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Leseprobe

 

 

 

 

FRANK KANE

 

 

Der Jazz, der Sex

und der Tod

 

Ein Roman und fünf Erzählungen

 

 

 

 

Apex Noir, Band 8

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER JAZZ, DER SEX UND DER TOD 

1. EIN TOTER KEHRT ZURÜCK (Two To Tangle) 

2. DER JAZZPIANIST (Dead Wrong) 

3. SUMPFBLÜTEN (With Frame To Match) 

4. TÖDLICHE BEWEISE (Dead Drunk) 

5. BRENZLIGE SACHE (A Grave Matter) 

6. DER TRAUMLOSE SCHLAF (Sleep Without Dreams) 

 

 

Das Buch

Johnny Liddell lehnte sich zurück und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

»Sobald die Mordkommission alle Beweise hat, wird Hal unter Mordanklage vor Gericht gestellt, Libby.«

»Können sie das denn?«

»Sie können’s zumindest versuchen«, erwiderte Liddell achselzuckend. »Sie können alle erforderlichen Elemente vorweisen: Vorbedacht, Motiv, Gelegenheit. Das dürfte einen ziemlich klaren Fall ergeben.«

Die Blondine stand auf. »Ich muss zu ihm, Johnny.«

Liddell sah sie an.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin seine Frau und habe, glaube ich, ebenso viel Schuld wie er. Vielen Dank für alles.«

Liddell saß reglos auf seinem Drehstuhl und starrte auf die Tür. Nach einer Weile zerdrückte er seine Zigarette im Aschenbecher, setzte sich den Hut auf und verließ das Büro.

 

Der Band Der Jazz, der Sex und der Tod von Frank Kane enthält dem Roman Ein Toter kehrt zurück (1965) sowie die Erzählungen Der Jazzpianist, Sumpfblüten, Tödliche Beweise, Brenzlige Sache und Der traumlose Schlaf aus dem Jahr 1961.

Der Apex-Verlag veröffentlicht Der Jazz, der Sex und der Tod in seiner Reihe APEX NOIR, in welcher Klassiker des Hard-boiled- und Noir-Krimis als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

  DER JAZZ, DER SEX UND DER TOD

 

 

 

 

 

 

  1. EIN TOTER KEHRT ZURÜCK (Two To Tangle)

 

 

 

Erstes Kapitel

 

 

Der Mann auf dem Besucherstuhl war alt und müde.

Weiße Bartstoppeln glitzerten auf seinem Kinn. Seine Augen waren stumpf, farblos und fast unter verfärbten Tränensäcken verborgen. Eine dünne Schweißschicht glänzte auf seiner Stirn. Er saß vorgebeugt und sah zu, wie Liddell den Zeitungsausschnitt las, den er mitgebracht hatte.

Liddell hatte den Text gelesen und betrachtete prüfend die Zeichnung von dem Gesicht eines Mannes. »Das ist nur eine Zeichnung, wissen Sie. Kein Bild.«

»Ich weiß. Aber für mich ist sie gut genug, um ihn zu erkennen. Das ist der Mann.«

Liddell kratzte sich am Kinn. »Aber hier steht, dass er vor zwei Tagen bei einem Autounfall draußen auf Long Island ums Leben kam.«

»Das ist eine Lüge. Er ist tot, weil ich ihn umgebracht habe. Aber ich habe ihn vor sechs Monaten getötet.«

Liddell legte den Zeitungsausschnitt auf den Schreibtisch. »Mit der Beschaffung einer Grabstelle hat er sich ziemlich viel Zeit gelassen. Nach dem, was hier steht, hat er das gerade erst erledigt.«

»Das ist ein Trick. Die Polizei versucht, mir eine Falle zu stellen.« Der alte Mann leckte sich die Lippen. »Begreifen Sie nicht? Seit sechs Monaten halte ich mich verborgen. Sie wollen, dass ich aus meinem Versteck herauskomme, damit sie mich einsperren können, weil ich ihn ermordet habe.«

Liddell überlegte und zuckte die Achseln. »Weshalb sollte man sechs Monate warten, um Ihnen eine Falle zu stellen? Weshalb gibt man nicht gleich, nachdem es passiert ist, bekannt, dass der Mann in Ordnung war?«

»Woher soll ich das wissen?« Der Mann in dem Besucherstuhl erhob sich. Martin Gunson war ein starker Mann gewesen. Jetzt hing die Kleidung in Falten um seine magere Gestalt, und sein teurer Anzug war zerknittert. Er lehnte sich über den Schreibtisch und deutete mit seinem knochigen Zeigefinger auf den Zeitungsausschnitt. »Es muss eine Falschmeldung sein. Wie konnte er bei einem Autounfall umkommen, wenn ich selbst den Abzug gedrückt habe? Ich kann ihn nicht verfehlt haben. Ich stand so nahe vor ihm, wie ich vor Ihnen stehe. Ich sah, wie ihm das Blut aus Mund und Nase schoss. Ich sage Ihnen, ich habe ihn umgebracht.«

»Schon gut, schon gut«, beruhigte ihn Liddell. Er wartete, bis Gunson sich wieder auf seinen Stuhl fallen gelassen hatte. »In der Zeitung steht, er hieß John Doe. Unter welchem Namen haben Sie ihn gekannt?«

»Harlan Johnson.« Gunson rieb sich die Augen. »Er ist es auf dem Bild. Ich kann mich nicht täuschen. Ich habe dieses Gesicht zu oft in meinen Träumen gesehen, um mich zu täuschen.«

Liddell griff in das untere Schreibtischfach und holte eine halbvolle Flasche und zwei Pappbecher heraus. »Erzählen Sie mir, wie Sie ihn getötet haben.« Er füllte den einen Pappbecher zur Hälfte mit Whiskey und hielt ihn dem alten Mann hin. In den anderen goss er sich selbst etwas Scotch. Gunson hob den Becher mit zitternder Hand an den Mund. Ein wenig Whiskey lief ihm aus dem Mundwinkel und tropfte vom Kinn. Er wischte sich mit dem linken Handrücken über den Mund.

»Es fing an, als ich dieses Mädchen kennenlernte. Sie war anders als alle Mädchen, die ich je gekannt habe. Schön und freundlich.« Er zuckte die Achseln. »Ich alter Mann hätte es besser wissen sollen. Aber ich konnte nicht von ihr lassen. Sie warnte mich, dass sie einen Ehemann habe, dass er furchtbar eifersüchtig sei. Selbst das brachte mich nicht von ihr ab.« Er trank den Becher leer und hielt ihn Liddell hin, der ihn wieder füllte.

»Die Nacht, in der Sie ihn töteten«, erinnerte er den alten Mann. »Erzählen Sie mir von der Nacht, in der Sie ihn töteten.«

Gunson leerte den Pappbecher, zerknüllte ihn in der Faust zu einem Ball und warf ihn in den Papierkorb. Er atmete tief und fing an.

»Wir waren gerade zu Sallys Wohnung zurückgekehrt. Das war ihr Name, Sally Johnson. Den ganzen Abend über war sie nervös gewesen. Sie lebte getrennt von ihrem Mann, aber er kam immer wieder zu ihr und bedrohte sie.« Der alte Mann kaute an seinem Daumennagel. »Sie hatte schreckliche Angst vor ihm. Wir saßen bei ihr auf dem Sofa und unterhielten uns, als wir plötzlich hörten, wie ein Schlüssel in das Schloss gesteckt wurde. Ehe ich von dem Sofa aufstehen konnte, stand er im Zimmer.« Mit zitterndem Finger zeigte er auf den Zeitungsausschnitt. »Der da.«

Liddell nickte ihm zu, fortzufahren.

Der alte Mann holte tief Atem. »Er stand da und blickte uns an. Er hielt die Hand in der Tasche, als habe er einen Revolver bei sich. Er bedachte sie mit ein paar ziemlich üblen Schimpfworten, und als ich versuchte aufzustehen, zog sie mich auf das Sofa zurück. Sie erklärte mir, er sei verrückt und würde uns beide umbringen, wenn ich irgendetwas unternähme.« Gunson leckte sich die Lippen. »Das machte ihn wahnsinnig. Er stürzte auf uns zu und schlug ihr mit der Hand ins Gesicht. Er schlug immer weiter. Ich war erstarrt, entsetzt. Sie schrie, aber ich konnte ihr nicht helfen. Dann zog sie plötzlich einen Revolver unter einem der Kissen auf dem Sofa hervor. Johnson griff nach der Waffe, aber ich erreichte sie zuerst. Ich sah den Ausdruck seines Gesichts, als er die Hand wieder in die Tasche steckte.« Er brach ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. »Ich drückte den Abzug. Die Kugeln rissen ihn aus dem Gleichgewicht, und er stolperte zurück. Das Blut spritzte ihm aus Mund und Nase. Überall war Blut – auf seinen Händen, seinem Hemd...« Er brach ab und begrub das Gesicht in den Händen, als wolle er das Bild wegwischen.

»Sie hätten zur Polizei gehen sollen, das war Selbstverteidigung«, erklärte Liddell.

Der alte Mann nahm die Hände vom Gesicht und schüttelte den Kopf. »Es war Mord. Als wir ihn untersuchten, fanden wir keinen Revolver in der Tasche. Er hatte geblufft. Ich... ich konnte den Skandal sowieso nicht gebrauchen.«

»Was haben Sie also getan?«

»Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sally erklärte mir, ich solle davonlaufen. Sie habe ein paar Freunde, die ihr helfen würden. Ich lief also davon, und seither tue ich nichts anderes mehr.« Er zeigte wieder auf den Zeitungsausschnitt. »Dann stieß ich auf diese Falschmeldung, die mich aus meinem Versteck herauslocken soll.«

Liddell trank einen Schluck Scotch und stellte den Becher auf die Schreibtischplatte. »Wenn es eine Falschmeldung ist, sollte es nicht allzu s da wer sein, das festzustellen. Ich werde am Leichenschauhaus vorbeifahren und nachsehen, ob dieser John Doe ein vermisster Kunde von mir ist.«

»Wenn das Ganze eine Falle ist, wird man dann nicht versuchen, Ihnen zu folgen? Werden Sie sie dann nicht geradewegs zu mir führen?«

Liddell grinste. »Das ist schon versucht worden. Aber niemand hat es dabei zu einer guten Durchschnittsleistung gebracht.« Er studierte das Gesicht des alten Mannes. »Haben Sie irgendetwas an diesem Mann bemerkt, das helfen könnte, ihn zu identifizieren?«

Gunson dachte einen Augenblick nach und nickte. »Als er in jener Nacht so wütend wurde, trat eine schmale Narbe vor, die etwa hier über seine Kinnbacken lief.« Er zog eine Linie von etwa fünf Zentimetern über seine Backen. »Sie wurde leuchtend rot, als er Sally verprügelte.« Er zuckte hoffnungslos die Achseln. »Das da draußen ist er nicht. Das kann nicht sein. Niemand stirbt zweimal. Er ist seit sechs Monaten tot.«

»Dann ist das nicht sein Bild. Ich bin sicher, dass drüben im Schauhaus eine Leiche liegt. Ob es Ihr Bursche ist oder nicht, ist eine andere Sache. Das müssen wir als erstes feststellen. Wollen Sie sich nicht etwas ausruhen, während ich mir die Leiche ansehe?«

»Wo? Ich kann nicht nach Hause gehen. Wenn es eine Falle ist, werden sie dort nach mir suchen.«

Liddell kritzelte eine Notiz auf das obere Blatt seines Schreibblocks und reichte es dem alten Mann. »Gehen Sie damit zum Hotel Carson. Ed Saunders ist dort Geschäftsführer. Er wird sich um Sie kümmern, bis ich zurückkomme.«

Gunson nahm den Zettel und las ohne Neugier. »Wo ist das Hotel? Ich habe nie davon gehört.«

»Auf der Forty-seventh Street, am anderen Ende der Sixth Avenue. Es ist eine Flohkiste, aber als Versteck geeignet, bis wir beschlossen haben, was wir als nächstes unternehmen.«

»Ich glaube, es wäre nicht gut, wenn ich mich unter meinem eigenen Namen eintrage, nicht wahr?«

Liddell schüttelte den Kopf. »Nein. Schreiben Sie sich unter dem Namen Mike Lewis ein. Ich werde unter diesem Namen nach Ihnen fragen.«

Der Mann auf dem Stuhl nickte. Er stand müde auf. »Ich weiß, es ist Zeitverschwendung. Er wird nicht dort sein. Aber ich muss es wissen. Ich kann nicht bis zu meinem Tod im Unklaren darüber bleiben. Werden Sie lange brauchen?«

Liddell schüttelte den Kopf. »Es wird nicht lange dauern.«

Der alte Mann nickte und schlurfte zur Tür. Er blieb mit der Hand auf der Klinke stehen und drehte sich um. »Glauben Sie, dass jemand wegen des Mordes hinter mir her ist? Glauben Sie, dass sie deshalb die Falle aufgestellt haben?«

»Wenn es eine Falle ist, ist das möglich. Kennen Sie jemand, der hinter Ihnen her sein könnte?«

Der alte Mann dachte einen Augenblick nach und nickte. »Es ist eine Falle. Es muss eine sein. Er ist seit sechs Monaten tot. Ein Mann, der seit sechs Monaten tot ist, läuft nicht in der Gegend herum und lässt sich von einem Auto anfahren.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Gibt es jemand, der wegen des Mordes hinter Ihnen her sein könnte?«

Gunson zögerte. »Ich habe über diese Sache alles gesagt, und ich werde nicht mehr sagen, bis dass ich weiß, ob es eine Falle ist oder nicht.« Er öffnete die Tür, trat in das Vorzimmer und schloss die Tür hinter sich.

Liddell nahm seinen halb leer getrunkenen Becher, ging um den Schreibtisch herum und sank in seinen Sessel. Er nahm den Zeitungsausschnitt und betrachtete mit gerunzelter Stirn das Gesicht, das ihn ausdruckslos anstarrte. Der Text unter dem Bild lautete:

Kennen Sie diesen Mann? Die Polizeidienststelle von Meadowville, LJ., meldet, dass das Opfer eines Verkehrsunfalls am frühen Montagmorgen auf der Long-Island-Durchgangsstraße bis Redaktionsschluss noch nicht identifiziert werden konnte. Die Dispatch veröffentlicht ein Portrait von ihm, für den Fall, dass er ein Einwohner von New York City ist. Wer das Opfer erkennt, wird gebeten, das Polizeikommissariat von Meadowville, L.I., zu unterrichten. 

Die Tür zu dem Privatbüro öffnete sieh und Pinky, Liddells rothaarige Sekretärin, trat ein. »Seit wann arbeiten wir für die Fürsorge?«, wollte sie wissen.

Liddell legte den Zeitungsausschnitt auf den Schreibtisch.

»Was soll das heißen?«

Der Rotschopf wies mit dem Kopf zur Tür. »War das ein Kunde?«

Liddell nickte.

»Das eben meine ich. Womit wird der seine Rechnung bezahlen? Mit leeren Sodaflaschen und alten Zeitungen?«

»Wann werden Sie endlich damit aufhören, vorschnelle Schlüsse zu ziehen?«, wollte Liddell wissen. Er zog die oberste Schublade seines Schreibtischs auf und nahm einen Scheck heraus. Er schob ihn ihr über den Schreibtisch zu. »Sieht das nach leeren Sodaflaschen und alten Zeitungen aus?«

Der Rotschopf nahm den Scheck auf, sah ihn einen Augenblick an und pfiff leise. »Sie glauben, er ist gedeckt?«

»Es sei denn, die Gunson-Schifffahrtslinie ist bankrottgegangen.«

Pinky runzelte die Nase und schüttelte den Kopf. »Da sieht man’s wieder. Ich habe mir vorgestellt, dass sich ein Millionär wie Martin Gunson auch wie einer anzieht und aussieht wie ein reicher Mann. Was sollen der Bart und die ausgebeulten Knie?«

»Er hat einen schlimmen Schock bekommen. Seither ist er viel unterwegs. Selbst einem Millionär wächst ein Bart, wenn er sich nicht rasiert, und die Knie beulen sich aus, wenn er keine Zeit hat, seine Hose aufbügeln zu lassen.«

»Als nächstes werden Sie mir erzählen, dass Millionäre wie gewöhnliche Leute bezahlen.« Der Rotschopf legte den Scheck auf den Schreibtisch zurück. Sie betrachtete den halbvollen Becker mit Whiskey, der an der Schreibtischkante stand. »Wie ich sehe, nehmen Sie gerade Ihre Vitamine zu sich.« Sie rollte mit den Augen und blickte zu Liddells Gesicht empor. »Was müssen wir tun, um dieses Honorar zu verdienen?«

Liddell klemmte seine Nasenflügel zwischen Daumen und Zeigefinger. »Wir müssen feststellen, weshalb ein Bursche, den er vor sechs Monaten erschossen hat, bis Montagmorgen wartete, ehe er sich hinlegt und stirbt.«

Pinky schob die Lippen vor und nickte. »Es war zu erwarten, dass es so etwas richtig Nettes und Einfaches sein würde.« Sie zeigte auf den Becher auf dem Schreibtisch. »Ich verstehe das Bedürfnis nach Vitaminen. Haben Sie etwas dagegen, dass ich mir einen Stuhl hole?«

 

Die Leichenhalle von Meadowville lag am Ende eines langen, stillen Korridors im Keller des Bezirkskrankenhauses. Am Ende des Ganges waren zwei Türen; die eine trug auf der Milchglasscheibe der Aufschrift Medizinischer Untersucher, die andere führte in einen hellerleuchteten Raum, der mit sterilem Weiß gestrichen war. Ein großer, dünner glatzköpfiger Mann saß an einem weißlackierten Schreibtisch und kaute auf dem fast unsichtbaren Nagel seines rechten Daumens, während er die Eingänge in ein Bestandsbuch eintrug. Die schirmlose Glühbirne an der Decke ließ die Glatze des Gehilfen ölig glänzen.

Er blickte auf, als Liddell den Raum betrat und sah gleichgültig zu, wie Johnny auf ihn zukam. Er räusperte sich mit einem kurzen scharfen Husten und schien froh, dass er eine Entschuldigung hatte, um seinen Federhalter niederzulegen. Er zog ein Taschentuch aus der Hüfttasche und polierte mit kreisenden Bewegungen den runden kahlen Fleck auf seinem Kopf.

»Suchen Sie jemand?«, wollte er wissen. Seine Stimme klang rostig, als habe er nicht oft Gelegenheit, sie zu benutzen.

Liddell holte seinen Ausweis hervor und hielt ihn dem kahlköpfigen Mann hin, der keineswegs beeindruckt schien. »Ich habe gehört, dass Sie einen John Doe hier haben, den Sie zu identifizieren versuchen.«

Der dünne Mann hustete, und sein Adamsapfel hüpfte beängstigend auf und ab. Er schüttelte den Kopf. »Wir haben ihn nicht. Bei uns wird jeder Gast registriert.« Er steckte seinen aufgeweichten Daumen in den Mund, schien zu merken, was er tat, und legte seine Hand auf den Schreibtisch zurück.

Liddell zog den Zeitungsausschnitt aus der Tasche und reichte ihn dem Gehilfen. Er betrachtete ihn kurz. »Das stand gestern in der Zeitung. Das FBI hat die Sache geklärt. Seine Fingerabdrücke fanden sich in den Akten.« Er blickte Liddell aus verwaschenen, leicht vorstehenden blauen Augen an. »Ein Freund von Ihnen?«

Liddell zuckte die Achseln. »Schon möglich. Das Bild war nicht sehr gut. Kann man ihn vielleicht sehen?«

»Er ist kein erfreulicher Anblick. Sieht so aus, als wäre er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprallt.« Er stand hinter seinem Schreibtisch auf und humpelte zu einer Tür in der gegenüberliegenden Wand. »Kommen Sie mit.« Er riss die Tür auf und ging voraus in einen hohen ungeheizten Raum mit Steinfußboden und zwei Reihen eiserner Schließfächer. Jedes Schließfach hatte seine eigene eingeprägte Nummer und eine Karte, die einen maschinengeschriebenen Namen trug.

Liddell verzog bei dem Karbolgeruch, der sie umgab, die Nase. Kein Wort wurde gesprochen, als er dem dünnen Mann zum rückwärtigen Teil des fensterlosen Raumes folgte. Der Gehilfe blieb vor einem Schubfach stehen, prüfte die maschinenbeschriebene Karte und zog das Fach heraus. Es öffnete sich mit einem schrillen Quietschen, das Liddell nervös machte.

Der Gehilfe grinste. »Das stört keinen unserer übrigen Gäste. Sie schlafen alle sehr tief.« Er griff nach oben und schaltete ein starkes Licht in einem emaillierten Reflektor an. Dann ergriff er das Ende eines fleckigen Leintuchs, das den Inhalt des Schubfachs bedeckte.

»Mit diesem ungewaschenen grauen Leintuch werden Sie bestimmt nie einen Preis für gute Haushaltsführung gewinnen.« Liddell rümpfte die Nase.

»Wir haben noch von keinem unserer Gäste Klagen gehört«, erklärte ihm der Gehilfe fröhlich. Er zeigte auf die Leiche in dem Schubfach. »Ist das Ihr Freund?«

Der tote Mann lag auf dem Rücken; sein Kopf wurde von einem eingekerbten Brett gehalten. Das Haar war feucht und aus dem Gesicht geschoben. Der Kopf war an der einen Seite etwas eingedrückt, aber die Gesichtszüge waren unverändert. Liddell zog den Zeitungsausschnitt aus der Tasche und verglich das Bild mit dem Gesicht des toten Mannes. Es gab keinen Zweifel: Das Bild war das des Mannes in dem Schubfach.

Liddell legte den Finger auf die Backe des toten Mannes und rollte den Kopf zur Seite. Die Haut fühlte sich kalt und klebrig an. Er beugte sich tiefer über die Leiche und untersuchte die Haut über der rechten Kieferbacke. Eine unverkennbare etwa fünf Zentimeter lange Narbe zog sich über das Kinn.

Der Gehilfe sah neugierig zu. »Haben Sie was gefunden?«

Liddell richtete sich auf. »Ich bin nicht sicher. Der Mann, nach dem ich suche, hatte eine Narbe an der gleichen Stelle. Aber die Kugelnarben werden das klären.«

»Was für Kugelnarben?«

»Mein Mann hat eine Reihe von Narben auf dem Bauch.«

Der Gehilfe räusperte sich und setzte seinen Adamsapfel in Bewegung. »Dann haben Sie den falschen Mann. Dieser hier hat keine Kugelnarben, Mister.« Er griff in das Schubfach, packte das Leintuch und zog es ganz zurück. Die einzige Narbe, die auf dem Körper des toten Mannes zu sehen war, war eine alte Blinddarmnarbe. Liddells Stirnrunzeln vertiefte sich.

»Zufrieden?«, erkundigte sich der Gehilfe.

Liddell nickte. »Ich glaube, es ist nicht mein Freund.« Er sah zu, wie der dünne Mann das Leintuch wieder über die Leiche legte und das fahle Gesicht zudeckte. »Was sagten Sie, wie der Mann hieß?«

Der Gehilfe machte das Schließfach zu. »Nichts habe ich gesagt.« Er schaltete die Deckenlampe aus und ging Liddell voraus in sein Büro zurück. Sein krankes Bein schlurfte beim Gehen über den Fußboden.

Liddell holte ihn ein und ging neben ihm her. »Was ist das Geheimnis?«

Der Gehilfe zuckte die Achseln. »Kein Geheimnis. Aber diese Auskunft müssen Sie sich bei der Polizei holen. Ich habe gehört, dass dieser Bursche von einer Reihe von Stellen gesucht wird.« Er sah zu, wie sich Liddells Hand in die Tasche senkte und mit einer zusammengefalteten Fünf-Dollar-Note zurückkam. »Aber wenn Sie mich fragen, ich finde das verrückt. Der Kerl ist tot. Was soll es also, wenn sie ihn suchen. Jetzt können sie nichts mehr mit ihm anfangen.«

»Sie haben diese Auskunft nicht zufällig in Ihren Akten, oder?«

Der dünne Mann überlegte, und seinen Blicken schien es schwerzufallen, sich von dem zusammengefalteten Geldschein zu lösen. »Vielleicht doch, wenn es so ist.«

In dem kleinen Vorzimmer ging der Gehilfe zu einem niedrigen Aktenschrank. Liddell zündete sich eine Zigarette an, füllte seine Lungen mit Rauch und atmete ihn, in dem nutzlosen Bemühen, seine Nase von dem Geruch der Leichenhalle zu säubern, durch die Nase in zwei Strömen wieder aus.

Der dünne Mann zog eine Karte aus den Akten und betrachtete sie. »Sein Name war John Harlan. Er wurde in Chicago, Miami und Los Angeles wegen Betrugs gesucht.« Er steckte die Karte wieder zurück. »Bis jetzt hat noch niemand Anspruch auf ihn erhoben, also besteht die Möglichkeit, dass er nächsten Donnerstag auf Potters Friedhof kommt. Donnerstag ist bei uns Verladetag.«

Liddell rieb seine Hand an der des dünnen Mannes, und der zusammengefaltete Geldschein wechselte den Besitzer. »Kann ich mal telefonieren?«

Der Gehilfe zeigte auf das Telefon. »Bitte sehr. Es wird mit Ihren Steuern bezahlt.«

Liddell nahm den Apparat und begann zu wählen. »Das erste Mal, dass ich je Rabatt bekam«, brummte er. Einen Augenblick später ertönte die metallische Stimme der Telefonistin aus der Zentrale des Hotels Carson. »Mike Lewis bitte«, erklärte Liddell.

Er konnte das Summen hören, als die Telefonistin im Zimmer des alten Mannes läutete.

Beim dritten Läuten nahm Gunson den Hörer auf. »Ja?«

»Hier ist Liddell«, erklärte Johnny. »Ich habe gerade den John Doe von dem Unfall auf Long Island überprüft. Er ist bereits identifiziert. Sein Name ist John Harlan.« Er machte eine Pause und blickte hinüber zu dem Gehilfen, der an seinem Daumennagel kaute und sich auf sein Bestandsbuch konzentrierte.

»John Harlan?« Die Stimme des alten Mannes zitterte leicht. »Hat er die Narbe über dem Kiefer?«

»Ja«, erklärte Liddell. »Aber es sind keine Kugelnarben zu finden.«

An Gunsons Ende entstand eine lange Pause. »Ich kann mich in der Ähnlichkeit nicht getäuscht haben, und die Narbe ist auch da. Er muss es sein. Selbst die Namen – Harlan Johnson und John Harlan. Sie meinen, er ist es, nicht wahr?«

»Schon möglich«, sagte Liddell.

»Aber wenn keine Narben von den Kugeln zu sehen sind, kann ich ihn nicht getötet haben und...« Der alte Mann brach ab. »Aber ich muss ihn getötet haben. Ich sah das Blut. Es lief ihm aus Mund und...« Eine kurze Pause entstand, dann kam vom Ende des alten Mannes ein leises Klicken.

»Hallo?« Liddell klopfte auf die Telefongabel. »Hallo?« Er überlegte, ob es zweckmäßig sei, die Verbindung wiederherstellen zu lassen, entschied aber, dass der alte Mann nicht an den Apparat gehen würde, und er legte den Hörer zurück auf die Gabel.

Der Gehilfe blickte von seinem Bestandsbuch auf. »Irgendwas verkehrt?«

Liddell schüttelte den Kopf. »Mein Klient ist etwas beunruhigt. Er hat ziemlich sicher damit gerechnet, dass Ihr John Doe der Mann ist, nach dem er sucht. Ich glaube, er ist ein wenig enttäuscht.«

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Das Hotel Carson war ein altes, verwittertes Backsteingebäude, das zwischen anderen ähnlich alten und verwitterten Backsteingebäuden auf der Nordseite der Forty-seventh Street zwischen der Sixth und Seventh Avenue lag. Durch zwei große, verstaubte Fensterscheiben, die es in abgeblätterter Goldschrift als das Hotel Carson auswiesen, blickte es auf den Verkehr, der die Straße entlangkroch.

Johnny Liddell betrat die Eingangshalle und ging über den fadenscheinigen und ausgeblichenen roten Teppich zur Anmeldung. Ein Mann mit wässerigen Augen, dessen spärliches Haar sorgfältig arrangiert worden war, um eine kahle Stelle zu verdecken, stand hinter dem Schreibtisch. Die glasigen Augen und das schwache Zucken seiner Nase verrieten, dass er Kunde für eines der beiden Hauptprodukte war, die auf der Traumstraße angeboten wurden.

»Ich habe heute am frühen Nachmittag einen Mann zu Ihnen geschickt. Sein Name war Mike Lewis«, erklärte Liddell dem Hotelangestellten. »In welchem Zimmer wohnt er?«

Der Hotelangestellte zuckte mit der Nase und schniefte hörbar. »Vierhundertzwölf.«

Liddell nickte, drehte sich um und ging zu dem Lift im Hintergrund.

»Aber er ist jetzt nicht da. Er ist weggegangen...« Seine Blicke hoben sich zu der großen Uhr an der gegenüberliegenden Wand. »...ungefähr vor einer Stunde.«

Liddell fluchte leise. »Hat er irgendetwas gesagt, wann er zurückkommt?«

»Zu mir nicht.«

Liddell nickte und ging durch die Eingangshalle zu einer Reihe von Telefonzellen. Er steckte eine Münze in den Schlitz und wählte die Nummer seines Büros. Die ausdruckslose Stimme des Mädchens ertönte, das seine Telefonanrufe entgegennahm.

»Hier ist Liddell«, sagte Johnny. »Sind irgendwelche Mitteilungen gekommen, Charley?«

»Ich heiße Charlotte, Mr. Liddell. Sie wissen, dass ich es hasse, wenn man mich Charley nennt«, erklärte das Mädchen gekränkt. »Und ich habe keine Mitteilungen entgegengenommen, seit Ihr Büro geschlossen ist.«

»Danke, Charley«, sagte Liddell grinsend. Vom anderen Ende kam ein lautes Schnauben, und die Verbindung brach ab. Liddell warf eine weitere Münze ein und wählte Pinkys Privatnummer. Es klingelte viermal, ehe sie abhob.

»Hier ist Liddell, Pink«, sagte Johnny. »Haben Sie einen Anruf von Gunson bekommen, ehe Sie den Laden zumachten?«

»Nein. Sollte ich?«

»Ich weiß nicht«, knurrte Liddell. »Ich hatte ihn ins Carson geschickt und ihm erklärt, er solle nichts unternehmen, bis ich komme. Er ist weg.«

»Ich gebe ihm keine Schuld. In dieser Kloake untergebracht zu sein, würde jeden auf die Straße treiben, um einmal frische Luft zu atmen.«

»Was haben Sie denn erwartet? Er hatte Angst, erkannt zu werden. Meinen Sie, ich hätte ihn ins Plaza schicken sollen?«, knurrte Liddell. Er blinzelte durch die Glastür der Telefonzelle und erkannte die untersetzte, dickliche Gestalt von Ed Saunders, dem Geschäftsführer des Carson Hotel, der auf den Eingang zu watschelte. »Hören Sie, Pink, ich möchte mit Ed Saunders sprechen. Ich werde mich wieder bei Ihnen melden, wenn irgendetwas los ist.« Er legte den Hörer auf die Gabel und riss die Tür der Telefonzelle auf. Er ging mit großen Schritten durch die Empfangshalle auf den Geschäftsführer zu. »Warte einen Augenblick, Ed.« Er packte den kleinen dicken Mann am Arm.

Saunders runzelte überrascht die Stirn. Das Stirnrunzeln verschwand, als er Liddell erkannte. »Ich gehe gerade etwas essen«, erklärte der dicke Mann. »Wollen Sie einen Hering mit mir teilen?«

»Ein andermal«, sagte Liddell. »Mein Mann ist fort, sagte mir Ihr Angestellter. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?«

Der dicke Mann seufzte. »Hören Sie, mein Freund, Sie haben mich gebeten, ihn aufzunehmen und dafür zu sorgen, dass er nicht gestört wird. Sie haben nichts davon gesagt, dass ich auf ihn aufpassen soll.« Er zuckte die Achseln, und seine Wangen rutschten über den Kragen. »Ich nehme an, er ist ein einflussreicher Mann, also wird er tun, was ihm gefällt, ohne mich nach meiner Meinung zu fragen.«

»Verdammt, ich hätte ihn nicht in diesem Dreckloch versteckt, wenn ich gewollt hätte, dass er durch die Straßen läuft.«

Der dicke Mann zuckte wieder die Achseln. »Hören Sie, Sie sind der Detektiv. Sie haben Ihre Sorgen und ich die meinen. Und glauben Sie mir, eine Absteige wie diese hier zu führen ist kein Weg, um auf angenehme Weise alt zu werden. Ich habe genug eigene Probleme und brauche mir nicht noch mehr zu suchen. Verstehen Sie?«

Die Drehtür zur Straße hin setzte sich in Bewegung, und eine müde aussehende Blondine führte einen älteren Mann am Arm herein. Die Blondine verschwendete keinen Blick an den Geschäftsführer; sie zog ihren Kunden zu den Aufzügen im Hintergrund.

Der dicke Mann wartete, bis das Paar außer Hörweite war. »Erst neun Uhr, und schon geht’s los.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich noch etwas zu essen bekommen will, gehe ich besser sofort. Später, wenn die Kollekte losgeht, muss ich wieder da sein, damit es keinen Ärger gibt.«

»Kollekte?«

Der dicke Mann zuckte vielsagend die Achseln. »Der Wachtmeister, der Mann, der Streife geht, oder der berittene Polizist, sie alle brauchen Geld. Von den Angestellten nehmen sie es nicht gern. Gegen sie habe ich nichts. Aber die Kerle der Mädchen; sie kommen und wollen das Geld holen, und die Mädchen haben nicht genug, um sie zufriedenzustellen, und dann fangen sie an, auf sie einzudreschen. Im Brewster Hotel unten an der Straße hat ein Zuhälter seine Nutte so zusammengeschlagen, dass sie den Krankenwagen holen mussten.« Er zuckte die Achseln. »Jetzt haben sie einen Polizisten in der Halle sitzen.«

Liddell grinste. »Ich glaube, Sie haben wirklich einiges am Hals.«

Der Geschäftsführer nickte. »Deshalb muss ich regelmäßig essen. Das ist gut für mein Magengeschwür.« Er blinzelte Liddell zu. »Kommen Sie jetzt mit oder nicht?«

»Das nächste Mal«, erklärte Liddell.

Der dicke Mann nickte, schlurfte zur Drehtür und stieß sie zur Straße hin auf.

Liddell blieb einen Augenblick stehen und überlegte den nächsten Schritt. Er entschied schließlich, dass Saunders recht hatte. Gunson war ein einflussreicher Mann. Wenn er in der Stadt herumlaufen wollte, war das seine Sache. Er wusste, wo Liddell wohnte, und wenn er ihn sprechen wollte, würde er wissen, wie er ihn erreichte.

Er ging zu der Drehtür und trat auf die Straße. Er mischte sich unter den Strom gaffender Touristen, Gangster und Möchtegerngangster, Bettler und Schieber, Dirnen und Verführer, die dieses Gebiet als das ihre betrachteten.

An der Ecke zur Seventh Avenue blieb er einen Augenblick stehen und blickte zu der von Tauben beschmutzten Straßeninsel, die vor dem Palace zwischen Broadway und Seventh Avenue liegt. Er blickte zu der Statue von Father Duffy hinauf und fragte sich, was der Pater wohl von den Veränderungen halten würde, die mit dem ehemaligen Great White Way vorgegangen waren.

Er kam zu dem Schluss, dass ihm etwas Abwechslung guttun würde, und blickte sich um. Eine große Rothaarige stand neben dem Eingang zu einem Drugstore, betrachtete ihn prüfend und lächelte zögernd über ihre Zigarette hinweg, die sie zwischen den Lippen hielt. Es war so, wie es Saunders gesagt hatte: Erst neun Uhr und schon hatte die Traumstraße ihre Waren ausgestellt.

Liddells Blick glitt an ihr vorbei, und das Interesse verschwand aus ihren Augen. Sie drehte sich um und blickte zwei hutlosen Fußgängern entgegen, die auf dem Rockaufschlag eine Karte trugen, an der man sie als Tagungsteilnehmer erkennen konnte. Am Schnitt ihrer Anzüge sah man, dass sie Kleinstädter waren. Der Ältere der beiden bemerkte sie, trennte sich von seinem Freund, ging auf den Drugstore zu und zündete sich eine Zigarette an. Einen Augenblick später lächelte die Rothaarige, ließ ihre Zigarette fallen und trat sie aus. Sie drehte sich um und ging die Traumstraße hinauf. Der Mann drehte sich zu seinem Freund um, winkte ihm in einer Mann-von-Welt-Geste zu und begann, der rothaarigen Gestalt zu folgen.

Liddell ging in den Drugstore, holte eine Münze aus der Tasche und wählte die Nummer von Muggsy Kielys Wohnung.

 

Johnny Liddell brachte den nächsten Tag damit zu, Schreibereien aufzuarbeiten und die Ergebnisse einer Versicherungsuntersuchung zusammenzustellen, die er gerade unter dem wachsamen Blick seiner Sekretärin beendet hatte.

Es war fast fünf Uhr, als er den letzten Bericht unterschrieb und dem wartenden Rotschopf über den Schreibtisch zuschob. Er stand von seinem Stuhl auf, trat an das Fenster und blickte auf die Forty-second Street hinunter, wo die Fußgänger sich durch die lange Verkehrsschlange wanden.

»Was ist mit Gunson?«, wollte Pinky wissen. »Erwartet er einen Bericht, oder was ist los?«

Liddell fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und schüttelte den Kopf. »Sie wissen darüber genauso viel wie ich«, brummte er. »Ich dachte, wir würden heute auf die eine oder andere Weise von ihm hören.«

»Sie wissen nicht, wo Sie ihn erreichen können?«

Liddell wandte sich vom Fenster ab und blickte sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich habe ihm gesagt, er solle in dem Hotel bleiben, aber als ich hinkam, war er weg. Ich kann mir das nur so erklären, dass er dachte, er könne jetzt beruhigt nach Hause gehen, nachdem er gehört hatte, dass der Bursche keine Kugelnarben hatte.«

Der Rotschopf zuckte die Schultern. »Weshalb dann die Aufregung? Rufen Sie ihn an, und stellen Sie fest, ob wir die Sache abschließen sollen und etwas anderes anfangen können.«

Liddell dachte mit gerunzelter Stirn über den Vorschlag nach und schüttelte schließlich den Kopf. »Vielleicht will er nicht, dass irgendjemand erfährt, dass er uns beauftragt hat. Wenn er irgendwelche Wünsche hat, kann er Kontakt mit uns aufnehmen. Der nächste Schritt muss von ihm kommen.«

Und so geschah es auch.

Johnny Liddell lehnte an jenem Abend an der Bar von Mikes Café, als das Telefon in einer der Zellen im Hintergrund zu läuten begann. Mike setzte das Glas ab, das er gerade mit einem feuchten Lappen polierte, und stellte seine Zigarette mit dem Mundstück auf den Boden des Glases.

»Ich wollte, einer von euch Kerlen, die dieses Lokal als Zweigstelle ihres Büros benutzen, würde jemand herschicken, der die Telefone bedient«, knurrte er, als er plattfüßig an Liddell vorbei auf die Telefonzellen zuging.

Am Telefon knurrte Mike etwas in das Mundstück, nahm den Hörer vom Ohr und ließ ihn an der Schnur baumeln. Er schlurfte zurück zu seinem Platz hinter der Theke, wobei er ständig etwas vor sich her murmelte.

»Es ist für Sie«, erklärte er Liddell. »Ich weiß nicht, wozu ich das verdammte Ding überhaupt habe. Mich ruft nie jemand an.«

»Vielleicht sollten Sie Ihr Haarwasser wechseln«, erklärte Liddell. Er trank sein Glas leer und stellte es auf die Theke. »Füllen Sie es wieder auf. Versuchen Sie dieses Mal nicht am Whiskey zu sparen, der ist auch so wässrig genug.

Er ignorierte den unhöflichen Vorschlag, den der Kellner machte, und ging zum Telefon. Es war Pinky.

»Ich bekam gerade einen Anruf von Charley, die Telefondienst macht, Johnny. Inspektor Herlehy möchte Sie sprechen. Er sagte zu ihr, es sei sehr wichtig, und sie solle versuchen, Sie zu finden.«

»Wie kommt er darauf, dass ihr mich um diese Zeit nachts finden könnt?«

»Ganz einfach. Er sagte Charley, sie solle alle Bars rings um das Büro und Muggsys Wohnung anrufen. Charley meinte, es sei besser, wenn ich das mache.« Sie schnaubte ärgerlich. »Damit hatte sie recht. Ich habe das so oft gemacht, dass die Hälfte aller Kellner in der Stadt meine Stimme kennt.«

»Sehr komisch. Trotzdem kann die Sache bis morgen warten.«

Es entstand eine kleine Pause. »Ich glaube nicht, Johnny. Der Inspektor sagt nicht, es sei wichtig, wenn es nicht stimmt.«

Liddell runzelte die Stirn. »Er sagte nicht, weshalb?«

»Er sagte nicht, weshalb. Er sagte nur, wir sollten Sie finden und dafür sorgen, dass Sie in sein Büro kommen.«

Das Runzeln auf Liddells Stirn vertiefte sich. »In Ordnung. Sie haben mich überredet. Ich werde zu ihm fahren, sobald ich mein Glas geleert habe.«

»Welches? Das eine nach dem übernächsten?«

Liddell wollte etwas erwidern, wurde aber unterbrochen, als der Hörer am anderen Ende aufgelegt wurde. Er nahm den Hörer vom Ohr, blickte ihn einen Augenblick lang wütend an und warf ihn auf die Gabel.

Ein neuer Drink stand an seinem Platz. Er nahm das Glas und trank einen großen Schluck. Mike stand am Ende der Bar mit einer Zigarette im Mundwinkel und polierte ein Glas. »Geschäft?«, wollte er wissen.

»Geschäft«, erklärte Liddell sauer.

Der Kellner blickte auf die Uhr. »Sie haben wirklich miserable Bürostunden«, meinte er.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Liddell betrat das Gebäude der Mordkommission Süd und nickte einer kleinen Gruppe von Männern in Zivil zu, die am Eingang standen und sich unterhielten. Er ging auf den uniformierten Beamten zu, der hinter einem Schreibtisch neben dem Lift saß.

Der Mann am Empfang beobachtete ohne jedes Zeichen von Begeisterung, wie Liddell auf ihn zukam. Er unterdrückte ein Gähnen und machte keinen Versuch, den gelangweilten Blick aus seinen Augen zu entfernen.

Larry Forest war Polizist. Acht Jahre lang war er Streife gefahren, bis der Wagen, in dem er saß, in einen Lastwagen fuhr und ihn mit einem Bein zurückließ, das zehn Zentimeter kürzer als das andere war. Er hatte seine eigenen Ansichten über Privatdetektive. Das waren die Leute, die keine festen Dienststunden hatten, die nicht von Mitternacht bis acht Uhr morgens unterwegs sein mussten, wenn es regnete und man knietief im Schlamm versank, wenn der Wind durch die Straßen pfiff und wie mit Nadeln stach. Sie hatten dehnbare Vorschriften, die ihnen die Arbeit erleichterten, bezogen hohe Honorare und brauchten nicht zwanzig Jahre auf eine erbärmliche Pension zu warten.

Larry Forest mochte Privatdetektive nicht. Vor allem mochte er keine erfolgreichen Privatdetektive, deren Namen in den Zeitungen erschienen, wenn sie einen Fall gelöst hatten. Johnny Liddell konnte er ganz besonders wenig ausstehen. Er beneidete ihn bloß. Das machte es noch schlimmer.

Liddell blieb vor dem Schreibtisch stehen und grinste den Mann an. »Ist Inspektor Herlehy da?«

»Weshalb?«

»Er hat nach mir geschickt.«

»Dann ist er da«, knurrte der Mann hinter dem Schreibtisch. »Wollen Sie bei ihm angemeldet werden oder so was?«

»Ich glaube, das wäre eine gute Idee. Ich möchte nicht in sein Büro kommen, wenn er gerade die Sekretärin auf seinem Schoß hat.«

»Seine Sekretärin ist ein Mann«, erwiderte der Mann hinter dem Schreibtisch scharf.

»Das würde es ja noch viel schlimmer machen, oder nicht?«

Larry Forest wollte etwas erwidern, biss die Zähne zusammen, nahm den Hörer vom Telefon auf dem Schreibtisch und wählte eine Nummer. »Inspektor, Liddell ist hier. Er möchte wissen, ob er zu Ihnen kommen kann.« Er nickte. »Sofort, Sir.« Er legte den Hörer auf die Gabel und wies mit dem Kinn auf den Lift. »Er erwartet Sie.«

Er beobachtete Liddell, bis die Türen des Aufzugs sich hinter ihm schlossen. Man behandelte ihn wie mit Samthandschuhen, er konnte einfach kommen und gehen, kein Wunder, dass sich dieser Bursche für etwas Besonderes hielt. Aber Leute wie er fielen mit ihrer Tüchtigkeit auch einmal herein. Eines Tages würde Liddell ein wenig zu weit gehen, und dann würde man ihm den Teppich unter den Füßen wegziehen. Wenn diese Möglichkeit auch nicht gerade nahe bevorstand, so war es trotzdem angenehm, sich das vorzustellen.

Johnny Liddell verließ den Aufzug und ging das kurze Stück über den Gang zum Büro des Inspektors. Er klopfte, drückte die Klinke und trat ein.

Inspektor Herlehy saß hinter seinem übergroßen Schreibtisch, und seine Kinnbacken beschäftigten sich wie immer mit einem Stück Kaugummi. Ein weiterer Mann mit breiten Schultern und einer Glatze, deren Weiß mit der wettergegerbten Bräune seines Gesichts kontrastierte, saß auf dem Ledersofa und hatte die Beine weit ausgestreckt.

»Sie kennen Sergeant Ryan, Liddell«, begrüßte der Inspektor Liddell, als dieser die Tür hinter sich schloss.

»Natürlich«, erklärte Liddell. Weder er noch der Mann auf dem Sofa machten Anstalten, sich die Hände zu schütteln. Liddell wandte sich an den Mann hinter dem Schreibtisch. »Pinky sagte, Sie wollen mich unbedingt sehen.«

Herlehy zeigte auf den Stuhl gegenüber vom Schreibtisch. Er stand auf, ging zum Fenster und öffnete es einige Zentimeter. »Was wissen Sie über Martin Gunson?«, erkundigte sich der Inspektor, ohne sich umzudrehen.

Liddell nahm gemächlich Platz und wartete, bis der Inspektor sich ihm zuwandte. »Sie meinen den Besitzer der Gunson-Schifffahrtslinie?«, fragte er.

Herlehy nickte. »Den meine ich.« Er ging zu seinem Stuhl zurück und setzte sich. »Was wissen Sie über ihn?«

»Nicht viel. Ich glaube, ich habe den Mann nur einmal im Leben gesehen.«

»Sie müssen ein schneller Arbeiter sein«, knurrte der Mann auf dem Sofa. »Sie sehen den Mann bloß ein einziges Mal und schon kassieren Sie ein beachtliches Honorar.«

Liddell betrachtete ihn kühl. »Sie wissen mehr über mein Geschäft als ich.«

»Moment, Sergeant«, unterbrach Herlehy sie. Er wandte sich an Liddell. »Wofür waren die tausend Dollar, Liddell?«

»Weshalb fragen Sie nicht Martin Gunson?«

Herlehy blickte ihn mit gerunzelter Stirn an. »Ich frage Sie.«

Liddell griff in die Tasche, zog eine zerknautschte Zigarette heraus und glättete sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich bin nicht berechtigt, über die Angelegenheiten eines Klienten zu sprechen. Sie werden ihn selbst fragen müssen.«

»Sie haben keinen Klienten mehr, Liddell. Gunson ist tot.«

Die Überraschung auf Liddells Gesicht war unverkennbar. »Tot?« Er blickte vom Inspektor auf den Mann auf dem Sofa und wieder zurück. »Wie?«

»Er sprang in den Fluss.«

»Selbstmord?«

Der Inspektor nickte. »Das sagt jedenfalls die medizinische Untersuchungskommission.« Herlehy nahm ein maschinebeschriebenes Blatt Papier aus dem Ablagekasten und schob es über den Schreibtisch. »Chloridgehalt in beiden Herzkammern so gut wie normal. Das bedeutet nur eins. Er lebte noch, als er ins Wasser ging.«

Liddell überflog den Bericht und gab ihn zurück. »Sind Sie sicher, dass es Gunson ist?«

Herlehy legte den Bericht in den Kasten zurück. »Sein Sohn hat ihn identifiziert.« Er lehnte sich zurück und wartete, bis Liddell seine Zigarette angezündet hatte. »Kommen wir zur Sache. Was wollte Gunson von Ihnen?«

»Er ist immer noch mein Klient, Inspektor. Ich habe seinen Scheck angenommen und...«

»Vergessen Sie den Scheck. Sein Sohn hat ihn sperren lassen, sobald die Bank ihm den Eingang mitteilte. Man hat seit mehr als sechs Monaten nach ihm gesucht. Wo war er die ganze Zeit gewesen?«

»Ich weiß es nicht«, erklärte Liddell.

Sergeant Ryan knurrte. »Machen Sie uns nichts vor. Er ist nicht in Ihr Büro gekommen, um sich Ihre Bilder anzusehen und Ihnen einen Tausender zu schenken, weil es ihm gefiel, wie Sie Ihren Scheitel ziehen.«

»Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen sich heraushalten, Ryan«, fuhr Herlehy ihn an. Er betrachtete Liddell kalt.

»Hören Sie zu, Liddell, Gunson ist nicht irgendein Landstreicher, dem nur zwei Zeilen in den Zeitungen gewidmet werden, wenn er in den Fluss fällt. Er war ein wichtiger Mann, und man wird viele Fragen stellen. Es wäre besser, Sie würden sich ein paar Antworten zurechtlegen.«

»Was wollen Sie von mir hören?«

»Weshalb hat er Selbstmord begangen?«

Liddell schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Er ist zu Ihnen gekommen, weil er Schwierigkeiten hatte. Die Schwierigkeiten waren ihm tausend Dollar wert«, sagte Herlehy. »Was waren das für Schwierigkeiten?«

»Gar keine.«

Der Mann auf dem Sofa wand sich ungeduldig, und Herlehy runzelte die Stirn. »Er hatte eine Notiz an Ed Saunders in der Tasche. Sie war von Ihnen geschrieben und forderte Saunders auf, Gunson bei sich zu verstecken, bis Sie zurückkommen. Verstecken Sie all Ihre Tausend-Dollar-Klienten in einer Flohkiste wie dem Hotel Carson? Wenn er nicht in Schwierigkeiten war, weshalb ging er dann erstens zu Ihnen und zweitens, weshalb haben Sie ihn aus dem Verkehr gezogen?«

Liddell nahm die Zigarette aus dem Mund und klopfte die Asche ab. »Es war alles ein Irrtum. Gunson dachte, er sei in Schwierigkeiten. Ich untersuchte die Sache für ihn und stellte fest, dass das gar nicht zutraf.«

Der Mann auf dem Sofa konnte sich nicht länger zurückhalten. »Darüber war er so glücklich, dass er hinging und sich selbst umbrachte. Das sollen wir Ihnen glauben?«

Liddell betrachtete ihn kühl von oben bis unten. »Es ist mir vollkommen gleichgültig, was Sie glauben«, erklärte er dem Sergeant kurz. »Sie mögen überzeugt sein, dass er Selbstmord beging. Ich bin es nicht.«

»Die medizinische Untersuchungskommission ist davon überzeugt, und wir sind es auch. Wir haben Sie nicht nach einer Meinung gefragt, wir wollen von Ihnen eine Auskunft.« Herlehy reckte ihm einen stumpfen Zeigefinger entgegen. »Ich frage Sie noch einmal: Wo hat er sich während der vergangenen sechs Monate versteckt, und was hatten Sie mit der Sache zu tun?«

Liddell seufzte. »Ich habe den Mann nie zuvor gesehen, bis er in mein Büro kam. Ich hatte nichts mit ihm zu tun. Ich wusste nicht einmal, dass er vermisst wurde.«

»Wo war er?«, wiederholte Herlehy.

»Hören Sie zu, wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen erzählen. Ich weiß nicht, wo er war«, gab Liddell zurück.

Der Mann auf dem Sofa knurrte. »Ich habe es ja gesagt, es ist Zeitverschwendung, ihn überhaupt etwas zu fragen, Inspektor. Er ist genau wie alle anderen – vor lauter Verlogenheit so krumm, dass er sich hinter dem Dollarzeichen verstecken kann und nicht einmal einen Schatten wirft.«

»Ich habe nichts zu verstecken«, erklärte Liddell. »Machen Sie diese Bemerkung einmal, wenn der Inspektor nicht da ist, um auf Sie aufzupassen.«

Der Sergeant röhrte wie ein verwundeter Stier. Er sprang vom Sofa auf und stand vor Johnny, ehe er sich bewegen konnte. Er packte Liddell an den Rockaufschlägen und riss ihn hoch. Die Zigarette fiel aus Liddells Mund und rollte über den Boden.

Keiner der beiden Männer hörte den Inspektor brüllen, oder sie ignorierten es einfach.

Johnny riss die Arme hoch, stieß sie nach vom und befreite sich vom Griff des Sergeants. Ehe Ryan Halt fand, sickte Liddell einen rechten Haken nach, der den Sergeant am Kinn traf und über das Sofa schleuderte.

Diesmal wurde Herlehys Brüllen bemerkt. Er stand hinter dem Schreibtisch, und dunkle Röte breitete sich über seinem Gesicht aus. »Ich habe gesagt, ihr sollt aufhören, verdammt nochmal!«

Die Tür zum Büro wurde aufgerissen, und ein Mann in Uniform erschien im Eingang. Liddell stand unbeweglich da, und der glatzköpfige Mann lag auf dem Sofa und massierte sich das Kinn.

»Gehen Sie«, bellte Herlehy den Mann in der Tür an. »Ich werde allein damit fertig.« Als die Tür geschlossen wurde, drehte sich der Inspektor zu Ryan um. »Sind Sie vollkommen übergeschnappt? Ich sollte Sie wieder in Uniform stecken und Sie so weit in die Sümpfe schicken, dass das Wasser Ihnen in die Schuhe läuft.«

»Ich habe den Kopf verloren, Inspektor.« Ryan erhob sich mürrisch. »Aber ich lasse es nicht zu, dass jemand Bemerkungen über meinen Dienstgrad macht.«

»Also gut, Sie sind stolz auf Ihren Dienstgrad, und dazu sind Sie auch berechtigt. Aber andere Leute haben das Recht, auf ihren Beruf ebenfalls stolz zu sein. Denken Sie daran.« Er betrachtete den Sergeant kalt. »Sie gehen jetzt besser und beruhigen sich erst einmal.« Der Sergeant nickte und ging zur Tür. »Und Sergeant«, rief Herlehy hinter ihm her, »wenn Sie vorhaben, diese Sache irgendwo anders fortzuführen, dann tun Sie gut daran, mich nichts davon wissen zu lassen.« Er wartete, bis Ryan das Büro verlassen hatte, und drehte sich dann zu Liddell um. »Was Sie betrifft, so sollte ich Sie rauswerfen und die Staatsanwaltschaft ersuchen, Ihnen die Lizenz zu entziehen.«

»Es tut mir leid, Inspektor. Ich habe nicht angefangen.«

Herlehy knurrte und setzte sich. »Sie haben auch nichts getan, um es zu vermeiden. Er hat recht. Ich hätte es besser wissen und nicht damit rechnen sollen, dass Sie uns helfen.«

Liddell bückte sich, hob die Zigarette auf und drückte sie im Aschenbecher aus. »Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt«, erwiderte er geduldig. »Ich weiß nicht, wo Gunson in den vergangenen sechs Monaten war. Ich wusste nicht, dass er vermisst wurde.« Er hob den Stuhl auf, der umgefallen war. »Ich weiß jedoch, weshalb er sich versteckt hat.«

»Weshalb?«

Liddell setzte sich und zog den Stuhl näher an den Schreibtisch. »Vor sechs Monaten geriet er in eine Klemme und schoss. Er dachte, er hätte einen Mann namens Harlan Johnson erschossen. Deshalb tauchte er unter.«

Herlehy fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Und?«

»Vor ein paar Tagen fand er eine Zeitung, und aus dieser starrte ihm plötzlich das Gesicht des Mannes entgegen, den er seiner Meinung nach umgebracht hatte. In der Zeitung stand jedoch, dass dieser Mann am Tag zuvor bei einem Autounfall auf Long Island ums Leben gekommen sei.«

»Weshalb kommt er dann zu Ihnen? Weshalb nicht zu uns, solange er nichts zu befürchten hatte?«

»Er war überzeugt, es sei eine Falle, die ihn aus dem Versteck locken sollte. Wie konnte der Mann schließlich bei einem Autounfall ums Leben kommen, wenn er bereits tot war? Er wollte ganz sichergehen. Er hatte es satt, davonzulaufen, und wenn der Mann auf irgendeine wundersame Weise am Leben geblieben war, brauchte er sich nicht mehr zu verstecken. Aber er wollte von mir festgestellt haben, dass es eine Leiche gab und dass es die Leiche des Mannes aus der Zeitung war.«

»Und?«

Liddell zuckte die Achseln. »Ich glaube, es war der Mann. Er hatte auf der Kinnbacke eine Narbe, die Gunson mir beschrieben hatte, und es war der Mann aus der Zeitung. Sein Name war John Harlan, was einige Ähnlichkeit mit dem Namen Harlan Johnson hat, unter dem Gunson ihn kannte. Aber eins stimmte nicht. Die Leiche hatte keine Kugelnarben.«

»Vielleicht hat er vorbeigeschossen.«

Liddell schüttelte den Kopf. »So wie er erzählte, ist es ausgeschlossen. Er sah, wie dem Mann das Blut aus Nase und Mund lief.«

»Und Sie kaufen ihm seine Geschichte ab? Er schießt einem Mann einen Haufen Löcher in den Bauch, und hinterher hat der Kerl keine Narben. Er weiß, dass der Mann tot ist, weil er eine Menge Blut vergießt, aber der Kerl sucht sich einen anderen Ort und eine andere Zeit aus, um zu sterben. Das klingt ziemlich verworren.«

Liddell zuckte die Achseln. »Richtig«, gab er zu. »Aber es gibt noch etwas anderes, was die Sache möglich erscheinen lässt: John Harlan hatte ein langes Vorstrafenregister wegen Betrügereien.«

Die Augen des Inspektors wurden schmal. »Täuschung?«

»Inspektor, Sie sind doch noch nicht so lange vom Betrugsreferat weg, dass Sie vergessen haben könnten, wie ein Betrüger jemand zum Schweigen bringt, der ihn womöglich anzeigen wird?«

Herlehy blickte nachdenklich drein. »Die Hühnerblase?«

»Natürlich. Der Betrüger hat eine dünne Gummiblase mit Hühnerblut zwischen den Zähnen. Wenn das Opfer anfängt, Krach zu schlagen, schiebt ihm der Gehilfe des Betrügers eine blindgeladene Waffe in die Hand. Das Opfer drückt den Auslöser, der Betrüger beißt auf die Blase, und das Blut spritzt ihm aus Nase und Mund.«

Der Inspektor stand vom Stuhl auf, ging ans Fenster und schloss es. Er ging zum Schreibtisch zurück und fuhr sich mit der Hand erneut durchs Haar. »Und was hat Gunson gesagt, als Sie ihm das erzählten?«

»Ich hatte keine Gelegenheit dazu. Ich rief ihn von der Leichenhalle aus an, um ihm zu sagen, dass es der gleiche Mann sei, dass er aber keine Kugelnarben habe. Bis dahin kam ich. Dann hing er ein, und als ich in das Hotel kam, war er weg.«

Der Inspektor brummte. »Also ist ihm klargeworden, dass man ihn reingelegt hat, und er stürzte davon, um sich zu rächen. An wem? An dem Betrüger? Der war bereits tot.« Er schüttelte den Kopf. »Er ging zum Fluss, das war es, wo er hinging.«

»Dann beantworten Sie mir dies«, gab Liddell zurück. »Weshalb sollte er hingehen und sich umbringen, wo er jetzt außer Gefahr war, und warum hat er es nicht in den sechs Monaten getan, als er dachte, er würde wegen Mordes gesucht?«

»Er hätte sich nicht umgebracht. Nicht, wenn er bei Verstand gewesen wäre«, gab Herlehy zu. Er setzte sich, griff in den Kasten am Rand des Schreibtisches und holte einen Stoß zusammengefalteter Briefbogen heraus. »Aber er war nicht bei klarem Verstand.« Er blätterte die Seiten durch und zog die eine heraus, nach der er suchte. »Hören Sie sich das an...« Er blinzelte, während er vorlas. »Vor sechs Monaten hatte Martin Gunson einen vollkommenen Nervenzusammenbruch. Er litt unter Verfolgungswahn und einer tiefen Melancholie...«

»Wer sagt das?«, wollte Liddell wissen.

Herlehy warf ihm einen scheelen Blick zu. »Sein Sohn sagt das. Und sein Arzt.«

»Weshalb wurde davon nichts bekannt? Ein Mann von der Bedeutung Gunsons...«

»Das ist gerade der Punkt. Sie hielten es geheim, damit es nicht der Firma schade. Sie wollten ihn

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Frank Kane/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Erika Nosbüsch, Michael K. Georgi, Walter Spiegl, Heinz F. Kliem und Christian Dörge.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 13.03.2021
ISBN: 978-3-7487-7708-3

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