Cover

Leseprobe

 

 

 

 

JEAN POTTS

 

 

Seitensprung

mit Todesfolge

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 221

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

SEITENSPRUNG MIT TODESFOLGE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Kirk Bannings New Yorker Werbeagentur steckt in finanziellen Schwierigkeiten - Banning selbst in familiären: Seine Geliebte will ihn verlassen. Und Hilda, seine Frau, hat von der ganzen Affäre keinen Schimmer!

Da stirbt Banning an einem Herzanfall. Die rettenden Pillen waren verschwunden. Und ein zweiter Todesfall bestätigt, dass auch Kirk Banning ermordet wurde...

 

Jean Catherine Potts (* 17. November 1910; † 10. November 1999) war eine vielfach preisgekrönte US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Seitensprung mit Todesfolge erschien erstmals im Jahr 1970; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1971.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  SEITENSPRUNG MIT TODESFOLGE

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Genier dich nicht! Sag’s ruhig!« Kirk goss sich noch einen Cognac ein und lächelte sie aus harten Augen an. »Na los. Sag’s schon. Zähl’ mir ruhig vor, wieviel Cognac ich schon getrunken habe. Drei? Vier? Auf jeden Fall mehr als der Arzt verordnet hat. Und dazu noch Martinis vor dem Mittagessen. Ganz zu schweigen von dem, was sich nach dem Mittagessen hier in deinem behäbigen kleinen Bett alles getan hat. Sogar da hast du noch gezählt, wie?«

»Deswegen brauchst du nicht gleich ausfallend zu werden«, gab sie zurück.

Manchmal wirkte der leichte Ton. Wenn man die Gekränkte spielte, spornte ihn das höchstens noch an. Und der Zwischenfall vom letzten Monat hatte ihr einen solchen Schrecken eingejagt, dass sie jetzt jeden offenen Streit mit ihm scheute. Sie streckte die nackten Beine aus und schlüpfte tiefer in die gefiederten Pantöffelchen, die er ihr heute mitgebracht hatte. Der duftige Marabuflaum bauschte sich, vibrierte unter der Bewegung. Die Attacke, so hatte der Arzt erklärt, wäre gar nicht unerwartet gewesen. Überreizte Nerven, Oberbeanspruchung, übermäßige Aufregung – wer konnte sagen, was sie heraufbeschworen hatte? Lorraine wusste es: Ihr Versuch, Schluss zu machen, hatte den Herzanfall Kirks herbeigeführt.

Kirk hätte sterben können, und sie wäre dann für seinen Tod verantwortlich gewesen.

»Die Pantöffelchen sind bezaubernd. Ich fühle mich wie eine richtige Femme fatale darin.« Es war eine jener Bemerkungen, wie sie sie häufig zu machen pflegte. Kirk war stolz wie ein Kind auf seine Geschenke und ebenso begierig auf Anerkennung. Doch heute sagte sie die Worte mit Berechnung, versuchte ganz bewusst, ihn abzulenken und ihm zu schmeicheln. Wie satt sie ihr Getue hatte! Was für eine Erleichterung es sein würde, nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen!

Und diesmal erreichte sie sowieso nichts. Am anderen Ende des Sofas hockte Kirk? über sein Glas gebeugt wie ein Löwe über seine Beute.

»Das Wiedersehen mit dir ist doch Grund zum Feiern«, erklärte er in dem angriffslustigen Ton, den sie fürchten gelernt hatte. »Und ich werde es feiern. Da kannst du dich drauf verlassen. Ich bin kein Invalide und lass mich auch nicht wie einer behandeln.«

Es war umso schwieriger, an den bösen Streich zu glauben, den sein Herz ihm gespielt hatte, als nach außen hin kaum etwas davon zu merken war. Er wirkte kräftiger und gesünder denn je zuvor, ein robuster, gut gebauter Mann, nicht mehr ganz jung – neunundvierzig im Gegensatz zu Lorraines sechsundzwanzig – und gewiss niemals gutaussehend, doch noch immer auf seine rein männliche Art anziehend. Aber das war es nicht allein; auch Männer konnten sich der Ausstrahlung Kirks nicht entziehen, selbst Männer, die ihn nicht mochten.

So wenig war nach außen hin zu merken. Es war dasselbe, von Linien durchzogene, ausdrucksvolle Gesicht, verwundbar trotz des harten Zuges um den Mund; dasselbe grau melierte Haar, dieselben scharfen, dunklen Augen. Doch verschiedentlich beim Mittagessen war Lorraine aufgefallen – ohne dass sie etwas davon erwähnte –, wie er sich die Brust gerieben hatte, als wollte er ein widerspenstig aufmuckendes Wesen zwingen, endlich Ruhe zu geben. Und nachdem sie ihre Wohnung erreicht hatten, atmete er schwer.

Es war der vierte Cognac. Zwei Martinis vor dem Mittagessen. Kaffee. Alles Dinge, die der Arzt verboten hatte. Verboten waren auch Temperamentsausbrüche und Streit, wie er ihn jetzt mit ihr vom Zaun brechen wollte.

»Ich hab’ gesagt, ich bin kein Invalide.«

»Warum? Hat dich denn jemand so behandelt?«

»Alle behandeln mich so. Die ganze Zeit. Dieser Arzt mit seinem fetten, verständnisvollen Gesicht und seinen wohlmeinenden Vorschlägen. Allenfalls einen leichten Drink vor dem Abendessen. Großartig. Einfach großartig. Hilda. Sie hat sogar eine Waage gekauft, wiegt jedes Mal mein Essen ab. Die Kinder. Und jetzt du. Sogar du. Dauernd wird man mit Argusaugen beobachtet, dauernd nörgelt jemand an einem herum, dauernd...«

»Das ist nicht wahr, Kirk. Ich habe nicht ein Wort gesagt.«

»Aber nein. Man darf mich ja auch nicht in Rage bringen. Man muss mich bei Laune halten. Glaubst du vielleicht, ich weiß nicht, dass das alles Taktik ist?«

»Naja. Aber es ist doch nur, weil ich nicht will – es ist doch, weil ich dich liebe.«

Sie sah ihn nicht an, als sie es sagte. Sie wusste selbst nicht, ob es wahr war. Halbwahr vielleicht; nicht mehr wahr, aus tiefstem Herzen kommend, wie vor einem Jahr. Schon vor Kirks erstem Anfall hatte sich Rastlosigkeit in ihr geregt, war sie nicht mehr ganz so verzaubert gewesen von der Rolle der anderen Frau, in die sie freudig und blind hineingeschlüpft war. Es war sicher kleinlich von ihr, aber ihr fehlten die Verabredungen zum Abendessen. Kirk konnte sich fast nie freimachen, höchstens mittags; und wenn er auch behauptete, es machte ihm nicht das Geringste aus, wenn sie mit anderen Männern ausging, so folgte doch jedes Mal, wenn sie es tat, ein ätzendes Verhör. Es war nicht der Mühe wert. Doch immer häufiger begann sie an gähnend leeren Wochenenden einen nagenden, sich tiefer und tiefer fressenden Groll zu spüren. Sie war dazu erniedrigt, von den Erinnerungen an eine glücklichere Zeit mit Kirk zu leben, und dazu war sie nicht geschaffen; sie war selbst viel zu sehr Egoist, um die zweite Geige zu spielen.

Dann lernte sie Hilda kennen. Ihr lästiges Gewissen begann sich kräftig und nachhaltig zu regen – vielleicht nur, um Kirks Gewissenlosigkeit wettzumachen. Und je näher sie Kirks Frau kennenlernte, desto schärfer und klarer wurden die Gläser der rosaroten Brille, durch die sie Kirk gesehen hatte. Es bestürzte sie, dass er es fertigbrachte, soviel Verständnis, Vertrauen und Hingabe als selbstverständlich hinzunehmen, ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, gleiches mit gleichem zu vergelten. Was Hilda nicht wusste, tat ihr nicht weh. So einfach sah er offenbar die Lage. Warum sich über Recht und Unrecht Gedanken machen, wenn er hatte, was er wollte?

Er hielt die Hornbrille anklagend auf sie gerichtet.

»Warum hast du eben nicht fertig gesprochen? Du willst nicht, dass ich ausgerechnet in deinem Bett sterbe. Das ist es doch, was dir im Magen liegt, oder?«

»Ich will überhaupt nicht, dass du stirbst.«

»Aber schon gar nicht hier. Stell dir vor, wie peinlich es für dich wäre, wenn du erklären müsstest...«

»Hör auf!« Der schrille Klang ihrer eigenen Stimme erschreckte sie. Doch alles hatte schließlich seine Grenzen. Er hatte es weit genug getrieben. »Natürlich liegt mir das im Magen. Hast du dir mal überlegt, wie Hilda es aufnehmen würde, wenn – wenn etwas passieren sollte, während du hier bei mir bist? Ist dir denn nicht klar, dass das für sie ein tödlicher Schlag wäre?«

Er blickte ihr direkt in die Augen und sagte: »Ich will dir mal was sagen. Es ist mir völlig gleichgültig, wie Hilda oder du oder sonst jemand es aufnehmen würde. Ihr seid dann nämlich am Leben und ich bin tot, verflucht noch mal. Tot.«

Er sprang auf und starrte in wütendem Trotz auf sie nieder. Auch Verzweiflung stand in seinen Augen und etwas anderes, was sie im ersten Moment nicht erkannte; sie hatte nie zuvor Furcht in Kirks Gesicht gesehen. Doch jetzt war sie da, Furcht, ungläubige, zornige Furcht.

»Tot. Aus. Schluss. Aber eines kann ich dir versichern. Ich werde mein Leben noch genießen, solange ich kann. In den letzten Wochen im Krankenhaus hatte ich genug Ruhe zum Nachdenken. Und mit halben Sachen lasse ich mich nicht mehr abspeisen. Wir haben sowieso schon zu viel Zeit vergeudet, du und ich. In dem Moment, als ich dich das erste Mal sah, wusste ich, dass du für mich geschaffen warst, und an dieser Überzeugung hat sich bis heute nichts geändert. Wenn meine Tage auch gezählt sind, will ich das bisschen, was mir noch bleibt, mit dir verbringen.«

»Kirk«, rief sie scharf, »soll das ein Heiratsantrag sein?«

»Natürlich. Wenn du’s so willst.« Er machte eine weitläufige Handbewegung, beugte sich über sie und zog sie zu sich hoch. »Alles, was du willst, Lorraine. Wenn wir nur zusammen sind.«

»Aber wir können doch nicht – denk an Hilda – das kann nicht dein Ernst sein!«

Es war sein Ernst. Die Ausschließlichkeit, mit der er an sich selbst dachte, war erschreckend. Er kam nicht auf den Gedanken, dass sie über seinen Antrag nicht erfreut sein könnte. Er betrachtete ihren armseligen Versuch vom letzten Monat, die gegenseitigen Beziehungen abzubrechen, als eine durchaus natürliche Reaktion. Selbstverständlich hatte sie es satt, ständig Versteck spielen zu müssen wie im ganzen vergangenen Jahr. Er hatte es ja auch satt. Sie hatten beide darunter gelitten. Er war froh, dass sie reinen Tisch gemacht hatte, sonst hätten sich ihm die Augen vielleicht nie geöffnet. Und was Hilda anging...

»Wenigstens brauchen wir sie dann nicht mehr zu belügen. Ich bin bestimmt nicht stolz darauf, wie ich mich ihr gegenüber verhalten habe. Aber man kann ja auch nicht gerade behaupten, dass es eine Heirat aus Liebe war. Ich meine, da stand ich nun mit zwei kleinen Kindern, und da kam Hilda, bereit, sie mit mir zusammen großzuziehen. Der Einfall stammt genauso von ihr wie von mir. Mehr noch von ihr. Natürlich wird es ein Schock für sie, dass weiß ich, aber...«

Lorraine schloss die Augen, als könnte sie damit das Bild von Hildas immer fröhlichem Gesicht vertreiben, das von der Wucht des Schlages leer und entstellt bleiben musste. Ein doppelter Schlag würde es für sie sein: Sie hegte nicht den geringsten Verdacht gegen Lorraine, ja, sie hielt sie sogar für eine treue Freundin, für jemanden, dem sie ihre Sorgen anvertrauen, an den sie sich um Rat und Hilfe wenden, dem sie selbst – denn so war Hilda nun einmal – hin und wieder einen Gefallen erweisen konnte. Und ihrer Hilfsbereitschaft konnte man sich nicht entziehen, wenn man ihr nicht wehtun wollte. Seit Kirk sich selbständig gemacht hatte, half Hilda im Büro; sie gab Lorraine, die freischaffende Graphikerin war, regelmäßig Aufträge. Verschiedentlich verschaffte sie ihr auch Aufträge anderer Werbeagenturen.

Lorraine hatte das Gesicht gegen Kirks Hemdbrust gepresst und brach in unkontrolliertes Schluchzen aus. Er hob sie hoch. Oh, Gott, dachte sie, das darf er nicht. Sein Herz! Er ließ sich auf dem Sofa nieder, zog sie auf seinen Schoß, drückte sie an sich wie ein Kind.

»Sch, sch, mein Herz. Bitte, da gibt’s doch nichts zu weinen.«

Nichts? War es nicht zum Weinen, dass Hilda plötzlich mit leeren Händen dastehen würde? War es nicht zum Weinen, wie Kirk, dem der Tod schon im Nacken saß, sich aufbäumte in wilder Verzweiflung und sich an die Liebe zu klammern suchte, die, so glaubte er, noch immer ihm gehörte? Das war der Hauptgrund für ihre Tränen: Sie dachte daran, wie selig sie noch vor einem Jahr über seinen Antrag gewesen wäre. Doch er hatte bis heute gewartet, und es war zu spät, zu spät, sie hatten ihre Chance vergeben.

Einen Ausweg gab es nicht. Wenn sie ihn auch nicht mehr genug liebte, um ihn zu heiraten, so liebte sie ihn doch noch zu sehr, um ihm das zu sagen. Und die möglichen Folgen waren allzu erschreckend. Er konnte daran zu Grunde gehen – im wahrsten Sinne des Wortes –, und die Last der Schuld würde dann auf ihr ruhen, so sicher, als hätte sie zum Messer gegriffen und es ihm ins Herz gestoßen.

Durch den Tränenschleier sah sie sein Gesicht, ausnahmsweise weich, voll unverhohlener Zärtlichkeit. Er wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Dann sagte er tröstend: »Natürlich weiß ich, dass ich dich nicht Hals über Kopf entführen und heiraten kann. Erst müssen wir alles genau überlegen. Wir wollen es Hilda nicht schwerer machen als nötig. Ich weiß nicht, ob es besser ist, ihr allmählich klarzumachen, was los ist, oder ihr einfach brutal die Wahrheit zu sagen. Beides wird nicht sehr angenehm werden.«

Wir. Wir. Er rechnete also damit, dass Lorraine ihm helfen würde, die schmutzige Arbeit zu tun. Gut. Damit bot sich ihr wenigstens ein legitimer Grund, alles noch etwas hinauszuzögern. Sie brauchte Zeit, um selbst zu überlegen, was sie tun konnte.

»Du musst mir Zeit lassen.«

Sie strich ihr Haar aus dem Gesicht, das voll und glänzend, beinahe schwarz, auf ihre Schultern fiel. Sie warf wieder einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Kirk musste um fünf gehen. Noch fünfzehn Minuten. Plötzlich und schmerzlich fiel ihr ein, wie rasch die kostbaren Stunden mit ihm früher verflogen waren, Stunden, die sich heute unter der Last nicht eingestandener Spannung mühsam hinzuschleppen schienen.

»Ich bin ja selbst noch ganz überrascht. Bitte Kirk, versprich mir, dass du ihr erst etwas sagst, wenn wir alles gründlich besprochen haben. Das musst du mir versprechen. Ehrenwort.«

»Keine Sorge, Mein Herz. Ich tu’ bestimmt nichts Übereiltes. Wie wär’s denn am Donnerstag? Hilda hat am Nachmittag eine Besprechung mit einem Kunden und danach eine Verabredung zum Abendessen. Da kann ich also jederzeit weg. Inzwischen können wir beide in aller Ruhe überlegen und dann alles bei einem Drink besprechen.«

»Donnerstag?«

Noch drei Tage. Da musste ihr doch etwas einfallen. Und wenn ihr nicht, dann Mary oder Teddy. Die beiden hatten sich als treue Helfer in der Not bewährt; sie konnte sich auf diese beiden Vertrauten verlassen, sonst hätte sie wohl die letzten Monate nicht durchstehen können. Mary, das gute Kind – sie war Lorraines jüngere Schwester – hatte natürlich von Anfang an von Kirk gewusst. Teddy, der in der Wohnung unter Lorraine hauste und der Intrigen brauchte wie die Luft zum Atmen, hatte zweifellos schon lange, bevor sie sich ihm anvertraut hatte, erraten, was gespielt wurde.

»Ja, ich glaube, am Donnerstag geht’s«, sagte sie. »Ich habe um vier einen Termin in der Stadt, aber die Sache wird nicht lange dauern. Außerdem hast du ja den Schlüssel. Wenn ich mich also wirklich verspäten sollte, kannst du jederzeit herein.«

»Gut. Am Donnerstag also, so früh wie möglich. Ach du lieber Gott, wie spät es schon ist!« Er zog sie an sich und küsste sie lange. »Wird es nicht wunderbar, wenn wir nicht mehr jede Minute zählen müssen? Lorraine...«

Ja«, sagte sie, die Kehle wie zugeschnürt. »Oh, ja, wunderbar.«

Wie immer war sein Abschied hastig. Erst in letzter Minute fiel ihm ein, dass er Handschuhe, Aktentasche und Brille vergessen hatte. Wie immer blieb sie an der Tür stehen, bis er die schmale Treppe mit dem einstmals eleganten, jetzt fadenscheinigen roten Teppich hinuntergestiegen war. Dort machte er halt, um noch einen letzten Blick zurückzuwerfen. Kirk wirkte irgendwie schutzlos, den Kopf erhoben, den Mantelkragen im Nacken aufgestellt, auf dem Gesicht ein Lächeln, das halb sehnsüchtig, halb triumphierend war.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Als das Telefon klingelte, lief Mary zum Apparat, verwickelte sich in die Schnur und rief ins falsche Ende des Hörers hinein.

»Lorraine? Warte mal! – So, jetzt. Alles in Ordnung? Was gibt’s denn?«

»Ich wollte dir nur sagen, dass alles in Butter ist.« Lorraines Stimme klang recht vergnügt und munter. »Was ist denn los mit dir?«

»Nichts. Ich hab’ nur die letzten anderthalb Stunden wie ein Nervenbündel hier rumgesessen und auf deinen Anruf gewartet. Du hast gesagt, du würdest dich spätestens um halb sechs melden und jetzt ist es...«

»Ach ja. Entschuldige, Mary, du Arme. Es tut mir wirklich leid. Ehrlich. Als Kirk weg war, bin ich zu Teddy hinuntergegangen und da hab’ ich vor lauter Reden vergessen, wie spät es geworden ist.«

»Naja. Schon gut.« Es war nicht das erste Mal; es würde gewiss auch nicht das letzte Mal sein. Mary hatte ja gewusst, dass ihre Ängste ganz unbegründet waren. Wenn irgendetwas Ernstes geschehen wäre, dann hätte sie als erste davon gehört. »Also keine Katastrophe, wie? Noch einmal mit heiler Haut davongekommen?«

»Ja. Nein. Ich weiß nicht.« Die Munterkeit in Lorraines Stimme war wie weggeblasen. Stattdessen schwang ein Unterton der Verzweiflung in ihr. »Was soll ich nur tun, Mary? Hör’ dir mal an, was er jetzt vorhat!«

Schon sprudelte Lorraine alles hastig hervor, und Mary, die gehorsam lauschte, verspürte ein ominöses Flattern in der Magengrube. Heirat! Bei Kirk konnte man sich darauf verlassen, dass er immer eine Überraschung parat hatte. Von all den Möglichkeiten, die ihr schlaflose Nächte bereitet hatten, war gerade diese eine ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Im Gegenteil, sie erinnerte sich lebhaft, wie sie einmal Lorraine aus lauter Sorge heraus gereizt angefahren hatte. »Du bildest dir doch wohl nicht ein, dass er dich heiraten will, oder? So dumm wirst du doch hoffentlich nicht sein.«

Es kam selten vor, dass sie so heftig reagierte, auch wenn sie von Anfang an gegen die Beziehung gewesen war. Kirk war ja nicht nur mit einer anderen Frau verheiratet, er war außerdem viel zu alt für Lorraine und zu sehr der erfahrene Charmeur, dem es gar nichts ausmachte, alles zu nehmen und selbst nichts zu geben. Oder jedenfalls nur herzlich wenig. Ja, natürlich liebte er Lorraine. Sie war, das konnte Mary nicht leugnen, selbst ein ähnlicher Typ wie Kirk. Zum Teil war es der Reiz des Neuen gewesen, der sie zu Kirk hingezogen hatte. Außerdem hatte sie ihn unmittelbar nach ihrer Enttäuschung mit Roger kennengelernt, als sie in einer gefährlich flatterhaften, einer Art Es-ist-ja-doch-alles-egal-Stimmung gewesen war.

»Du kannst ihn nicht heiraten«, erklärte Mary. »Das kommt nicht in Frage. Ausgeschlossen.«

»Das weiß ich. Aber wie soll ich’s ihm denn beibringen? Denk’ doch mal dran, was letzten Monat passiert ist, als ich Schluss machen wollte. Stell’ dir vor, er bekommt wieder einen Anfall und stirbt daran! Das wäre meine Schuld, Mary. Ich kann ihm nicht die Wahrheit sagen. Ich wage es nicht. Was soll ich denn nur tun?«

Das alte Lied. Lorraine steckte in der Patsche. Mary sollte ihr heraushelfen.

»Jetzt verlier’ nur nicht gleich den Kopf. Lass mich erst mal nachdenken.«

Häufig fiel ihr der rechte Ausweg ein. Von ihr stammte beispielsweise die Einführung des Alarm- und alles klar-Systems, das seit Kirks erstem Anfall in Kraft war. Das hatte sie sich einfallen lassen, als Lorraine sie damals mit verzweifelten Fragen bestürmt hatte. Und wenn er nun in meiner Wohnung stirbt? In einem solchen Fall muss man doch die Polizei rufen, oder nicht? Da wüsste doch jeder sofort, was er bei mir getan hat. Hilda, alle. Ich könnte unmöglich behaupten, er wäre geschäftlich bei mir gewesen. Hilda weiß, dass ich hier nicht arbeite, sondern in meinem Atelier.

Ja, in einem solchen Fall musste die Polizei benachrichtigt werden. Doch wenn man erst zwei so treue Helfer wie Mary und Teddy alarmierte, um den Eindruck eines harmlosen, rein zufälligen freundschaftlichen Beisammenseins zu vermitteln, dann wäre Hilda nicht vor aller Welt bloßgestellt. Lorraine natürlich auch nicht, doch zu ihrer Ehre muss gesagt werden, dass es ihr wirklich viel mehr um Hilda ging als um sich selbst.

»Er wird doch Hilda hoffentlich nichts sagen, oder?«, fragte Mary. »So gemein wird er doch nicht sein.«

»Nein, bestimmt nicht. Er hat’s mir versprochen. Ich hab’ ihn auf Donnerstag vertröstet. Aber dann...«

»Was meint denn Teddy? Hatte der irgendwelche Einfälle?«

»Er ist ganz durcheinander. Vollkommen hysterisch. Er hatte gerade einen Riesenkrach mit Ernest. Und jetzt das.«

Mary seufzte. Das war typisch. In gewisser Hinsicht war Teddy ja wirklich ein idealer Komplize: Es mangelte ihm gewiss nicht an Enthusiasmus, und man konnte sich darauf verlassen, dass er im Notfall der Polizei und Kirks Familie eine überzeugende Szene aufs Parkett legen würde. Fürs Theaterspielen besaß er beinahe die gleiche Leidenschaft wie für Geheimnisse und Verschwörungen. Doch wenn es an die Logik ging, an die praktische Beschäftigung mit einem Problem, war er unbrauchbar. Teddy dachte nicht; er ließ sich ganz von seinen Gefühlen leiten. Und das traf auch für Lorraine zu, wenn es um Kirk ging.

Blieb also nur Mary. Sie seufzte wieder. Dann fiel ihr plötzlich auf, dass es am anderen Ende der Leitung still war. Lorraine schien auf eine Antwort von ihr zu warten.

»Wie?«, fragte sie.

»Nicht wie. Wer. Du hast mir ja gar nicht zugehört. Ich hab’ gesagt, du sollst mal raten, wer mich vorhin angerufen hat.«

Lorraines Stimme sprudelte wieder vor freudiger Erregung.

»Schön, also wer?«

»Roger! Stell’ dir das mal vor. Nach so langer Zeit. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich wieder von ihm hören würde.«

»Ich weiß. Ja und? Triffst du dich mit ihm? Deswegen hat er doch wohl angerufen, oder?«

»Er wollte mich für morgen auf einen Drink einladen, und ich war so durcheinander, dass mir keine Ausrede eingefallen ist. Ich weiß nicht recht, ob ich ihn wirklich treffen soll. Was meinst du denn, Mary?«

»Was ich meine? Was ich schon immer gemeint habe – dass es vollkommen idiotisch von dir war, ihn überhaupt gehen zu lassen. Wenn du gleich auf mich gehört hättest, dann wärst du jetzt nicht in diesem Dilemma.«

Gekränktes Schweigen. Sie konnte sich Lorraines Gesicht lebhaft

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jean Potts/Apex-Verlag/Successor of Jean Potts.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Mechtild Sandbeg (OT: An Affair Of The Heart).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2021
ISBN: 978-3-7487-8190-5

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /