LUISA FERBER
Tod im Hochhaus
Roman
Apex Crime, Band 216
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
TOD IM HOCHHAUS
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Das Buch
Es begann mit einem hässlichen, bösartigen Hund. Als er den Reifen eines Fahrrads zerbiss, wurde er vom Besitzer, dem jungen Norbert Weber, erschlagen. Und dann fand man die alte Frau Kowalek, die der Tod ihres geliebten Köters fast um den Verstand gebracht hatte, ermordet in ihrer Wohnung auf.
Frau Kowalek hatte keine Freunde gehabt in dem modernen Hochhaus in Mainz, aber wer hatte sie derart gehasst, dass er sie in ihrer Wohnung erschlug?
Luisa Ferber, gebürtige Frankfurterin, lebte längere Zeit in Berlin, bevor sie in Ulm ansässig wurde.
Tod im Hochhaus erschien erstmals im Jahr 1983.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der deutschen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
TOD IM HOCHHAUS
ERSTER TEIL
Es heißt, ein neues Haus verlangt die Geburt eines Kindes oder den Tod eines alten Menschen.
Im neuen Universum-Center in der Römerstraße war bisher weder ein Kind geboren worden noch war ein alter Mensch gestorben. Das Haus wartete ungeduldig und böse auf den ihm gebührenden Tribut.
Hausmeister Heilbronner und sein Hund nahmen den Fahrstuhl und fuhren hinauf zum zwanzigsten Stockwerk. Sie machten ihren täglichen Inspektionsgang.
Ein Oberlichtfenster an der Treppe war über Nacht offen geblieben. Ein nächtlicher Regen wäre eine böse Überraschung gewesen. Meister Heilbronner stieß einen zornigen Laut aus. Rocco, sein Hund, legte die Ohren an.
Die große Treppe schwang sich wie eine breite Wendel um den Fahrstuhlschacht. Auf dem Treppenabsatz machte sich ein ergrauter, unförmiger Kaktus im riesigen Messingtopf breit. Heilbronner wusste, wohin er gehörte. Er hob ihn auf und trug ihn zum neunzehnten Stock vor die Wohnung des Ehepaars Regenbusch, stellte ihn ihnen vor die Tür. Wenn sie beim Türöffnen darüber fielen, war es ihm auch recht. Auf den Treppen durfte nichts abgestellt werden. Alle Mieter wussten es. Sie versuchten es immer wieder. Wenn bei einer Katastrophe oder bei einem Brand das Zeug im Weg war, gab man ihm die Schuld.
Er öffnete mit dem Sechskantschlüssel eines der Milchglasfenster an der Treppe und lehnte sich hinaus. Neben dem Motorhaus des Fahrstuhls horsteten die Turmfalken. Zwei Eier lagen im Nest. Heilbronner sah jeden Tag nach, ob es noch da war und betete, keiner der Penthouse-Mieter möge es entdecken.
»Turmgefühl«, sagte eine Stimme hinter ihm, »ein veritables Turmgefühl, nicht wahr?« Zahnarzt Weinheber deutete mit den ausgelaugten Händen über die Dächer der Stadt. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht, so schön gewohnt wie hier im zwanzigsten Stock!« Sein mageres Gesicht lachte in hundert Fältchen, und sein Zahnarzt-Reklame-Gebiss leuchtete in reinstem Weiß.
»Ich wohne im zweiten, und mir gefällt es auch«, sagte Heilbronner und überlegte zum hundertsten Mal, ob Zahnarzt Weinhebers Zähne wohl echt waren.
»Recht haben Sie, recht haben Sie.« Der Zahnarzt ging schon weiter zum Fahrstuhl. »Aber abends müssen Sie da rausschauen, mein lieber Mann, abends! Das ist ein Erlebnis, ein veritables Erlebnis! Guten Tag!«
Heilbronner kannte den Nachtausblick über die Stadt, die hellen Straßen, die leuchtenden Häuser, die dunkle Silhouette Sankt Martins und den spiegelnden Strom. Er hatte dieses Bild genauso gern im Tageslicht: das Braunrot und Schwarz der Dächer, das Grau und Bunt der Fassaden, das Grün und Braun der Anlagen, den Verkehr in den Straßen, die Schiffe auf dem Strom. Überall war Leben, Farbe, Betrieb.
Der Hausmeister liebte seine Stadt am Fluss mit ihrem Dom, ihren alten Häusern, ihrer römischen Vergangenheit, und er liebte sie erst recht mit ihren neuen Häusern und Straßen, dem neuen Rathaus und der betriebsamen Fußgängerzone; vor allem liebte er das Universum-Center, das sein Haus war. Auf allen Postkarten, in allen Bildbänden wurde das Alte gezeigt, immer nur die alten Mauern, die alten Türme, die vergammelten Winkel und Ecken, als ob man sich seiner neuen Häuser schämte. Die Wolkenkratzer Amerikas galten Generationen als Sinnbild von Fortschritt und Reichtum. Nach dem Krieg bauten diejenigen, die überlebt hatten, ebenfalls Hochhäuser, beileibe keine Wolkenkratzer, aber ein paar Stockwerke höher und bequemer als die alten Häuser, und die Generation nach ihnen wollte sie am liebsten einreißen und die alten, unbequemen und dunklen Wohnstuben wiederhaben. Wir sind doch eine merkwürdige Nation!
Der Hausmeister verriegelte das Fenster wieder, überprüfte die Lichtschalter und bemerkte stirnrunzelnd einen Berg von Zigarettenkippen in der entferntesten Ecke. Liebesleute schätzen die ungestörte Ruhe von Hochhaustreppen in der Nacht.
Die Fahrstuhltür klappte. Rocco knurrte. Heilbronner blickte auf und lehnte sich dann abwartend gegen das Treppengeländer.
Sie waren vielleicht siebzehn. Hatten die Schlafsäcke auf dem Rücken, in den Plastiktüten wohl ihre Verpflegung. Die Jeans saßen so prall, dass sie sich darin vermutlich nicht bücken konnten. Das Haar wucherte ihnen wild und furchterregend um Stirn und Kinn.
»Na, wohin soll es denn gehen?«, fragte Heilbronner von seiner gewaltigen Höhe herab.
Sie reckten die schmächtigen Schultern, hoben frech die Nasen. »Wir besuchen unseren Onkel, haben Sie was dagegen?«
»So, den Onkel! Wer ist das?«
Sie sahen sich an. »Zahnarzt Weinheber!«
»Dritte Wohnung rechts«, sagte Heilbronner gemütlich. »So früh hat der aber noch keine Sprechstunde. Und er ist auch gar nicht da!« Er blieb immer noch stehen. »Wenn ihr aber auf dem Dach übernachten wollt, kann ich euch bloß sagen, mein Hund hat das nicht gern. Und ihr kommt da sowieso nicht rauf. Kein Zugang zum Dach, Herrschaften. Es geht nur durchs Motorhaus. Und da habe ich den Schlüssel!« Er klopfte auf seine Hosentasche. Rocco hob die dunkle Schnauze und zeigte seine kräftigen Zähne.
Sie zogen die Backen ein, kauten lautlos. »Ich glaube, ihr fahrt lieber -wieder runter, was?«
Sie sahen an ihm empor. Er ragte über ihnen wie ein Turm. Sie betrachteten seine Schultern. Seine Hände waren gewaltig. Rocco, der schwarze Schäferhund, stand bei seinen Knien und sah noch gewaltiger aus. Sie grinsten verlegen. »Na, dann gehen wir halt wieder. Nichts für ungut, Chef!«
Heilbronner schaute ihnen nach. Ein Hochhaus hat doch eine merkwürdige Anziehungskraft, dachte er. Sie rümpfen die Nasen, schimpfen es Betonsilo, Bettenburg, Umweltverschandelung, aber an den Wochenenden versuchen ganze Heerscharen, dem Universum-Center aufs Dach zu steigen. Alle suchen sie das Turmgefühl. Sie kommen nie hinauf. Aber sie versuchen es immer wieder.
Heilbronner ging langsam hinunter zum achtzehnten Stock, kontrollierte die Beleuchtung und schritt dann über den Flur zum anderen Ende, wo sich die Nordflügeltreppe um den zweiten Fahrstuhl wand. Es war noch sehr früh am Morgen. Hinter den Wohnungstüren regte sich wenig. Hin und wieder hörte man ein Radio mit den Frühnachrichten.
Seine Mieter waren alle ordentliche Leute. Heilbronner hatte nicht viel an ihnen auszusetzen. Natürlich gab es immer einmal Ärger, Aufregung, Missverständnisse. Es wohnten zu viele alte Leute im Haus, zu viele Rentner, zu wenig junges Volk, erst recht keine Kinder. Es gab keinen Ärger mit Kinderlärm, dafür umso mehr durch die dröhnenden Lautsprecher der Radios und der Fernseher. Es gab zu viele Schwerhörige im Haus. Arme Leute gab es dafür auch nicht; die konnten sich die Mieten hier nicht leisten.
Den meisten Kummer machten ihm die Vergesslichen. Sie vergaßen, die Schlüssel mitzunehmen, wenn sie fortgingen, und der Hausmeister musste nachts aus dem Bett, um ihnen die Haustür aufzuschließen. Am schlimmsten war es, wenn sie in der Wohnung den Schlüssel innen im Schloss stecken ließen. Sie mussten ihm das bezahlen. Nach dem dritten Mal weigerte er sich und ließ sie selbst den Schlosser holen. Danach kam es dann meist nicht mehr vor.
Sie riefen mit aufgeregter Stimme nach dem Hausmeister und hatten es furchtbar eilig, aber wenn er ankam, hatten sie nicht selten vergessen, was sie von ihm gewollt hatten.
Es war ihnen nicht beizubringen, bei jedem, der unten an der Haustür klingelte, erst über die Rufanlage zu fragen, wer da ins Haus wollte. Sie drückten sorglos auf den Öffner, und jeder Bettler, jeder Hausierer und jeder Neugierige konnte ungehindert hereinspazieren.
Sie sicherten ihre Türen mit dreifacher Verriegelung, aber sie öffneten sie jedem Landstreicher und ließen sich von redegewandten Händlern die unglaublichsten Dinge aufschwätzen, für die sie keine Verwendung hatten.
Die Polizei warnte in Zeitungen, im Radio und im Fernsehen: Lasst euch nicht übertölpeln, lasst keine Fremden in eure Wohnungen, kauft nichts an der Haustür, was mehr als drei Mark kostet, unterschreibt kein Papier!
Sie lasen keine Zeitung, hörten kein Radio und schalteten den Fernseher erst ein, wenn die Nachrichten und die Warnungen der Polizei vorüber waren.
Sie zahlten für dieses Nichtbeachten mit verrückten Ratenkäufen überteuerter Waren, die sie nicht brauchten, mit dem Verlust von Wertsachen und Geld, gelegentlich mit dem Leben.
Bettler, Hausierer und ähnlich lästige Zeitgenossen pflegten mit dem Fahrstuhl zum zwanzigsten Stockwerk hochzufahren; von dort aus klapperten sie dann gemächlich und bequem Tür für Tür auf den Etagen ab, jederzeit im Trocknen, im Winter noch im Warmen, und wenn sie zum Parterre kamen, hatten sie gut einen Straßenzug hinter sich gebracht. Mit leeren Händen ging keiner weg.
Heilbronner hob die schweren Schultern. Er verhinderte, was möglich war. Kindermädchen für die Mieter war er nicht. Aber sie kamen nach dem Schaden natürlich zuerst zu ihm und beschwerten sich.
Er las im Vorübergehen die Namensschilder. Gelegentlich schlug ein Hund an. Rocco antwortete nicht. Der andere gab sich zufrieden. An einigen Türen sträubte sich das Fell in Roccos dunklem Nacken. Er roch die Katzen.
Heilbronner sah nach, ob nirgendwo die Schlüssel draußen steckten - es kam oft genug vor. Der Leichtsinn seiner Mieter kannte keine Grenzen. Selbst die Tür ließen sie hin und wieder über Nacht offenstehen. Sie hatten Dreifachriegel innen, aber sie benutzten sie nicht!
Im sechzehnten Stock Kapitän Walter, längst außer Dienst, aber er fuhr immer noch mit seiner Frau um die Welt, mit dem Flugzeug. Drei Tage Penang, drei Tage Manila, drei Tage Kapstadt und drei Tage Santo Domingo. Dann waren sie wieder da.
Im fünfzehnten Regierungsrat Bergmann, nette Leute, alt natürlich, aber von der Sorte, die nicht vergesslich war. Sie blieben für sich, hatten nicht einmal einen Hund, der anderen Hundebesitzern Gelegenheit geboten hätte, sich mit ihnen zu unterhalten. Wenn man keinen Hund hat, braucht man in einem Hochhaus mit keinem Menschen zu reden. Die Fahrstühle ließen gerade Guten Morgen oder Auf Wiedersehen zu, schon stieg man wieder aus. Die Leute im zwanzigsten Stock hatten keine Ahnung, wie die Leute im achtzehnten hießen.
Bergmanns gegenüber wohnte Frau Marker, die Hebamme.
Alle paar Monate hatte sie einen neuen Liebhaber. Immer waren es blutjunge Kerlchen. Immer sah man den Bürschchen auf einen Kilometer Entfernung an, dass sie nichts taugten und Frau Marker nur ausnutzten. Nun, wenn es ihr Spaß machte! Heilbronner war nicht dazu da, auf sie aufzupassen...
Frau Kiel und Sohn im dreizehnten. Charmante Frau, Kleptomanin, stahl wie eine Elster. Der Sohn brachte alles zurück oder bezahlte. Oft genug kam er damit zum Hausmeister, wenn er nicht wusste, woher es stammte. Keiner wollte etwas mit ihr zu tun haben. Keiner ließ sie in die Wohnung. Die Geschäftsleute der Ladenzeile fürchteten sie wie die Pest, und das Personal wich ihr nicht von der Seite, wenn sie kam. Schlimm, schlimm, aber sie schienen Geld wie Heu zu haben! Der Sohn bewachte die Mutter und hatte keinen Beruf. Leute gab es!
Bei Einzles im zwölften lag der Scheuerlappen auf der Fußmatte. Sie waren Schwaben, und die Frau war ein Putzteufel, wie er im Buch steht. Sie lief nur im Hauskittel und mit dem Kopftuch herum. Hin und wieder sah man den Ehemann. Er war die meiste Zeit auf Montage im Ausland. Wenn er im Land war, putzte sie nicht. Aber sobald er wegfuhr, fing sie wieder damit an. Sie putzte nur ihre Wohnung, nie sich selbst. Wie lange sie das wohl treiben würde?
Er ging jedes Stockwerk ab. Im zehnten hatte einer die Glühbirnen der Treppenbeleuchtung ausgeschraubt. Es kam immer wieder vor. Im achten hatte einer sein Fahrrad auf dem Flur neben der Wohnungstür abgestellt. Heilbronner schulterte es und nahm es mit. Er würde es im Fahrradkeller abstellen; sein Besitzer würde es dort suchen.
Ehepaar Pützke im siebten Stock: Er kochte und scheuerte und wusch die Wäsche, wenn er von der Arbeit kam. Sie tat nichts. Es musste ihm Spaß machen, sonst würde er es wohl nicht tun. Es ging den Hausmeister jedenfalls nichts an.
Im sechsten standen jahraus, jahrein vor der Tür der Nordwohnung über Nacht die Joggingschuhe des Bewohners. Sie mussten Größe sechsundvierzig sein und wurden nie gestohlen.
Im fünften Stock des Nordflügels forderten an den Wänden des Treppenhauses wilde Parolen zum Totschlag aller Kapitalisten auf, und im dritten Stock des Südflügels verkündeten Riesenbuchstaben schlicht: Ich bin gegen alles!
Heilbronner hatte sehr viel Hochachtung vor unserer Chemie. Sie hatte das Mittel erfunden, das derartige Inschriften auf Mauern, Wänden und Straßen schnell, sauber und mühelos verschwinden ließ. Heilbronner würde seinen Vize, Herrn Lippert, damit beauftragen. Der pflegte mit seiner Minikamera so was erst zu fotografieren, ehe er es vernichtete. Wenn er es einmal wirklich als Buch veröffentlichte, wie er vorgab, würde sicher die Kunst der Treppe daraus.
Im zweiten Stock wohnte Heilbronner selbst. Hier gab es selten Ärger. Die Froweins waren die meiste Zeit unterwegs; die Zwillinge - der Hausmeister schmunzelte - waren die nettesten Mädchen der Welt; die Vasalls - er schmunzelte stärker Frau Weber, die Musiklehrerin; Frau Kowalek mit ihrem hässlichen Hund; die Witzelbachs - lauter nette Leute. An den Mietern des zweiten Stocks gab es nichts auszusetzen.
Er überging den ersten Stock. Die Versicherung und die Bausparkasse, die dort ihre Büros hatten, ließen sich von ihren eigenen Leuten bewachen. Er fuhr hinunter zum Erdgeschoss, und gerade, als er aus dem Fahrstuhl treten wollte, sah er einen Besucher warten, bei dessen Anblick der Hausmeister schon riechen konnte, von welcher Art dieser Bursche war: Klingelfahrer von der gerissensten Sorte! Den hatte wieder einmal eine bequeme Hausfrau hereingelassen?
Heilbronner versperrte mit seiner massigen Gestalt dem unerwünschten Besucher den Zugang zum Fahrstuhl, ließ die Tür hinter sich zufallen und stellte das Fahrrad ab. »Rocco«, sagte er, und Rocco, mit genau der gleichen guten Nase wie sein Herr ausgestattet, stellte sich tonlos hinter dem Fremden auf. »Na, wohin willst du denn?«, fragte der Hausmeister, der solche Leute nicht mit Sie anredete. »Zum zwanzigsten Stock, wie? Und wohin da?«
Genau wie die Wandersleute, die auf dem Dach zu kampieren versuchten, hatte auch der Fahrensmann das Schild neben der Haustür gelesen. »Zum Zahnarzt Weinheber«, erklärte er freundlich. »Man wird doch wohl noch zum Zahnarzt gehen dürfen?«
»Gehen, das ist das richtige Wort«, meinte Heilbronner vergnügt. »Das läufst du, Bruderherz, Stufe für Stufe! Rocco!«
Der Stoß einer Hundeschnauze in die Knie, Heilbronners harte Hand um seinen Oberarm - der Besucher sah sich plötzlich auf der Treppe. »Los, mein Bester, laufen, zwanzig Stockwerke hoch und wieder runter«, forderte Heilbronner. »Auf, auf, willst du vielleicht den Hosenboden verlieren, oder sonst noch einiges?«
»Was fällt Ihnen ein, ich zeige Sie an!«, zeterte der Klinkenputzer.
»Gewiss, gewiss, aber erst nachher, mein Lieber; nachher gehen wir zur Polizei! Die freut sich immer, wenn sie Kerle wie dich sieht!«
Heilbronner war in Form, der Bettler weniger. Der Hausmeister nahm gemächlich immer zwei Stufen auf einmal. Sein Opfer fing nach fünf Stockwerken an zu stolpern, keuchte, schwitzte. Wenn der Bettler stehenbleiben wollte, spürte er die scharfen Zähne Roccos am Hinterteil. »Los, weiter!« hetzte Heilbronner, »bloß keine Müdigkeit vorschützen! Ich hab’ nicht den ganzen Morgen Zeit, mit dir hier spazieren zu gehen!«
»Ich hab’s am Herz«, beteuerte der Mensch, »ich hab’ ein Emphysem! Wenn ich tot umfalle, sind Sie schuld!«
»Ich nehm’s auf mich«, versprach Heilbronner. »Wo wohnt denn deine Witwe?«
Zwanzig Stockwerke, zwischen jedem Stockwerk sechzehn Stufen, sind eine gewaltige Höhe. Selbst Postboten scheuen davor zurück, erst recht Bettler, die körperliche Anstrengungen fürchten wie Seifenlauge.
Stöhnend, ächzend, schweißgebadet, dampfend wie ein Thermalbrunnen kam der Geschundene oben an. Er ließ sich auf die Treppenstufen vor den Dachwohnungen fallen. »Mein Herz, mein Herz«, wimmerte er und schnappte nach Luft. »Meine Knie! Das ist Tierquälerei! Ich zeige Sie an!«
»Ich geh’ ja mit«, versprach Heilbronner zuversichtlich. »Auf, immer noch keine Müdigkeit vorschützen. Leute wie du rennen doch den ganzen Tag über die Treppen, oder? Jetzt geht es runter, das ist leichter, Freundchen! Und dann gehen wir zur Polizei! Hast du überhaupt so was wie einen Gewerbeschein?« Er packte den Burschen bei der Schulter und stieß ihn die Stufen hinunter, dass er beinahe fiel. Rocco war ihm bereits an den Fersen. »Ich nehme den Fahrstuhl; warte unten auf mich!«
Der Bettelmann rannte über die Teppen, Rocco rannte mit.
Als Heilbronner unten ankam, war der Gast schon verschwunden. Rocco wedelte befriedigt mit der Rute. Das war eine Hatz, was? Schade, dass er dem Kerl nicht die Hosen hatte herunterreißen können. Aber sein Gebieter erlaubte dies unverständlicherweise nicht. Rocco gab die Hoffnung nicht auf. Einmal würde es erlaubt sein! Bei dem Gedanken an dieses Fest wedelte Rocco stärker. Er würde dann schon dafür sorgen, dass die Sache nicht unblutig ausging.
Heilbronner schulterte das Fahrrad und brachte es zum Radkeller. Danach war es Zeit für die Morgenzeitung und das Frühstück.
Auf der Straße betrachtete er nachdenklich die zwanzigstöckige Front seines Hauses. Im blauen Morgenhimmel segelten die Turmfalken. Sie rüttelten ihr Gefieder und stürzten wie braunrote Pfeile zwischen die Bäume und Büsche der Grünanlagen. Aber der Hausmeister hatte keinen Blick für die Vögel. Am elften und dreizehnten Stock rosteten die Balkonträger durch den Putz, und im sechsten Stockwerk würde es auch nicht mehr lange dauern, bis man es sah. Die Hausverwaltung würde Zustände kriegen, wenn er das meldete.
Der Frühverkehr auf der Straße war schon weniger hektisch geworden. Die Geschäfte der Ladenzeile öffneten. In den Büroräumen der Bausparkasse und der Versicherungsgesellschaft klickten die Tischcomputer, schnarrten die Telefone, und im Büro der Hausverwaltung klapperte die elektrische Schreibmaschine von Frau Wutke, der Sekretärin. Hausfrauen schüttelten Betten und Vorleger auf den Balkonen aus. Der Duft von Morgenkaffee und frischen Brötchen überlagerte Auspuffgerüche und Straßenstaub.
»Guten Morgen, lieber Herr Hausmeister«, sagte eine zärtliche Mädchenstimme zu seiner Rechten, und Lily Amelung reckte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen. »Was für ein hübscher Maimorgen, lieber Herr Heilbronner«, murmelte Lulu Amelung und küsste ihn auf die andere
Wange, »Wie wundervoll rasiert Sie immer sind!«
Die türkischen Fensterputzer am. Schönheitsinstitut Aphrodite grinsten. Vom siebten Stock herunter pfiff einer neidisch auf den Fingern. Passanten lächelten, Dr. Weinheber kam mit seinem schwarzen Mercedes aus der Tiefgarage, blinkte, hupte und drohte mit, dem Finger. Die Mädchen warfen ihm eine Kusshand zu. Ali Muhammad, der gerade das Stahlgitter seines Teppichladens aufschloss, rollte die schwarzen Augen und zeigte beim Lachen ein Gebiss, das unmöglich aus nur zweiunddreißig Zähnen bestehen konnte. Während er immer noch lachend seine sandfarbene Katze begrüßte, die in königlicher Haltung auf ihn wartete, winkten die Amelung-Zwillinge noch einmal zurück und verschwanden dann im Eingang von Zuleikas Boutique.
Der Hausmeister schmunzelte. Die beiden waren nun einmal seine Lieblingsmieter, und die Gören wussten das natürlich. Sie konnten ihn um den Finger wickeln, wenn sie es darauf anlegten, und sie nutzten seine Gutmütigkeit schamlos aus. Aber wer ließe sich nicht gern schamlos ausnutzen, wenn es ihm dabei so viel Spaß machte?
Es war wirklich ein schöner Maimorgen, auch wenn in drei Stockwerken die Balkonschienen durchrosteten und die Hausverwaltung darob Zustände kriegen würde.
Er kaufte sich am Kiosk die Morgenzeitung. Die ganze erste Seite war soll mit Meldungen über die beiden Kinder, die seit zwei Tagen verschwunden waren. Die Polizei glaubte, sie seien davongelaufen, und durchkämmte die Anlagen am Strom. Die Eltern fürchteten Kidnapper und eine Lösegeldforderung, die sie arm machen würde fürs Leben. Man haue die beiden an den merkwürdigsten Orten gesehen. Wichtigtuer jeden Alters und jeden Geschlechts schrieben Briefe und telefonierten. Ein Dummkopf verlangte am Telefon zweihunderttausend Mark, und die Polizei schnappte ihn, noch ehe er den Hörer auflegte. Er hatte keine Ahnung von den Kindern. Ein Hellseher behauptete, sie lägen in einem fünfzig Meter tiefen Brunnen. Kein Mensch wusste von einem Brunnen, der so tief war. Selbst die Römer hatten so tief kein Wasser gesucht. Eine Wahrsagerin vermutete sie in Italien. Sie sah sie sonnenbaden am Strand von Rimini. Heilbronner war überzeugt, sie steckten bei einer ahnungslosen Großmutter. Alte Leute lasen keine Zeitung, hörten kein Radio und sahen sich nicht die Nachrichten im Fernsehen an. Er hatte da so seine Erfahrungen!
An der Haustür traf er Frau Weber, die Musiklehrerin, die gerade die Frühstücksbrötchen für sich und ihren Jungen geholt hatte. Sie gingen gemeinsam zum Fahrstuhl. Rocco hielt sich an der Seite seines Herrn und begrüßte Frau Weber mit einem kurzen Schwanzwedeln. Frau Weber hatte Angst vor ihm, und Rocco verachtete sie dafür. Die Musiklehrerin musste immer zwei Schritte auf einmal machen, wenn der Hausmeister bloß gemächlich ein Bein vor das andere setzte.
Während sie auf den Fahrstuhl warteten, reckte sie das schmale, fast kindlich anmutende Gesicht zu ihm empor. Alles an ihr war blass und farblos. Selbst die roten Haare wirkten matt. »Früher«, sagte sie, »früher sollen die Milch und die Brötchen morgens an die Wohnungstür gebracht worden sein, so wie heute noch die Zeitungen!« Sie sprach ein bisschen atemlos und sah mit ihren blassblauen Augen zu ihm auf. Seine Größe schien sie immer wieder zu erschrecken. »Das muss eine schöne Zeit gewesen sein!«
Er hielt ihr die Fahrstuhltür auf und drückte auf den Knopf für den zweiten Stock. »Früher ist alles schöner gewesen«, antwortete er gutmütig. »Aber die -werden auch ihre Sorgen gehabt haben!«
Früher hätte sich kein Hausmeister ein Auto und eine Urlaubsreise nach Jugoslawien leisten und eine schüchterne Musiklehrerin hätte erst recht nicht in einem Hochhaus wohnen können, mit Fahrstuhl, Zentralheizung, Müllschlucker und einem Hausmeister, der die Treppen sauber hielt und die Straße kehrte, und dessen Tochter bei Frau Weber Klavierstunden nahm. Hausmeister Heilbronner hatte an der Zeit, in der er lebte, nichts auszusetzen.
Sie stiegen zusammen im zweiten Stock aus. Frau Weber hatte die Dreizimmerwohnung am Nordflügel. Die Hausmeisterwohnung lag am anderen Ende des Flurs. Frau Weber suchte kurzsichtig in der Handtasche nach ihren Schlüsseln, als der Hausmeister sie am Arm packte und festhielt. Sie sah erstaunt zu ihm auf und folgte dann seinem Blick.
Die Tür ihrer Wohnung stand offen. Man hörte Norbert Weber mit einem Freund telefonieren und ihm erklären, dass irgendetwas eine lausige Gemeinheit sei.
Unter der Tür lauschte eine weißhaarige, grobknochige, große Frau mit vorgerecktem Kopf. Dicht bei ihren Knien stand ein gelb und schwarz gefleckter, hässlicher Hund von unbestimmter Rasse, reckte den Kopf vor und horchte mit.
»Guten Morgen, Frau Kowalek«, sagte der Hausmeister und ging auf die Lauscherin zu.
Im gleichen Augenblick wurde eine entfernte Wohnungstür aufgerissen. »Und wenn du dich auf den Kopf stellst, Vater«, rief die aufgebrachte Stimme Almut Witzelbachs, »ich drehe den Leuten das Zeug nicht an!«
In beiden Wohnungen mussten die Fenster offenstehen. Jedenfalls schlug ein plötzlicher Windstoß die Tür der Weber'schen Wohnung ins Schloss und traf dabei mit voller Wucht die alte Frau an der Stirn. Sie taumelte zurück, verlor das Gleichgewicht und setzte sich mit einem hörbaren Plumps auf den grünen Kunststoffboden des Flurs.
Der Hund kläffte. Der Hausmeister lachte. Rocco legte die Ohren an. Frau Weber eilte herzu und fragte: »Haben Sie sich weh getan?«
Almut Witzelbach betrachtete erstaunt die am Boden sitzende Frau Kowalek, den lachenden Hausmeister und die besorgte Musiklehrerin. »Was ist denn los?«
Der hässliche Hund schoss auf sie zu und schlug seine Zähne in Zehen und Ballen ihres rechten Fußes. Fräulein Witzelbachs Reaktionsvermögen hätte jeden Führerscheinprüfer zufriedengestellt. Ehe er noch wusste, wie ihm geschah, schnellte der gelbe Hund aufjaulend im Bogen zur gegenüberliegenden Flurwand.
»Butzi«, schrie Frau Kowalek und kam ungewöhnlich schnell wieder auf die Beine. Sie stieß die Hand der hilfreichen Frau Weber zur Seite. »Was fällt Ihnen ein, meinen Hund zu treten?«
»Der ist das gewohnt.« Fräulein Witzelbach zog gelassen die Wohnungstür hinter sich zu und ging zum Fahrstuhl. »Hausmeister«, sagte sie, »Sie sollten dafür sorgen, dass dieser Butzi endlich einen Maulkorb kriegt!« Sie neigte verabschiedend den arroganten Kopf und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten.
»Unglaublich, was diese Person sich herausnimmt«, knurrte Frau Kowalek und sammelte ihren winselnden Hund ein. Frau Weber verzog sich wortlos in ihre Wohnung.
»Ihr Hund hat sie gebissen«, erklärte der Hausmeister streng. »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, der Hund muss einen Maulkorb haben, oder Sie müssen ihn abschaffen. Wenn noch einmal etwas geschieht, muss ich das der Hausverwaltung melden!«
»Wie reden Sie denn mit mir?«, fauchte sie zurück und senkte den Kopf wie zum Angriff. »Ich werde mich über Sie beschweren. Sie nehmen sich auch zu viel heraus!«
»Maulkorb«, sagte Heilbronner und lachte schon wieder. Die Frau war einfach komisch. »Und Sie haben gehorcht! Das gehört sich nicht!« Heilbronner und sein Hund gingen weiter und kümmerten sich nicht mehr um sie.
»Diese Friseuse«, brummte Frau Kowalek und streichelte ihren Hund. Sie verschwand in ihrer eigenen Wohnung, die zwischen der Witzelbach'schen und der von Frau Weber lag. Sie schrieb einen Beschwerdebrief an die Hausverwaltung, wo er gelesen und unbeantwortet abgeheftet wurde - von Frau Wutke, der Sekretärin, der Butzi schon dreimal die Strümpfe zerrissen hatte.
In seiner eigenen Wohnung empfing den Hausmeister eine fröhliche Unruhe. Frau Henny und die zwölfjährige Tina standen in der Küche und lauschten mit einer Mischung aus entzückter Neugier und lachendem Staunen den Worten Arthur Vasalls, der ihnen einen Vortrag über Form und Zweck von Kochtopfund Pfannenstielen hielt. Ergab ihnen dabei abwechselnd Töpfe und Pfannen mit den unterschiedlichsten Anfassmöglichkeiten in die Hand und ließ sie erklären, ob ihnen ein Griff angenehm, unangenehm, praktisch oder unpraktisch erschien.
Arthur Vasall war Industrie-Designer und Mieter der Dreizimmerwohnung neben Frau Weber im Nordflügel. Er hatte einen Vertrag mit einer Möbelfabrik, die ziemlich erfolgreich mit Knoll International aus Amerika konkurrierte und außerdem noch eine Tochterfirma unterhielt, die das Beherbergungsgewerbe mit Kochkesseln, Porzellangeschirr und Essbestecken belieferte. Dieser spezielle Kundenkreis verlangte von dem Inhalt seiner großen Küchenschränke nicht nur eine hohe Lebensdauer, sondern auch, dass sich das Zeug hervorragend reinigen und auf engstem Raum stapeln ließ; außerdem sollte es den Benutzern Gefühle wie bequem, luxuriös und möglichst auch noch appetitanregend vermitteln.
Arthur Vasall benutzte mit der größten Selbstverständlichkeit das ganze zweite Stockwerk des Universum-Centers als kostenlose Versuchswerkstatt. Die Mieter ließen sich das nicht nur gefallen, sie fanden es auch noch vergnüglich.
Und so hatte der Designer diesmal ein Dutzend Stieltöpfe und Pfannen der unterschiedlichsten Größen in Frau Hennys Küche abgeladen und unterwies sie im richtigen Anfassen und im Gebrauch dieser Gegenstände.
Rocco konnte den Designer nicht leiden. Der Hund liebte es zwar durchaus nicht, wenn ihn Mieter des Hauses zu streicheln versuchten; er zog Bewunderung aus respektvoller Entfernung vor. Rocco war das dritte Kind im Wurf eines hochadeligen Hundepaares gewesen. Der Züchter hatte ihn dem Hausmeister mit der abschätzigen Bemerkung geschenkt, was bei einem Wurf nach den beiden Erstgeborenen käme, tauge nicht zum Verkauf. Rocco beschämte dieses hochnäsige Urteil über jedes Maß. Er wurde nicht nur ein erlesen schönes Hundetier, sondern auch ein vorzüglicher und intelligenter Wächter seines Hauses und treuer Diener seines Herrn.
Jeder Hund versteht es, wenn er bewundert wird. Er ärgert sich, wenn man über ihn lacht. Er ist beleidigt, wenn man ihn nicht beachtet.
Der Designer lebte in einer Welt der reinen Funktion. Tiere gehörten nach seiner Meinung in den Wald oder aufs Feld, aber auf keinen Fall in eine Hochhauswohnung. Sie waren weder formschön noch praktisch. Ihr ästhetischer Wert war für ihn gleich Null. Als Schutz vor Angreifern und Spitzbuben war ihnen jeder Knüppel, erst recht ein Revolver weit überlegen. Arthur Vasall nahm deshalb die Anwesenheit Roccos stets mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis und befahl bei seinen Besuchen in der Hausmeisterküche kurz und arrogant: »Rocco, verschwinde!«
Roccos sonst so ergebene Bewunderinnen ließen zu, dass ihm ein spindeldürrer und langhaariger Mensch mit schlechten Manieren und der Stimme eines Kastraten vorschrieb, wo er sich aufzuhalten hatte. Rocco hoffte, dass sein großer und starker Besitzer, dessen williger und ergebener Knecht er war, ihm eines Tages befehlen möge, diesen windigen Hausbewohner mitsamt seinen Kochtöpfen zu zerreißen. Leider bestand -wenig Aussicht, dass sein bewunderungswürdiger Gebieter einen solchen Befehl aussprach, solange dieser unverschämte Besucher es fertigbrachte, die Frauenzimmer der Familie zu amüsieren und Rocco aus der Küche zu verjagen.
»Na, Rocco?«, sagte der Hausmeister und klopfte seinem Hund freundschaftlich auf den Hals. »Was stellt der Kerl denn jetzt wieder an?« Er betrat die Küche; in seinem Schatten triumphierte der Hund, denn jetzt wagte es keiner mehr, ihm etwas zu verbieten.
»Ah, der Meister kommt!«, rief der Designer, warf einen Blick auf die Morgenzeitung in Heilbronners Hand, auf den gedeckten Frühstückstisch beim Küchenfenster und wusste, dass er zu verschwinden hatte. »Ich lasse Ihnen den ganzen Krempel da, verehrte Hausfrau«, verabschiedete er sich. »Sie kochen die Woche über damit, und dann unterhalten wir uns wieder. Ihr Tranchiermesser nehme ich mit. Tschüss, meine Damen, guten Appetit, Meister. Meinen Sie, dass ich jetzt mal eben bei der Frau Weber hineinschauen kann?«
»Die ist auch gerade beim Frühstück«, erklärte Heilbronner und ließ sich am Küchentisch nieder.
»Ja, dann also«, sagte Arthur Vasall, nahm das ungewöhnlich große und wie ein Säbel geschwungene Tranchiermesser vom Büfett und begab sich auf den Rückzug. »Rocco, geh weg«, befahl er unfreundlich. Aber Rocco begleitete ihn dennoch bis zur Flurtür und achtete darauf, dass der unhöfliche Besucher auch wirklich ging.
»Sechs Töpfe, sechs Pfannen und zwölf verschiedene Stiele«, seufzte Frau Henny mit einem lächelnden Kopfschütteln. Sie schenkte ihren Lieben den Kaffee ein. »Er sagt, unser Tranchiermesser stamme aus der Zeit vor der Sintflut, aber der Griff wäre interessant. Nächste Woche will er zwei Dutzend verschiedene
Messer mitbringen. Philipp, der Mensch macht aus meiner Küche ein Institut für Warentest!«
»Aber er ist lustig«, stellte Christina Heilbronner mit der ganzen Entschiedenheit ihrer zwölf Jahre fest. »Bloß der Rocco kann ihn nicht leiden.«
»Sei froh, dass du keine Musiklehrerin bist.« Vater Heilbronner goss reichlich Sahne und Zucker in seinen Kaffee. »Der macht die Frau Weber mit seinem Universal-Musikerstuhl noch fertig!«
»Gar nicht«, widersprach Jung-Tina, »die ist ganz begeistert. Es soll ein Stuhl werden, auf dem man Geige, Bratsche, Flöte, Posaune, Cello und überhaupt jedes Musikinstrument spielen kann. Und wenn er es hinkriegt, werden alle Orchester auf der Welt damit eingerichtet, sagt sie. Und sie kann den Herrn Vasall genauso gut leiden wie ich. Und Ihr auch!«, fügte sie triumphierend hinzu und biss herzhaft in ihr Butterbrot. Ihre hellen Augen blitzten vergnügt, ihre blonden Haare ringelten sich im Nacken zu lustigen, kleinen Locken. Sie war ein gesundes, sehr weibliches und zierliches Abbild ihres Vaters.
Pfingsten nahte, und Tina hatte Schulferien. Sie genoss das Frühstück mit Vater und Mutter in der Küche. Tina war noch in dem Alter, wo man das elterliche Zuhause liebte und in dem einem Leute über Dreißig noch imponierten, wie zum Beispiel der Industriedesigner mit seinen erstaunlichen Einfällen. Sie bewunderte die schönen Haare von Fräulein Witzelbach, die mit ihrem Vater nebenan wohnte, die vollkommene Schönheit von Frau Frowein, die heitere Anmut der Zwillinge in den beiden Wohnungen auf dem Flur gegenüber, die sich nach Feierabend in langen indischen Gewändern und barfuß gegenseitig zu besuchen pflegten, und schließlich bewunderte sie auch noch den fünfzehnjährigen Norbert Weber, den hochaufgeschossenen, rothaarigen Sohn ihrer Klavierlehrerin, für den allerdings nur zwei Dinge auf dieser Welt existierten: die Musik und sein Fahrrad. Aber immerhin hatte auch er Tina gegenüber in einem Anfall von Menschlichkeit zugegeben, dass im zweiten Stock des Universum-Centers interessante Leute wohnten.
»Ich bin neugierig, was dabei einmal herauskommt«, gestand Frau Henny. Auf dem geplanten Universal-Musikerstuhl hatten schon alle Leute vom zweiten Stockwerk gesessen und den Designer Maß nehmen lassen, sogar die Frau Kowalek, die Arthur Vasall im Allgemeinen nur ungern in seine Experimente einbezog, weil er deren hässlichen Hund nicht leiden konnte. Butzi bekam bei jedem Zusammentreffen der beiden einen Fußtritt, natürlich nur, wenn Frau Kowalek nicht in Sichtweite war, und der Köter rächte sich damit, dass er unverhofft hinter Türen und Mauervorsprüngen hervorschoss und den Designer in die Beine biss.
Hausmeister Heilbronner, der von Haus aus gelernter Zimmermann war, besaß neben seinem Hausmeisterbüro im Kellergeschoss - gemütlich eingerichtet mit Möbeln und Fußbodenbelägen aus dem Sperrmüll, das blanke Entsetzen von Arthur Vasall - einen Werkstattraum mit Hobel- und Werkbank, in dem der Designer schon zu mancher Feierabendstunde den gutmütigen Hausmeister dazu überredet hatte, Holzmodelle für die aus Kunststoff geplanten Stühle, Tische, Lampen, Bilderrahmen, Kleiderständer und ähnliches nach Vasalls Zeichnungen anzufertigen.
Vor den Ergebnissen dieser Zusammenarbeit schüttelte sich der Hausmeister genauso wie der Designer vor dem gemütlichen Einrichtungsstil von Hausmeisterbüro und -wohnung. Es tat ihrer freundschaftlichen Nachbarschaft keinen Abbruch. Der Hausmeister war entschlossen, niemals ein Möbelstück zu kaufen, das der Designer entworfen hatte.
Arthur Vasall erwartete das natürlich nicht, denn seine Vertragsfirma betrachtete die von ihr hergestellten und vertriebenen Gegenstände als Kunstwerke und verlangte entsprechende Preise. Dass es Leute geben könnte, die Arthur Vasalls Entwürfe verrückt fanden oder denen sie möglicherweise nicht gefielen, kam ihm überhaupt nicht in den Sinn.
Das Erstaunlichste dabei war, dass alle Leute Arthur Vasall für einen Künstler hielten und nur er selbst sich mit aller Entschiedenheit gegen diese Bezeichnung wehrte. Er fühlte sich als Waren-Formgestalter, auf neudeutsch: Industriedesigner, dem Beruf eines Ingenieurs verwandt. Kunst sei, sagte er, was ihm seine Frau zum Essen vorsetzte, oder was die Witzelsbacherin mit den Köpfen der Frauen in ihrem Frisierladen anstellte. Das, was er machte, sei nichts als gute Form und praktisch.
Eine Dame aus der Penthouse-Region nannte ihn einmal einen Stylisten, mit dem Erfolg, dass sie Arthur Vasall damit tödlich beleidigte. Die Dame war für ihn hinfort Luft und unsichtbar geworden.
Hausmeister Heilbronner konnte sich nicht helfen: Arthur Vasall nahm trotz allem nach den Amelung-Zwillingen den zweiten Platz auf der Liste seiner Lieblingsmieter ein.
Arthur Vasall ging über den Flur. Frau Kowalek kam mit zwei Einkaufstaschen am Arm aus ihrer Wohnung. Butzi schoss angriffslustig auf den Designer los und blieb mit gesträubtem Fell, vorgerecktem Kopf und gebleckten Zähnen knurrend vor ihm stehen. Arthur Vasall stand ihm mit dem riesigen Tranchiermesser der Frau Heilbronner gegenüber.
»Frau Kowalek«, sagte er ruhig, »wollen Sie erleben, wie Ihr Hund ins offene Messer rennt? Wenn Sie Ihren Köter nicht zurückrufen, schlachte ich ihn auf der Stelle! Und ich weiß, wie man das macht!« Er fuhr mit der blitzenden Klinge herausfordernd über seinen Daumen. »Haarscharf, meine Dame, haarscharf! Wenn ich draufschlage, war es Notwehr!«
Sie sah ihn einen Augenblick lang schweigend an und presste die Lippen zusammen. Dann bückte sie sich und nahm das Tier am Halsband.
»Warum ist er nur so bösartig?«, fragte Vasall und spielte immer noch mit
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Luisa Ferber/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2021
ISBN: 978-3-7487-8119-6
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