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Leseprobe

 

 

 

 

ERNESTINE WERY

 

 

Ihr Name war Cindy

 

Roman

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

IHR NAME WAR CINDY 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

 

 

Das Buch

Sie war jung, launisch und verwöhnt. Das Leben war für sie nur ein Spiel. Ein Spiel mit Männern, teuren Kleidern, Schmuck und schicken Autos. Ihr Name war Cindy...

Der letzte Freund schickte ihr zwanzig Rosen ins Haus. Aber da war Cindy bereits tot.

Hauptkommissar Veigl von der Kriminalpolizei in München hat einen neuen Mordfall, der ihn fast an seinem Beruf verzweifeln lässt...

 

Ernestine Wery (* 21. April 1909 in München als Ernestine Fentsch; † 26. November 1997) war eine deutsche Schauspielerin sowie Drehbuch- und Romanautorin. Nach ihrer Heirat mit dem Schauspieler Carl Wery zog sie sich von der Schauspielerei zurück und schrieb ab 1943 Filmdrehbücher. Auch als Autorin blieb sie häufig dem bayerischen Lokalkolorit verbunden. Mit ihren insgesamt 22 Drehbüchern, von denen 16 verfilmt wurden, trug sie einen nicht unwesentlichen Teil zum Charakter des bundesdeutschen Kinos der 1950er Jahre bei. In späteren Jahren verlegte sie sich auf die Schriftstellerei. Sie schrieb mehrere Romane, insbesondere Kriminalromane, die teilweise ihre Drehbücher für die Krimiserie Tatort als Grundlage haben.

Der Roman Ihr Name war Cindy erschien erstmals im Jahr 1981.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  IHR NAME WAR CINDY

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

 

Morgens Rosen

 

 

Fünfmal ließ das Blumenmädchen, eine Göre, die noch schulpflichtig war, die Klingel an der Wohnungstür im siebten Stock schellen, zuletzt durchdringend wie die Feuerwehr – niemand machte auf. Die Göre schaute unwirsch. Da strampelte man sich ab mit dem Job, steckte sich die Ferien an den Hut, und dann waren die doofen Kunden nicht zu Hause. Futsch, das Trinkgeld. Sie machte kehrt. Hülsenenge Jeans; auf der linken Hinterbacke, die klein und fest wie bei einem Jungen war, einen gestickten Schmetterling. Das Blumenpaket wollte sie aber noch loswerden. Wer wohnte denn nebenan?

Goltz stand da zu lesen.

Sie läutete.

Eine weibliche Jammerstimme innen. Was sie rief, war nicht zu verstehen. Es dauerte; eine Frau öffnete. Sechzig oder wie alt; vielleicht war sie auch erst Ende vierzig. Nicht zu schätzen. Uralt, registrierte die Göre. Zerflossen, die ganze Person. Irgendwie verhuscht. Sie knöpfte an einer sackartigen Bluse, die über einer zerknautschten Hose hing und rettungslos ausgeuferte Hüften verbergen sollte.

»’tschuldigen«, leierte das Mädchen in jenem modulationslosen Singsang, der bei diesen Jahrgängen unter cool läuft, »niemand da nebenan. Nehm’ Sie ab?«

Sie streckte den eingewickelten Strauß hin. »Karte steckt drin.«

Die Frau brauchte eine Brille. »Für Cindy«, las sie. »Moment...« Sie nahm die Blumen, überlegte mit leichter Ladehemmung: zumachen die Tür oder offenlassen? »Warten Sie...« Sie schob die Tür zu bis auf einen Spalt, verschwand. Und kam wieder mit einem Geldstück. »Für Sie.«

Überwältigt bedankte sich die Göre nicht. War nur eine Mark. Das fühlte sie in der Hand, ohne hinzugucken. »Unterschreiben Sie?« Sie hielt ihr das Lieferbuch hin.

Wieder brauchte die Frau die Brille. »Sie nehmen es aber genau.« Sie unterschrieb: Irene Goltz.

»Sind ja’n besseres Geschäft. Tach.« Das Buch unter die Achsel geklemmt, verdrückte sich das Mädchen.

Die Frau lächelte leer hinterdrein. »Für Blumen«, meinte sie, »ist es um die Zeit etwas früh.«

Das Gör mit dem Schmetterlingspopo stakste zum Lift. Eine Mark! Wert gewesen wäre der Strauß einen Fünfer. Die fette Alte mit ihrem Zu früh! Neun vorbei war’s.

Das Lichtauge erkletterte die Ziffer sieben, der Lift tat seine automatischen Klappen auf; das Mädchen stieg ein. Ein Käfig, atmungsaktiv wie ein Sarg. Klappen zu, ab ging die Post. Wieviel von den Ferien, fragte sich die Abwärtsgleitende, ging drauf, bis sie den Plattenspieler, den sie haben wollte, mit dem Mistjob herangeschafft hatte?

 

Rosen waren es. Zwanzig prachtvolle Baccara, tiefrot mit zinnobrig angehauchten Rändern. Irene Goltz nahm den Strauß aus dem Papier und wickelte ihn in eine nasse Zeitung. Dann würde sie ihn tief in einen Eimer Wasser stecken und den in die kühlste Ecke stellen. Das war der nach hinten gelegene, schuhkartongroße Küchenbalkon.

Die Frau hatte Erfahrung mit Blumen und deren Empfängerin. Nicht das erste Mal, dass sie einen Strauß für sie abnahm. Cindy pennte bis in den späten Vormittag; Rosen indessen ließen die Köpfe hängen. Das Wasser brauste in den Eimer. Im Grunde verschwendete Mühe. Cindy würde mit den Rosen umgehen wie mit allen Geschenken, die sie mit dem selbstverständlichen Anspruch der Jungen und Verwöhnten hinnahm – achtlos. Es sollte aber nicht heißen, der alten Goltz sei die Arbeit zu viel gewesen. So trug sie den Eimer auf den Balkon.

Schuhkartons, so sahen sie aus, die Küchenbalkone in den Betonschluchten der riesigen Höfe, hingeklebt dutzendweise. Eine Wohnmaschinensiedlung, anheimelnd wie die Eigernordwand. Ein Sprung hinunter – immer wieder der lockende Gedanke –, und alles wäre überstanden.

Irene Goltz kehrte in die Küche zurück und beendete ihr unterbrochenes Frühstück. Einen Rest Pulverkaffee, den sie im Stehen austrank, eine Scheibe Knäckebrot, bestrichen mit irgendwas. Frische Semmeln zu holen, hatte sie sich zu schlapp gefühlt. Sie stellte die Tasse ins Spülbecken und ging in ihr sogenanntes Studio.

Unter der Tür fiel ihr noch ein: Von wem waren denn die Rosen? Sicher von Robert Lennen. Sie sah nach der Karte, die auf dem Kühlschrank lag. Nicht Lennens Schrift. Ein Neuer in Cindys Galerie? Wer schickt einem jungen Mädchen rote Rosen? Ein Mann natürlich.

 

Studio nannte Irene Goltz nicht ohne Ironie das Zimmer, in dem sie tippte. Sie lebte von Schreibarbeiten. Freiberuflich. Ein Balanceakt, bei dem ihr oft schwindlig wurde. Aber ihr blieb nichts anderes übrig. Ihre Stellung als Sekretärin hatte sie nach einem Betriebsunfall verloren. Die Firma konnte nicht warten, bis sie wiederhergestellt war; wollte auch nicht. Genaugenommen waren sie froh, sich ihrer entledigen und eine Junge, Attraktive einstellen zu können. Nur gut, dass es ein Werksaufzug gewesen war, der mit ihr in die Tiefe stürzte; so kam sie an eine Unfallrente. Schäbig, wie Versicherungen sind, wenn’s ans Zahlen geht, bekam sie für eine lädierte Wirbelsäule und deren schmerzhafte Folgen nur so viel, dass es gerade für die Miete reichte. Immerhin, die war mal da. Das andere musste sie sich auf freier Wildbahn verdienen. In ihrem Alter nahm sie keiner mehr; und die Angestelltenrente, dafür war sie noch zu jung. Sie kaufte sich von der sparsamen Abfindung, die ihr die Firma gab, eine Schreibmaschine und ein paar gebrauchte Möbel. Die trimmte sie mit Farbe ein bisschen auf Pop; die Wände tapezierte sie mit Posters, am Fenster wucherte das Grün ihrer Blattpflanzen. Den Leuten gefiel das; der Laden lief auch ganz nett. Laufen tat er, weil sie billiger als die anderen war und trotzdem saubere Arbeit lieferte. Sie schrieb relativ fehlerfrei. Wie lang sie dazu brauchte, ging niemand was an. Rechnete sie nach Stunden, verdiente sie miserabel. Aber das war ihr Bier.

Sie setzte sich an die Maschine und klapperte weiter, wo sie gestern Nacht aufgehört hatte. Eine »Dissertation zur Erlangung des Grades des Doktors der Naturwissenschaften^ Auf Seite 31 war sie. Engzeilig und mit Durchschlägen. Eine Würgerei, an der sie seit Tagen saß. Der Rücken tat ihr weh. Sie las den nächsten Abschnitt aus dem Manuskript:

»Die Aufarbeitung des Reaktionsgemisches nach Beendigung der Belichtung mit Hilfe von Codestillation und IR- Spektroskopie ergibt folgendes Ergebnis: Neben den Ausgangsstoffen ist das Hauptprodukt der Belichtung Trifluormethylchlorid neben geringen Mengen von Bisftrifluormethyljdisulfan und Dischwefeldekafluorid, außerdem werden die üblichen Hydrolyseprodukte Siliciumtetrafluorid, Schwefelhexafluorid und Thionylfluorid identifiziert.«

Was für ein Satz!

Schon bei der Codestillation und IR-Spektroskopie verhaute sie sich zweimal und musste ausbessern. Ihre Finger waren nicht zielsicher an diesem Morgen.

Sie brauchte einen Schluck.

Hinter den Falten des Vorhangs stand er: billiger französischer Dessertwein, etwas besser als Wermut dieser Preisklasse. Sie trank gleich aus der Flasche.

Nein, sie war keine Trinkerin. Sie betrank sich nie, steigerte auch ihren Konsum nicht. Eine Flasche pro Tag, verteilt auf viele kleine Schlucke. So ging das, seit sie Freiberuflerin war. Es half. Hielt die kreisenden Wölfe der Angst im Zaum, verbreitete angenehme Gleichgültigkeit. War nur schlecht für die Figur. Aber wer schaute noch nach ihr! Und die eigenen ästhetischen Maßstäbe, du liebes bisschen; vorbei. Alles war vorbei. Geblieben die Erkenntnis, dass das Leben sinnlos und nahezu alles Zufall war. Es hatte eine Zeit gegeben, da war sie von dieser Erkenntnis noch erschüttert worden. Auch vorbei.

Sie tippte weiter. Vertippte sich. Besserte aus. Als sie auch das Trifluormethylchlorid verhaute, nahm sie Seite 31 samt Durchschlägen aus der Maschine, legte neu ein und schrieb das Ganze noch einmal.

Mittlerweile war es nach zehn geworden. Allmählich Zeit, bei Cindy zu läuten. Irene Goltz erhob sich steif, musste sich aufstützen, um ihre nagenden Rückenwirbel zu entlasten, und ging hinüber zu ihrer jungen Nachbarin.

Sie klingelte. Vergeblich.              

 

Diese Mädchen! Irene kehrte an ihre Arbeit zurück, schrieb. Nebenher dachte sie an Robert Lennen. Schien eine ernsthafte Geschichte bei ihm. Und nun zwanzig Baccararosen von einem anderen? Wieder so ein tastenschockendes Wort, sie buchstabierte laut mit: Bis(trifluormethyl)disulfan. Aber sie waren selbst schuld, die Männer. Schmückten sich mit Mädchen, die ihre Töchter sein konnten. Lennen hätte sie es zwar nicht zugetraut. Einer der wenigen Schauspieler, der früher nie in Klatschspalten gestanden hatte; ein stiller Mann, und verliebt sich – wie alt mochte er sein? Nein, dieser Chemiker mit seiner Doktorarbeit! Ein Wort, bei dem sich die Schreibmaschine sträubte; Irene klopfte die Buchstaben einzeln aufs Papier: Methyljodid Methyltrifluormethylsulfan CH3SCF3 Wie alt Lennen war: ein Fünfziger, wie? Und Cindy einundzwanzig. Hielt sich und ihre Schönheit, hinter der sie wie die hechelnden Hunde her waren, noch für unvergänglich. Aber was ging sie’s an! Schreib, befahl sie sich. Dir wird nichts geschenkt. Sie ackerte, kam endlich in Schwung, schaffte drei Seiten ohne größere Korrekturen. Der Rücken schmerzte. Sie stand auf und schaute noch mal hinüber zu Cindy.

Wieder umsonst, ihr Läuten.

»Hallo, Cindy?«, rief sie leise an den Türspalt und klopfte mit vertraulichem Fingerknöchelschlag ein paarmal gegen das Holz. Alles blieb still.

 

Irene Goltz ging zurück in ihre Wohnung, und nun fand sie, dass sie anrufen und das Mädchen wecken musste. Sie wählte Cindys Nummer.

Cindy meldete sich nicht.

Dass sie weggefahren wäre? Wer fütterte dann die Katzen? In dem Augenblick überkam die Frau ein unruhiges, im Magen flimmerndes Gefühl...

Cindys Katzen!

An die hatte sie bis jetzt nicht gedacht. Die Katzen, die Cindy nie unversorgt ließ, wenn sie wegfuhr. Immer brachte sie ihr, der Nachbarin, die Schlüssel. Ein praktisches Möbel, die alte Goltz, konnte man wie eine Oma bitten: Sehen Sie doch nach Pusch und Slender! 

Die Katzen! Irene brauchte wieder einen Schluck, griff nach der Flasche. Dann suchte sie mit etwas fahrigen Fingern die Nummer der Funkstreife. »Ich weiß ja nicht, ob das richtig ist, was ich mache«, stotterte sie ins Telefon, nachdem sie ihren Namen und die Adresse genannt hatte, »aber ich hab’ so ein sonderbares... Ja, Goltz; mit tezet. Irene Goltz. Siebter Stock.«

 

Sie kamen sehr schnell. Es waren zwei nette Bärtige in Uniform. Jung noch, mein Gott, und jeder mit Schießeisen und Dienstgesicht.

»Sind Sie die Frau, die angerufen hat?«, fragten sie. Und mit Blick hinüber: »Und das die Wohnung?«

Es dauerte nur Sekunden. Sie läuteten Sturm bei Cindy. Als sich nichts rührte, öffneten sie die Tür. Sie ging im Handumdrehen auf.

»Nicht abgesperrt?« Die Polizisten waren erstaunt.

Zu zweit drangen sie ein.

Irene Goltz blieb auf der Schwelle. Gern hätte sie sich jetzt in ihre Wohnung hinübergerettet. Aber das hätte nicht gut ausgesehen.

Aus Cindys Diele, flott eingerichtet und viel größer als nebenan, die ganze Wohnung war größer, auch teurer, eine Südwohnung mit Loggia, kam ein abgestandener Geruch zwischen Parfüm und Katzenpisse.

Die Polizisten machten alle Türen auf, schauten hinein und verschwanden durch eine. Es war die vom Schlafzimmer. Ein weißer Fellknäuel entwischte durch den Spalt und wollte zur Wohnung hinaus – eine Katze.

»Pusch!«

Die Goltz fing sie. »Na, komm...« Sie nahm sie auf den Arm und streichelte sie. Der Körper des Tiers zitterte wie unter Stromstößen. »Was ist denn, Puschi...« Die Katze verkrallte sich an der Schulter und steckte den Kopf in ihr Haar.

Einer der Polizisten kam aus dem Schlafzimmer.

»Ja – hier ist eine Tote«, sagte er zu der Frau vor der Tür. Ganz kalt schien ihn die Entdeckung nicht zu lassen. Er eilte zum Lift und fuhr hinunter.

Irene Goltz ging, als habe sie einen Schlag vor den Kopf bekommen, in ihre Wohnung zurück. An ihrer Schulter klammerte die Katze.

 

 

 

Mittags tot

 

 

Die Mordkommission findet eine selten klare Situation. Das Mädchen namens Cindy wurde erwürgt.

»Mord«, konstatiert Veigl.

Veigl ist der Chef; ein Schwergewicht, das nach Gemütlichkeit aussieht und Humor erwarten lässt, soweit er in diesem Beruf drin ist. Aus dem gutmütig gepolsterten Gesicht schauen nur recht gegensätzliche Augen.

»Mord«, sagt auch sein Assistent Brettschneider, und »Mord«, sagt Assistent Lenz. Mord, darüber sind sich alle Polizeileute einig, die an diesem Tatort zu tun haben.

Es muss im Schlaf geschehen sein. Das Mädchen liegt in einem völlig ordentlichen Bett, um den Hals ein Elektrokabel, das schwarzweiß übersponnen ist. Es sieht aus, als wäre die Schlafende nicht mehr dazu gekommen, sich zu wehren. Das Gesicht ist nicht entstellt, auch kaum verfärbt; nur der Mund steht leicht offen. Der Tod muss sie überrascht haben. Die Kabelschnur wurde mit großer Kraft zugezogen und verknotet. Merkwürdig, dass die Augen geschlossen sind.

Aber das kann der Mörder besorgt haben.

Ein Mörder, der durch die Wohnungstür kam. Zu der er die Schlüssel gehabt haben muss.

Irgendetwas erinnert Veigl an den Chrysanthemen-Mord. Eine Frau, die von ihrem pathologisch eifersüchtigen Liebhaber im Bett erschossen und aufgebahrt worden war. Er hatte die Tote gewaschen, frisiert, mit einem frischen Hemd bekleidet, das Bett bezogen, und auf die Decke hatte er Chrysanthemen gelegt. Danach hatte er sich im Bad eine Kugel in den Gaumen gejagt. Er lag auf der blutigen Wäsche, und ihm fehlte ein Stück Hinterkopf.

Irgendetwas an dieser nicht entstellten Toten ist ähnlich. Hat sie der Mörder auch hin gebettet? Ihr die Augen zugedrückt? Und ist dann der geheimnisvolle Friede, den das Verlassen des Unsterblichen aus der sterblichen Hülle bei manchen bewirkt, über das junge Gesicht gekommen?

Irgendetwas an dem Tod hier berührt auch die abgebrühten Männer der Polizei.

»Das Haar«, sagt Assistent Lenz. »Echt.«

Ein helles Kupferrot.

Der Polizeiarzt hatte das Mädchen bei der Untersuchung aufgedeckt; dabei wurde der mit einem kurzen Hemdchen bekleidete Körper sichtbar. Kupferfarben ist auch das Haar auf dem kleinen Hügel über den Schenkeln.

 

Warum wurde sie umgebracht? Raubmord?

Sieht nicht danach aus. Zumindest nicht auf den ersten und zweiten Blick. Das Mädchen hat einen Ring am Finger; einen Reifen, der rundum mit Brillanten besetzt ist und aus Platin sein dürfte. Ihre Handtasche – Kroko, auch kein Tinnef – ist da. Geld drin. Schubfächer und Schranktüren sind geschlossen. Schlamperei mit Sachen, die herumliegen, aber nirgendwo gewaltsame Unordnung. Es ist nichts durchwühlt.

Das im Einzelnen bleibt die Arbeit der Spurensucher.

Sexualmord? Danach sieht es auch nicht aus.

Eifersucht?

»Würd’ ich eher sagen.«

Veigl bewegt sich mit seinen Assistenten durch die Wohnung. Beherrschend, der Wohnraum. Scheint aus zwei Zimmern entstanden; eine Wand herausgenommen bis auf einen Mauerbogen. Eingerichtet das Ganze: Donnerwetter. Hell und schick und jung. Couch mit Fell bezogen, Glastisch, tiefe Sitzwürfel aus Leder, senfgelber Spannteppich, dick wie Moos; lautlos jeder Schritt. Billig war das nicht. Schlampiges auch hier. Herumgestreut Illustrierte, Kosmetika usw. Ein vor sich hin welkender Blumenstrauß, dessen schlammige Brühe seit Tagen auf frisches Wasser gewartet hat. Aber aufgebrochen nichts.

Es gibt noch ein drittes, kleineres Zimmer; das besteht aus Schränken und duftet. In den Schränken Kleider und Zeug – Veigl kommt es vor wie der Bestand eines ganzen Modehauses. Pelzmäntel darunter. Mit Fellen kennt sich Veigl nicht aus, er sieht nur: Kaninchen sind’s nicht.

Assistent Lenz, ein Stück jünger als der Chef und durch wechselnde Damenbekanntschaften modisch besser beschlagen, identifiziert einen hellen Pelz mit Tupfen als Luchs. Den dunklen, da legt er sich nicht fest. Nerz aufwärts.

Die Wand vis-a-vis von den Schränken ist mit überlebensgroßen Fotos bestückt. Alles Cindy.

»Fotomodell, hm?«

Ein Gesicht, fotogen aus jedem Blickwinkel. Ferne, unbeteiligte Augen, eine sehr kleine Nase und der Mund eines verzogenen, trotzigen Kindes. Dazu die kupfrige Mähne. Ein paar Aufnahmen zeigen das Mädchen halb ausgezogen. Einmal steht sie da wie ein störrischer Junge, der sich trollen will und noch mal umschaut; einziges Kleidungsstück ein zu kurzes, quergestreiftes T-Shirt, das da endet, wo der blanke Popo anfängt. Auf einem anderen Foto schleift sie einen Pelzmantel nach; der helle ist es mit den Tupfen. Bis auf einen Ärmel ist sie herausgeschlüpft, darunter hat sie nichts an. Das Mädchen auf diesen Bildern ist nicht, was man unter schön versteht, aber es hat etwas beunruhigend Reizvolles.

»Katzengesicht«, findet Lenz.

»Apropos Katzen«, Veigl sieht sich an den Geruch draußen in der Diele erinnert: »Hier muss es doch eine Katze geben. Wo steckt’n die?«

Veigl ist Tierfreund; er befürchtet, die Katze könnte im Durcheinander des Kommens und Gehens in dieser Wohnung entlaufen. Zu dritt suchen sie nach ihr, entdecken sie aber nicht. Bad, Küche, alles derselbe Eindruck; erstaunlich gut eingerichtet. Schlampereien, doch nirgendwo etwas aufgebrochen und durchwühlt. Und keine Katze.

 

In der Diele, ganz und gar mit gestreiftem Chintz bespannt wie eine Schachtel, zieht Veigl den Vorhang an der Garderobennische zurück – ein wilder Schrei, und etwas springt aus der Ecke der Hutablage herunter, vorbei an Veigls Brustkasten, und saust unter ein Möbel.

Die Katze. Blaugrau ist sie.

Der scharfe Geruch nach Pisse kommt aus der durchnässten Streu im Katzenklo, das die drei auf der Jagd nach dem Tier in einer Ecke stehen sehen.

Die Katze lässt sich nicht fangen. Fauchend schlägt sie mit den Krallen nach den Händen der Männer. Lenz und Brettschneider, saftig getroffen, zucken zurück. Veigl zieht schließlich sein Sakko aus.

»Ich sperr’s in die Küch’. Machen S’ das da sauber«, sagt er zu den Assistenten, die an ihren Fingern lutschen, »und schauen S’ nach frischer Streu. Muss ja irgendwo in der Wohnung sein.« Aus einer Bodenvase greift er zwei langstielige Regenschirme: »Fahren S’ damit unter die Kommode und treiben Sie s’ auf mich zu.«

Er stellt sich, das Sakko wurfbereit, in Position. Die Katze, aufgestöbert von den Schirmspitzen, schießt hervor, in dem Moment wirft Veigl das Sakko über sie, packt zu, wickelt sie hinein und eilt mit dem Paket zur Küche. Es sind Sekunden; länger könnte der große Mann das kleine Tier nicht festhalten. Mit der Kraft eines Irren in der Zwangsjacke tobt die Katze und beißt durch den dicken Stoff.

 

In der Küche ließ Veigl die Katze frei. Ein Satz, verschwunden war sie. Hinter den Kühlschrank. Veigl entfaltete seine Oberbekleidung: zerfetzt das Futter, durchgebissen die Kante an den Knopflöchern. Noja, Vater Staat, der Noble, würde großzügig Ersatz leisten. Denkste! Mit dem Ansatz eines Grinsens zog Veigl das beschädigte Stück über die kompakten Schultern. Das Grausen mochte ihn ankommen, wenn er an den Bericht zwecks Schadenersatz nur dachte. Die Rückfragen dann! Saßen doch überall Hanseln, die ihre Wichtigkeit als Sachbearbeiter unter Beweis stellen und sich ein Sprösslein höher hanteln wollten. Zum Schluss hieß es dann: Was hatte der Transport einer Katze mit Ihrem Einsatz am Tatort zu tun? Ach, leck mich doch... Veigl schloss den Knopf überm Embonpoint, den er schlicht und Münchnerisch Wampen nannte. Da ließ er lieber das Futter zusammenflicken und das Loch vorn kunststopfen. Sein Blick fiel auf das leere Futternäpfchen unterm Tisch. Die Katze war sicher hungrig.

Veigl sah in den Kühlschrank. Leber drin, kleingeschnitten. Er füllte das Näpfchen. Dann schrieb er einen Zettel und heftete ihn mit Klebstreifen außen an die Küchentür.

 

Tür zu!

Katze drin!

 

Brettschneider kam daher, einen Papiersack mit Streu in der Hand, in der anderen die verpisste Schale. Er wusste nicht, wohin mit dem Zeug.

»Umstandskramer.« Veigl kippte die Schale in den Mülleimer und schüttete frische Streu hinein.

So versorgt, blieb die unsichtbare Katze zurück.

Veigl drehte außen den Schlüssel um. »Falls es eine ist, die sich Türen aufmacht.«

»Katzen?« wunderte sich Brettschneider. Er meinte, das täten nur Hunde.

»Springen auf die Klinke«, wusste Veigl. Er hatte mal eine gehabt, die das machte. »Ja, man wird das Tierheim verständigen müssen, wenn da nicht ein Angehöriger kommt«, dachte er laut, während er mit Brettschneider zur Diele ging. »Hören wir uns die Nachbarin an. Wie heißt die: Goll...?«

»Goltz«, verbesserte Brettschneider.

Aus dem Schlafzimmer kam Lenz.

»Der Arzt«, berichtete er, »schätzt die Todesstunde ziemlich sicher auf zwei Uhr morgens.«

 

 

 

Alles über Cindy; fast alles

 

 

Irene Goltz öffnete auf das Läuten; ihr Gesicht sah verquollen und gerötet aus. Hatte sie geweint?

»Zu dritt?«, sagte sie mit einem Kloß im Hals, als Veigl sich und seine Begleiter vorstellte. »Ja, bitte.« Sie ließ sie eintreten und ging voran. »Kommen Sie ins Büro.«

Veigl sah es: Sie schwankte ein wenig.

Das Büro war der einzige Raum, in dem es drei Sessel gab. Die Frau zog für sich ihren Schreibmaschinenstuhl heran und schraubte ihn niedriger; ihre Hände zitterten dabei. Die Männer kamen ihr zu Hilfe.

Auf dem kleinen Tisch mit der Schreibmaschine stand die Flasche. Sie war leer.

»Mir ist schlecht geworden.« Weil sie die Blicke fühlte, entschuldigte sich Irene Goltz. Sie habe etwas getrunken, erklärte sie, habe aber nichts im Magen gehabt. »Jetzt ist mir noch schlechter.«

Das kam Veigl nicht gelegen. »Wir hätten ein paar Fragen. Aber wenn Sie nicht vernehmungsfähig sind, müssen wir’s verschieben.«

»Nein, nein, ich kann schon folgen; es ist bloß der Magen. Was wollen Sie denn wissen?«

Veigl musterte sie. »Haben Sie die ganze Flasche getrunken?«

»Aber nein«, log sie, »das war nur ein Rest.«

»Stand Ihnen die Tote nah?«, fragte Lenz.

»Was heißt nah – sie war meine Nachbarin.«

Nein, betrunken, entschied Veigl für sich, war sie nicht. Sie sprach langsam, aber ohne Zungenschlag; und Fahne hatte sie auch keine. Kam wohl von dem Schock, das Aussehen und das leichte Zittern der Hände.

Er fragte nach dem Hergang. »Ganz kurz nur.«

Hergang – nun, da waren die Blumen, dann das Läuten und Klopfen und Anrufen; schließlich der Gedanke an die Katzen. »Da erst wurde ich unruhig. Denn wenn Cindy weggefahren wäre, hätte sie mich gebeten, nach ihren Katzen zu sehen.«

»Katzen?« Veigl horchte auf. »Gibt’s da mehrere?«

»Zwei. Die weiße konnte ich fangen. Die ist bei mir.«

»Wo?« Unwillkürlich schaute Veigl sich um.

»Drüben; in meinem Bett. Sie hat sich verkrochen. Mit der, Pusch heißt sie, eine Kätzin, mit ihr hat Cindy immer geschlafen. Aus ihrem Schlafzimmer ist sie auch gekommen, als die Polizisten aufmachten.«

»Dann war die Katze dabei«, folgerte Brettschneider.

»Das Tier«, sagte Irene Goltz, »ist ganz verstört.«

Veigl fragte: »Wissen Sie, ob das Mädchen Familie hat?«

»Ich glaube nicht. Die Eltern sind tot.«

»Oder Freunde? Oder sonstwen?«

»Freunde...« Die Frau zögerte. »Nun ja – aber ich weiß nicht.« Sie verstummte.

Lenz schaltete sich ein. »Wovon hat das Mädchen gelebt? Hat sie einen Beruf gehabt?«

»Beruf...« Wieder das Zögern der Frau. »Ja, schon.«

»Fotomodell, nicht?«

»Auch. Ja. Ab und zu.« Sie schwieg.

»Die Wohnung«, fuhr Veigl fort, wo Lenz aufgehört hatte, »ist aufwendig eingerichtet. Für ein Mädchen dieses Alters ungewöhnlich. Hat sie denn schon so viel verdient?«

Die Fragerei wurde zur Last für die Frau. »Das mit ihrem Beruf – oder Berufen...« sie brach ab. »Muss das sein? Sie ist tot. Was soll’s.«

Zu dritt bearbeiteten sie sie. Klischees der Kripo. Es handle sich um Mord. Um den Täter zu finden, sei jeder noch so kleine Hinweis, insbesondere Auskünfte über die Lebensgewohnheiten des Opfers, wichtig. Kriminaler-Deutsch, ausgeleiert wie ein alter Gummizug.

»Beruf...«, begann Irene Goltz noch einmal und konnte sich nur mühsam gegen den Aufruhr in ihrem Magen halten. »Nun, sie hat verschiedenes versucht: Modezeichnen, Fotomodell, Schauspielerei – aber sie hatte, wie soll ich sagen: Es fehlte ihr die Ausdauer.«

 

Schleppend und widerwillig, bedrängt immer wieder von den Fragen der dickfelligen Männer, schildert sie ein von seinen femininen Erfolgen verwöhntes Mädchen, das nicht einmal die Hand auszustrecken brauchte; alles kam auf sie zu. Fotomodell: Auf der Straße sprachen sie sie an. Hätten Sie nicht Lust? Bei Ihrem Aussehen? Sie versuchte es. Und merkte, dass das ein Job war, bei dem man nicht mit Samthandschuhen angefasst wurde. Da mochte sie nicht mehr. Schauspielerin: Irgendwer entdeckte sie. Sie dachte, man stellt sich hin, das andere macht der Regisseur. Als sie merkte, dass man erst lernen, klein anfangen und sich hocharbeiten muss, ließ sie es sein.

»Sie hatte es nicht nötig, sich anzustrengen«, analysiert die alternde Frau, die sich immer hatte anstrengen müssen. »Sie bekam auch so alles. Sie war eben schön.«

Veigl nickt. »Drüben hängen Fotos von ihr.«

Die Frau weiß. Handbewegung für diese Fotos. »Kein Vergleich mit der Wirklichkeit. Der Fehler war«, so fasst sie das Thema Cindy zusammen: »Es wurde ihr zu leicht gemacht. Und sie hatte kein Zeitgefühl. Sie dachte, das geht immer so weiter mit dem Jung- und Schönsein.«

»Und wovon hat sie nun gelebt?«, kommt Lenz auf seine alte Frage zurück. »Hat sie von Haus aus Mittel gehabt? Oder wie sonst hat sie sich das alles leisten können?«

Diese Polizisten! Irene ist speiübel, und sie wünscht sie zum Teufel.

»Cindy hatte Verehrer«, antwortet sie und bricht ab. »Tut mir leid, ich kann das nicht. Sie liegt drüben, und ich soll hier über sie...«

»Frau Goltz«, Veigl schaltet auf gutes Zureden, »nehmen Sie’s sachlich. Wir fragen nicht aus Neugierde. Sie liegt auch nicht mehr drüben, sie ist weggebracht. – Verehrer hafte sie; was wollen Sie damit sagen?«

Die Frau überwindet sich und ihre Übelkeit. »Mein Gott, sie liefen ihr halt nach und beschenkten sie. Sie überschütteten sie. Sie waren ja wie verrückt.«

Veigl glaubt zu verstehen und denkt sich Cindy als eine Art Callgirl.

»Aber nein! Cindy war ein gutklassiges Mädchen. Sie war bloß nicht sehr strebsam. Sagen wir, sie war bequem. Aber wenn man alles geschenkt bekommt, ohne dass man’s nur so zu machen braucht...« – ein Fingerschnalzen, Irene Goltz fährt fort: »Du lieber Himmel, wer in dieser beneidenswerten Lage würde sich das Leben nicht bequem machen?«

»Was bekam sie denn alles geschenkt?«, bohrt Veigl.

»Alles. Kleider, Pelze, Schmuck, ein Auto...«

»Geld auch?« Das kommt von Brettschneider.

Ein Nicken der Frau. »Ich nehme es an. Dazwischen verdiente sie sich schnell wieder ein paar Tausender – sie war jedenfalls immer gut bei Kasse.«

Veigl will Namen wissen.

 

Das ist zu viel verlangt. Irene Goltz erinnert daran, und das hört sich nun schon zurechtweisend an, dass sie die Nachbarin und nicht die Vertraute des Mädchens gewesen ist. Oft sah sie sie wochenlang nicht, dann wieder kam sie jeden Tag: Ach, Frau Goltz, könnten Sie mir mit ein paar Eiern aushelfen? Ach, Frau Goltz, würden Sie nach meinen Katzen sehen? Und so zu. Sie, die Nachbarin, hat einen einzigen Mann kennengelernt, das war der Architekt, der Cindy die Wohnung einrichtete, als sie vor drei Jahren einzog.

»Und den hab’ ich nur kennengelernt, weil er mich noch ein paarmal anrief, als es aus war.«

»Wie hieß der?«

»Hufnagel. Hatte erwachsene Kinder, wollte sich scheiden lassen und Cindy heiraten. Sie neunzehn damals, er vielleicht dreimal so alt.«

»Als es aus war«, wiederholt Brettschneider. »Warum ist es auseinandergegangen?«

»Der Altersunterschied. Der Mann beschlagnahmte sie. Am liebsten hätte er sie eingesperrt.«

Veigls Schluss daraus: »Er war eifersüchtig.«

Sie nickt. »Manisch.«

»Hufnagel.« Brettschneider notiert. »Vorname?«

Die Frau muss nachdenken. »Wie hieß er? Lothar.«

»Lothar Hufnagel. Und wo wohnte er?«

»Soviel ich weiß, in Frankfurt. Aber warum schreiben Sie das auf?« Das Auftauchen eines Notizbuchs missfällt Irene Goltz. »Die Sache ist doch längst vorbei.«

»Eifersucht«, gibt Veigl zur Antwort, »wäre ein brauchbares Motiv.«

Wollte die Polizei sie da hineinziehen? »Hören Sie, der Mann hat Familie; ich möchte nicht, dass etwas ausgegraben wird, was die Frau vielleicht gar nicht weiß!«

Eine milde Geste von Veigl. »Ein Alibi kann auch diskret überprüft werden«, behauptet er und setzt bagatellisierend hinzu: »Falls es überhaupt dazu kommt. Seien Sie unbesorgt, vorerst ist das nur ein erstes Herantasten. Damit man sich mal ein Bild machen kann.«

»Dieser Hufnagel hat Sie angerufen«, interessiert sich Lenz.

»Was wollte er von Ihnen?«

»Ach, er dachte, ich könnte vermitteln. Aber wie käme ich dazu? Ich hatte keinen Einfluss auf Cindy.«

»Wollte er, dass das Mädchen zu ihm zurückkommt?«

»Was sonst?« Die Frau wischt sich die Mundwinkel, in denen sich saurer Speichel sammelt. »Eine Neunzehnjährige! Die will sich doch sehen lassen, will ausgehen, will ihre Erfolge haben. Ich habe schließlich gesagt, er soll das lassen und mich nicht mehr anrufen.«

»Und dann war Schluss?«

»Ja.«

»Auch mit dem Mädchen?«, bohrt Veigl hartnäckig. »Oder hat er sich weiter um sie bemüht?«

Der Frau reicht es jetzt. »Das weiß ich nicht«, sagt sie unwillig. »Mir hat sie’s nicht erzählt.«

Das Thema ist zu Tode geritten. Veigl macht Schluss. »Letzte Frage: Wie lang liegt die Sache Hufnagel zurück?«

»Über zwei Jahre.«

Zwei Jahre, sagt sich Veigl, noch längst keine Zeit, um einen vom Teufel der Eifersucht Besessenen zu kurieren; aber er lässt nun ab von Hufnagel, notiert sich’s im Hinterkopf. Ein neues Thema:

»Wenn Sie die Katzen versorgt haben, hatten Sie dann die Wohnungsschlüssel?« Es hörte sich beiläufig an.

»Selbstverständlich«, antwortet Irene Goltz – und ist in der gleichen Sekunde betroffen. Der gemütlich wirkende Mann hat etwas in den Augen, was nicht gemütlich ist.

»Hatten Sie denn die Schlüssel ständig?«, fragt Veigl weiter.

»Von Cindys Wohnung? Nein.«

»Sie haben sie jedes Mal wieder abgeliefert?«

»Selbstverständlich. Was soll das heißen?«

»Routineerhebungen«, tut Veigl es ab. »Der Täter besaß die Schlüssel. Fragt sich also, wie er daran gekommen ist.«

»Und was hat das mit mir zu tun?« Die Röte ihres Gesichts ist einer teigigen Blässe gewichen.

Veigl wiegelt ab. »Praktisch nichts. Theoretisch wäre es denkbar, rein theoretisch, dass die Schlüssel, wenn sie in Ihrem ständigen Besitz gewesen wären und hier herumgelegen hätten, dass sie – o Jesus, deutsche Sprache schwer –, dass sie zum Beispiel von einem Kunden, zu Ihnen kommen doch viele, die Sie gar nicht kennen, dass sie von dem – unter dem Vorwand einer Schreibarbeit – kurz entwendet worden wären, ohne dass Sie’s merkten.«

»Punkt«, sagt Lenz und grinst. »Entwendet«, übersetzt er den Sprachsalat des Chefs, »nachgemacht, meint Herr Veigl, und dann wieder zurückgebracht.«

»Ach, so denken Sie.« Die Frau scheint etwas erleichtert. »Nein, dazu war keine Gelegenheit.«

»Namen wissen Sie nur wenige.« Lenz, der Repetierer, kommt auch darauf noch einmal zurück. »Wen außer Hufnägel haben Sie noch gekannt?«

»Niemand. Ich weiß nur, dass Cindy in letzter Zeit mit Robert Lennen befreundet war. Den kenne ich vom Fernsehen und aus der Zeitung.«

»Lennen?« Der Name ist Veigl ein Begriff. »Der Schauspieler Robert Lennen?«

»Ja.«

Brettschneider stellt sich Lennen vor. »Aber der ist doch auch nicht mehr der Jüngste?«

Ein Achselzucken der Frau.

»Stand sie denn auf ältere Jahrgänge?«, fragt Veigl.

Wieder ein Achselzucken. Als Nachbarin kann sie nur vermuten. »Vielleicht suchte sie instinktiv einen Vaterersatz. Einen, der sie beschützte.«

»Und ihr was bieten konnte«, vervollständigt Brettschneider aus seiner Sicht.

Stichwort für Lenz: »Was man in der Wohnung so sieht, müssen es betuchte Herren gewesen sein. Allein der Luchsmantel: ein mittleres Jahresgehalt.« ,

»Den hat sie von Lennen«, weiß Irene Goltz. »Er hat das Mädchen sehr geliebt.«

»Und sie ihn?«

Diese Frage kann eine Nachbarin nicht beantworten. »Die Rosen heute waren jedenfalls nicht von ihm.«

Rosen? Bis jetzt hat die Polizei nur von Blumen gehört. »Was für Rosen?«, fragt einer der Männer.

»Die heute früh kamen. Die Karte ist nicht von Lennen. Seine Schrift kenne ich.«

»Eine Karte gibt’s da?« Daran ist Veigl sofort interessiert. »Wo haben Sie die?«

»In der Küche liegt sie.«

»Warum sagen Sie das nicht gleich?« Nicht gerade höflich drängt Veigl zur Tür. »Auf in die Küche.«

 

 

 

Ein Wort wie ein Hammer

 

 

Auf dem Kühlschrank lag noch das kleine weiße Kuvert, etwa zehn Zentimeter lang, darauf Cindys Adresse.

Drei Mann hoch, und die Miniküche war überfüllt, Veigl allein mit einem Volumen für zwei. Irene Goltz quetschte sich an die Tür.

Die Kriminalisten nahmen das kleine Kuvert nicht ohne weiteres zur Hand. »Haben Sie das in den Fingern gehabt?«, fragte Veigl die an die Tür gequetschte Frau.

»Natürlich.«

»Und der Bote oder die Botin auch?«

»Eine Botin. Die hat es mir gegeben.«

Brettschneider reichte dem Chef aus seiner Tasche eine Pinzette und eine Plastiktüte. Ohne das Kuvert zu berühren, praktizierte es Veigl in die Tüte und schlitzte es an der Kante auf. Ein Kärtchen, herausgezogen mit den Greifern der Pinzette, darauf geschrieben eine Zeile:

 

Nicht vergessen, kleiner Boy!

 

Kein Name dabei. Veigl hielt der Frau die nur von der Pinzette berührte Karte hin: »Sind Sie sicher, dass das nicht die Schrift von dem Schauspieler ist?«

»Ganz sicher.«

Veigl steckte die Karte zurück und das Ganze in Brettschneiders Aktenmappe. »Wo sind die Rosen?«

Irene Goltz wies zur offenen Balkontür.

Draußen in der Ecke stand der Eimer mit dem nassen, indessen schon etwas angetrockneten Zeitungsklumpen, in den die Baccararosen gepackt waren.

»Und das Papier?«, fragte Veigl.

Die Frau verstand nicht. »Die sind doch im Papier. Ich hab’ es in Wasser getaucht; Baccara machen sonst schlapp.«

»Das Einwickelpapier vom Geschäft meine ich«, sagte Veigl ungeduldig. »Ist das unter der Zeitung?«

»Das hab’ ich weggeworfen.«

Veigl unterdrückte einen Laut. »Wo ist es?«

»Im Müllschlucker.«

Blicktausch zwischen Veigl und den Assistenten. Veigl fasste nach: »Wissen Sie den Namen des Blumengeschäfts?«

»Darauf habe ich nicht geachtet.«

»Und das Mädchen, das den Strauß brachte?«

»Kannte ich nicht.«

»Wie sah sie aus? Beschreibung.«

Irene Goltz kam nicht mit. »Entschuldigen Sie, aber was wollen Sie mit den Blumen?«

»Wenn Sie mir sagen, sie sind nicht von dem derzeitigen Freund des Mädchens, tickt es in meinem kleinen Computer.« Veigl tupfte sich gegen die Stirn; er war ziemlich grantig geworden. »Also, Beschreibung?«

Du mein Göttchen, wie hatte die ausgesehen? Irene konnte sich kaum mehr auf den Füßen halten. »Sehr jung, halbwüchsig. Jeans hatte sie an. Und schnippisch war sie.«

»Haarfarbe? Augen?«

»So genau habe ich nicht aufgepasst.«

Auch eine Beschreibung: Jeans und halbwüchsig. Davon gab’s in München Kompanien. Blick Nummer zwei von Veigl zu Lenz: »Ein Job für Sie. Suchen Sie sich die Mülltonne.«

»Wo find’ ich hier den Hausmeister?«, erkundigte sich Lenz bei der Frau.

»Block eins, im Parterre.«

Lenz zog los.

 

Schwankend zwängte sich Irene Goltz zwischen den zwei Männern, die jetzt nur noch im Weg standen, zur Brotdose durch und schnitt sich eine Scheibe ah. »Sie erlauben, mir

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Ernestine Wery/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 12.05.2021
ISBN: 978-3-7487-8248-3

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