Cover

Leseprobe

 

 

 

 

DAY KEENE

 

 

Der Tod in Blond

 

Drei Romane in einem Band

 

 

 

 

Apex Noir, Band 11

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

1. DER TOD IN BLOND (The Dangling Carrot) 

2. DAS MÄDCHEN IN DER TODESZELLE (Death House Doll) 

3. TOTE ZEUGEN REDEN NICHT (Dead Dolls Don't Talk) 

 

 

Das Buch

Mordgeflüster lag in der Luft, als in der kleinen mittelamerikanischen Stadt der dritte prominente Geschäftsmann spurlos verschwand. Doch die Polizei stand mit leeren Händen da. Sie hatten keinen Toten, keine Beweise, keine Motive - nichts...

 

Sie hatte ihr Todesurteil selbst geschrieben. Jetzt wartet sie auf die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl. Doch fast alle glauben an ihre Unschuld...

 

Sie nannten ihn Doc, obwohl er nur einen Drugstore auf dem weltberühmten Sunset Boulevard in Hollywood besaß. Doch Doc Hart hatte es zu etwas gebracht mit seinen dreißig Jahren. Aber eine einzige Nacht genügte, um das Erreichte zu verlieren und ihn zu einem Gejagten zu machen...

 

Day Keene (eigentlich Gunard R. Hjertstedt; geboren am 28. März 1904 in Chicago; gestorben am 9. Januar 1969 in Studio City, Los Angeles, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Drehbuchautor. Insgesamt veröffentlichte er ungefähr 200 Kurzgeschichten und etwa 50 Romane, zum ganz überwiegenden Teil Detektivgeschichten.

Der vorliegende Band enthält die Romane Der Tod in Blond (1955), Das Mädchen in der Todeszelle (1953) und Tote Zeugen reden nicht (1959).

Der Apex-Verlag veröffentlicht Der Tod in Blond in seiner Reihe APEX NOIR, in welcher Klassiker des Hard-boiled- und Noir-Krimis als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

  1. DER TOD IN BLOND (The Dangling Carrot)

 

 

 

1.

 

Sam Langley war ein ruhiger, sanfter Mann, dessen Leben sich außerhalb seines Fabrikbetriebes in einem feststehenden Zyklus bewegte; mehrere Bridgeabende in der Woche, der fällige Lunch- und Tanzabend im Club und hie und da einmal ein Tag auf der Jagd oder zum Angeln auf dem See. Sein mysteriöses Verschwinden erregte beträchtliches Aufsehen, und zwar aus mehreren Gründen. Einer davon war der Umstand, dass der wohlhabende Besitzer der Keramikfabrik schon der zweite prominente Bürger war, der innerhalb von drei Monaten spurlos verschwand.

Wie es Lieutenant Eagan erzählt wurde, hatte der zweiundvierzig Jahre alte Fabrikant mit seiner Frau, Mrs. Langley, und den Hammonds gerade Bridge gespielt, als ihn das andauernde Heulen eines Hundes so gereizt hatte, dass er von dem Tisch im Jagdzimmer mit der Verwünschung aufgestanden war, den »verdammten Köter zu erschießen«

Sowohl Mrs. Langley als auch die Hammonds versuchten, ihn von diesem Vorhaben zurückzuhalten. Langley jedoch, unerschütterlich entschlossen, hatte eine handliche Pistole aus einem der Schubfächer im Jagdzimmer genommen, öffnete eine der auf den Rasen hinausführenden Balkontüren und eilte in die Nacht hinaus.

Ein paar Minuten später hörten Mrs. Langley und die Hammonds drei Schüsse. Sie warteten darauf, dass Langley zurückkam. Als er nicht wieder auftauchte, hatte Mr. Hammond auf Mrs. Langleys Drängen hin versucht, seinen Gastgeber ausfindig zu machen. Der war jedoch nirgends zu finden gewesen. Die einzigen Spuren waren seine unabgefeuerte Pistole und eine merkwürdige Blutlache auf dem betonierten Vorplatz der Garage.

Das geschah um neun Uhr abends. Amtsrichter Evan Johns wurde nicht davon verständigt. Es lag kein Grund dafür vor. Er hatte richterliche Funktionen und war kein Polizist. Solange er nicht sein neues Amt antrat in das er gerade gewählt worden war, fiel Mord nicht in seinen Zuständigkeitsbereich.

Klar und warm zog der Morgen des Neunten herauf. Ein leichter, verspielter Wind wehte von Süden her und streichelte die Spitzen der höher stehenden Pappeln. Er trieb dann und wann Wolkenfetzen vor sich her. Die Mädchen von Clay City hielten die Röcke fest, wie Marilyn Monroe über dem Ventilationsschacht der New Yorker Untergrundbahn.

Richter Johns erwachte wie gewöhnlich um Punkt sieben Uhr dreißig. Er lag in der Frühlingsluft einen langen Augenblick ganz ruhig da und konzentrierte sich auf den kommenden Tag. Er war am Abend vorher früh zu Bett gegangen. Nichts hatte seinen Schlaf gestört. Er fühlte sich ausgezeichnet. Er wünschte nur, dass – und sei es nur einmal – Lou aufstehen und mit ihm frühstücken würde. Es gab eine Zeit, wo sie das getan und ihm das Frühstück sogar selbst gebracht hatte. Später aber behauptete sie, Doppelbetten wären unmoralisch, und bestand darauf, dass sie getrennt schliefen; aber das war jetzt schon lange her.

Evan Johns war ein großer, stattlicher Mann an der Wende der Vierzig, mit leicht ergrauenden Schläfen und einem männlich-charmanten Lächeln, das ihm bei seiner Wahl sicherlich ein wenig geholfen hatte. Während er sich duschte und rasierte, fühlte er sich ein wenig verwirrt. All die kleinen Dinge, die er und Lou einmal geteilt hatten, schienen zerbrochen, bis nichts davon mehr eine Rolle spielte. Nach vierzehn Ehejahren waren sie einfach nur noch Mann und Frau. Selbst die intimen Momente ihres Ehelebens waren eine Art Selbstverständlichkeit und Gewohnheit geworden.

Johns versuchte diese Dinge von der philosophischen Seite zu nehmen. Auch die Haut des weichsten Pfirsichs schabte sich ab, wenn man dauernd daran nagte. Ein Mann konnte eben nicht erwarten, dass ekstatische Verliebtheit ewig andauern würde. Oder?

Als er mit Duschen und Rasieren fertig war, zog er sich ein frisches Hemd an und den Anzug aus sauberem, weißem Leinen.

Das war er den Jungs schuldig. Wenn um neun Uhr das Gericht zusammentrat, würde es das letzte Mal sein, dass er als Amtsrichter fungierte; das letzte Mal vor einer schier endlosen Prozession von Verkehrssündern, notorischen Trinkern, gewalttätigen Ehemännern, ewigen Ruhestörern, Perversen und kleinen Taschendieben. Der Gedanke gab ihm Auftrieb. Hätte er bisher seine Sache nicht gut gemacht, so wäre er von den Wählern der Bezirke Hessly, Clay und Calhoun nicht in sein neues Amt gewählt worden. Und nicht jeder junge Anwalt brachte es bis zum Bezirksrichter.

Er begann seine schwarze Krawatte zu binden. Gewiss, die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Die Falten in seinem Gesicht hatten sich vertieft. Schon hatte er fast ebenso viel weiße wie schwarze Haare. Zwölf Jahre war es jetzt her, dass er zu Lou und nach Clay City zurückgekehrt war. Das war im Frühling des Jahres 1943 gewesen. Im Oktober 1942 wurde er während des Generalangriffs auf Rommel über El Alamein abgeschossen. Zunächst war er tief enttäuscht, so vorzeitig aus dem großen Kampf ausgeschaltet zu werden. Auf der anderen Seite hatte er Glück gehabt, sehr viel Glück. Die winzigen Flaksplitter, die die Air-Force-Ärzte nicht aus seinen Beinen und seinem Oberkörper entfernen konnten, machten ihm außer beim Wetterumsturz nur selten Beschwerden. Und ehe noch einer der anderen jungen Anwälte vom Wehrdienst entlassen wurde, hatte er bereits sein Schäfchen ins trockene gebracht und war zum Amts- und Polizeirichter gewählt worden. Die Bezahlung war nicht gerade üppig, aber sie reichte für seine Bedürfnisse – oder hatte gereicht.

Nachdem seine Krawatte endlich zu seiner Zufriedenheit saß, blickte Johns mit einiger Hoffnung zu Lou ins Schlafzimmer hinein, um zu sehen, ob sie bereits wach war. Sie war es nicht. Im spinnwebdünnen Nachthemd lag sie auf dem Rücken und schnaufte den Atem gegen die Zimmerdecke. Während er die Treppe zum Speisezimmer hinunterstieg, überlegte er es sich, wie Lou mit zwei Dutzend metallenen Klammem im Haar und dem dick eingeschmierten Gesicht überhaupt schlafen konnte.

Hattie Belle, der dienstbare Geist des Hauses, hatte seinen Orangensaft für ihn bereitgestellt. Der Saft war lauwarm und voll von Kernen. Die Eier waren nur halb durchgebraten, und dafür waren der Speck und der Toast halb verbrannt.

Johns geriet in die Versuchung, Hattie Belle die Meinung zu sagen, aber für Hattie war allein Lou zuständig. Und nach Lous Meinung war es sowieso schon schwer genug, noch jemand für das Haus zu bekommen, nachdem sich in dem milden Klima von Clay City immer mehr gut zahlende Fabriken niederließen. Immerhin, wenn sein Frühstück so miserabel blieb wie in den letzten Monaten, würde er sich gezwungen sehen, in einem der Schnellrestaurants am Hauptplatz von Clay City zu essen.

Nur halb gesättigt griff Johns nach seinem breitrandigen Panama auf dem Garderobehaken im Flur, gerade als Lou gähnend die Treppe herunterkam. Sie hatte sich ein formloses Etwas über das Nachthemd geworfen, und an einem ihrer Pantoffel fehlte der Pompon. Mit der dicken Schmiere im Gesicht und dem Kranz von Haarklammem, dazu dem unkleidsamen Überwurf ohne Gürtel, wirkte ihre Erscheinung wie ein Wesen aus einer fremden Welt.

Frauen, überlegte Johns, waren tatsächlich merkwürdige Wesen. Sie bemalten sich die Finger- und Fußnägel. Sie verbrachten Stunden vor der Frisiertoilette und in Schönheitssalons, tun hübsch zu sein – für den Metzger, den Bäcker, den Bankkassierer, für den Frauenclub – hübsch für jeden, nur nicht für den eigenen Mann.

»Gut, dass ich dich noch antreffe«, sagte sie gähnend. »Lass mir bitte den Wagen da, ja, Evan? Ich habe die ganzen Besorgungen für das Damenessen der Handelskammer zu besorgen.«

»Gewiss.«

»Und vergiss nicht.«

»Was soll ich nicht vergessen?«

»Heute Abend spielen wir mit den Hammonds Bridge.«

»Schon wieder?«

»Wir haben seit zwei Wochen nicht mehr mit ihnen gespielt.«

»Ich sagte ja nur so.«

»Du hättest es aber nicht gleich so schroff zu sagen brauchen.«

Johns zuckte die Schulter und bückte sich, um seiner Frau den morgendlichen Kuss zu geben. Immer noch verstimmt, drehte sie den Kopf zur Seite. »Bitte, nicht. Du würdest nur Creme auf deinen Anzug bekommen. Die Rechnungen von der chemischen Reinigung sind sowieso schon hoch genug.«

Wieder gähnte sie und entfernte sich schlurfend durch die Halle in Richtung Küche. Johns öffnete die Haustür und stand einen Augenblick auf der Vortreppe. Er überlegte, ob er ein Taxi kommen lassen sollte; das Rathaus mit der Polizeistation und dem Gerichtssaal war fünf Häuserblocks entfernt.

Der schöne, laue Morgen gab den Ausschlag und entschied dagegen. Während Johns die von Bäumen gesäumte Straße entlangging, versuchte er, auf Lou ärgerlich zu sein – und konnte es nicht. Irgendwie waren sie in ein ausgefahrenes Geleise von Alltäglichkeiten und Haushaltsrechnungen geraten, mit einem gelegentlichen Bridgespiel mit den Hammonds oder den Heeleys und langweiligen Clubabenden. Lou, zumindest nach außen hin, war nie über seine Wahl zum Bezirksrichter begeistert gewesen. »Wie schön! Wie viel mehr zahlen sie dafür?, war alles, was sie gesagt hatte. Wo waren die Tage geblieben, an denen ihm Lou bei seiner Rückkehr von der Jagd in den Wäldern stürmisch um den Hals gefallen war? Oder wo sie nachts zusammen beim Mondschein gebadet hatten? Jetzt hatten sie die Hütte am See schon seit Jahren nicht mehr benutzt. Er hätte sie eigentlich auch einem Makler zum Verkauf übergeben können. Doch sie war eben immer noch ein Erinnerungsstück, ein Bindeglied zu vergangenen, glücklicheren Tagen.

Johns war ein praktischer, realistischer Mann. Er sah ein, dass er vielleicht vom Leben einfach zu viel erwartete. Lou war siebenunddreißig, er selbst vierzig. In diesem Alter schlug man eben nicht mehr über die Stränge. Andererseits, selbst wenn man vierzig war, brauchte man sich nicht ausschließlich darauf zu beschränken, den vierten Mann beim Bridge abzugeben oder einer vollbusigen Sopranistin zuzuhören, deren Gesang und Worte man nicht verstand und aus denen sich Johns auch dann nichts gemacht hätte, wenn er sie verstanden hätte.

Die warme Morgenluft war erfüllt vom zarten Duft des Frühlings. Freundliche Grüße –»Guten Morgen, Euer Ehren–begleiteten ihn auf seinem Weg, und Johns' Laune besserte sich zusehends. Nächste Woche würde alles anders sein. Wenn er erst einmal Bezirksrichter war, würde es genug neue Interessen für ihn geben. Die Bagatellsachen, mit denen er sich bisher abzugeben hatte, würden der Vergangenheit angehören. Ein Bezirksrichter hatte Macht, hatte über Ehescheidung und Trennung zu entscheiden, konnte Männer und Frauen für lange, lange Zeit ihrer Freiheit berauben, ja, er hatte sogar Gewalt über Leben und Tod und konnte Menschen dazu verurteilen, zu sterben. Er übernahm damit große und schwerwiegende Verantwortungen. Johns hoffte, er würde ihnen gerecht werden und gewachsen sein.

»Richte nicht, damit du nicht selbst gerichtet wirst«, hieß es in der Bibel. Doch Richten war nun einmal sein Beruf.

Nach der frischen, klaren Morgenluft roch es in dem veralteten Amtsgericht säuerlich und muffig, wie nach schalem Tabakrauch. Johns war froh, dass er in Kürze in das mit Klimaanlage versehene neue Bezirksgerichtsgebäude einziehen würde.

Ein uniformierter Polizist trat aus einer der Türen. »Guten Morgen, Euer Ehren«, begrüßte er Johns. »Das ist heute das letzte Mal, nicht wahr?«

»Ja, zum letzten Mal«, bestätigte Johns.

Ein Betrunkener grölte hinten im Bunker. Sergeant Mercer war dabei, einen Landstreicher für ein paar Tage hinter Schloss und Riegel zu setzen. Johns überquerte den abgetretenen Holzboden zur Treppe hin, die zum Gerichtssaal hinaufführte, und blieb vor Lieutenant Eagans weit offenstehender Tür stehen. Der kleine Büroraum war gedrängt voll. Er konnte Doktor Avers, den Leichenbeschauer und Gerichtsarzt, Hal Terrill, den Chef der Ermittlungsabteilung, Jim Kelly, den Polizeireporter des Courier, den Bezirkssheriff Bodin und mehrere Detektive der örtlichen Mordkommission erkennen.

Johns trat in das Büro hinein. »Was gibt's?«

Jim Kelly war es, der ihm zuerst Antwort gab. »Scheint so, als ob wir schon wieder einen haben, Euer Ehren.«

»Einen – was?«

Lieutenant Eagan polierte mit einem Stück Tuch die Gläser seiner randlosen Brille. »Sie haben also noch nichts davon gehört, Evan?«

»Wovon gehört?«

Eagan setzte sich die Brille auf die Nase. »Sam Langley ist gestern Abend spurlos verschwunden.«

»Machen Sie keine Witze!«

»Ich wünschte, es wäre so.«

»Was meinen Sie mit spurlos verschwunden?«

»Genau das, was es besagt«, schaltete sich Sheriff Bodin ein. »Entsprechend der Geschichte, die wir haben, saßen er, Mrs. Langley und die Hammonds mitten im Bridgespiel, in seinem feudalen Jagdzimmer, als irgendein streunender Hund Langley mit seinem Heulen so aufbrachte, dass er aus einer der Schubladen eine Pistole nahm, um den Köter zu erschießen oder zumindest zu verjagen. Und das ist das letzte, was sie von ihm gesehen haben.«

Johns zündete sich eine Zigarette an. Die Geschichte hatte alle Elemente eines gesellschaftlichen Juxes. »Ihr wollt mich doch nicht etwa auf den Arm nehmen, weil dies hier mein letzter Tag ist?«

»Beileibe nicht, Richter Johns«, sagte Kelly ernst. »Es ist genau, wie Sheriff Bodin es Ihnen erzählt hat. Ich geh und erschieß den verdammten Köter, sagte er zu seiner Frau und den Hammonds. Ein paar Minuten später hörten sie drei Schüsse. Dann, als Langley nicht zurückkam, ging Hammond hinaus, um nach ihm zu sehen. Aber alles, was er fand, war dessen unabgefeuerte Pistole und eine große Blutlache auf dem zementierten Vorplatz vor der Garage.«

Johns blies den Zigarettenrauch durch die Nasenlöcher aus. »Ich will verdammt sein. Die Pistole war überhaupt nicht abgefeuert worden, sagen Sie?«

Terrill, der auch als ballistischer Experte fungierte, fügte ergänzend hinzu: »Es war schon seit Jahren nicht mehr mit ihr geschossen worden.«

»Sind Sie dessen ganz sicher?«

»Absolut.«

»Vielleicht hat sich Sam einfach auf und davon gemacht.«

Lieutenant Eagan schnaubte verächtlich. »Und lässt eine Keramikfabrik im Wert von einer Viertelmillion Dollar einfach zurück? Nichts da. Im Übrigen ist ja auch noch die Blutlache da.«

Doktor Avers erklärte: »Der Körper des erwachsenen Mannes enthält ungefähr fünf Liter Blut. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber meiner Ansicht nach waren gut und gern drei bis vier Liter auf dem Garagenvorplatz der Langleys ausgeflossen. Kein Mensch überlebt einen derartigen Blutverlust.«

»Ist es von der gleichen Blutgruppe wie Sams?«

»Das prüfen wir gerade mit der Blutbank«, sagte Kelly. »Blutgruppe AB, Rh positiv.«

Eagan platzierte die Füße auf den Schreibtisch, hinter dem er saß. »Und hier ist noch etwas, worüber Sie grübeln können, während Sie heute Vormittag Geldstrafen und dreißig Tage Haft austeilen, Evan. Warum ließ der, wer immer Langley erschossen hat, ihn nicht dort liegen? Wie schaffte er ihn fort? Indem er ihn huckepack davontrug? Die beiden Nachbarn von Langley sagen, sie hörten den jaulenden Hund und die Schüsse, aber beide schwören darauf, keinen Wagen gehört zu haben.«

Johns nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. »Ein regelrechter Kriminalknüller, eh?«

»Allerdings ein Knüller«, bestätigte Kelly. »Gut für die Auflage des Couriers, aber ein harter Brocken für die Witwe. Geradeso wie mit Tom Harper vor zehn oder zwölf Wochen. Nur hat Lieutenant Eagan diesmal noch weniger Anhaltspunkte. Ich geh und erschieß den verdammten Köter, hat Sam als letztes gesagt. Dann sind da die drei Schüsse, von denen er selbst keinen abgegeben hat. Und als Hammond dann nach vier oder fünf Minuten hinter ihm herging – keiner kann sich genau erinnern, wieviel später es eigentlich war –, Abrakadabra, da ist Sam verschwunden.«

»Wie wär's, Evan, sollen wir nicht mal die Rollen tauschen?«, fragte Lieutenant Eagan.

Johns blickte auf seine Uhr. Wenn das Gericht pünktlich zusammentreten sollte, Blieben nur noch zwei Minuten Zeit. »Nein, vielen Dank«, lehnte er das Angebot ab. »Ich fürchte, da müssen schon Sie sich den Kopf zerbrechen, Jack. Aber denken Sie daran, dass ich ab nächster Woche als Bezirksrichter amtiere, und wenn Sie denjenigen finden, der Sam getötet hat – sofern er überhaupt tot ist –, dann bin ich es, der ihn fertigmacht.«

»Das hilft mir im Augenblick wenig«, sagte Eagan.

 

Johns stieg die Stufen hinauf. Die Sache mit Langley machte ihm zu schaffen. Er und Sam waren schon seit Jahren nicht gerade dicke Freunde gewesen, aber sie hatten zusammen die gleichen Schulklassen besucht, und in den Jahren danach, junge, aber schon erwachsene Männer, waren sie gemeinsam fischen und jagen gegangen. Fischen und Jagen waren Sam Langleys große Leidenschaft gewesen. Wenn Johns sich recht entsann, so hatte Sam sich eine Zeitlang ernsthaft mit dem Gedanken getragen, in den staatlichen Forstdienst zu gehen, nur um der Natur verbunden zu sein. Nun, der Tod seines Vaters hatte all das geändert. Langley sen. hatte Sam die keramische Fabrik hinterlassen, Sam hatte Ella Townsend kennengelernt und geheiratet, und nachdem die Flitterwochen abgeklungen waren, fand er sich in dem alltäglichen Allerlei und der Notwendigkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, eingespannt – genau wie Johns. Nur dass Sam in einem Jahr mehr Geld verdiente, als Johns in zehn.

Nur einen einzigen Lichtpunkt gab es in dem Ganzen. Die Hammonds würden durch ihre Erlebnisse bei dem letzten Bridgespiel zweifellos tief erschüttert sein und die Verabredung mit Lou und ihm absagen. Johns schrieb sich dies ins Gedächtnis. Wenn sie tatsächlich absagten, würde er mit Lou einmal ein sehr, sehr ernstes Gespräch führen. Er würde dabei herauszufinden versuchen, was mit ihrer Ehe geschehen war und wie man sie vielleicht noch reiten konnte.

 

 

2.

 

Johns' Richterzimmer im ersten Stock war klein und so stickig und muffig, wie das ganze übrige Gebäude. Er stupfte seine Zigarette aus und wusch sich die Hände in dem gelb verfärbten Waschbecken, das von einem Spritzvorhang aus Nylon verdeckt war.

Nach dem zu urteilen, was er in Eagans Büro gehört hatte, würde der Fall Langley beträchtliches Kopfzerbrechen verursachen. Wie Jim Kelly schon gesagt hatte, hatte Jack diesmal noch weniger Anhaltspunkte als im Fall Harper. Und der Fall Harper lag immer noch unter den unerledigten Akten und würde dort auch wohl liegenbleiben.

Harper war ebenfalls auf mysteriöse Weise verschwunden. Johns ließ sich den Fall durch den Kopf gehen, während er sich an einem sauberen Handtuch die Hände trocknete. Eines Morgens um acht Uhr hatte Tom Harper seiner Frau den üblichen Abschiedskuss gegeben und fuhr in sein Geschäft. Als nächstes hatte Mrs. Harper erst zwei Wochen später von ihm gehört. Ein Monteur der Elektrizitätsgesellschaft hantierte an einem Leitungsmast neben dem See und entdeckte im Wasser das metallisch glänzende Dach einer Limousine. Der Wagen stak in fünf Meter Wassertiefe neben der Brücke. Es war Harpers neuer Buick, den er gerade erst in der Woche davor gekauft hatte. Die Windschutzscheibe war von vier Gewehrkugeln durchbohrt, die man dann in der Polsterung des Rücksitzes wiederfand. Harper selbst lag zusammengekrümmt auf beiden Vordersitzen.

Der Fall war ein Rätsel. Tom trank selten übermäßig. Und selbst wenn er ausnahmsweise betrunken gewesen wäre, hätte er seine Limousine nicht über die Rampe der alten Autofähre ins Wasser gefahren. Tom war in Clay City geboren und kannte jede einzelne Hintergasse und Nebenstraße wie die Linien seiner Hand.

Auch Selbstmord bot keine Erklärung. Tom hatte keinerlei Grund, sich das Leben zu nehmen. Er hatte ein lukratives Geschäft, eine Frau und zwei verheiratete Töchter, die er vergötterte. Außerdem konnte ein Mann sich nicht gut dadurch umbringen, dass er sich durch die Windschutzscheibe hindurch erschoss und dann den Wagen, bereits tot oder im Sterben, in fünf Meter tiefes Wasser fuhr.

Und zu dem rätselhaften Fall Harper, der immer noch seiner Lösung harrte, kam jetzt der Fall Langley hinzu, was sicher seine lokalpolitischen Auswirkungen haben würde. Johns war nur froh, dass die Wahlen vorbei waren.

Hal Class, der Gerichtsdiener, öffnete die Tür des Richterzimmers vom Gerichtssaal her. »Wenn Sie dann soweit sind, Evan...«

Johns faltete das Handtuch zusammen und hängte es zurück auf seinen Halter. »Ich bin's, sobald Sie soweit sind.«

»Haben Sie schon die Sache über Sam Langley gehört?«

»Jack erzählte es mir, gerade als ich heraufkam.«

»Ein tolles Ding, eh?«

»Kann man wohl sagen. Was tut sich im Arrestraum des Gerichtssaals?«

Class bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Das übliche. Nur dass wir wieder mal Willie bei uns haben.«

»Doch nicht Willie Jones?«

»Genau denselben.«

»Jetzt sagen Sie bloß noch, er hat sich wieder mal betrunken und jemand mit dem Messer gekitzelt?«

»Eben das steht im Verhaftungsprotokoll.«

»Das ist jetzt das vierte Mal, nicht wahr?«

»Das fünfte!«

Johns vergewisserte sich, dass seine Krawatte gerade saß. »Ich glaube, ich sollte ihm diesmal als Lehre neunzig Tage aufbrummen.«

Der Gerichtsdiener zuckte die Schultern. »Dadurch käme er im Gefängnis nur in noch schlechtere Gesellschaft. Aber so oder so – eines Morgens wird Willie ernüchtert aufwachen und sich schwer in der Klemme befinden.«

»So wird es wohl kommen.«

»Sie sind soweit?«

»Ja, klar. Fangen wir an, damit wir es hinter uns haben.«

Class, in der Tür zum Richterzimmer stehend, nickte dem anderen Gerichtsdiener im Saal zu, und der sorgte mit dem nötigen Stimmaufwand dafür, dass sich die Zuschauer erhoben, ehe Johns seinen Richterstuhl einnahm. An diesem Vormittag – seinem letzten im Amtsgericht – fühlte Johns sich in ganz merkwürdiger Art amüsiert. In den acht Jahren, in denen er diesem untersten Gericht vorsaß, hatte er ganz klar und deutlich eigentlich immer nur die Worte gehört:

»...ist die Sitzung unter dem Vorsitz des ehrenwerten Richters Evan Johns eröffnet.«

Johns ging hinaus und nahm auf dem hölzernen Lehnstuhl hinter dem leicht erhöhten Richtertisch Platz. Die meisten Bänke des kleinen Gerichtssaals waren von Vorgeladenen und deren Angehörigen besetzt, hauptsächlich Verkehrssündern, aber weiß Gott, wie viele Betrunkene und Raufbolde, die keine Kaution hatten stellen können, noch hinten im »Bunkerwarteten. Es würde eine lange Sitzung werden, er konnte froh sein, wenn er sie bis zwei Uhr hinter sich hatte. Bis er gegessen hatte, würde es drei Uhr werden. Er hatte gehofft, am Nachmittag den Umzug seiner Bibliothek und seines sonstigen persönlichen Eigentums in die neuen Räume des Bezirksgerichts persönlich zu beaufsichtigen und, falls die Zeit dazu ausreichte, hinterher noch etwas Golf zu spielen.

Der verbrannte Schinken und die halbgebratenen Eier vom Morgen lagen ihm schwer im Magen. Und dann war da noch der kleine Streit mit Lou, der ihn ärgerte. Er hatte zu ihr keineswegs schroff sein wollen. Er hatte doch lediglich eine Bemerkung gemacht.

»Rufen Sie den ersten Fall auf«, sagte er.

Der Angeklagte, ein Mann in mittleren Jahren, wurde beschuldigt, die Vorfahrt nicht beachtet und dadurch einen Zusammenstoß verursacht zu haben.

»Bekennen Sie sich schuldig?«, fragte Johns den Mann.

»Nicht schuldig«, antwortete dieser.

»Der Angeklagte möge vereidigt werden.«

Mit einer Hand auf der verschlissenen Bibel, die Hal Class ihm hinhielt, schwor der Mann, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Johns hörte nur mit halbem Ohr zu, wie der für den Fall zuständige Verkehrspolizist mit Hilfe der magnetischen kleinen Modellwagen an der schwarzen Tafel des Gerichtssaales den Unfallvorgang zu erklären versuchte. Seine Gedanken beschäftigten sich mit Sam Langley.

Diese Sache mit Sam war einfach eine Schande. Der Keramikfabrikant, ein netter, bescheidener Mann, war keineswegs der Typ, der sich Feinde machte; zumindest nicht solche Feinde, die ihm mit einem jaulenden Hund eine Falle stellten und ihn dann mit drei Kugeln über den Haufen schossen. Und, wie Jack Eagan sich schon gefragt hatte, warum hatte man ihn dann fortgeschafft und nicht einfach liegen lassen?

Johns merkte, dass der Verkehrspolizist mit seinen Erklärungen fertig war und der Verkehrssünder mit seiner Verteidigung begann. Es war nicht viel dran an dieser Verteidigung. Doch Johns ließ ihn geduldig ausreden, stellte dann und wann eine einschlägige Frage und erklärte den Mann am Ende für schuldig.

»Zwanzig Dollar und die Kosten des Verfahrens. Der Gerichtsdiener möge den nächsten Fall auf rufen.«

Die schier endlose Prozession setzte sich fort, wobei es meist um geringfügige Verkehrsdelikte ging; zu hohe Geschwindigkeit, Überfahren eines Stoppzeichens, falsches Parken, fahren unter Alkoholeinfluss und dergleichen mehr.

Nur einige der Beklagten waren von einem Verteidiger vertreten. Johns hörte weiterhin mit halbem Ohr zu. Er stand in den meisten Fällen auf Seiten des zuständigen Verkehrspolizisten, doch, wenn es die Umstände erlaubten, sah er von einer Bestrafung ab. Ihm war drückend heiß. Er langweilte sich. Er wünschte nur, er hätte ein Glas Wasser mit Bikarbonat. Nur gut, wenn diese letzte Sitzung hier vorbei war. Im Bezirksgericht würde es anders sein. Ein Bezirksrichter muss jede einzelne Sekunde auf dem Posten sein, alle juristischen Raffinessen durchschauen, Gegenargumente zulassen oder ablehnen, den Rechtsanwälten zuhören und verhindern, dass sie die Geschworenen beeinflussen. Er sah dem kommenden Montag erwartungsvoll entgegen.

Class rief: »Willie Jones. Die Tür des Bunkers öffnete sich, ein junger kräftiger Neger kam herausgeschlurft und stellte sich vor Johns' Richtertisch auf. Johns hörte sich die Anklage an und fragte dann:

»Bekennst du dich schuldig, Willie?«

»Nicht schuldig, Sir, Euer Ehren«, sagte Willie. »Wenigstens nicht ganz schuldig. Ich hab' den anderen Kerl doch nur ein wenig mit dem Messer gestochen, nachdem er vorher auf mich losgegangen war. Der einzige Unterschied – er vergaß, sich rechtzeitig zu ducken, und ich nicht.«

Im Zuschauerraum hörte man hier und dort ein leises Lachen. Willie war eine willkommene Unterbrechung der routinemäßigen, monotonen Verkehrsdelikte, und selbst Johns konnte sich das Lächeln kaum verbeißen. Er überflog die Akten mit den Vorstrafen, während der Polizist, der Willie verhaftet hatte, den Fall auseinandersetzte. Class hatte recht. Es war jetzt das fünfte Mal, dass man Willie vor ihn brachte, und er sollte ihm diesmal eigentlich neunzig Tage geben. Andererseits war Willie, sofern er nüchtern war, ein tüchtiger und zuverlässiger Arbeiter. Und außerdem hatte er acht Kinder. Wenn er Willie verdonnerte, würde er Miss Simpkins von der öffentlichen Wohlfahrt auf dem Hals haben. Denn wenn Willie hinter Gittern saß, würde es die Wohlfahrt sein, die seine Familie unterstützen musste.

»Hat er Ihnen Schwierigkeiten gemacht?«, fragte Johns den Polizeibeamten, der die Verhaftung vorgenommen hatte.

»Nein, Sir«, gab dieser zur Antwort. »Willie ging vielmehr ganz von allein zum Streifenwagen hinaus, und während der ganzen Fahrt zum Revier hat er gesungen.«

»Ich bin nicht darauf aus, mich zu besaufen«, schaltete sich Willie ein. »Wirklich nicht, Euer Ehren. Ich hatte nur den ganzen Tag schwer gearbeitet und ging dort rein, um ein kleines Bier gegen den Durst zu trinken. Ich saß dort ganz friedlich und kümmerte mich um niemand, als dieses Großmaul zu streiten anfing.

Dann wollte er mir eine verpassen, und ich zog mein Messer und verpasste ihm auch eine – ein bisschen.«

Wieder klang im Gerichtssaal unterdrücktes Lachen auf. Johns schloss zwischen den juristischen Tatbeständen und dem gesunden Menschenverstand einen Kompromiss. »Dieser Messerstich kostet dich dreißig Tage, Willie, wobei diese dreißig Tage in Anbetracht deiner sonstigen guten Führung ausgesetzt werden. An deiner Stelle würde ich in Zukunft einen großen Bogen um Bier und Whisky machen. Andernfalls wachst du eines Morgens auf und sitzt schwer in der Patsche. Messer und Alkohol vertragen sich eben nicht.«

Willie war zerknirscht und voll von Reue. »Ja, Sir. Und ich danke auch vielmals, Euer Ehren. Sie sehen mich hier nie mehr wieder.«

»Rufen Sie den nächsten Fall auf«, sagte Johns.

»Miss Dale Chambers«, rief Class. 

Der Polizist öffnete die Schranke der hölzernen Barriere, und Johns musterte das Mädchen mit einigem Interesse.

Miss Chambers War neu in Clay City, wenigstens für ihn. Johns versuchte zu beurteilen, ob sie hübsch war, und kam zu dem Schluss, dass dies im eigentlichen Sinne nicht der Fall war. Ihr Gesicht war ein wenig zu breit, die Backenknochen zu hochstehend, und die grauen Augen standen ein wenig zu weit auseinander, als dass man dieses Gesicht vollendet symmetrisch hätte nennen können. Mit ihrem seidigen, strohfarbigen Pferdeschwanz, den langen, schlanken Beinen, den schmalen Hüften und der vollen, sinnlichen Brust, war sie eher vital als hübsch. Johns rutschte unruhig auf seinem hölzernen Sessel herum. Hübsch oder nicht, dieses Mädchen hatte eine ganze Menge, was auf Männer wirkte. Zumindest wirkte sie auf ihn. Er überlegte, wie wohl die Anklage lauten würde. Hoffentlich nicht gerade Prostitution. Dieser Körper sollte nur von einem einzigen Mann liebkost und geschätzt werden. Dass sie eine Prostituierte sein könnte, gab ihm ein merkwürdig unbehagliches Gefühl.

»Danke«, sagte sie zu Williams, dem Polizisten, der sie angezeigt und ihr eben die Schranke geöffnet hatte. »Vielen Dank auch.«

Ihr Lächeln war so einschmeichelnd wie alles an ihr. Johns setzte sich aufatmend in seinem Sessel zurecht. Wie immer die Anklage lauten würde – sie würde nichts mit Prostitution zu tun haben. Das Mädchen kam näher. Es war vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre alt, ihre weit auseinanderstehenden Augen waren noch voller Unschuld und erfüllt von dem Wunder, am Leben zu sein.

Der junge Polizist errötete bis zu den Haarwurzeln seines Igelhaarschnitts. »Oh – keinerlei Ursache.«

Class las die Anklage gegen sie vor. »Sie werden beschuldigt, mit hundert Stundenkilometer in einer Vierzig-Kilometer-Zone gefahren zu sein.«

»Bekennen Sie sich schuldig, Miss Chambers?«, fragte Johns.

Immer noch stand das leise Lächeln auf ihren Lippen, nur war es jetzt Johns' Richtertisch viel näher, und Johns musste dieses vitale, Sex versprühende Mädchen, das da so unschuldig zu ihm aufblickte, bewundern. »Ich schätze, ich bin schuldig«, erklärte sie ihm. Sie hatte einen starken, südländischen Akzent. »Zumindest wenn der Streifenpolizist es sagt. Er muss es schließlich wissen.« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Aber wirklich, Euer Ehren – nicht, dass ich mich reinwaschen will. Ich hatte nur überhaupt keine Ahnung, dass der alte Schlitten, den ich gebraucht gekauft hatte, jemals so schnell fahren könnte.«

Die Zuschauer, die noch im Gerichtssaal waren, lachten. Johns machte diesmal nicht einmal den Versuch, sich das Lächeln zu verbeißen. Nach dem öden, routinemäßigen Vormittag war die Vitalität dieses Mädchens wie ein frischer Wind, der vom See her durch die stickigen Räume blies. Johns hatte geradezu das Verlangen, den Fall ein wenig über Gebühr hinauszuziehen, nur um diese Miss Chambers umso länger vor sich zu sehen. »Wie steht's damit, Williams?«, fragte er.

Der junge Beamte schien nicht recht zu wissen, was er mit seinen Händen machen sollte. »Nun, sie fuhr todsicher über hundert. Ich fuhr vier Häuserblocks hinter ihr her und blickte auf meinen

Tacho. Aber ansonsten war die Straße völlig frei. Und wie Miss Chambers eben sagte, glaube ich nicht, dass sie sich bewusst war, wie schnell sie überhaupt fuhr.«

»Wie kommen Sie zu dieser Schlussfolgerung?«

»Weil sie mich anhupte.«

»Sie tat – was?«

»Sie hupte, müssen Sie wissen. Nun ja, eben mit ihrer Hupe.«

»Wo spielte sich dies ab?«

»Draußen auf der Straße, die am See entlangführt, kurz inner- halb der Stadtgrenze. Vor Chucks Würstchenbude. Ich saß im Streifenwagen und legte gerade eine Kaffeepause ein, als ich einen Wagen mit hoher Geschwindigkeit herankommen hörte. Dann sah ich diesen 48er Plymouth vorbeischießen. Ich blickte aus dem Fenster, sie hupte und Winkte mir zu.«

»Daraufhin jagten Sie mit dem Streifenwagen hinter ihr her?«

»Ja, Sir.«

Johns fühlte sich amüsiert. »Und jetzt sagen Sie mir einmal, Miss Chambers, warum Sie hupten und dem Streifenpolizisten auch noch zuwinkten?«

Das blonde Mädchen dachte über die Frage nach. »Ich kann es eigentlich selbst nicht sagen«, gab sie zu. »Ich hatte gerade meinen Lohn ausgezahlt bekommen, und es war so ein schöner Abend. Ich fühlte mich blendend, und er saß da so ernst und stramm in seinem Streifenwagen. Nun ja, und da hupte ich eben.«

In das darauffolgende Gelächter hinein fragte Johns: »Hatte Miss Chambers getrunken, Williams?«

»Nein, Sir.« Williams sagte es mit Nachdruck. »Keinen Tropfen. Und sie benahm sich ansonsten durchaus korrekt. Sobald ich nur auf meine Sirene tippte, fuhr sie rechts heran und hielt an.«

»Und nun tut es Ihnen beinahe selbst leid, dass Sie sie gestoppt haben?«

Die Verwirrung, die Williams ins Gesicht geschrieben stand, nahm noch sichtlich zu.

Johns widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Mädchen. »Wie lange wohnen Sie schon in Clay City, Miss Chambers?«

»Neun Monate – jetzt schon beinahe zehn.«

»Leben Sie bei Ihren Eltern?«

»Nein, Sir. Allein.« Sie wollte mit der Antwort keine Sympathien erwecken. Es war lediglich eine Feststellung, eine Aussage. »Sehen Sie, meine Mutter und mein Vater starben in Natchez, in den Südstaaten, als ich noch ein ganz kleines Ding war. Verwandte zogen mich auf, bis ich fünfzehn war. Seither stehe ich auf eigenen Beinen.«

»Als was arbeiten Sie?«

»Meistens als Kellnerin.«

»Und wo arbeiten Sie im Augenblick?«

»Im Elite Café.«

»Das ist das neue Restaurant am Hauptplatz, nicht wahr?«

Das Mädchen warf den Kopf zurück, und Johns kam zu dem Schluss, dass sie eine echte Blondine war. Die Haarwurzel waren ebenso hell wie die sich kräuselnden Enden. Dies erregte ihn auf eine merkwürdige Weise. »Ja, Sir«, sagte sie. »Dort ist es. Wie ich schon sagte, bin ich vor zehn Monaten von Natchez heraufgekommen, und ich hab' seither immer dort gearbeitet.«

»Wieviel verdienen Sie in der Woche?«

»Zwei Dollar am Tag und die Trinkgelder.«

»Sind Sie schon früher einmal bestraft worden?«

»Einmal.« Miss Chambers ergänzte ihre Aussage jedoch sogleich. »Nun, es war nicht eigentlich bestraft. Aber ich hatte zu lange geparkt, bekam eine Verwarnung und musste einen Dollar zahlen.«

Während des ihrem Geständnis folgenden Gelächters bemerkte Richter Johns, dass Jim Kelly den Gerichtssaal betreten hatte und mit ernster Miene auf Class einsprach. Um sich vor der Presse keine Blöße zu geben, schlug Johns mit seinem Holzhammer auf den Richtertisch. »Es ist bei diesem Gericht üblich«, sagte er mit ernster, nüchterner Stimme in das eingetretene Schweigen, »Autoraser mit je einem Dollar pro zu schnell gefahrenem Stundenkilometer zu bestrafen. In Ihrem Fall wären das sechzig Dollar, Miss Chambers. Da Sie aber neu in Clay City sind und der Streifenpolizist Williams aussagt, er glaube nicht, dass Sie sich überhaupt bewusst waren, wie schnell Sie fuhren – was auch ich annehmen möchte, da Sie ihn durch Ihr Hupen sogar aufmerksam machten –, verurteile ich Sie zu sechzig Dollar Geldstrafe mit Bewährung.«

Das blonde Mädchen schien verwirrt. »Heißt das, dass ich zahlen muss oder nicht?«

»Siebrauchen nicht zu zahlen – wenigstens diesmal noch nicht.«

Das Mädchen lächelte in seiner freimütigen und doch zurückhaltenden Art. »Danke. Vielen Dank, Euer Ehren.«

»Aber dass mir das nicht wieder vorkommt!«

»Nein, Euer Ehren. Es wird nicht noch einmal passieren.«

Johns sah ihr nach, wie sie durch den Mittelgang den Gerichtssaal verließ. Dann, die Hand bereits am Türknauf, drehte sie sich um und lächelte noch einmal zurück. Erst dann entzog die sich schließende Tür das Mädchen seinen Blicken.  

»Rufen Sie den nächsten Fall auf«, sagte Johns.

Stattdessen trat Hal Class zum Richtertisch. »Sie sollten die Sitzung wenn möglich für ein paar Minuten unterbrechen«, flüsterte er, »Kelly sagt mir eben, Ella Langley sei unten. Sie drohte, alles auf den Kopf zu stellen, weil Jack und seine Leute bisher noch keine Spur von Sams Leiche gefunden haben.«

»Was hat das mit mir zu tun?«

Kelly, der Reporter, kam jetzt ebenfalls an Johns' Richtertisch. »Eigentlich natürlich nichts. Aber Mrs. Langley glaubt, dass Sie, als Sams Freund und der neue Bezirksrichter, vielleicht irgendetwas tun könnten. Und Lieutenant Eagan bittet Sie um den persönlichen Gefallen, in sein Büro herunterzukommen, damit Sie Mrs. Langley beruhigen, ehe sie dort unten wer Gott weiß was ans teilt.«

»Ich verstehe«, sagte Johns. »Natürlich komme ich.«

Er unterbrach die Sitzung für fünfzehn Minuten und ging mit Kelly durch das Richterzimmer und die Treppe hinunter.

»Sie halten Ihr Licht schön unter dem Scheffel, Euer Ehren«, meinte Kelly. »Oder sollte ich Hammer sagen?«

Nicht verstehend, blickte Johns ihn an. »Was meinen Sie damit?«

Der Reporter zuckte die Schultern. »Ach, nur so. Alles, was hier in Clay City Hosen trägt, hat bereits die Vorräte des Elite Cafés verschlungen und dabei gehofft, die kleine, aufregende, blonde Kellnerin würde ihm eine Chance geben. Aber bisher waren es immer nur Rechnungen, die sie austeilte. Bei Ihnen hingegen leuchteten ihre großen, grauen Augen auf. Wie die Augen Mrs. Edisons, als ihr Mann die erste Glühlampe erstrahlen ließ.«

Johns fühlte sich innerlich geschmeichelt, doch war er durchaus nicht amüsiert. »Ich fürchte, Sie übertreiben.«

»Übertreiben? Ich hab' doch selbst gesehen, wie sie Sie anschaute. Und wie kühl Sie zurückblickten.« Der Reporter seufzte. »Jammerschade.«

»Was ist jammerschade?«

»Dass dies heute Ihr letzter Tag im Amtsgericht ist. Weil ich jetzt nach all den Monaten endlich herausgefunden habe, wie ich es der Redaktion ersparen kann, die Geldstrafe für mich zu bezahlen, falls ich mal ein bisschen zu stark auf den Gashebel drücke.«

»Wie?«

»Man muss dazu nur ein nettes, junges Gesicht und hier oben herum...« Kelly illustrierte die Veränderung ins Weibliche. »...etwas haben. Mein Gott, ich würde einen vollen Wochenlohn opfern, um die beiden Dinger nur mal ein ganz klein bisschen an- fassen zu können. Nun, Sie wissen schon, was ich meine.«

»Sie befinden sich mit Ihren Gedanken in der Gosse«, tadelte Johns ihn. »Miss Chambers scheint ein sehr wohlerzogenes junges nettes Mädchen zu sein.«

»Davon bin ich überzeugt«, seufzte Kelly. »Und zumindest kann in Clay City niemand das Gegenteil behaupten. Obwohl wir, weiß Gott, es mit allen erdenklichen Tricks probiert haben.«

 

 

3.

 

Mit ihren vom Weinen geröteten Augen und ihrem zerzausten Haar wirkte Ella Langley noch älter und weniger attraktiv, als Johns sie in Erinnerung hatte. Sie saß auf Lieutenant Eagans Stuhl, tupfte von Zeit zu Zeit ihre Nase mit einem hauchdünnen Etwas und brachte inzwischen die Gesetzeshüter von Clay City abwechselnd in Verlegenheit und zur Verzweiflung.

»Nun, stehen Sie doch nicht alle hier herum und starren mich an! Sie sind doch Polizeibeamte, nicht wahr? Warum tut dann niemand von Ihnen etwas? Gehen Sie und suchen Sie meinen Mann! Oder finden Sie zumindest seinen Leichnam auf. Ein Mann kann doch nicht einfach aus seinem Haus herausgehen und spurlos verschwinden. Sam muss doch irgendwo geblieben sein.«

Johns zog sich einen steiflehnigen Stuhl heran und setzte sich neben sie. »Bitte, Ella! Nimm dich doch ein wenig zusammen. Ich bin überzeugt, dass Lieutenant Eagan und seine Männer das Menschenmöglichste tun.«

Ihre bemalten Finger gruben sich in seinen Unterarm. »Gott sei Dank, dass du hier bist, Evan. Sorge du doch dafür, dass sie endlich etwas unternehmen, um Sam zu finden.«

»Ich bin sicher, sie tun, was sie irgend können«, sagte Johns. Er überlegte einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Wie seid ihr in letzter Zeit zueinander gestanden, du und Sam?«

»Was soll das heißen – wie wir zueinander standen?«

Johns folgte dem einmal eingeschlagenen Gedankengang. »Habt ihr euch in letzter Zeit vielleicht einmal gestritten?« Es war ein verfängliches Thema, und Johns formulierte seine Frage so behutsam wie nur irgend möglich. »Worauf ich hinauswill, ist dieses: Sam hatte keinen sonstigen Grund, sein eigenes Verschwinden zu »inszenieren^ oder?«

»Mach dich nicht lächerlich.«

»Er hatte auch keine drückenden geschäftlichen Sorgen?«

»Nein. Zumindest hat er zu mir niemals darüber gesprochen.«

»Euer Leben zu Hause verlief also harmonisch?«

»Natürlich.«

»Und da war auch keine andere Frau, die in seinem Leben eine Rolle spielte?«

Ella Langley wischte sich mit dem hauchdünnen Taschentuch über die gerötete Nase. »Jetzt wirst du beleidigend, Evan. Du weißt genau, dass Sam und ich seit fünfzehn Jahren glücklich verheiratet sind.«

»Ja, das weiß ich«, sagte Johns. »Aber Männer werden manch- mal von äußeren Umständen dazu getrieben, merkwürdige Dinge zu tun. Und während Sam viel, viel Geld verdiente, weiß ich zufällig, dass er sich in seiner Keramikfabrik keineswegs glücklich fühlte.«

Ella Langley schnüffelte. »Nein. Er hatte den Naturfimmel und wollte lieber Forstangestellter mit lumpigen dreitausend Dollar Jahresgehalt werden oder in eigener Regie eine Fischerei auf- machen. Aber diese albernen Ideen habe ich ihm schon vor Jahren ausgeredet.«

»Ja, davon bin ich überzeugt.«

Ella Langley fuhr fort: »Sams Leben bewegte sich nur zwischen seinem Heim, seinem Geschäft und mir.« Sie schien sich diese Überzeugung fest einreden zu wollen. »Wir waren sehr glücklich miteinander.«

Jack Eagan strich sich mit den Fingern durch sein sich lichtendes Haar. »Ja, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Evan«, sagte er. »Und der gleiche Gedanke ist auch mir schon gekommen. Wenn Sam sein Verschwinden »inszenierte«, könnte man die drei Schüsse, die Mrs. Langley und die Hammonds hörten, eventuell dadurch erklären, dass er eine zweite Pistole bei sich hatte. Aber wie soll man sich dann die Blutlache erklären?«

Doktor Avers wiederholte, was er schon vorher gesagt hatte. »Kein Mensch kann so viel Blut verlieren und es irgendwie überleben.«

»Und es stimmt mit Sams Blutgruppe überein?«

»AB – Rh positiv.«

»Gerede, immer nur Gerede«, sagte Elia Langley. »Das ist alles, was ich seit gestern Abend gehört habe. Geht es denn nicht in Ihre Dickschädel hinein, dass Sam in diesem Augenblick irgendwo im Sterben liegen kann?« Sie sprang von dem Stuhl auf und schlug mit den Fäusten auf den Schreibtisch. »Warum tut denn nicht endlich jemand etwas?«

Lieutenant Eagan versuchte ihr zu erklären, dass er jeglichen Urlaub gesperrt hatte und jeder verfügbare Mann der Polizei von Clay City an dem Fall arbeitete, aber sie hörte ihm überhaupt nicht zu.

»Ihr seid Stümper, blutige Stümper – alle! Ein Mann kann doch nicht einfach aus seinem Haus herausgehen und spurlos verschwinden! Ein Mörder läuft hier frei in der Stadt herum, und ihr alle wisst es! Und wenn ihr Sam nicht findet, jetzt, heute Vormittag, innerhalb der nächsten Stunden, geh' ich ans Telefon und engagiere die beste Privatdetektivagentur in Atlanta.«

Eagan schien leicht verärgert. »Wenn Sie sich davon etwas versprechen, dann bitte tun Sie das.«

»Ich tu's auch«, sagte Ella Langley, »sobald ich nach Hause komme.« Und rachsüchtig fügte sie hinzu: »Dann rufe ich gleich auch den Gouverneur an und sage ihm, die Polizeistellen hier in Clay City hätten völlig versagt, wären bestochen oder hätten Angst vor ihrem eigenen Schatten.«

Eagan sah ihr nach, wie sie aus dem Büro hinausstürmte, und wandte sich dann entschuldigend an Johns. »Tut mir leid, Evan. Ich hätte Kelly nicht zu Ihnen hinaufschicken sollen. Aber ich dachte, Sie könnten vielleicht irgendwie mit ihr fertig werden.«

»Schon gut«, sagte Johns. »Schließlich geht uns das alle an.«

»Oh«, sagte Kelly, »unser neuer Bezirksrichter ist ein weitsichtiger Mann; er denkt jetzt schon an die Neuwahlen in vier Jahren.«

»Mag sein«, gab Johns zu. »Ich denke aber auch an Sam Langley. Sam und ich sind jahrelang enge Freunde gewesen, und er war wirklich ein verdammt netter Kerl. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, warum ihn jemand hätte umbringen wollen.«

»Mir geht's genauso«, bestätigte Eagan. »Selbst wenn wir eine Erklärung für das Blut finden – warum sollte Sam durchbrennen und alles hier aufgeben? Er hatte doch alles, was ein Mann vom Leben erwarten kann. Mehr Geld, als er brauchen konnte, und eine attraktive Frau. Ja, das meine ich wirklich. Heute war sie natürlich in miserabler Verfassung, aber ich habe Mrs. Langley auch schon elegant geschminkt gesehen, und wenn sie will, ist sie immer noch eine sehr hübsche Frau.«

Kelly setzte sich auf Eagans Schreibtisch. »Das bringt mich auf einen Gedanken.«

»Auf was für einen Gedanken?«

»Drehen wir das, was Richter Johns sagte, doch einmal um. Vielleicht ist keine andere Frau im Spiel, sondern ein anderer Mann.«

»Darüber lohnt es sich überhaupt nicht nachzudenken.«

»Aber so was kommt alle Tage vor«, sagte Kelly. »Gerade kam in der Redaktion ein Fernschreiben von UPI durch über irgendeine vierzigjährige Frau aus St. Louis und ihren fünfundzwanzigjährigen Freund. Nur hat diese ihren Gatten mit Rattengift gefüttert.«

Johns nickte. »In einem so verrückten Fall wie diesem muss man alle erdenklichen Möglichkeiten in Betracht ziehen. »Er stand auf. »Nun, also. Ich würde mich freuen, wenn ich irgendwie behilflich sein könnte. Das wissen Sie genau, Jade. Im Augenblick habe ich jedoch von Amts wegen noch ein paar Geldstrafen auszuteilen.« In der Tür des Büros drehte er sich noch einmal um. »Ich will Ihnen bei Ihren Aufgaben zwar keine Vorschriften machen...«

»Ja...?«, fragte Eagan.

»Aber an Ihrer Stelle würde ich den Fall von allen erdenklichen Gesichtspunkten aus überprüfen: Sams finanziellen Status; die Möglichkeit, dass eine andere Frau im Spiel ist; die Möglichkeit, dass Ella einen Liebhaber hat. Sie haben natürlich die Hammonds verhört?«          

»Sogar stundenlang.«

»Hat einer von den beiden irgendwas Ungewöhnliches bemerkt, ehe Sam die Pistole nahm und hinausging, um den Hund zu erschießen?«

Eagan warf einen Blick auf die Verhörberichte, die sich vor ihm auf dem Schreibtisch häuften. »N... nein. Die Hammonds haben nur gesagt, Langley habe den ganzen Abend irgendwie verschlossen gewirkt, als ob er mit seinen Gedanken anderweitig beschäftigt wäre. Sie wissen schon – so als ob ihm irgendwelche geschäftlichen Probleme im Kopf herumgingen. Und dann waren noch die Bridgekarten, die er auf den Tisch legte, bevor er hinausging.«

»Was war damit?«

»Es waren Bridgekarten, wie man sie im Leben vielleicht nur einmal ausgeteilt bekommt.«

Doktor Avers wollte es kaum glauben. »Und statt mit diesen glänzenden Karten das Spiel zu gewinnen, ging er raus, um den Hund zu erschießen?«

»So lauten die übereinstimmenden Aussagen.«

»Merkwürdig«, sagte Johns. »Verdammt merkwürdig.«

Er drehte sich um und stieg die Treppe hinauf. Gott, und nur Gott allein, wusste, was bei der Sache herauskommen würde. Die ruhigen Wasser in Clay City waren still, aber tief. Er persönlich wusste genug, um – wenn es streng nach dem Buchstaben des Gesetzes gegangen wäre – die Hälfte seiner prominenten Bürger, einschließlich ihn selbst, ins Gefängnis zu bringen.

Erst Tom Harper. Jetzt Sam Langley.

Im Richterzimmer hielt er einen Augenblick inne und überlegte, ob er Lou anrufen und sie bitten sollte, zu Ella Langley zu gehen und sich um sie zu kümmern. Dann erinnerte er sich des unfreundlichen Wortwechsels von morgens. Lou würde wahrscheinlich nein sagen, und außerdem würde Ella ihre Gesellschaft gar nicht erwünscht sein.

Er erledigte die übrigen Fälle im Amtsgerichtssaal so schnell wie er nur konnte, aber es wurde doch fast zwei Uhr, bis der letzte Fall aufgerufen wurde. Johns schwitzte; er war redlich müde und abgekämpft. Außerdem war er hungrig und nicht sonderlich erfreut, bei seiner Rückkehr ins Richterzimmer Lou wartend vorzufinden. Sie sah kühl aus und recht vorteilhaft in ihrem leichten Sommerkleid.

Die kleine Meinungsverschiedenheit vom Morgen schien wohl vergessen, denn sie hob das Gesicht, um sich von ihm einen Kuss auf die Lippen geben zu lassen. »Ist das nicht schrecklich, Evan?«

»Du meinst die Sache mit Sam Langley?«

»Natürlich. Was sonst? Ich war völlig außer mir, als ich es in den Zehn-Uhr-Nachrichten über den Rundfunk hörte. Hat die Polizei schon herausgefunden, wer ihn umgebracht hat?«

»Bisher hat sie nicht einmal seine Leiche finden können. Und Ella war da und hat Jack die Hölle heiß gemacht.«

Lou zündete sich eine Zigarette an. »Das war ihr durchaus zu- Zutrauen.«

Johns wusch sich die Hände. »Was führt dich eigentlich in die Stadt? Ich dachte, du hättest draußen so viel Besorgungen für das Essen im Damenclub zu erledigen?«

»Das habe ich schon vor Stunden getan.«

Johns schielte über den oberen Rand des Spritzvorhangs hin- weg. Lou hatte irgendwas im Sinn und wollte etwas. Er hatte zu lange mit ihr zusammengelebt, um das nicht zu wissen. »Also«, sagte er, während er sich die Hände abtrocknete, »...rück schon heraus damit, Lou. Worum geht es?«

Sie drückte ihre Zigarette aus. »Nun ja, es hat sich da etwas Neues ergeben. Würdest du was dagegen haben, Evan, wenn ich für ein paar Tage nach Atlanta fliege? Ich werde im Höchstfall vier Tage fort sein.«

Johns hängte das Handtuch auf den Ständer zurück. »Was gibt's denn da in Atlanta?«

»Das Drei-Staaten-Treffen des Frauenclubs. Und die anderen wollen, dass ich als die hiesige Abgesandte daran teilnehme.«

»Seit wann?«

»Seit May Gordon mich heute Mittag angerufen hat.« Lou setzte ein selbstzufriedenes Lächeln auf. »Ich habe es dir doch damals erzählt, dass ich von Anfang an unsere hiesige Vertreterin sein sollte, aber die Clique um May hintertrieb die Sache und man wählte Ella. Nun, nachdem diese Sache passiert ist, kann Ella natürlich nicht fahren.«

»Ich verstehe.«

»Und May sagte, die anderen wollten wissen, ob ich an ihrer Stelle fahren würde, und ich sagte zu. Du bist mir deshalb doch nicht böse?«

»Warum sollte ich dir böse sein?« Johns setzte sich an seinen Tisch und datierte einen Scheck. »Wieviel Geld wirst du brauchen?«

»Oh, sagen wir zweihundert Dollar. Nein, schreib ihn lieber auf dreihundert aus.«

»So viel? Ich dachte, du sagtest, du würdest nur höchstens vier Tage unterwegs sein.«

Lou zog ein gekränktes Gesicht. »Du weißt, dass ich in Atlanta in die Lage kommen kann, diese oder jene Abgeordnete einladen zu müssen. Sicher willst doch auch du nicht, dass ich darin kleinlich und geizig bin. Schließlich bist du doch jetzt Bezirksrichter. Und es kann doch leicht sein, dass du einmal als Staatsanwalt kandidierst.«

»Das liegt noch in ferner Zukunft.«

»Nun, nachdem du so lange bei den Demokraten bist, würden sie dich sicher nominieren. Und die Männer von einigen der Frauen, die dort sein werden, sind sehr einflussreich. Außerdem könnte ich in den Schaufenstern ein oder zwei Kleider sehen, die mir gefallen.«

Johns zuckte die Schultern und schrieb den Scheck auf dreihundert Dollar aus. So übermäßig viel verlangte Lou ja nun auch wieder nicht. Er hatte ansonsten nichts dagegen, wenn sie nach Atlanta fliegen wollte. Ober die Einzelheiten debattieren konnten sie immer noch, wenn sie zurück war.

Lou faltete den Scheck zusammen und steckte ihn in ihre Handtasche. »Du bist doch immer noch der Liebste, Evan, Wenn ich mich beeile, schaffe ich es gerade noch zur Bank.« Sie küsste ihn flüchtig. »Wir sehen uns dann Montag oder Dienstag wieder. Wann genau, kann ich noch nicht sagen, Liebling.«

Johns blickte ihr nach, als sie aus dem Richterzimmer eilte, und füllte dann den Kontrollabschnitt im Scheckheft aus. Es hatte Zeiten gegeben, da er Lou einen Strauß Blumen für zwei Dollar mitgebracht hatte, und sie hatte die ganze Nacht nicht aufgehört, ihm dafür zu danken. Jetzt, nach vierzehn Ehejahren, nahm sie sich nicht einmal die Zeit, ihm zu sagen, ob sie ein Taxi nehmen oder den Wagen draußen am Flugplatz stehen lassen würde.

Irgendwie bedrückte ihn dies alles. Nicht, dass das Geld eine Rolle spielte; es gehörte Lou ebenso wie ihm. Aber irgendwo auf ihrem gemeinsamen Weg schienen Lou und er etwas verloren zu haben; etwas sehr Schönes, Intimes und anscheinend sehr Zerbrechliches.

Class kam herein, um sich zu verabschieden. »Es hat mich immer gefreut, für Sie zu arbeiten, Evan.«

»Mich hat die Arbeit mit Ihnen ebenso gefreut, Hai.«

Der Chefgerichtsdiener des Amtsgerichts war jedoch nüchtern und realistisch veranlagt. »Dennoch trauere ich nicht etwa wegen dieser Veränderung. Für Sie ist es ein gewaltiger Schritt nach oben. Und eines Tages werde ich mich noch einmal rühmen, für den Generalstaatsanwalt als Gerichtsdiener gearbeitet zu haben.«

Es war merkwürdig, überlegte Johns, dass sowohl Lou als Hai innerhalb von Minuten auf dieses gleiche Thema zu sprechen kamen. Vielleicht war das ein Omen. Andererseits war er durchaus nicht auf den Posten eines Staats- oder Bundesanwalts aus. Irgendwo unterwegs war mit dem, was Lou und er verloren hatten, auch sein Ehrgeiz verlorengegangen. Er wollte auch nicht immer nur über seine Mitmenschen zu Gericht sitzen und sie verurteilen. Was er viel lieber gewollt hätte, wäre, wieder sein Schild an die Tür zu nageln und das Leben eines kleinstädtischen Rechtsanwalts zu führen; eines Rechtsanwalts, der Zeit zum Fischen, Jagen und Golfspielen hatte und Zeit, um seine Frau zu lieben.

»Nun, Sie wissen doch, wie es heißt«, sagte er zu Class. »Südlich der Mason-Dixon-Linie hast du den Mund zu halten und auf dem Posten zu sein, streng an Gott und die Bibel zu glauben und unbedingt Demokraten zu wählen – dann liegst du politisch in jedem Fall richtig.«

Class lachte über diesen alten Gag. »Werden Sie heute Nachmittag Ihre persönlichen Bücher und Sachen ausräumen lassen?«

»Entweder heute oder morgen. Zunächst einmal gehe ich essen. Wir sehen uns dann noch, Class.«

»Ich werde auf jeden Fall hier sein«, sagte der Gerichtsdiener. »Es sei denn, diese Sache mit Sam Langley, die jetzt noch zu der Affäre Tom Harper hinzukommt, kostet uns alle bei den nächsten Wahlen unseren Posten.«

»Nun, die sind erst in vier Jahren.«

Johns stieg zum zweiten Mal die Treppe hinunter. Der Betrunkene schlug immer noch mit einer leeren Blechbüchse gegen das Eisengitter des Bunkers. Und das veraltete Gebäude roch genauso muffig wie am Morgen. Johns war froh, dass er es für immer verließ.

Lieutenant Eagans Tür stand offen, doch von den Männern in seinem Büro war niemand mehr zu sehen. Eagan tat Johns leid. Wenn die Polizei nun keine Fortschritte in der Harper-Sache macht und Sam Langleys Leiche nicht findet, wird in einigen Tagen der Evening Courier – und sei es auch nur, um seine Auflage ein wenig zu erhöhen – sich zum Mitstreiter von Ella Langley machen und nach Eagans Skalp schreien. Und diesen Artikel würde Jim Kelly verfassen, weil das nun eben einmal sein Job war.

Er hatte fast den Ausgang erreicht, als ihn der Sergeant am Empfangstisch von hinten anrief. »Einen Moment, Euer Ehren.«

Johns drehte sich um. »Ja...?«

»Mrs. Johns sagte mir, ich solle Ihnen ausrichten, dass sie den Wagen in der Garage lässt und zum Flugplatz hinaus ein Taxi nimmt.«

»Danke«, sagte Johns, ehe er seinen Weg fortsetzte.

So, er hatte Lou also unrecht getan. Sie war gar nicht gleichgültig und gedankenlos gewesen. Sie war nur allzu erfreut und erregt, als Delegierte zu dem Drei-Staaten-Treffen gewählt worden zu sein. Nun, schließlich war es eine große Ehre für sie, einen Frauenclub, so groß wie den von Clay City, zu vertreten. Auch wenn sie nur als zweite Wahl in Betracht gezogen wurde und Sam Langley sterben musste, damit schließlich sie es war, die nach Atlanta flog.

Die Glocke auf dem vereinigten Gerichtsund Rathaus schlug zweimal voll an, als Johns die Straße hinunter zu dem privaten Club ging, in dem er zu essen pflegte. Er nickte, wenn man ihn erkannte und grüßte, tauschte ein paar freundliche Worte aus und blieb von Zeit zu Zeit stehen, um jemand die Hand zu schütteln. Das Gefühl des Wohlbefindens, das er am Morgen gehabt hatte, kehrte zurück.

Der Nachmittag war ebenso heiter und freundlich, wie es der Morgen gewesen war, nur hatte sich der Wind noch ein wenig verstärkt, und die Mädchen in ihren leichten Sommerkleidern hatten noch mehr Mühe, ihre Röcke herunterzuhalten. Besonders eine von ihnen, hinter der Johns gerade her ging. Der verspielte Wind schlug ihr den Rock hoch und ließ allzu viel von ihren jungen, schlanken Beinen sehen. Vielleicht weil sie blond war, erinnerte sie ihn plötzlich an Miss Dale Chambers. Und Johns war auf einmal gar nicht mehr über den kleinen Zwischenfall amüsiert. Was hatte Kelly doch gesagt?

Alles, was hier in Clay City Hosen trägt, hat bereits die Vorrate des Elite Cafés verschlungen und dabei gehofft, die kleine, aufregende, blonde Kellnerin würde ihm eine Chance geben. Aber bisher waren es immer nur Rechnungen, die sie austeilte. Bei Ihnen hingegen leuchteten ihre großen, grauen Augen auf. Wie die Augen Mrs. Edisons, als ihr Mann die erste Glühlampe erstrahlen ließ.

Johns' Männlichkeit war geschmeichelt. Zwar war die Anspielung des Reporters, die junge Kellnerin sei von ihm sehr beeindruckt gewesen, natürlich lächerlich. Immerhin, solche Dinge kamen vor. Es war überall in den Akten und Zeitungen zu lesen. Johns war ehrlich zu sich selbst. Es war schon Jahre her, dass ihn irgendeine Frau, einschließlich Lou, in der gleichen Art beeindruckt hatte wie Miss Chambers. Um sie zu begehren, brauchte er sie nur einmal anzuschauen. Und solche Reaktionen sind meistens gegenseitig.

Und dann war Kelly in ziemlich drastischer Weise auf ihre – ähm – sexuellen Merkmale zu sprechen gekommen. Trotz des warmen Tages bildeten sich auf Johns' Stirn und Wangen kleine Tröpfchen kalten Schweißes. Er merkte, dass sein Mund trocken war und er Schwierigkeiten beim Schlucken hatte. Was für ein alter Narr er doch war, an so etwas überhaupt zu denken! Doch seine Männlichkeit empörte sich dagegen. War es wirklich so? Schließlich war er gerade erst vierzig und – er suchte Sekundenlang nach einer passenden Bezeichnung – recht distinguiert aussehend. Wenn an dem, was der Reporter behauptete, überhaupt etwas dran war, konnte es zumindest recht interessant sein, Miss Chambers in ihrem Wirkungskreis einmal aufzusuchen. Nun schön, er war jetzt Bezirksrichter. Aber ein Richter hat schließlich genau die gleichen Leidenschaften, Begehren und Schwächen wie jeder andere Mensch.

Auf einen Impuls hin ging er an der Glastür des langweiligen privaten Clubs vorbei, in dem er zu Mittag zu essen pflegte, und lenkte seine Schritte zum Südende des Hauptplatzes. Er redete sich ein, dass er sich vor dem Essen erst noch das Bezirksrichterzimmer, seinen neuen Arbeitsplatz ansehen wollte – und wusste doch genau, dass er sich selbst belog.

Er war das erste Mal im Elite Café. Es war mehr eine Art Schnellrestaurant und Bar, alles verhältnismäßig neu und mit Klimaanlage versehen. Zu dieser frühen Nachmittagsstunde war es nur schwach besucht. Ein schwarzhaariger Mann, wahrscheinlieh ein Grieche, kam hinter der chromblitzenden Theke hervor und bestand darauf, ihm die Hand zu schütteln.

»Welch besondere Ehrung, Euer Ehren.«

Johns sagte das erstbeste, was ihm einfiel. »Wie Sie vielleicht wissen, übernehme ich nächste Woche mein Amt drüben im neuen Gerichtsgebäude, und da dachte ich mir, ich sollte einmal Ihr Essen probieren.«

»Eine Ehre«, betonte der Mann noch einmal. »Ich hoffe, wir können Sie zufriedenstellen, Richter Johns. Ich würde mich glücklieh schätzen, Sie auch in Zukunft zu meinen Gästen zählen zu dürfen.«

Johns folgte ihm den Mittelgang entlang, der mit roten Läufern ausgelegt war, und ließ sich in einer unbesetzten Nische nieder. Er versuchte sich klarzumachen, dass sein Tun sehr töricht war. Jim Kelly hatte außerdem sicher übertrieben. Reporter waren ja dafür bekannt, dass sie aus einem Nichts einen Elefanten  machten. Für das blonde Mädchen, das ein paar Stunden zuvor vor seinem Richtertisch stand, war er sicher nicht mehr als ein angegrauter Jurist. Dennoch, wenn er zurückdachte, war, als sie sich an der Tür noch einmal umdrehte, in ihrem Lächeln ein gewisses Etwas gewesen – vielleicht fast eine Art Versprechen.

Johns überflog die Menükarte, die ihm der Grieche gereicht hatte. Bei seinem Gemütszustand verschwammen jedoch die kleingedruckten Buchstaben vor seinen Augen. Er fühlte, dass das blonde Mädchen vor ihm am Tisch stand, noch ehe sie etwas sagte, und er musste sich zwingen, die Augen zu ihr zu heben.

Sie hatte ihre Kellnerinnen-Kleidung aus glattem pastellgrünem Nylonstoff an. Das Kleid ließ ihre Schultern frei und betonte ihre schlanke Taille unter der vollen Büste. Sie wirkte auf Johns noch viel begehrenswerter als am Vormittag.

»Hallo, guten Tag auch«, lächelte sie.

Ihre Stimme klang ein ganz klein wenig außer Atem. Sie zog die Vokale noch ein wenig mehr nach südstaatlicher Manier in die Länge, als Johns es in Erinnerung hatte. Der natürliche Duft ihres Körpers, frisch, sauber und jung, ließ Johns nur noch stärker schwitzen. Nur mit Mühe formte er das erste Wort auf den Lippen. »Hallo.«

»Ich hatte gehofft, Sie würden herkommen.«

»Es scheint so, als ob ich da bin.«

»Das sehe ich«, sagte sie einfach und natürlich. »Ich bin froh darüber.«

Die Art, wie sie es sagte, wie sie ihn ansah, das Heben und Senken ihrer Brüste und wie sie ihren straffen jungen Schenkel gegen seinen herabhängenden Arm drängte, ließ in Johns keinen Zweifel mehr zurück. Jim Kelly hatte doch recht gehabt. Dieses blonde Mädchen hier fühlte sich in der gleichen Weise zu ihm hingezogen wie er zu ihr – und mit den gleichen Zielen und Absichten. Hier bedurfte es keiner langen Einleitungsmanöver und umständlicher Reden. Alles, was er zu tun brauchte, war, den Ort und die Zeit zu nennen.

Er musste das Ganze natürlich äußerst diskret abwickeln, aber da war ja immer noch die Hütte am See. Johns war jetzt beinahe froh, dass Sam Langley starb. Denn nachdem Lou jetzt in Atlanta war, gab es niemand, dem er Rechenschaft über seine Zeit geben musste. Es könnte sich ein äußerst amüsantes Wochenende daraus entwickeln.

 

 

4.

 

Kurz nach sechs legte sich der Wind, doch der frühe Abend blieb weiterhin lau, mild und freundlich. Johns war sich niemals vorher bewusst gewesen, dass Stunden so langsam verrinnen konnten. Er badete, rasierte sich ein zweites Mal, zog einen frischen Anzug an und nahm sich einen Whisky-on-the-Rocks, ehe er sich zu Tisch begab. Hattie Belle setzte ihm ein viel zu lange gebratenes Roastbeef und nicht ganz gare Kartoffeln vor.

»Sie stochern ja nur in Ihrem Essen«, beklagte sie sich.

Zu einem anderen Zeitpunkt wäre Johns in Versuchung geraten, ihr den Grund dafür zu sagen. An diesem Abend zuckte er jedoch lediglich die Schultern und war froh, dass Hattie Belle nicht im Hause schlief. »Vielleicht liegt's an der Hitze«, log er. »Sobald Sie mit dem Geschirr fertig sind, können Sie gehen.«

»Ja, Sir.«

»Und, Hattie Belle, was ich noch sagen wollte...«

»Ja, Sir?«

»Während der paar Tage, die meine Frau in Atlanta ist, braueben Sie mir nicht eigens Mahlzeiten zu kochen. Das heißt, Sie könnten sich eigentlich das Wochenende freinehmen.«

»Und wo woll'n Sie dann essen?«

»In einem der Restaurants in der Stadt. Und außerdem werde ich vielleicht übers Wochenende fischen gehen.«

»Fischen und angeln«, schnaubte das farbige Dienstmädchen verächtlich. »Das ist alles, woran die Männer denken. Der meinige hat dadurch mehr Jobs verloren –Sie merkte offenbar, dass ihre persönlichen Angelegenheiten Johns nicht interessierten, und ließ den Satz unvollendet. »Na, dann dank' ich auch schön, dass Sie mir die Tage freigeben.«

Johns wartete, bis sie ging und er allein im Haus war, ehe er sich einen weiteren Whisky nahm. Es war der letzte Rest Alkohol im Schrank. Ehe er sich mit Dale traf, würde er irgendwo eine oder zwei Flaschen kaufen müssen. Es fiel ihm immer noch schwer, an die unwahrscheinlich einfache Art zu glauben, in der ihr Rendezvous arrangiert worden war.

»Was haben Sie heute Abend vor?«, hatte er gefragt.

»Mit Ihnen ausgehen«, hatte sie erklärt. »Aber ich weiß, wie das bei einem Mann wie Ihnen ist. Sie können sich nicht gut mit mir öffentlich sehen lassen.«

»So?«

»Ja. Parken Sie unten an der Seestraße, bei den Buchen, gleich hinter dem Schulhaus.«

»Und?«

»Ich werde, so schnell ich von der Arbeit hier weg kann, fünf Minuten nach zehn dort sein. Wissen Sie, wo wir hingehen können? Ich will in keinen Nachtclub und kein Café mit Musikbox.«

»Ja.«

»Also dann parken Sie dort, wo ich Ihnen sagte, und ich werde kommen.«

Das war alles. Johns kam ein Gedanke, der ihn amüsierte. Wenn Kelly jetzt wüsste, wie sehr er recht gehabt hat, könnte er für den Courier einen Artikel darüber schreiben, der Sam Langleys geheimnisvolles Verschwinden in den Schatten stellen würde.

Die mit dem Ganzen verbundene Gefahr, die Möglichkeit, von irgendjemand mit dem Mädchen zusammen gesehen zu werden, ernüchterte Johns. Selbst der Hauch eines Skandals würde genügen, seiner zukünftigen Karriere als Bezirksrichter ein Ende zu bereiten. Schweißtröpfchen begannen sich auf John's Oberlippe zu bilden, als er an Dales auseinanderstehende kühl-graue Augen dachte, den Druck ihres Schenkels gegen seinen Arm und das geradezu primitive Verlangen, das sie zueinander hintrieb.

Alles in allem erschien ihm das Ziel das damit verbundene Risiko wert. Oder war es das etwa nicht? Kam er lediglich in die gefährlichen Jahre?

Johns leerte das Glas in einem Zug und wusch es im Spülbecken der Küche aus. Er war doch noch gar nicht so alt. Gerade erst vierzig. Und außerdem ging die Initiative mehr von Dale aus, als von ihm. Es verlangte sie nach ihm, geradeso wie es ihn nach ihr verlangte. Aber das war auch alles. Johns hatte weder die Absicht, sich in sie zu verlieben, noch mit ihr ein ständiges Verhältnis anzufangen.

Er ging zur Garage hinaus, suchte einen neuen Angelstock aus Nylon und einen neuen Spinner und legte sie zusammen mit dem verstaubten Anglerkörbchen auf den Rücksitz seines Wagens. Hattie Belle zu sagen, er würde vielleicht angeln gehen, war ihm dabei zunächst nur rein zufällig in den Sinn gekommen. Dabei war es das Beste – und Raffinierteste, schmeichelte sich Johns –, was er ihr überhaupt hätte sagen können. Die Hütte am See lag völlig abgeschlossen. Nur wenige Hütten waren zu dieser frühen Jahreszeit überhaupt bewohnt. Aber falls jemand den Lichtschein sehen und näher herankommen sollte, würden der Angelstock und das Angelkörbchen die Geschichte, die er erzählen wollte, nur noch glaubwürdiger untermauern.

Er fühlte sich jünger, freier, weniger verheiratet als seit Jahren. »Nein, ich habe mich nicht sonderlich gelangweilt«, würde er zu Lou bei ihrer Rückkehr sagen. »Das heißt, ich bin sogar zwei Tage zum See hinaus zum Angeln gefahren.« Und sollte Lou ihn von Atlanta anrufen, würde diese Geschichte auch seine Abwesenheit von zu Hause erklären.

Er ging wieder ins Haus zurück und schloss auf die unwahrscheinliche Aussicht hin, dass es zum Regnen kommen würde, sämtliche Fenster. Dann schloss er sorgfältig die Vorder- und die Hintertür ab und fuhr die fünf Blocks zu dem Konsumwarenladen auf dem Hauptplatz, gegenüber von Clay Citys Rathaus, Amtsgericht und Polizeistation.

Der alte Emery schien amüsiert, als er ihm die Flaschen einpackte und das Wechselgeld zurückgab. »Woll'n wohl ein bisschen feiern, Euer Ehren, eh?«

»Nun, gewissermaßen«, gab Johns zu.

»Ich will Ihnen beileibe keinen Vorwurf machen, Evan«, vertraute ihm der alte Ladenangestellte an. »Ich hab' sie kommen sehen. Ich hab' sie gehen sehen – alle. Ich sah, wie Sie das erste Mal Ihr Rechtsanwaltsschild heraushängten. Ich stimmte für Sie, als Sie das erste Mal für das Amtsgericht kandidierten. Und beileibe nicht jeder junge Anwalt bringt es dann später zum Bezirksrichter.«

»Nein, das stimmt.«            

»Es legt einem große Verantwortungen auf.«

»Ja, das tut es.«

Johns stellte die Tragtasche mit den Flaschen auf den Beifahrersitz seines Wagens und verglich seine Armbanduhr mit der Turmuhr auf dem Rathaus. Ihm blieben noch volle zwei Stunden und fünfzehn Minuten, die er irgendwie totschlagen musste.

In Ermangelung etwas Besseren überquerte er den Platz und stieg die ausgetretenen Stufen zur Polizeistation hinauf. In Eagans Büro schien sich schon wieder eine Art Konferenz abzuspielen. Polizisten in Uniform und in Zivil eilten heraus und hinein wie die Ameisen.

»Was gibt's dort?«, wandte sich Johns an den Sergeant vom Nachtdienst.

Phinny, der Sergeant, stellte den Papp-Kaffeebehälter zur Seite, aus dem er gerade getrunken hatte. »Sieh einer an, wer da kommt! Ich dachte, wir wären Sie für alle Zeiten los.«

Johns zündete sich eine Zigarette an. »Ich war gerade zufällig in der Nähe. Was geht dort in Eagans Büro vor?«

»Eine neue überraschende Entwicklung im Fall Langley.«

»Haben die Jungs seine Leiche gefunden?«

»Das nicht. Sam wird immer noch vermisst.« Phinny griff wieder nach dem Kaffeebehälter, trank und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Soviel ich mitbekommen habe, ist heute am späten Nachmittag ein hohes Tier aus Sams Branche in seiner Keramikfabrik aufgetaucht. Kommt irgendwoher aus Ohio.«

»Was ist daran so Merkwürdiges?«

»Er behauptet, Sam hätte ihm die Fabrik letzte Woche für zweihunderttausend Dollar verkauft – in bar.«

»Er hat – was?«

»Nun, der Mann behauptet, was ich eben sagte. Und überdies hat er den Kaufvertrag und andere Papiere, die es tatsächlich beweisen.«

Johns überquerte den Gang mit dem frisch gebohnerten Linoleumboden zu Eagans offenstehendem Büro. Ein gutgekleideter rotgesichtiger Mann saß in einem der Sessel neben Eagans Schreibtisch. Als Johns eintrat und in der Tür stehenblieb, sagte er gerade: »...nun, Moment mal, Lieutenant. Ich verstehe nicht, was es dabei überhaupt noch herumzureden gibt. Was soll das alles? Langley und ich haben seit Monaten darüber verhandelt. Keiner hat ein Geheimnis daraus gemacht.«

»An welchem Tag wurde der Kaufvertrag über die Keramikfabrik unterzeichnet, Mr. Squires?«, fragte Eagan.

»Am Dienstag vergangener Woche.«

»Wo?«

»Im Büro meines Anwalts in Canton, Ohio.«

Coy White, einer von Eagans Männern, schaltete sich ein. »Das stimmt zeitlich mit dem überein, Jack, was mir Mrs. Langley gesagt hat. Laut ihrer Aussage war Sam am Montag, Dienstag und Mittwoch letzter Woche verreist – geschäftlich.«

»Und hat er ihr, als er zurückkam, gesagt, dass er die Keramikfabrik verkauft hat?«

»Nein, das hat er nicht.«

Eagan zupfte sich den Rest eines Zigarrenblättchens von der Lippe. »Verdammt und nochmals verdammt! Die Sache wird immer nur noch verrückter.«

Mr. Squires lehnte sich in seinem Sessel vor. »Darf ich fragen, was daran so Verrücktes ist, dass ein Fabrikant seine Fabrik an einen Geschäftsmann aus der gleichen Branche verkauft?«

»Sie sagen, Langley habe darauf bestanden, das Geld in bar ausgezahlt zu erhalten?«

»Allerdings.«

»Kam das Ihnen oder Ihrem Anwalt nicht ein wenig merkwürdig vor?«

»Offen gesagt, ja. Aber zu der Zeit nahmen wir beide an, Langley wolle diese Art der Bezahlung aus steuertechnischen Gründen.«

»Mit anderen Worten, Sie und Ihr Anwalt glaubten, Langley wolle die Finanzbehörden betrügen?«

»Nun ja, gewissermaßen. Vor allem, weil er darauf bestand, das Geld in Zehn, Zwanzig- und Fünfzig-Dollarnoten zu erhalten, deren Seriennummern nicht notiert werden sollten. Aber ich sehe immer noch nicht ein, Lieutenant, warum Sie an diesem Geschäft so brennend interessiert sind.«

Eagan sagte es ihm. »Mr. Langley wird vermisst. Er wird seit gestern Abend vermisst, als er seine nahezu vollkommenen Bridgekarten hinwarf, vom Tisch seines Jagdzimmers aufstand und mit einer Verwünschung und der mehrmals laut bekräftigten Absicht, einen jaulenden Hund zu erschießen, sein Haus verließ.«

»Das müssen Sie mir erst einmal erklären, Lieutenant.«

»Ich versuche es ja gerade«, sagte Eagan müde und abgekämpft. »Sehen Sie – bis jetzt, bis Sie heute Nachmittag in Clay City ankamen, haben wir auf Grund bestimmter Faktoren fest angenommen, Mr. Langley sei ermordet worden. Jetzt bin ich mir dessen nicht mehr so sicher.«

»Sie sagen, seine Frau habe von dem Geschäft zwischen ihm und mir überhaupt nichts gewusst?«

»Das behauptet sie wenigstens.«

»Und die zweihunderttausend Dollar, die ich ihm für die Fabrik bezahlt habe?«

»Die werden ebenso vermisst wie Langley.« Eagan schob seinen Stahl zurück und trat neben die Tür. »Schöne Bescherung, Evan, was?«

»Kann man wohl sagen.«

Eagan ließ einen Pappbecher voll Wasser laufen. »Hören Sie – als junge Männer waren Sie und Sam doch ziemlich eng befreundet. Wie stand er zu Frauen?«

»Was meinen Sie damit?«

»Nun, war er wie wild hinter ihnen her?«

Johns dachte zurück an die Jahre der Jugend. »N... nein. Nicht besonders. Ich kann mich an zweimal erinnern, als er sich den anderen Jungs anschloss, um auf Mädchen Jagd zu machen. Aber sonst schien er in dieser Hinsicht niemals besonders aktiv zu sein.«

»So ungefähr hatte auch ich ihn eingeschätzt.«

»In dieser Beziehung ist ihm nicht ein Tüpfelchen nachzuweisen«, schaltete sich wiederum Coy White ein. »Oscar und ich haben seit heute früh die ganze Stadt abgekämmt und ausgefragt. Sie wissen schon – die verschiedenen Absteigequartiere, verschwiegenen Cafés und diskreten Motels, wo man die Zimmer stundenweise mieten kann. Alles, wohin sich ein Mann mit seiner Geliebten verdrücken könnte. Und keiner kannte Langley, außer dem Namen nach.«

Eagan knüllte den leeren Pappbecher in der Hand zusammen. »Ich verstehe das einfach nicht. Wenn Sam vorhatte, Ella sitzenzulassen und durchzugehen, warum hat er sich dann erst die Umstände gemacht, überhaupt von Canton nach hier zurückzukommen, als er das Geschäft mit Mr. Squires abgeschlossen hatte? Und warum die drei Schüsse und das Blut? Warum hat ihn niemand fortfahren sehen? Und womit ist er überhaupt gefahren? Seine beiden Wagen stehen immer noch in der Garage. Jetzt weiß ich nicht einmal mehr, ob ich nach einer Leiche oder nach einem Vermissten suchen soll.«

Johns fragte Eagan, ob seine Leute auch bei Tom Harper schon einmal dessen finanziellen Status überprüft hätten.

»Nein«, gab der Leiter der Mordabteilung zu. »Aber das ist ein guter Gedanke. Coy, hol mir doch mal den Kassierer der First National Bank ans Telefon.«

Johns verließ unauffällig das Büro. Er konnte in der Sache sowieso nichts weiter tun. Und außerdem wollte er nicht in etwas verwickelt werden, was ihn vielleicht dazu zwang, die Verabredung mit Dale fallenzulassen. Nach seiner Meinung konnte es durchaus sein, dass Sam Langley sein bisheriges Leben gründlich satt gehabt hat, die zweihunderttausend Dollar genommen und

Ella und Clay City stillschweigend Auf-nimmer-Wiedersehen gesagt hat.

Es war genau zehn Uhr, als er seinen Wagen in dem Ulmenhain der Straße, die zum See führte, parkte. Nachdem er die Scheinwerfer und den Motor abgeschaltet hatte, war es tiefdunkel und nur noch das Zirpen der Zikaden und das Schlagen seines Herzens zu hören.

Trotz aller gegenteiligen Argumente benahm er sich wie ein Narr. Ein Bezirksrichter traf einfach keine Rendezvous mit einer kleinen blonden Kellnerin, die er erst seit ein paar Stunden kannte. Immerhin, Dale war so ein entzückendes Wesen. Und überdies war sie sich sofort bewusst gewesen, dass man die Angelegenheit äußerst diskret behandeln musste.

»Ich weiß, wie es bei einem Mann wie Ihnen ist«, hatte sie gesagt. »Sie können sich nicht mit mir öffentlich sehen lassen.«

Das erhebende Gefühl seiner Männlichkeit behauptete sich. Er tat nichts, was nicht in dreihundertfünfundsechzig Nächten des Jahres von Ärzten, Anwälten, Betriebschefs, Reichen und Armen, Bettlern und Dieben getan wurde. Alle Männer hatten von Natur aus die gleichen, unumstößlichen Rechte. Somit hatte auch er das menschliche, wenn auch nicht moralische Recht, aus seinem Leben als Mann das möglichste herauszuholen, bevor es für immer vorbei war.

Es war fünf Minuten nach zehn, als ein Paar Scheinwerfer die Straße heruntergeholpert kamen, seitlich in den Baumbestand einschwenkten und ein schwarzer Wagen dicht neben ihm hielt. Dale öffnete die Tür ihres Wagens, und in ihrer Stimme war wieder die leichte Atemlosigkeit, die er schon in dem Café bemerkt hatte.

»Komme ich zu spät?«

Johns musste sich zwingen, die Worte durch seine Kehle herauszubekommen, die plötzlich wie zugeschnürt war. »Auf die Minute.«

»Und Sie halten mich nicht für ein – ein billiges Flittchen?«

»Natürlich nicht.«

Der Geruch ihres jungen Körpers erfüllte den Wagen. Es war zu dunkel, als dass Johns ihr Gesicht hätte sehen können, aber sie schien nach Worten zu suchen. »Ich tue sonst so etwas nie, Mr. Johns. Bitte, glauben Sie mir.«

»Nennen Sie mich ruhig Evan.«

»Also gut, Evan«, sagte Dale. »Es ist tatsächlich das erste Mal, dass ich so etwas mache.« Ihr Atem ging genauso schwer wie der seine. »Aber als ich Sie heute Vormittag hinter Ihrem Richtertisch sitzen sah, nun, ich kann es nicht erklären, aber da war es eben geschehen.«

»Ich fühlte ganz genauso«, gab Johns zu.

Dale rückte ganz dicht an ihn heran. »Warum küsst du mich dann nicht? Ich kann es seit Stunden kaum noch erwarten.«

Sie küssten sich lange, mit fiebernden Lippen, hielten sich fest umschlungen, erfüllt von dem Wunder ihrer Körper, als ob sie der erste Mann und die erste Frau auf Erden wären.

Dann rückte Dale zur Seite und machte sich aus Johns' Armen frei. »Worauf, in aller Welt, sitze ich eigentlich?«

»Ich habe zwei Flaschen Whisky gekauft.«

Aus der Stimme des Mädchens klang leiser Vorwurf. »Du brauchst mich doch nicht betrunken zu machen.«

»Ich weiß«, sagte Johns mit belegter Stimme. »Ich weiß.«

 

 

5.

 

Die Stunden vor der Morgendämmerung lagen dunkel und schwer über der Lichtung. Durch das offene Fenster konnte Johns das leise Schlagen der Wellen am Strande des Sees hören. Er schaute immer nur Dale an und war zufrieden, ihre Hand zu halten. Der gelbliche Schein der Öllampe auf der Kommode verlieh dem kleinen Schlafzimmer eine Atmosphäre der Intimität.

Die Nacht war so wunderbar gewesen, wie er gehofft hatte; etwas, das er niemals vergessen würde. Unangerührt standen die beiden Flaschen Whisky da; eines solchen äußeren Stimulans hatte es nicht bedurft. Er zündete zwei Zigaretten an und reichte eine davon Dale hinüber.

»Tut es dir leid?«, fragte sie ihn.

»Nein.« Johns meinte es ehrlich.

»Mir auch nicht.« Sie lag einen Moment lang da und nahm ein paar Züge aus der Zigarette, die er ihr gab. Dann wandte sie auf dem Kissen den Kopf. »Du bist mir doch nicht böse, wenn ich dir etwas erzähle?«

»Natürlich nicht.«

»Dies ist das erste Mal in drei Jahren, nun, dass etwas wie dieses geschehen ist.«

Johns wünschte, Dale hätte dieses Thema nicht zur Sprache gebracht. Das Wissen, ein anderer Mann vor ihm hätte diesen herrlichen Körper besessen, drückte ihn nieder, erfüllte ihn mit einer Art Eifersucht.

Dale blies eine feine Rauchwolke gegen die Decke. »Er war mein Mann.«

»Du hast ihn verlassen?«

»Nein. Er wurde in den letzten Tagen des Korea-Krieges abgeschossen, als eigentlich schon Waffenstillstand herrschte.«

Das Wissen, dass ihr Mann wie er selbst Flieger war, erfüllte Johns mit heißem Verlangen, sie zu beschützen. »Du armes kleines Ding.«

»Ja, so geht es nun einmal im Leben. Für ein paar Monate war ich die Frau eines Fliegerleutnants. Und ich kann dir sagen, wenn ein Mädchen erst einmal daran gewöhnt ist, verheiratet zu sein, nun, manchmal dachte ich, ich würde glatt den Verstand verlieren.«

»Du armes kleines Ding«, wiederholte Johns.

Und wieder bewegte Dale ihren Kopf auf dem Kissen. »Und ich konnte mich doch nicht auf die billige Art mit irgendeinem beliebigen Mann einlassen.«

»Natürlich nicht.«

Sie lächelte in der ihr eigentümlichen, wehmütigen Art. »Ich hoffte immer nur, einmal würde der Richtige kommen. Und tatsächlich kam er – du!«

Johns fühlte sich geschmeichelt. »Danke, Liebste.«

Dale wurde wieder ernst. »Nicht dass ich die Absicht habe, dich in Schwierigkeiten zu bringen. Ich weiß, es gibt eine Mrs. Johns, und alles, worauf ich hoffen kann, ist, dass wir uns

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Day Keene/Apex-Verlag/Successor of Day Keene.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Günther Hehemann, Christa Heinecke und Christian Dörge.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2021
ISBN: 978-3-7487-8172-1

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /