gibt sich munter. »Na, Sie altes Scheusal?«

»Es ist Mai, Isi, ich röhre.«

»Dann tun Sie was dagegen.«

»Bin gerade dabei. Was treiben Sie?«

»Arbeiten«, behauptet sie.

»Ich hätte ’nen Vorschlag, Isi: Sie nabeln Väterchen ab, wir fahren raus, gehen schick essen, und als Nachtisch lassen Sie sich von Emma vernaschen.«

»Quatschkopf, Sie.«

»Das ist eine Offerte, Isi!«

»Nicht die erste.«

»Es wird Zeit, Isi. Hören Sie, was Sie mit Emma treiben, ist seelische und sexuelle Grausamkeit.«

»Ebbs, nun tun Sie mir den Gefallen und reden Sie endlich wie ein nicht geistesgestörter Mensch.«

»Emma war Ihre Erfindung.«

Das stimmt. Die unleserliche Unterschrift auf seinem ersten Dienstschreiben hatte sie als Emma Ebbs identifiziert und geantwortet: Sehr geehrte Frau Kollegin.

»Emma«, erklärt sie jetzt, »ist langsam Schwachsinn.«

»Ich liebe Emma. Wann darf Emma Sie abholen?«

»Gar nicht. Ich sagte es schon, ich arbeite.« Sie erzählt was von einer verunglückten Analyse, über der sie sitze. »So kann das nicht hinausgehen; die Werte sind nicht in Ordnung, und die Formulierung muss überholt werden.«

»Doch nicht Ihr Bier.«

»Es ist meine Abteilung, ich bin dafür verantwortlich.«

»Arbeitsbesessene Männer«, zischt es aus dem Hörer, »sind schon ein Greuel, arbeitsbesessene Wei...«

Sie lacht. »Sagen Sie’s nur: Weiber. Was ist mit denen?«

»Isi...« Ein Stöhnen, selbstironisch. »Es wird Ihnen noch mal leidtun. Ich wäre nämlich zu haben jetzt, meine Scheidung ist durch, Isi.«

»Was wollen Sie nun hören: Beileid oder Glückwunsch?«

Wieder die Ironie: »Emma bedarf des Trostes.«

»Warum? Mögen Sie Ihre Frau noch?«

»Zur Hölle mit ihr! Ich bin verwundet, kapieren Sie das nicht? Mein Selbstbewusstsein ist im Eimer.«

»Und was soll ich dabei?«

»Streicheln, Isi, streicheln!«

»Mal ernsthaft, Ebbs: Haben Sie Kinder?«

»Nee. Sie wollte nicht. Vielleicht war das der Fehler. Ich hätte ihr eins aufbrummen sollen.«

»Kinder, hab’ ich mir sagen lassen«, widerspricht sie, auch sie in der Tonart der Ironie, »sollen, wenn möglich, mit Liebe gezeugt werden. Aufbrummen, da hab’ ich die Vorstellung von Dschingis-Khan und den Hunnen.«

In seiner Stimme gluckst ein barbarisches Lachen. »Was wissen Sie von männlicher Rachsucht...«

»Rachsucht, höre ich?« Sie lächelt spitzmausig. »Wofür? Und gegen wen?«

»Wenn ich Sie mal auf Tuchfühlung hab’, erklär’ ich’s Ihnen. Letztes Wort, Isi: Fahren wir raus?«

»Nein. Keine Zeit.«

»Und morgen?«

»Für Sonntag«, schwindelt sie, weil sie in Ruhe ihren Gedanken nachhängen will, »bin ich meinem Vater im Wort.«

»Na, dann ein verdammt schönes Wochenende!« Klick, er hatte aufgelegt.

 

 

 

2. Das Haar

 

 

Montag, morgens um sieben.

Isi war wie stets etwas früher als ihr Vater aufgestanden, um das Frühstück zu machen, und sie war zu dem Entschluss gekommen, mit keinem Wort an das Wochenende zu rühren. Eine Lösung hatte sie nicht gefunden, das Rätsel war geblieben. Spät nachts war ihr Vater zurückgekommen. Um die Zeit lag man im Hause Haustein schon im Bett. Isi hatte sich nicht mehr blicken lassen. Hätte nach Kontrolle ausgesehen, und das hätte er ihr verübelt. Es stand ihr auch nicht zu. Genaugenommen – das war das Ergebnis allen Nachdenkens gewesen – hatte sie kein Recht auf ihn. Was schließlich blieb ihr übrig? Abwarten, ob er von selbst sprach. Indessen konnte sie sich nur bemühen, verlorenes Terrain behutsam zurückzugewinnen.

In der Hand eine Bluse, die zur Wäsche musste, ging sie die Treppe hinunter zur Küche und warf die Bluse in die Truhe. Sie überlegte noch, ob sie einen Zettel daranklammern sollte wegen der 30 Grad – Frau Liebl, die Stundenhilfe, die um neun kam und das Haus saubermachte, war eine Robuste, die so was ohne viel Federlesens zur Kochwäsche steckte –, als sie obenauf in der Wäschetruhe den Pyjama ihres Vaters liegen sah. Hatte er den nachts noch ausgepackt? Das war ja der Rohseidene! Na, das wäre was für die Liebl: Ab damit in die Kochwäsche, und hin wäre er. Der musste in den Plastiksack, wo die Feinwäsche drin war. Isi kam nicht mehr dazu, sich zu wundern, dass ihr Vater dieses luxuriöse Stück, ein Geschenk von ihr, auf die Reise mitgenommen hatte – sie hatte das Haar entdeckt.

Am obersten Knopf der Jacke ein rotes Haar...

 

Als sähe sie unter einem sonnenwarmen Stein eine Natter sich ringeln, so starrt sie darauf. Das Haar hat sich um den Faden, der den Knopf auf einem Stiel mit dem Stoff verbindet, geschlungen. Und es ist fuchsrot, das Haar...

Der Schlag kam so überfallartig, dass Isi sekundenlang untätig verharrt. Dann formt sich ein einziger Gedanke: analysieren. Isi ist Chemikerin, Ebbs ist, Chemiker. Er leitet das Labor der Polizei. Haaranalysen, darin ist die Polizei dem Institut, bei dem Isi arbeitet, überlegen. Wie ein Automat beginnt sie zu funktionieren. Plastiktüte, sie braucht eine Plastiktüte. Das Haar ist verwickelt mit dem Faden. Der Knopf muss abgeschnitten und das ganze Knäuel aus Haar und Faden mit einer spitzen Schere herausgetrennt werden.

Das rote Haar erschüttert ein Weltbild. Unmöglich, hatte Isi gedacht, und sie war sich so sicher, dass sie, wenn sie das Bild ihrer Mutter – Phoebe hieß sie, eine Zarte, Zerbrechliche –, wenn sie dieses Bild vor Augen hatte, jeden Gedanken daran, dass es für ihren Vater noch eine Frau gäbe, als blasphemische Verirrung abtat. Und nun steht das nicht für denkbar Gehaltene plötzlich da wie ein Gespenst und grinst: Warum soll er denn nicht, der Herr Professor? Er ist doch noch kein Greis.

Wieder drängt sich der Traum mit seinen Gräueln heran, geradezu höhnisch jetzt und rechthaberisch. Ist nicht doch etwas dran an der Sache mit dem Unterbewussten? Wie tief sie auch vergraben sind, die schlummernden Ängste und Untaten, legt sie nicht der Traum bloß und zwingt er dazu, sie zu durchleben bis zum Höllensturz?

Zum Teufel mit dem Traum! Rotes Haar... In Isis Hirn rotiert es. Rotes Haar hatte auch Niko Erdmann, und diese Version – wohin gerät sie, aber diese Version wäre noch die akzeptablere. Niko Erdmann, Name einer enttäuschenden Erfahrung ihres Vaters. Im ersten Jahr nach Mamas Tod zog er den Jungen bei einem Krawall an Land. Wollte Maler werden, dieser Niko, ihr Vater half ihm, besorgte ihm einen Job bei Restaurationsaufträgen. Niko nahm sein abgebrochenes Studium wieder auf, und mit der Festigung seiner Verhältnisse legte er einige seiner aggressiven Ideen ab. Ein paarmal tauchte er zu Isis Missvergnügen im Hause Haustein auf; es gab Gespräche, die der rettungslose Humanist, ihr Vater, einen' Erfolg nannte. Eines Abends kam Friedrich Haustein niedergeschlagen nach Hause. Er hatte gehört, dass seiner Fürsorge für den Rotschopf eigennützige Motive unterstellt würden. Isi begriff nicht. Homophilie, erklärte ihr Vater verletzt. Das Schlimme daran: Niko selbst hatte das Gerücht durch eitle Prahlereien in die Welt gesetzt. Isi schäumte und wollte den Burschen stellen. Ihr Vater verwehrte es ihr. Er brach die Verbindung ab, damit war für ihn der Fall Niko erledigt.

Vielleicht doch nicht erledigt, wie?

Isi bleibt das Herz nicht stehen, sie schämt sich auch nicht, dass sie es ihrem Vater zutraut, ja, sie hofft in dieser verteufelten Morgenfrühe, es möchte so gewesen sein. Dann hätte er den Jungen zu der Tagung mitgenommen? Verständlich, dass die Tochter am Bahnhof nicht erwünscht war. Verständlich der Glencheck-Anzug, verständlich der seidene Pyjama. Zugegeben, es ist ein Schmerz. Aber lieber noch der rothaarige Lümmel als eine Frau, die darauf ausging, den Vater zu heiraten.

Im Obergeschoss rauscht das Badewasser in die Wanne.

Das Frühstück, Isi muss das Frühstück bereiten!

 

Ein kopfloses Huhn huscht durch die Küche und holt zusammen, was man zum Frühstücken braucht. Der Toast verbrennt, die Eier werden hart, und die Kaffeemaschine, von schussligen Händen umgeworfen, versagt den Dienst. Es gibt Tee.

Als Haustein in die Küche kommt, findet er in der Essecke, wo man, um Zeit zu sparen, das Frühstück einnimmt, eine sich entschuldigende Tochter vor. Haustein hat nichts gegen Tee, auch die missratene Konsistenz eines Eis verdirbt ihm den Wochenanfang nicht; er ist gut aufgelegt. Isi versetzt es einen Stich: Wie er aussieht! Geradezu verjüngt. Er trägt das Salz-und-Pfeffer-Tweed-Sakko, das sie so gern an ihm mag, dazu eine kirschrote Wollkrawatte und ein weißes Hemd. Schlank ist er, die Figur eines jungen Mannes, nicht groß, aber wohlproportioniert. Das Haar über der hohen Stirn, ein Mittelblond, in dem sich unmerklich Grau verbirgt, ist noch voll. Straff das gutgeschnittene Gesicht. Nur am Hals gibt es Stellen, die das Alter verraten. Ihr beau pêre, wie ihn Isis Gedanken in Heimlichkeit zärtlich nennen.            

In der Tasche ihrer Kostümjacke knistert, wenn sie dranstößt, die Plastiktüte mit dem Fund...

Ihr Vater setzt sich und greift über den Tisch, berührt ihre Hand, tätschelt sie. »Na, wie geht’s uns denn?« Er lacht sie an, die Seelenruhe in Person.

»Es geht«, erfindet sie, »hab’ nur schlecht geschlafen.«

»Föhn wieder mal«, weiß er. »Man sah’s gestern schon.«

»Hattest du gutes Wetter?« Ganz nebenhin; sie köpft das Ei.

»Durchwachsen. Mittags zog es herauf, dicker Föhn. Und alles in Richtung hierher. Gibst du mir mal den Honig?«

Isi reicht ihm das Glas. Er hat angefangen, nicht sie. Sie erkundigt sich nach der Strecke. »Wie war die Fahrt?«

»Recht gut«, sagt er und lässt Honig auf den Toast fließen.

»Wo liegt denn dieses Schloss Falkenberg oder -see?« Sie weiß recht gut, dass er Falkenberg sagte.

»Na ja, von Innsbruck aus... Mit dem Bus noch etwa eine Stunde. Eines dieser vielen Täler. Übrigens«, fährt er fort und verlässt das Thema, »heute kann es spät werden. Rechne bitte nicht mit mir zum Abendessen.«

»Okay.« Vorgestern noch hätte sie nach dem Warum gefragt. Heute schenkt sie ihm die Ausrede.

 

Weiter gab es kein Gespräch. Ein Frühstück wie sonst auch; wenig Zeit, auf beide wartete der Beruf. In Isis Tasche knisterte die Tüte. Geschlechtsbestimmung bei Haaranalysen, dachte sie, während sie mechanisch Ei und Tee und Toast zu sich nahm. Haute aber nicht immer hin. Wenn, dann würde es Ebbs gelingen. Gib, dass es männlich ist! An wen sie den kindlich formulierten Wunsch richtete, war ihr ebenso wenig klar wie die bedenkliche Qualität dieses Wunsches.

Haustein schaute auf die Uhr. »Höchste Zeit.«

»Soll ich dich fahren?«, erbot sich Isi.

Er lehnte nett ab. »Mein Morgenspaziergang, du weißt.«

Sie wusste. Die zwanzig Minuten zu seinem Amt ging er jeden Tag zu Fuß, Bewegung war ihm ein Bedürfnis.

Haustein stand auf. »Tschüs, Kleine...« Andeutung eines Küsschens aufs Haar, hingestreut wie einen Krümel seiner guten Laune, empfangen von der Kleinen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er brachte noch sein benutztes Geschirr zur Spüle, dann ging er aus dem Haus.

Ritterlich, ja, das war er.

Isi, nach einem Blick zur Uhr, suchte die Privatnummer von Ebbs. Wenn sie Glück hatte, erreichte sie ihn noch zu Hause. Sie wählte.

Seine rostige Stimme, montagsmuffelig: »Ja? Hallo?«

Weiß Gott, ihr war nicht danach zumute, aber sie wollte ja was von ihm; sie scherzte: »Isi ruft Emma.«

Ein Tonwechsel um Oktaven. »Das nenn’ ich einen Montagmorgen! Was verschafft mir das Vergnügen?«

Sie sagte es ihm, sagte aber nur so viel, dass sie ihn um einen persönlichen Gefallen mit einer Haaranalyse bitten müsse. Ob er dazu bereit sei?

»Wenn Ihnen daran liegt?«

»Es ist wichtig für mich.«

»Dann her damit, Isi.«

»Ich bring’s Ihnen. Wo treff ich Sie?«

Sie einigten sich auf eine Ecke, die um die Zeit noch einen Parkplatz versprach und ihnen beiden am Wege lag.

 

Ebbs war schon da, als Isi ankam.

Wenn dieser Zweimetermann von sich per Emma sprach, war’s ein Witz; sollte auch einer sein. Nur Zentimeter fehlten an den zwei Metern. Der ganze lange Mensch bestand aus Sehnen und strickartigen Muskelsträngen, die die Gelenke wie Takelage-Knoten hervortreten ließen. Das Haar auf dem kantigen Schädel war ein dunkles Gestrüpp, und das Gesicht darunter – die Nase eingedellt von einem Boxhieb – glich einer zerklüfteten Karstlandschaft. Für bürgerliche Maßstäbe ein hässlicher Kerl. Er konnte schön sein, wenn er lachte. Dann ging über dem Karst die Sonne auf, dann kam ein beneidenswertes Gebiss zum Vorschein. Er war 46 Jahre alt und kleidete sich sportlich; nur scheiterten auch gute Schneider an seinem Chassis; seine Anzüge saßen nicht.

»Isi«, sagte er und half ihr aus dem Auto, spitzte dabei die Lippen. »Klasse, wie sie wieder angezogen ist! Ich mag Ihren Stil, Mädchen. Einen guten Morgen!«

»Morgen, Sie Spaßvogel.« Etwas verlegen stand sie vor seinen Fast-zwei-Metern. »Das wär’s.« Sie übergab ihm die Tüte. »Die Fadenreste...«, fügte sie hinzu und mühte sich um sachlichen Anschein, »sind von einem Pyjamaknopf.«

»Pyjama?« Er schaute auf das Corpus delicti und dann auf sie; etwas verwundert war er nun schon.

»Pyjama.« Sie nickte.

»Darf man fragen, von wem?«

Sie schwieg. Dann entschloss sie sich. Sie konnte ihm ja den Untersuchungsgegenstand nicht nur in die Hand drücken und erwarten, dass er ihr stumm zu Diensten war.

»Was ich Ihnen jetzt sage, bleibt bitte unter uns. Es geht um meinen Vater.« Sie straffte sich, bekam ihr steifes Rückgrat. »Es ist sein Pyjama.«

»Oh.« Ebbs hatte begriffen.

»Es ist so: Es kann das Haar eines jungen Mannes sein. Möglich. Der Junge«, erklärte sie mit unbewegter Stirn, »kann mit ihm herumgealbert haben. Er ist rothaarig. Mein Vater hat ihn, glaube ich, zu dieser Tagung mitgenommen. Fragen kann ich nicht. Diese – Blöße gebe ich mir nicht. Wenn das Haar von dem Jungen ist, okay. Dann vergessen wir’s. Ist das Haar aber von einer Frau...« Sie verstummte.

Ebbs betrachtete sie. Ein nicht hübsches, ein intelligentes Mädchen mit der Figur einer Nymphe; ein abweisendes und ihn gerade deshalb herausforderndes Mädchen.

»Haben Sie denn Grund«, fragte er, »die Existenz einer Frau zu vermuten?«

»Ich weiß gar nichts«, antwortete sie schroff. »Aber ich will es wissen. Darum geht es.«

»Ich verstehe.«

»Nichts verstehen Sie.« Viel zu brüsk kam das; sie verriet sich. »Ich bin nicht neugierig«, hängte sie daran. »Aber ich lebe bei meinem Vater und will wissen, woran ich bin.«

»Das ungefähr meine ich ja, Isi.«

Schon der Unterton, der sich nach Mitgefühl anhörte, verletzte sie. Sah man ihr denn an, was mit ihr los war? Sie gab sich noch spröder. »Wenn eine Frau existiert, ist an Heiraten zu denken. Mein Vater ist nicht der Mann...« Sie wischte mit einer Handbewegung darüber. »Erledigt. Ich möchte nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Ich will mich auf eine Situation, ganz gleich welche, einstellen können. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen.«

Sie standen auf einem Gehsteig, wo junge, schmächtige Bäume in einem Lattenkorsett aufgepäppelt wurden, nachdem die alten, starken erst einmal mit weiser städtischer Planung umgelegt worden waren, und der morgendliche Berufsverkehr jagte an ihnen vorüber.

»Und ob ich das verstehe«, antwortete er. »Und weh«, meinte er, »tut es wohl auch.«

Darauf bekam er keine Antwort.

»Kann ich mit Ihnen rechnen?«, fragte sie.

»Selbstverständlich. Sie können immer mit mir rechnen.«

 

Nachmittags kam das Resultat.

Es war ein Frauenhaar.

Ebbs wählte den Amtsweg und telefonierte die Analyse im Telegrammstil durch: Gefärbtes Haar, Hennaprodukt minderer Qualität, Grundfarbe ergrautes Braun.

Das erschütterte Weltbild brach lautlos zusammen.

 

 

 

3. Zdenka

 

 

Nachts wiederholte sich der Traum. Diesmal ging es nur noch um die Verfolgung; das Szenenbild in der Kirche entfiel. Da war die Höhle. Isi rannte und kroch und robbte, und diesmal, auf dem Bauch in der engen Röhre, bekamen sie die Verfolger schon an den Füßen zu fassen. Sie schlug um sich wie ein an Land gezogener Fisch, und sie schaffte es auch, erreichte den Ausgang der Höhle. Dann aber warf sie sich, ehe man ihr auf der Felskanzel draußen den Tritt in den Rücken versetzen konnte, kopfüber in den Abgrund hinunter. Wieder schrie sie. Auf klatschend stürzte sie in das Gewirr der Schlangenleiber, ging unter, tauchte hoch, wurde umwickelt, zerrte und rang, trat um sich. Die Schlangen schnürten ihr die Luft ab. Schreiend wurde sie hinuntergezogen in eine tödliche Tiefe.

Von ihrem Schreien erwachte sie. Wie ein Strick war die Daunendecke mit ihrem Körper verschlungen. Durchgeschwitzt, Pyjama und Bettlaken.

Beim Frühstück bekam sie ihren Vater zu Gesicht. Den Abend, so bemerkte er nebenhin, würde er bei einer Sitzung verbringen. Sitzung: Ein Mann wie er, und scheute vor keinem Klischee zurück. Dachte wohl: Gutes Kind, das Jüngferchen, ließ sich alles aufbinden.

Die Wiederholung des Traums entsetzte sie mehr, als sie sich eingestand. Nie in ihrem Leben war sie bei einem Psychiater gewesen. Schlangen, hatte sie einmal gehört, seien erotische Traumsymbole. Absurdität! Für sie gab es nichts Scheußlicheres als Schlangen. Und dass sie in eine Höhle fliehen würde, sie, die eine unüberwindbare Abneigung gegen eingeschlossene Orte wie Keller, Bunker, Bergwerke und derlei hatte – Sadismus eines Angsttraums! Warum das gerade jetzt über sie hereinbrach, nur der Teufel wusste es.

Sie musste herausfinden, wer die Frau mit dem gefärbten Haar war, welche Rolle sie bei ihrem Vater spielte. Sicher, sie hatte kein Recht. Sicher, ihr Vater konnte tun, was er wollte. Nur, sie hielt die Ungewissheit nicht aus. Seit Mamas Tod hatten sie zusammengelebt, und es hatte so etwas wie eine stillschweigende Übereinkunft bestanden, dass es dabei bleiben würde. Rothaarige Damen, Damen überhaupt, davon war nie die Rede gewesen. Dieses Kapitel, so hatte es den Anschein gehabt, war mit Phoebe abgeschlossen. Phoebe, ihre Mutter. Die geheimnisvoll harmonische Ehe, die dem Kind Isabella, genannt Isi, so viele Schmerzen bereitet hatte, Schmerzen der Eifersucht, schien jeden Versuch einer Neuauflage auszuschließen. Nach Phoebe, so dachte die Tochter, die ihre Mutter nicht geliebt hatte, konnte es nichts mehr geben. Und nun gab es eine Frau mit rotem Haar.

Isi suchte nach Spuren von ihr. Eine Fotografie, ihre Adresse, die Telefonnummer. Heimlich und nicht ohne mahnendes Gewissen, aber unwiderstehlich dazu angetrieben, stöberte sie herum. In ihres Vaters Schreibtisch, in der täglichen Aktenmappe, unter der Post. Einmal durchblätterte sie sogar seine Brieftasche, als er sie auf dem Frühstückstisch liegen ließ, während er kurz in sein Arbeitszimmer verschwand; aber wo sie auch eindrang und sich mit Resten von Scham herumschlug, sie konnte nichts finden. Sorgfältig hielt er seine Dame geheim!

Es war der Freitag dieser verdammten Woche.

Haustein klopfte sein Frühstücksei auf und sprach mit der Tochter über das Wochenende. Er müsse,, erwähnte er beiläufig, morgen noch einmal nach Schloss Falkenberg; sie seien mit den Themen nicht fertig geworden.

Vorsicht, befahl sich Isi und gab sich gelassen.

»Fährst du mit dem späteren Zug?«, fragte sie. »Oder nimmst du den Neun-Uhr-zehn-Zug?«

»Den Neun-Uhr-Zehn. Warum?«

»Ich frage nur. Mich brauchst du ja nicht?«

»Dich?«

»Dass ich dich zum Bahnhof bringe?«

»Nein, nein, ich nehme wieder ein Taxi.«

»Dann fahr’ ich nämlich auch weg«, verkündete Isi, »und zwar morgens schon.«

Ihr Vater zeigte freundliches Verständnis. »Tu das! Wohin fährst du denn?«

»Weiß ich noch nicht«, log sie. »Bisschen raus.«

»Gute Idee«, lobte er und war’s zufrieden.

 

Isi wusste sehr wohl, wohin sie über’s Wochenende fahren würde. Sie wartete nur, bis ihr Vater das Haus verließ, dann rief sie im Institut an, dass sie eine Stunde später käme, setzte sich ins Auto und fuhr zu einem Kaufhaus.

Dort bekam sie, was sie am Samstag brauchte: Perücke, Sonnenbrille, Jeans, die sie hasste und niemals trug, auch eine dieser figurumwallenden Zotteljacken, mit denen sich die Jungen heute alt machten, und nicht zuletzt: hochhackige Schuhe. Solchermaßen von Grund auf verkleidet, schwarze Ponyfransen über ihrem Aschblond, das sie aus der Stirn frisiert trug, das Mausgesicht von einer dunklen Riesenbrille dreiviertel verdeckt, würde sie Herrn Professor Haustein und die rothaarige Dame am Bahnhof in Innsbruck ausspähen und mit dem Auto verfolgen. Nicht mit ihrem eigenen; sie würde, so sorgfältig und gründlich plante sie ihr Vorhaben, einen Leihwagen nehmen.

 

Am Samstagmorgen meldete der Wetterbericht ein Tief. In München blinzelte noch eine fahle Sonne hinter einem Wolkenhimmel wie saure Milch, in Garmisch trugen die Berge schon Nebelhüte, und als Isi am Zirler Berg in die erste Haarnadelkurve einbog, empfing sie das Inntal tief unten als Waschküche. Isi fuhr einen starken, doch unauffälligen Wagen; sie wusste ja nicht, welche Bergstraßen und Steigungen der Omnibus, den sie zu verfolgen hatte, nach diesem Schloss Falkenberg hinaufklettern würde.

In Innsbruck regnete es, und es gab die erste Überraschung: Falkenberg war nicht bekannt. Wo Isi auch fragte, an Tankstellen und bei Taxifahrern, niemand wusste in der näheren

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Ernestine Wery.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 13.05.2021
ISBN: 978-3-7487-8259-9

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