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Leseprobe

 

 

 

 

JACK EHRLICH

 

 

Das Mädchen im Käfig

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 223

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS MÄDCHEN IM KÄFIG 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

Sie war halb Kind, halb Katze - aber Frau durch und durch... doch war Lee Mallory auch eine Mörderin?

Einer konnte es nicht glauben: Ihr Bewährungshelfer Robert Flick versuchte, sie aus der Schlangengrube zu holen. Für seine Sicherheit allerdings hätten Fachleute keinen Pfifferling mehr gegeben...

 

Jack Ehrlich (* 1928; † März 1979) war ein US-amerikanische Schriftsteller von Kriminal- und Abenteuer-Romanen.

Der Roman Das Mädchen im Käfig erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1970.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  DAS MÄDCHEN IM KÄFIG

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Er blätterte in dem hohen Aktenstapel auf seinem Schreibtisch und musterte den Mann verstohlen. Er hatte ein seltsames Gefühl des Misstrauens und düsterer Vorahnungen, ohne den Grund dafür nennen zu können. Irgendetwas an dem Mann störte ihn, verursachte ihm Unbehagen. Er streckte seine langen Beine unter dem Schreibtisch aus und zündete sich eine Zigarette an. Während er die Streichholzflamme an die Zigarette hielt, beobachtete er Harry Witte. Er blies die Flamme aus und blickte wieder in die Akte. Der Straßenlärm New Yorks, zwölf Stockwerke tiefer, klang gedämpft herauf.

»Witte, Sie haben an den Schulungsvorträgen in Sing-Sing teilgenommen. Sie sind zum drittenmal bedingt entlassen. Ich werde Ihnen nicht die übliche Rede halten«, sagte er, plötzlich ermüdet, obwohl er gut geschlafen hatte.

»Dafür bin ich dankbar, Mr. Flick«, sagte Harry Witte gedehnt und schlug die Beine übereinander. Er trug nicht den üblichen, von der Strafanstalt ausgegebenen Zivilanzug. Jemand hatte ihm einen Anzug aus weichem, bequemem Stoff besorgt, besser geschnitten und teurer als Robert Flicks Anzug. »Und ich weiß, dass ich mit drei Vorstrafen dran bin. Den Vortrag brauche ich auch nicht. Ich weiß, dass es dumm war, und bin froh, draußen zu sein, und ich kenne die Vorschriften, und ich habe einen Posten, und alles ist in Butter.«

»Witte, wenn Sie vor der Prüfungskommission so geredet hätten, wären Sie nicht entlassen worden. Das wissen Sie. Ich verstehe sowieso nicht, warum Sie mit den zwei schweren Dingern vorher so schnell herausgekommen sind. Ich will Ihnen nur das eine sagen.« Flick spürte, dass ihm das Blut ins Gesicht schoss. Er stieß den Sessel zurück, stand auf und sah auf Witte hinunter. »Ich bin Ihr Überwachungsbeamter, Witte. Wenn ich sage, Sie müssen wieder rein, müssen Sie rein. Und ich schicke Sie zurück, wenn Sie sich etwas zuschulden kommen lassen. Ich mag Sie nicht, und mir passt Ihre Einstellung nicht. Ich habe zweihundert auf Bewährung Entlassene zu überwachen, und Sie sind nur einer davon. Ich bin nicht zum Spaßen aufgelegt. Sie sind .wegen Betrugs verurteilt worden und haben noch einige Jährchen abzusitzen. Ich sorge dafür, dass Sie es tun, wenn ich auch nur die geringsten Schwierigkeiten mit Ihnen habe.«

Harry Witte stand auf und lächelte schief.

»Ist das alles, Mr. Flick?«

»Hauen Sie ab«, sagte Flick leise. Er setzte sich wütend an den Schreibtisch. Witte hätte die Prüfungskommission nicht passieren dürfen. Er lachte sich eins über die New Yorker Kriminalbehörden. Er lachte über Robert Flick, und das brachte Flick in Rage. Er befasste sich wieder mit der ausführlichen Personalakte auf seinem Schreibtisch. Es gab da Lücken, die Flick nicht gefielen.

Mit fünfundvierzig Jahren hatte Witte zwei Freiheitsstrafen abgesessen, zuerst wegen bewaffneten Raubüberfalls und fünf Jahre später wegen besonders schwerer Körperverletzung. Bei dem Prozess wegen Urkundenfälschung und Betrug war Witte zu einer Freiheitsstrafe zwischen drei und zehn Jahren verurteilt worden, eine ungewöhnlich milde Strafe für einen zweimal vorbestraften Gewohnheitsverbrecher. Die Entlassung auf Bewährung war schon nach der Mindestfrist ausgesprochen worden, als sitze er zum ersten Mal ein.

Witte hatte zum Zeitpunkt seiner Festnahme bei William Dobbs gearbeitet, und Dobbs nahm ihn jetzt wieder als Chauffeur in seine Dienste. Witte hatte eine gestohlene Kreditkarte gefälscht und große Summen verschleudert, aber Dobbs nahm ihn wieder auf. Auch das gefiel Flick nicht. Er klappte die Akte zu und legte sie in den Auslaufkorb. Er sagte sich, dass ihn nur anging, wie sich Witte während der Bewährungszeit führte. Aber so einfach war das nicht. Witte war von Daniel Fallon verteidigt worden, und Flick wusste, dass sich ein Chauffeur Fallon nicht leisten konnte.

Er zuckte die Achseln, steckte sich eine Zigarette an und verließ das Büro. Er musste zurück nach Long Island, zurück zu seinen zweihundert Schützlingen, einschließlich Harry Witte.

Er wusste, dass er sich eigentlich freuen und Harry Witte vergessen sollte. Er war zu einem seiner seltenen Besuche im Hauptbüro erschienen, um einen neuen, seiner Aufsicht unterstellten Vorbestraften auf den Weg zu schicken und um einen nagelneuen Dienstwagen abzuholen. Es war ein Wagen der unteren Preisklasse ohne Extras, ersetzte aber ein sieben Jahre altes Fahrzeug mit stotterndem Motor, abgefahrenen Reifen und festgeklemmten Fenstern. Und sein Chef, Dan Medder, hatte ihm persönlich seinen Gehaltsscheck überreicht, den ersten mit der neuen Gehaltserhöhung, die im Monat hundert Dollar mehr auf die Hand bedeutete. Es war Freitag, und er grinste, als er mit dem neuen Wagen losfuhr, denn Freitag hieß ZGIF - zum Glück ist Freitag -, ein Brauch noch aus der Studentenzeit, der jedem Kommilitonen erlaubte, zur Feier von zwei bevorstehenden Tagen, an denen nur Blindenschrift und Anatomie, weibliche Anatomie, studiert wurde, ein paar zu heben.

Zum Teufel mit Harry Witte, dachte er. Ich fahre nach Hause und leiste mir den größten Hummer auf ganz Long Island. Auf der Queens-Schnellstraße prüfte er den neuen Wagen. Er lief gut, und Flick lenkte ihn mit einem Gefühl tiefer Zufriedenheit, als seien seine Verdienste im Amt nach über sechs Jahren endlich anerkannt worden. Viele Außenbeamte bekamen neue Fahrzeuge, und man hatte alle Gehälter erhöht, aber Flick empfand persönliche Befriedigung und beschloss, sich von Harry Witte nicht den Appetit verderben zu lassen.

 

Flick hatte seinen Hummer verzehrt und ein Mädchen angerufen, das in einem Nachtclub als Sängerin auftrat. Sie wollte später auf ihn warten. Ganz plötzlich fiel ihm ein, woher sein Unbehagen über Harry Witte rührte. Witte hatte bei William Dobbs gearbeitet und kehrte zu Dobbs zurück, vermutlich morgen. Flick erinnerte sich deutlich und beunruhigt an die Sache mit William Dobbs.

Er hatte ganz durch Zufall davon erfahren. Flick war, wie an jedem ersten Montag im Monat, zum Railway-Café gefahren, um dort bei einer Gruppe von Amateurmusikern, die Dixieland bevorzugten, als Pianist mitzuwirken. Flick war zwischen zwei Nummern aufgestanden, um auf die Toilette zu gehen. Dort hatte er Joe Clarke kennengelernt. Er erinnerte sich an die Begegnung noch deutlich. Er war beim Spielen ins Schwitzen geraten und hatte das Jackett ausgezogen, um sich Hände und Gesicht zu waschen, als ein junger Armeeleutnant hereinkam, ein wenig schwankend, weil er dem Alkohol ziemlich zugesprochen hatte. Flicks Dienstrevolver steckte im Halfter an der rechten Hüfte, und der Lieutenant starrte die Waffe einen Augenblick an.

»Polizei?«, fragte er.

»Ja.«

»So? Warum kümmern Sie sich dann nicht um Gesetz und Ordnung, statt das blöde Klavier zu bearbeiten?«

»Junger Mann, Sie sind voll und machen sich nur Ärger«, erwiderte Flick und zog seine Jacke wieder an.

Der junge Lieutenant war zu dem kleinen Fenster gegangen und hatte es hochgeschoben.

»Kommen Sie mal her«, sagte er. Flick trat zu ihm. »Sehen Sie das Haus da oben am Hang?«, fragte der Lieutenant heiser. »Sehen Sie die große, alte Villa da oben? Ich kann nur sagen, da ist etwas ganz faul, da oben.« Der Lieutenant taumelte vom Fenster zurück. Flick blickte durch die kleine Fensteröffnung zu den roten Streifen am Abendhimmel und der Villa am Berg hinauf, der sich majestätisch hinter der Stadt erhob.

»Was ist da oben faul?«, fragte Flick gereizt. Der junge Offizier setzte sich auf einen Hocker und streckte die Beine von sich. Flick stand vor ihm und starrte ihn an.

»Der Herr, dem das Haus gehört, heißt William Dobbs. Der große Dobbs persönlich. Früher gehörte es Tom Mallory, aber der gute, alte William Dobbs hat in die Familie eingeheiratet, die gute, alte Marie. Er hat sich das ganze Haus unter den Nagel gerissen. Ich weiß das, verstehen Sie«, sagte er betrunken, langsam den Kopf schüttelnd, »ich weiß es, weil ich mit Lee Mallory verlobt war, als wir noch aufs College gingen. Lee ist Dobbs’ Schwägerin. Hören Sie«, sagte er und stand plötzlich auf, »ich bin auf dem Weg zu meiner Dienststelle. Nur auf der Durchreise. Ich habe da nichts zu sagen. Aber ich war mit Lee auf dem College und bin oben im Haus gewesen. Die ist genauso wenig verrückt wie Sie«, sagte er und taumelte gegen Flick. Flick fing ihn auf. Das betrunkene Geschwätz des milchgesichtigen Lieutenants widerte ihn an, aber die Hintergründe interessierten ihn doch.

»Weiter«, sagte Flick.

»Sie soll ihren alten Herrn umgebracht haben. Angeblich hat sie den Verstand verloren. Jetzt sitzt sie im Irrenhaus. Ins College ist sie nicht mehr zurückgekommen, und der gute, alte William Dobbs wollte mich nicht in ihre Nähe lassen. Aber sie ist nicht verrückt. Wirklich nicht. Da steckt irgendeine abgekartete Sache dahinter.«

»Und was haben Sie unternommen?«, fragte Flick.

»Ich war auf dem College. Das Semester fing an, und ich musste wieder hin. Unternommen habe ich nie etwas. Was sollte ich denn tun? Lassen Sie mich doch in Frieden. Was tun Sie denn? Sie ist nicht verrückt. Den alten Herrn hat sie auch nicht umgebracht. Warum unternehmen Sie nichts, Sie Polizist, statt Klavier zu spielen?«

Flick war an sein Klavier zurückgekehrt. Unternommen hatte er nichts. Aber die Erinnerung war geblieben - bis jetzt.

Flick schob den Teller weg, zündete eine Zigarette an und betrachtete den wachsenden Aschenzylinder. Jetzt wusste er, wo er den Namen William Dobbs gehört und was ihn bei Harry Witte beunruhigt hatte. Witte war bei Dobbs angestellt gewesen, er kehrte zu Dobbs zurück, er hatte Fallon als Anwalt gehabt, und ein betrunkener, junger Lieutenant hatte seinen Verdacht gegen William Dobbs ausgesprochen.

Flick grinste und bestellte französischen Cognac. Er schnupperte am Glas und schlürfte genießerisch. Seit er wusste, was ihn bedrückt hatte, fühlte er sich wohler. Er bezahlte, gab ein großzügiges Trinkgeld und trank seinen Kaffee aus. Sein Verdacht war albern gewesen. Ein betrunkener, in ein Mädchen verschossener Soldat auf der Durchreise hatte Flick auf dumme Gedanken gebracht, und Flick war deshalb Harry Witte gegenüber voreingenommen gewesen. Er lächelte reumütig und verließ das Lokal.

Auf halbem Weg nach Hause lenkte er den neuen Wagen plötzlich zu dem Haus auf dem Berg. Er wusste selbst nicht genau, warum er heute Abend dorthin musste. Er wollte nach Hause und sich umziehen, bevor er zu seinem Rendezvous fuhr. Aber seine Neugier war wach geworden, und er hatte das Gefühl, dass er Dobbs aufsuchen musste, bevor Witte eintraf. Es war eigentlich verrückt, außerdem war heute Freitag. Immerhin, er führte die polizeiliche Aufsicht über eine Reihe von auf Bewährung Entlassenen, und Witte gehörte zu ihnen. Er hatte Witte nicht leiden können und sich gefragt, wieso Witte so schnell rausgekommen war, wieso er Fallon als Verteidiger bekommen und warum ihn Dobbs wieder eingestellt hatte.

Er fuhr die lange Auffahrt zwischen den hohen Fichten zu der Villa auf dem Berg hinauf. Flick hatte bisher noch nie einen Herrensitz besucht, obwohl er eine Garagenwohnung auf dem Besitz der Millers gemietet hatte. Aber das Haupthaus war fast immer verschlossen, weil der junge Miller ständig auf Reisen war. Flick stellte den Wagen vor der riesigen Eingangstür ab und zog an der großen Glocke.

Ein farbiges Dienstmädchen öffnete die Tür.

»Ja, Sir?«

»Ich möchte William Dobbs sprechen«, sagte Flick.

»Tut mir leid, er hat Gäste«, sagte das Dienstmädchen mürrisch.

Flick griff in die Jackentasche und zog seinen Ausweis heraus. Das Dienstmädchen betrachtete ihn einen Augenblick, stieß dann die Tür ganz auf und führte ihn durch die mit Marmor ausgelegte Halle in die Bibliothek. Flick schlenderte im Raum umher und besichtigte die Lederbände. Alles war da, Thackeray, Swift, Shakespeare, Schiller, Shaw, Ibsen und die vielen anderen, deren Werke in eine Bibliothek gehören.

Die Doppeltür wurde aufgerissen, und William Dobbs trat ein.

»Mein Mädchen sagt, ein Polizeibeamter möchte mich sprechen«, erklärte er, als er auf Flick zutrat.

Dobbs war um die Vierzig, mit dunklem Teint, blitzend weißen Zähnen und schmalem Schnurrbart. Er trug einen Smoking und bewegte sich mit lässiger Arroganz, als halte er jede Störung für einen Beweis großer Unverfrorenheit. Flick fiel auf, dass Dobbs die seltsame Gewohnheit hatte, den Zeigefinger am Daumen zu reiben, wenn er eine Zigarre in der Hand hielt. Eine nervöse Geste, die Flick ärgerte, als ob alles und jedes Zigarrenasche sei, die man nur durch ständiges Reiben von den Fingern fernhalten könne.

»Ich bin Bewährungshelfer, Mr. Dobbs. Ich möchte mit Ihnen über Harry Witte sprechen.«

»Nun, das dürfte doch geregelt sein. Wir haben uns mit der Prüfungskommission in Verbindung gesetzt. Was für ein Problem ist da aufgetaucht?« Er ließ sich auf ein Sofa fallen.

»Kein Problem, Mr. Dobbs, und es tut mir leid, dass ich Sie belästigen muss. Ich bin für Witte zuständig und brauche eine Information.«

»Zum Beispiel?« Die Stimme klang verärgert.

»Zum Beispiel, warum Sie ihn wieder einstellen, obwohl er festgenommen wurde, während er für Sie arbeitete«, sagte Flick und setzte sich Dobbs gegenüber. Er war vom ersten Augenblick, als man ihn ins Haus ließ, gereizt gewesen. Man hatte ihn behandelt, als hätte er den Lieferanteneingang benutzen sollen.

»Das ist ganz einfach erklärt. Er arbeitete vor seiner Verhaftung zwei Jahre bei mir und war ein ausgezeichneter Chauffeur. Er war tüchtig. Ich bedaure seine Schwierigkeiten, aber ich kenne auch seine Fähigkeiten. Er hat mir nichts getan, und ich will ihn wieder verwenden.« Er sprach in ruhigem, aber hochmütigem Ton.

»Sie wissen natürlich, dass er wegen bewaffneten Raubüberfalls und schwerer Körperverletzung vorbestraft war«, meinte Flick.

Dobbs zögerte.

»Nein, offen gestanden, das wusste ich nicht. Ich sehe aber nicht ein, wieso mich das betrifft.« Seine Stimme klang nicht mehr ganz so selbstsicher.

»Warum stellt ein Mann wie Sie einem Chauffeur einen Staranwalt wie Fallon zur Verfügung?«, fragte Flick beiläufig.

Dobbs’ Zögern wurde auffälliger. Er schlug die Beine übereinander und sog mehrmals an seiner Zigarre, bevor er antwortete.

»Daran finde ich nichts Merkwürdiges. Er war mein Angestellter und saß in der Patsche. Ich habe mich natürlich an einen engen Freund gewandt, um ihm zu helfen.«

»Einem Chauffeur?«, fragte Flick sofort.

»Nun, man sollte nicht überheblich sein. Chauffeure sind auch Menschen, wissen Sie.«       

Flick spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.

»Sehr großzügig von Ihnen«, meinte er leise. Er wusste, dass er den Kürzeren gezogen hatte, und ärgerte sich, überhaupt hergekommen zu sein. Es war klar, dass der Name Dobbs und das Dobbs-Vermögen für Wittes vorzeitige Entlassung gesorgt hatten. Flick wusste, welches Stück da gespielt wurde, und dass es besser war, die Finger von der Sache zu lassen. Witte hatte einen Beschützer und brauchte nichts zu befürchten. Trotzdem brachte Flick es nicht fertig, Schluss zu machen.

»War Witte hier, als Mallory umgebracht wurde?«, fragte er.

Die Reaktion war diesmal nicht zu übersehen. Die Zigarre wurde

zerdrückt, eine Zigarette angezündet. Dobbs stand zornig auf, ließ aber gleichzeitig Unsicherheit erkennen, was Flick nicht entging.

»Tom Mallory ist nicht umgebracht worden, Mr....«

»Flick.«

»Mr. Flick. Er starb an den Folgen eines Sturzes. Zufällig war Mr. Witte damals hier schon angestellt, wenn das auch nichts besagt.«

»Das war wohl eine sehr tragische Angelegenheit«, meinte Flick.

»Er war ein wunderbarer Mensch, Mr. Flick. Ich war sein Schwiegersohn und stand ihm sehr nahe. Das Unglück hat mich tief erschüttert.«

Flick bemerkte, dass sich William Dobbs jetzt große Mühe gab, eine gelassene Haltung zur Schau zu tragen.

»Seine Tochter hat es wohl schwer getroffen«, sagte Flick. »Lee, meine ich.«

»Das arme Kind. Sie verlor den Verstand. Ein Fall paranoischer Schizophrenie, wie die Ärzte, die Psychiater, das nennen. Sie glaubt, sie habe ihn getötet.« Dobbs ging zur Doppeltür und richtete sich auf. »Sonst noch etwas?«, fragte er schroff.

»Nein, ich glaube nicht. Entschuldigen Sie die Störung, Mr. Dobbs. Wir müssen uns um unsere Schützlinge kümmern. Reine Routinesache«, sagte Flick und stand auf. Dobbs begleitete ihn zum Ausgang.

»Sie können alles bei dem zuständigen Polizeirevier nachprüfen, Mr. Flick«, meinte er. »Man hat äußerst gründlich ermittelt.«

»Danke, Mr. Dobbs, das werde ich tun.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Inspektor Russel Bowman schwang seine massige Gestalt mit dem Sessel herum und legte die Füße auf den viereckigen Papierkorb neben seinem zerbeulten Stahlschreibtisch. Unbehindert durch die Tischplatte konnte er nun seinen Bauch herausstrecken. Er seufzte und spuckte Tabaksaft in Richtung Papierkorb, ohne zu treffen. Trübes Morgenlicht fiel durch das vergitterte Fenster hinter ihm und warf kurze Schatten auf den Schreibtisch. Er seufzte noch einmal und schob den Dienstrevolver von der Hüfte nach vorn. Bequem zurückgelehnt lauschte er dem Funksprechverkehr der Streifenwagen. Ein kleiner Lautsprecher an der Wand übertrug ihn von der Zentrale nebenan.

Flick saß beim Schreibtisch, die Beine ausgestreckt. Er wurde langsam ungeduldig und wusste, dass Bowman seine zunehmende Gereiztheit spürte, weshalb er es vermied, den Inspektor zu drängen. Bowmans Antwort hätte dann nur noch länger auf sich warten lassen.

»Robbie«, sagte Bowman schließlich, während er seine großen Schuhe betrachtete, »ich kann die auf Bewährung entlassenen Häftlinge weiß Gott nicht leiden. Aber an Witte habe ich nichts auszusetzen. Er ist entlassen, und ich zerbreche mir seinetwegen nicht den Kopf, also sehe ich auch nicht ein, warum Sie es tun.«

»Ich habe Ihnen gesagt, was mir nicht gefällt. Mir gefällt nicht, dass Dobbs seinem Chauffeur einen teuren Anwalt verschafft hat und jetzt einen mehrfach vorbestraften Kriminellen wieder einstellen will. Und mir gefällt nicht, dass Witte trotz der beiden Vorstrafen nur die Mindestzeit abgesessen hat.«

»Na schön, da hat er eben in Dobbs einen Schutzengel, der ein bisschen herumtelefonierte, um Witte bei der ersten passenden Gelegenheit durch die Prüfungskommission zu schleusen. Und der ihm einen teuren Anwalt zur Verfügung stellte. Na und? Vielleicht liebt Dobbs seine Angestellten. Vielleicht fühlt er sich dazu berufen, Straffälligen bei der Rückkehr ins Alltagsleben zu helfen. Woher soll ich das wissen? Ich glaube nicht, dass mir Witte Schwierigkeiten machen wird. Warum soll ich mir seinetwegen den Kopf zerbrechen?« Bowman stieß den Papierkorb weg und streckte die Beine auf dem Betonfußboden aus. »Mensch, Robbie, ich verstehe Sie nicht. Die ganze Zeit beschweren Sie sich, dass ich Ihre Schützlinge zu hart anpacke. Jetzt kommt einer daher, mit dem ich keinen Streit habe, und nun regen Sie sich darüber auf.«

Flick zog eine zerdrückte Zigarette aus der Rocktasche und zündete sie an. Er bog den Kopf zurück und blies den Rauch an die Decke; in Bowmans engem Büro war es friedlich. Er beschloss, Bowman von der Unterhaltung mit dem jungen Lieutenant im Railway-Café nichts zu erzählen. Bei Licht besehen konnte dieses Gespräch nicht als tragfähige Grundlage für einen Verdacht dienen.

»Russ, haben Sie den Tod von Tom Mallory untersucht?«, fragte Flick nach einer Pause. Der Inspektor sah ihn scharf an und drehte sich zum Schreibtisch. Sein Stuhl knarrte, als er sich vorbeugte.

»Sie sind der Überwachungsbeamte, nicht wahr? Der Polizist bin ich.«

»Ich habe Sie etwas gefragt.«

»Nein, nicht persönlich. Es war ein Routinefall, den die Leute vom Revier erledigt haben. Sie wissen genau, dass ich bei Unfällen keine Kriminalbeamten einsetze. Meine Leute haben Besseres zu tun«, sagte Bowman gereizt. Das Gespräch beruhte nicht auf den dienstlichen Beziehungen zwischen einem vom Bundesstaat besoldeten Bewährungsoffizier und einem städtischen Kriminalbeamten, sondern auf der Freundschaft, die sich zwischen Bowman und Flick entwickelt hatte. Flick wusste, dass er das ausnutzte, wenn er Bowman weiter ausfragte.

»Haben Sie je mit dem Mädchen gesprochen? Die im Irrenhaus sitzt?«, fragte Flick.

Bowman warf wütend seinen Zigarettenstummel auf den Boden. Er schob sich näher an den Schreibtisch heran und stemmte die Ellbogen auf die schmutzige grüne Löschunterlage, um sich weiter Vorbeugen zu können.

»Das muss aber ein sehr gründlicher Bericht gewesen sein, den Sie da über Witte bekommen haben, mein Junge. Überaus gründlich.« Er drehte sich wieder herum, legte die Füße auf den Papierkorb und riss eine frische Zigarre aus der Rocktasche. Er sog befriedigt daran und starrte durch das verschmutzte, vergitterte Fenster auf den Parkplatz hinaus. »Mit Witte hat das nichts zu tun, Robbie. Der alte Mallory war ein komischer Kauz, millionenschwer. Er hat zwei Töchter - Marie, um die Dreißig, und Lee, die ein- oder zweiundzwanzig ist. Marie heiratete William Dobbs, der aus einer recht guten Familie stammt, obwohl da kein großes Vermögen vorhanden ist. Sie wohnten alle oben in dem großen Haus, aber Lee war auf der Schule. Im vergangenen Sommer stürzte der alte Herr von einem kleinen, klippenähnlichen Ding hinter dem Haus. Dabei brach er sich den Hals. Die Kleine war dabei und sah das. Das glaube ich wenigstens. Sie schnappte über. Wir haben sie von unserem Psychiater untersuchen lassen, und Dobbs zog ein paar Experten zu. Sie war so hysterisch, dass sie zwei Tage nach dem Sturz noch Beruhigungsspritzen brauchte, und als sie sich soweit erholt hatte, dass sie sprechen konnte, stellte sich heraus, dass sie einen Klaps weghatte. Sie beschuldigte abwechselnd ihre Schwester und Dobbs, den alten Mann hinabgestoßen zu haben, oder gestand, dass sie ihn auf dem Gewissen habe. - Offen gesagt, ich bin mir nicht sicher, ob sie es nicht wirklich war, obwohl ich mir kein Motiv vorstellen kann. Der Staatsanwalt zeigte aber kein Interesse. Wegen der Presse kann man mit Spekulationen eine Menge Schaden anrichten, und außerdem war das Mädchen ganz offensichtlich übergeschnappt, so dass man sowieso nichts erreichen konnte. Wenn sie ihn wirklich hinuntergestoßen hatte, würde sie nach dem Prozess nur wieder im Irrenhaus landen. Ich glaube an einen Unfall, es sah ganz danach aus. Nach ihrer Meinung könnte sie den Unfall verursacht haben. Jedenfalls waren Marie und Dobbs zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht in der Nähe. Das wissen wir.«

»Marie und Dobbs waren zum Zeitpunkt des Unfalls zweifellos auf einer Fahrt mit Witte unterwegs«, meinte Flick missmutig.

Bowman drehte den Kopf und starrte Flick an.

»Stimmt. Das ist vermutlich auch der Grund, warum sich Dobbs Witte verpflichtet fühlt. Witte hätte gegenüber den Journalisten plaudern und einen kleinen Skandal heraufbeschwören können. Er hielt den Mund. Deshalb behandelt ihn Dobbs großzügig.«

Die beiden Männer schwiegen eine Weile.

»Robbie«, sagte Bowman schließlich, »das Mädchen ist von anerkannten Kapazitäten untersucht worden. Lee ist verrückt. Warum lassen Sie nicht die Finger davon?«

»Kann ich die Unterlagen einsehen? Und die psychiatrischen Gutachten?«

»Nein, verdammt noch mal«, sagte Bowman und stand auf. »Die Geschichte ist vierzehn oder fünfzehn Monate her. Der Fall gilt als abgeschlossen. Ich bin Kriminalbeamter und habe mich davon überzeugt, dass alles in Ordnung war. Widmen Sie Ihre wilde Phantasie; den entlassenen Strafgefangenen und sorgen Sie dafür, dass sie auf dem Heimweg von der Arbeit kein Bier trinken.«

»Ich glaube nicht, dass ich das verdient habe, Russ«, sagte Flick langsam.

Bowman sah ihn stirnrunzelnd an und setzte sich wieder.

»Na schön, das vielleicht nicht. Sie benutzen meine Räume, um mit Ihren Schützlingen zu sprechen, Sie bekommen Ihre Post hierher, ich helfe Ihnen, wo ich kann, und meine Leute tun es auch. Aber Sie sind noch lange kein richtiger Polizist, nur weil Sie sich hier herumdrücken. Sie sind Bewährungshelfer, kein Kriminalist. Sie hören sich an, als würden Sie nachts Fernsehkrimis sehen, statt zu schlafen. Ich sage Ihnen nochmals, die Sache ist erledigt!«

»Warum regen Sie sich eigentlich so auf, Russ?«, erkundigte sich Flick.

»Weil es mir nicht passt, wenn Sie mein Urteil in Frage stellen. Ich habe die Akte abgezeichnet, als sie geschlossen wurde. Das heißt, ich hatte mich davon überzeugt, dass ein Unglücksfall vorlag, der zufällig ein junges Mädchen zum Überschnappen veranlasste. Ihre Mutter war Alkoholikerin, wissen Sie. Sie starb in einer Anstalt. Vielleicht wittern Sie da auch Unrat.« Bowman stieß seinen Sessel zurück und starrte Flick grimmig an.

»Hören Sie, Russ, Sie zeichnen doch alle Akten ab. Sie leiten den ganzen Laden hier. Vielleicht ist das nur ein Routinefall, vielleicht auch nicht. Vielleicht hat das Mädchen die Wahrheit gesagt. Vielleicht ist der alte Mann wirklich hinuntergestoßen worden. Das wäre eine gute Erklärung, warum Witte einen Staranwalt bekam, als er in der Klemme saß. Das könnte erklären, warum Dobbs seine Beziehungen spielen ließ, um Witte aus dem Gefängnis herauszuholen. Das würde erklären, warum er ihn wieder einstellt.«

Bowman lehnte sich zurück und lächelte Flick zum, ersten Mal an diesem Morgen freundlich und wohlwollend an.

»Passen Sie auf, Robbie. Sie sind ein tüchtiger Mann, das weiß ich. Dieser Witte hat einen schlechten Eindruck auf Sie gemacht. Sie mögen ihn nicht, und weil Sie sonst an jedem lausigen Gauner hängen, der vorzeitig entlassen wird, erregt einer, den Sie nicht mögen, Ihren Verdacht. Na schön. Sie bohren ein bisschen nach und finden ein paar Dinge, die nicht zusammenpassen. Wie der Anwalt und Dobbs’ Großzügigkeit zum Beispiel. Sie müssen auch die Eigenwilligkeit des Menschen berücksichtigen. Gut, die Sache ist seltsam,

Robbie, und Witte taugt nichts. Aber zermartern Sie sich doch in Dreiteufelsnamen nicht das Gehirn deswegen.«

»Das ist aber doch keine Antwort, Russ.«

»Die psychiatrischen Gutachten. Hören Sie!« Bowman drehte sich mit dem Sessel wieder herum. »Wenn es alles private Ärzte gewesen wären! Aber wir haben auch Doktor Ryan hinzugezogen, er arbeitet für uns und versteht sein Fach. Er hat festgestellt, dass sie verrückt ist, und ein privater Spezialist ebenfalls. Was kann man dagegen einwenden?«

Flick schüttelte langsam den Kopf.

»Stimmt, Russ. Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll.«

»Vergessen Sie’s, mein Junge.«

»Das werde ich wohl tun müssen, Russ. Aber Witte gefällt mir trotzdem nicht«, sagte Flick, und zog die langen Beine an und stand auf.

»Jennie erwartet Sie zum Sonntagsbraten, um drei Uhr, Robbie. Also bis morgen«, sagte Bowman zum Abschied. Nachdem Flick das Zimmer verlassen hatte, saß er lange Zeit nachdenklich da und starrte den abblätternden gelben Wandverputz an. Es war Sonnabend, und im Archiv war niemand mehr. Bowman schickte deshalb einen der diensthabenden Beamten ins Archiv, um die psychiatrischen Gutachten über Lee Mallory heraussuchen zu lassen. Er lächelte vor sich hin, während er auf die Akte wartete, als wüsste er, dass es eine verrückte Idee war, aber aus irgendeinem Grund wollte er die Unterlagen noch einmal sehen, nur so zur Sicherheit.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Es war Sonnabendnachmittag, und die meisten Kranken der Irrenanstalt hatten Besuch, aber Lee Mallory wusste, dass sie niemand besuchen würde. Sie saß in ihrem kleinen Zimmer und starrte auf die dünnen Sonnenstrahlen, die scharfe Schatten auf die Wände warfen. Dann schaute sie zum Fenster hinaus, an dessen Gitter sie sich so oft die Fäuste blutig geschlagen hatte. Dort unten, sechs Treppen tiefer, waren Menschen. Sie trugen normale Kleidung, nicht Säcke wie die weiblichen Patienten oder zweiteilige weiße Anzüge wie die Pfleger. Es waren Menschen aus der magischen Welt, die in der Anstalt einfach nur Draußen hieß.

Sie starrte die sich bewegenden Gestalten an, ohne zu denken. Es war an jedem Sonnabendnachmittag dasselbe. Ein Ritual. Sie saß allein im Zimmer, starrte auf die düsteren, betonierten Spazierwege und die kleinen, braunen Quadrate hinunter, in denen im Sommer Gras wachsen sollte. Fünfzehn Monate waren es jetzt, aber sie hatte unten noch nie Spazierengehen dürfen. Sie saß im sechsten Stock, in der geschlossenen Abteilung, in ihrem Zimmer. Das war das einzige, was sie glücklich machte - nicht in der Station leben zu müssen. Am Anfang war sie dort untergebracht gewesen, und sie erinnerte sich nur mit Schaudern daran. In der Station gab es keine ruhige Minute. Das Schreien, Lallen und Singen hielt Tag und Nacht an. Jetzt, in der Privatabteilung, wurde sie nachts eingesperrt und konnte schlafen.

Sie wusste, dass sie von Glück sagen durfte, ein eigenes Zimmer zu haben. Das einzig Unangenehme daran war, wenn der kahlköpfige Pfleger hereinkam, um sauberzumachen oder die Bettwäsche zu wechseln. Dann war

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jack Ehrlich/Apex-Verlag/Successor of Jack Ehrlich).
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Tony Westermayr (OT: The Girl Cage).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 06.05.2021
ISBN: 978-3-7487-8195-0

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