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Leseprobe

 

 

 

 

John Alexander Graham

 

 

Sterben für Cézanne

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 199

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

STERBEN FÜR CÉZANNE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Nicht zu glauben: Beim Einbruch in eine New Yorker Kunstgalerie bleibt ein wertvoller Cézanne verschont!

Aber dann wird ein leitender Angestellter des Metropolitan-Museums ermordet, einer seiner Kollegen entgeht nur knapp einem Mordanschlag.

Wer ist so verrückt, dass er für ein Gemälde tötet und es dann doch nicht in seinen Besitz nimmt?

 

Der Roman Sterben für Cézanne von John Alexander Graham  erschien erstmals im Jahr 1970; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1972.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   STERBEN FÜR CÉZANNE

 

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Sie stehen genau davor«, sagte der Museumswärter.

»Hier ist es?«, fragte Roger Murray und deutete auf die Tür, die er zwanzig Minuten lang vergeblich gesucht hatte. »Warum hängt hier denn kein Schild, zum Beispiel Abteilung für Europäische Malerei? Hinter der Tür könnte auch ein Besenschrank sein.«

»Auf diese Weise wollen wir ungebetene Gäste fernhalten.« Der Wärter lachte leise. »Es geht doch nicht, dass da jeder einfach hineinspaziert.«

»Ja, ich verstehe.«

»Worauf warten Sie noch? Gehen Sie ruhig hinein. Natürlich ist noch niemand da, aber Sie können sich ja drinnen hinsetzen und warten. Lange kann es nicht mehr dauern.« Er sah auf die Uhr. »Die Sekretärinnen müssten in einer Viertelstunde hier sein.«

Murray trat durch die Tür. Die Büros dahinter waren ungefähr L-förmig angeordnet. Er befand sich in einem hohen, geräumigen Wartezimmer am Knick des L. Die Einrichtung bestand aus zwei Stühlen, einem abgewetzten Ledersofa und zwei großen Schreibtischen mit je einer zugedeckten Schreibmaschine darauf. Bücherregale, in denen ziemliche Unordnung herrschte, säumten die Wände, die in einem trostlosen Beige gehalten waren. Die beiden großen Fenster waren ungeputzt, ließen aber dennoch viel Licht herein und gestatteten einen Blick auf die gegenüberliegende Wand des Innenhofs, die von der Morgensonne mit den Konturen des Daches samt Schornsteinen, Antennen und Entlüftungsrohren bemalt wurde.

»Curatorial Assistent«, murmelte er und setzte sich auf die Couch. Dieser Titel klang nicht übel, und es brauchte ja niemand zu wissen, dass es der bescheidenste Posten war, den das Metropolitan-Museum einem Kunsthistoriker anzubieten hatte. Aber es war immerhin etwas.

Murray holte tief Luft. War es wirklich richtig gewesen, diesen Posten anzunehmen? Hatte Chandler ihn vielleicht doch schlecht beraten?

Als vor drei Wochen das Angebot gekommen war, hatte er selbstverständlich Alan Chandler gefragt. Natürlich durfte man von ihm keine unvoreingenommene Meinung erwarten, das wäre lächerlich gewesen. Sachlichkeit war ungefähr das letzte, was man bei einem Mann suchen sollte, der so wie Chandler aus dem Metropolitan-Museum ausgeschieden war.

Alan war ein Jugendfreund von Ira Murray, Rogers älterem Bruder, und hatte sich erst mit Roger angefreundet, wo beide zwei Jahre zusammen studiert hatten. Bis vor etwa einem Monat war Chandler Associate Curator im Met gewesen. Eine tolle Geschichte! Schon an der Universität hatte man ihm eine großartige Karriere prophezeit, weil er zu den jungen Wissenschaftlern gehörte, die bereits vor ihrer Doktorarbeit scharfsinnige Artikel veröffentlichten und dadurch Angebote von großen Museen und Universitäten erhalten hatten. Aber Chandler war nicht nur klug, er war auch furchtlos. Die meisten Kunsthistoriker, die für ihre Doktorarbeit ein noch ungepflügtes Feld suchen oder zumindest eine neue Antwort auf eine alte Frage nehmen, suchten Zuflucht zur vorkolumbianischen Gräberkunst oder zur byzantinischen Kalligraphie. Über Monet und Corot sind schon so viele Liter Tinte verspritzt worden, dass sich viele Doktoranden lieber den korsischen Mosaiken aus dem dritten Jahrhundert zuwenden.

Doch Chandler war anders: Er wusste, was er wert war, und er interessierte sich für die französische Malerei des neunzehnten Jahrhunderts. Vor seiner Dissertation, die unter Kunstkritikern großes Aufsehen erregte, hatte er schon mehrere Aufsätze über Monet geschrieben, die auch einigen einflussreichen Leuten beim Metropolitan-Museum zu Gesicht kamen. Offenbar ziemlich aufgeregt, schrieb man ihm einen Brief. Chandler war darüber zwar erfreut, aber nicht begeistert. Schließlich sollte es ja ein Geschäft auf Gegenseitigkeit werden. Sie mussten sich seiner Meinung nach genauso glücklich schätzen wie er, dass sie ihn entdeckt hatten. Roger fand, ein bisschen Prahlerei sei verständlich. Es war ja auch beinahe wahr.

Dieselbe Aufrichtigkeit war es, die Chandler später wieder seinen Job kostete. Er spezialisierte sich auf Cézanne und schrieb weitere Fachartikel. Überall spendete man ihm Beifall, doch in der Abteilung für europäische Malerei bildeten sich schon die ersten Vorbehalte. Seine unermüdliche Arbeit weckte den Verdacht, dass er es auf die Posten der anderen Kuratoren abgesehen haben könnte. Doch das stimmte ganz und gar nicht. Chandler vertiefte sich ganz in seine Arbeit und kümmerte sich nicht um die internen Intrigen. Er war so aufrichtig, dass er die Motive anderer meistens nicht erkannte. Mit einer Naivität, die fast schon mitleiderregend war, ging er davon aus, dass Museums-Curatoren wie Fabrikarbeiter hauptsächlich nach ihrer Leistung beurteilt werden.

Er war acht Monate beim Met, da trat der Leiter der Abteilung für Europäische Malerei in den Ruhestand. Die Verwaltung ernannte einen gewissen Gould zu seinem Nachfolger. Chandler war wütend. Seine bisherige Arbeit war sogar in London gewürdigt worden. Er konnte nicht begreifen, dass man Gould ihm vorzog. Wäre es irgendein Außenseiter gewesen, hätte er es noch verstanden, aber Gould...? Für Chandler gab es zwei Kollegen in der Abteilung für Europäische Malerei, die indiskutabel waren: eine gewisse Thalia Reynolds und Oscar B. Gould. Beide gehörten zu den Leuten, die in jedes Bild alles Mögliche Geheimnisvolle hineindichten.

Kaum hatte Chandler von Goulds Beförderung erfahren, da war er auch schon im Büro des Direktors, sagte ihm die Meinung und kündigte. Danach besuchte er Gould. Der neue Abteilungsleiter betrachtete gerade Dias, die er bei einer kürzlichen Paris-Reise im Louvre aufgenommen hatte. Das Klappen der Tür und ein leises Husten konnten Gould in seiner Beschäftigung nicht stören. Da schlug Chandler so hart mit der Faust auf den Tisch, dass die Diapositive hochhüpften und, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, wie welke Blütenblätter zu Boden fielen. Er sagte Gould klipp und klar, was er von seiner Arbeit halte, und zitierte dabei manchmal wörtlich aus seinen eigenen Schriften. Goulds Blut geriet ebenfalls in Wallung, und als er endlich die Sprache wiederfand, warf er Chandler hinaus und riet ihm, er solle sich hier nie wieder blicken lassen. »Das wird mir ein Vergnügen sein«, antwortete Alan. »Und falls es Ihnen noch nie jemand gesagt hat - Sie riechen aus dem Mund.«

Eine Woche später verließ Chandler New York, kehrte nach Cambridge zurück und fand eine neue Stellung im Bostoner Museum der schönen Künste. Dort wurde er mit einigem Respekt behandelt.

Roger hatte sich beim Met beworben, als sein Freund noch nicht in Ungnade gefallen war. Wegen seiner Aussichten machte er sich keine großen Hoffnungen. Da ihm Chandlers Kühnheit fehlte, hatte er eine Arbeit über unbekannte Schüler Giottos verfasst, obgleich sein eigentliches Interesse auch den französischen Impressionisten galt. Es war der sicherere Weg: Wenn man seine Doktorarbeit abgeschlossen hatte, konnte man sich in Ruhe mit dem beschäftigen, was einem Spaß machte. Murray hatte das Met davon unterrichtet, dass er sich auf Manet zu spezialisieren gedenke.

Als das Angebot vom Museum eintraf, hatte Chandler seinen Posten schon verloren, und Roger war nachdenklich geworden. Er verließ nur ungern Cambridge und seine neuen Freunde, die durchweg Junggesellen waren. Doch Chandler hatte einen klaren Standpunkt vertreten und vor allem darauf hingewiesen, dass das Met eine der besten Manet-Sammlungen außerhalb Frankreichs besitze. Für einen Gelehrten sei das eine großartige Chance. Außerdem könne Roger vorübergehend bei seinem Brüder wohnen, bis er eine eigene Wohnung gefunden hatte. Ira Murray wohnte in der 79. Straße Ost, also nicht weit vom Museum.

Seine eigenen unerfreulichen Erfahrungen mit dem Metropolitan-Museum hatte Chandler fast vergessen. Was mache es schon, sagte er, wenn man notgedrungen den unsinnigen Theorien des Abteilungsleiters Gould zustimme, wichtiger sei es für Murray, mit seiner Arbeit voranzukommen. Solange er den Namen Alan Chandler nicht erwähne, sei er einigermaßen sicher. Und das könne nicht zu schwierig sein.

Murray hörte Schritte näher kommen und sprang vom Sofa auf. Dann sah er zu seiner Erleichterung zwei Mädchen von Anfang Zwanzig eintreten. Die kleinere der beiden trug ein Pucci-Kleid - zweifellos eine Kopie gewaltige Ohrringe und eine riesige Sonnenbrille. Die meisten Mädchen in New York ziehen sich so an, als würden sie heute bestimmt dem Mann fürs Leben begegnen.

Sie erschrak ein wenig, als sie Roger erblickte. »Großer Gott, haben Sie mir einen Schrecken eingejagt. Ich dachte schon, es hätte jemand eingebrochen.« Sie wandte sich an ihre Kollegin. »Aber er sieht nicht aus wie ein Einbrecher, was meinst du, Dor?«

»Nein«, antwortete das andere Mädchen in sachlichem Ton. Ihre Brille war schlicht und bestimmt nicht als Schmuckstück gedacht.

»Der Fensterputzer ist es auch nicht«, fuhr das erste Mädchen fort. »Ich hab’s! Sie kommen vom CIA.« Sie hielt inne. »Dafür wirkt er eigentlich zu unsicher.«

Seltsamerweise überwand Murray gerade durch diese Bemerkung seine Verlegenheit. Er stellte sich vor. »Ich fange heute hier zu arbeiten an.«

»Mein Name ist Sandy Janis«, sagte die lebhaftere der beiden. »Das hier ist Doris Corman.«

Doris ließ sich bereits hinter ihrem großen Schreibtisch nieder.

»Doris nimmt immer alles furchtbar ernst«, raunte ihm Sandy zu.

Doris kramte eine Puderdose aus ihrer Handtasche, nahm die Brille ab und sah aufmerksam in den Spiegel.

»Jedenfalls sind Sie im richtigen Augenblick gekommen«, sagte Sandy. »Sie wissen wahrscheinlich, dass wir gerade im Begriff sind, einen großartigen Cézanne zu kaufen. Zu einem astronomischen Preis. Sie wissen schon: Schlagzeilen in den Zeitungen, Sonderausstellung mit bewaffneten Wächtern und so weiter.«

»Wirklich? Ich habe noch nichts davon gehört.«

»Nein? Wissen Sie, Mr. Murray...«

»Roger.«

»Wissen Sie, Roger, wenn Sie nicht die Augen offenhalten, werden Sie sich hier nicht lange behaupten können. Wenn wir schneller gewesen wären, hätten wir das Bild jedenfalls erheblich billiger kriegen können. Das kann ich Ihnen sagen.«

»Das Museum hat es noch nicht gekauft?«

»Es wird am nächsten Mittwoch, also morgen in einer Woche, versteigert. Sagt Ihnen der Name James Aldeburg etwas?«

Murray machte ein hilfloses Gesicht.

Sandy schlug sich die Hand vor die Stirn. »Na, hören Sie, das ist doch dieser schrecklich reiche Millionär.«

»Die meisten Millionäre sind reich«, warf Doris ein.

»Er ist dieser schrecklich reiche Millionär«, wiederholte Sandy entschlossen. »Jedenfalls war er es.«

»Er ist gestorben?«

»Ja, vor etwa drei Wochen. Und er hat alles seiner Frau hinterlassen. Im Vertrauen gesagt: Ich halte sie nicht für sehr klug. Jedenfalls versteht sie nichts von Kunst.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Sie wollen alles genau wissen, wie? Das wird Mr. Emerson gefallen. Entweder hat diese Mrs. Aldeburg wirklich keinen Kunstverstand, oder sie ist furchtbar leicht zu beeinflussen. Jedenfalls hat der Kunsthändler Albert Fischer sie regelrecht überfahren. Von ihm haben Sie vielleicht schon gehört. Er ist in der Kunstwelt nicht besonders gut angesehen. Und er hat dem armen Ding das Bild zu einem Schleuderpreis abgenommen.«

»Arm? Wieviel hat sie denn dafür bekommen?«

»In dem Artikel stand nur: Der Preis soll angeblich über siebenhunderttausend Dollar liegen.«

»Damit kann sie doch zufrieden sein.«

»Aber das Bild ist viel mehr wert. Wir werden dafür wahrscheinlich über eine Million hinlegen müssen. Außerdem glaube ich wirklich, dass die arme Mrs. Aldeburg für das entschädigt werden muss, was ihr Mann ihr angetan hat.«

»Hat sich bis zuletzt ziemlich herumgetrieben«, warf Doris ein.

»Über solche Leute gehen natürlich viele Gerüchte um«, sagte Murray besänftigend.

Aber Doris duldete keinen Widerspruch. »Es waren keine Gerüchte.«

»Was ich sagen wollte«, fuhr Sandy fort. »Mrs. Aldeburg hat das Bild an Fischer verkauft, und jetzt wird es versteigert. Fischer gehört zu den Händlern, die nur auf Auktionen verkaufen. Das Bild wird wahrscheinlich über eine Million kosten. Außer dem Museum gibt es noch andere Interessenten.«

»Eine Million? Um welches Bild handelt es sich denn? Wahrscheinlich kenne ich es.«

»Bisher haben es nur fünf Menschen auf der ganzen Welt gesehen. Sie hätten doch den Artikel lesen sollen. Aldeburg war ein wenig komisch. Er hatte eine riesige Kunstsammlung, aber er zeigte sie niemandem. Manche Leute behaupten, das Zeug sei gestohlen. In manchen Fällen stimmt das vielleicht sogar. Ich weiß es nicht. Jedenfalls soll er eine erstaunliche Sammlung von Picasso, Monet, Cézanne, Degas und auch ein paar älteren Meistern gehabt haben. Was er im Einzelnen besaß, ist immer noch nicht genau bekannt, weil seine Frau alles streng unter Verschluss hält. Wahrscheinlich im Andenken an den Toten.«

»Und der Cézanne?«

»Den verkauft sie, weil sie ja von etwas leben muss.«

»Ich meine, ist der Cézanne gestohlen?«

»Aber nein. Das würde sie nie riskieren. Der Weg des Bildes lässt sich genau zurückverfolgen. Aldeburg hat es 1920 bei einer Auktion in Paris gekauft. Davor hing es in der Sammlung von Renoir. Seitdem haben vielleicht drei Menschen außer Aldeburg selbst das Bild zu sehen bekommen, darunter auch seine Witwe, die einen Cézanne nicht von einem Max Schwartz unterscheiden kann, wenn Sie mich fragen.«

»Max Schwartz?«

»Das ist der Mann, der im letzten Sommer unsere Wohnung ausgemalt hat. Deshalb verkauft sie ja den Cézanne: Er sagt ihr nichts. Andererseits hängt sie sehr an Porträts von Lincoln, Grant und Jackson.«

»Siebenhunderttausend ist für ein unbekanntes Bild trotzdem viel Geld.«

»Es ist sehr groß. Eines seiner letzten Werke. Wir laufen uns fast die Hacken ab, um es zu bekommen.« Sie hielt inne. »Zumindest einige von uns.«

»Also sind nicht alle dafür?«

»Da haben Sie recht. Mr. Emerson passte es ganz und gar nicht. Sehen Sie, er hält nichts davon, wenn ein Museum solche Schlagzeilen macht. Dann kommen die Leute herein und wollen eine Million bewundern, aber nicht ein Bild.«

»Nur bekommt man so etwas nicht billiger«, meinte Murray.

»Das sagt ihm Mr. Ferris auch immer. Über diesen Punkt streiten die beiden andauernd. Wenn man für ein gutes Bild viel bezahlen muss, dann steht es eben in der Zeitung. Die beiden kommen nicht gut miteinander aus.«

»Ist dieser Mr. Ferris neu hier?«

Kurz vor seiner Abfahrt aus Cambridge hatte sich Murray von Chandler informieren lassen. Natürlich war Alan nicht objektiv, aber er beschrieb ihm sehr genau die Angehörigen der Abteilung für Europäische Malerei und ihre verschiedenen Eigenarten. Danach erzählte er Murray das wenige, das er über andere Persönlichkeiten des Museums bis hinauf zum Direktor wusste. Ein Ferris war in diesem Bericht nicht vorgekommen.

»Er ist seit drei oder vier Monaten hier. Er war schon früher einmal in der engeren Wahl, aber da hatten wir keinen Posten frei. Er kam als Ersatz für einen gewissen Chandler, der kündigte, weil er nicht befördert worden war. Ein bisschen eigensinnig, dieser Chandler, aber mir gefiel er. Ein richtiger Elefant im Porzellanladen.« Sandy sah ihn aufmerksam an und fragte: »Wie kommen Sie darauf, dass Ferris hier neu ist?«

»Nun, es war nur so ein Gedanke.«

»Aha.«

»Und dieser Chandler«, sagte Roger, der einfach nicht widerstehen konnte. »Warum hat er nun eigentlich gekündigt? Man geht doch nicht, nur weil man bei einer Beförderung übersehen worden ist.«

»Er war eben ein Dickkopf. Außerdem wusste er, was er wert war. Wenn ich etwas hasse, dann ist es falsche Bescheidenheit. Er hat sich jedenfalls mit dem Direktor und mit Mr. Gould angelegt. Das konnten die beiden ihm wohl nicht verzeihen. Trotzdem verstehe ich die Sache immer noch nicht ganz. Wenn ich der Direktor wäre, hätte ich ihn niemals gehen lassen. Er wird eines Tages ein berühmter Mann sein. Das kann ich Ihnen sagen. Soviel ich weiß, arbeitet er jetzt in einem Museum in Boston.«

»Dann hat er also wenigstens einen neuen Posten gefunden.«

»Wir müssen jetzt arbeiten«, sagte Sandy plötzlich und schlüpfte aus ihrem Mantel. Dann richtete sie ihre Frisur, zog ihr Kleid gerade und setzte sich neben Doris an den zweiten Schreibtisch.

»Ich nehme an, Sie sind mit Ihrem Job zufrieden«, meinte Murray. Trotz ihrer Ankündigung schien Sandy keine große Lust zu haben, ihre Schreibmaschine abzudecken.

»Er ist nicht schlecht. Für mich kam nur so etwas oder ein Kunstverlag in Frage. Von einem Universitätsdiplom hat man heutzutage ja nicht viel.«

»Sie haben studiert?«

»Hör dir das an, Dor. Er glaubt, wir können gerade mit Mühe und Not lesen und schreiben. Da muss ich Sie enttäuschen: Ohne ein Diplom dürfen Sie hier nicht einmal den Fußboden wischen. Wer die Mülltonnen hinausträgt, muss schon das Staatsexamen in Kunstgeschichte haben. Wissen Sie vielleicht, wie viele Sekretärinnen es in Manhattan gibt? Ich weiß es auch nicht, aber ich wette, neunzig Prozent von ihnen haben studiert.«

»Wenn es so weitergeht, muss man Staatsexamen machen, bevor man die Oberschule verlässt«, bemerkte Murray.

»Sehr scharfsinnig. Setzen Sie sich da drüben auf das Sofa, und warten Sie auf Mr. Emerson. Er kommt meistens gegen zehn. An Ihrer Stelle würde ich die nächsten fünfundvierzig Minuten genießen. Es ist wahrscheinlich Ihre letzte freie Zeit, solange Sie bei uns sind.«

Murray griff nach einer Zeitschrift und setzte sich wieder.

Um zehn nach zehn wurde es laut vor der Tür. Ein hagerer Mann mit Hornbrille öffnete sie ein Stück und spähte hinein, als kenne er sich hier nicht aus. Dann kam er geräuschvoll näher. Er hängte seinen Mantel so sorgfältig an den Garderobenständer neben der Tür, als fürchtete er, das gute Stück könnte im Laufe des Tages hinunterfallen. Dann bemerkte er Roger, der wieder aufgesprungen war.

»Ach ja«, sagte der Mann mit müder Stimme, »Sie müssen Murray sein. Kommen Sie mit, kommen Sie mit.« Ohne sich umzusehen, steuerte er eins der anderen Büros an. »Mein Name ist Emerson.«

In seinem Büro legte Mr. Emerson seine große Aktenmappe auf den Schreibtisch neben dem Fenster. »Das da drüben ist Ihrer«, sagte er und deutete auf einen kleineren Schreibtisch in einer dunklen Ecke.

Murray sah nicht den Schreibtisch an, sondern Mr. Emerson. An seinem Jackett war ein Knopf locker, und an mehreren Stellen hing unten das Jackenfutter heraus. Die Aktenmappe war an vielen Stellen mit Klebestreifen repariert. Über diesen Mann hätte ihm Chandler einiges erzählt. Emerson stammte aus einer vornehmen Familie, die immer viel auf Bildung gehalten hatte, und sein Großvater war 1890 an der Columbia-Universität Professor gewesen, als man dazu noch finanziell unabhängig sein musste. Seitdem hatte die Familie ständig von der Substanz gezehrt und so schlecht gewirtschaftet, dass die heute lebende Generation der Emersons auf ein Gehalt angewiesen war. Emersons Leben glich einem ständigen Kampf um die Bewahrung dessen, was übriggeblieben war.

Auch sein Privatleben ging langsam in die Brüche, wie Chandler berichtet hatte. Gelegentlichen Telefonanrufen von Mrs. Emerson, die sich nur selten blicken ließ, war zu entnehmen, dass die Ehe einer Katastrophe zusteuerte. Einmal hatte Emerson mit Alan darüber gesprochen. Mrs. Emerson reiste viel, meistens ohne ihren Mann, und führte dann lange Ferngespräche, die ihr Mann bezahlen musste. Was sie auf diesen Reisen eigentlich machte, wusste Emerson nicht, aber viele Leute konnten es sich denken.

Mr. Emerson stand mitten in seinem Büro und betrachtete es, als sei er noch nie hier gewesen. »Mein Gott«, stöhnte er, »ich dachte, jemand würde mal die Regale aufräumen.«

»Ich garantiere Ihnen, dass es heute passiert, Mr. Emerson«, rief Sandy aus dem Vorraum. »Tut mir leid, aber gestern habe ich es einfach nicht geschafft. Ich war entsetzlich mit Arbeit eingedeckt.«

 

»Sie tut so, als bekäme sie keine Luft mehr«, sagte Emerson zu Murray. »Sobald ich hier ein paar Dinge erledigt habe, werden wir uns ein wenig über die Grundsätze unterhalten, die jeder junge Mann am Metropolitan kennen sollte.« Er kramte in dem Stapel Drucksachen auf seinem Schreibtisch, griff nach einem vervielfältigten Blatt und sagte: »Ach, Murray, während ich das hier mache, könnten Sie Miss Janis bitten, mich mit Mr. Gould zu verbinden. Er und Mr. Ferris haben gestern mit dem Anschaffungsausschuss konferiert. Sie haben vermutlich von dem Cézanne gehört, an dem wir interessiert sind.«

»Ein Spätwerk, nicht wahr?«

Emerson hielt noch einmal in der Arbeit inne und sah Murray an. »Eins möchte ich Ihnen von vornherein sagen: Bei mir brauchen Sie nicht Eindruck zu schinden. Ich habe Ihre Arbeiten gelesen. Sie sind - recht brauchbar. Nachdem das geklärt ist, könnten Sie vielleicht...« Er deutete zur Tür.

Murray gab Mr. Emersons Bitte weiter, aber Sandy hatte bereits versucht, Gould zu erreichen. Das Mädchen ist hellwach, stellte Murray fest. Sie griff wieder nach dem Apparat und wählte Emersons Nummer. »Mr. Gould ist noch nicht im Haus, Mr. Emerson.«

»Versuchen Sie es weiter«, sagte Emerson in einer Lautstärke, die das Telefon überflüssig machte. »Sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie ihn erwischen. Murray!«

Murray ging wieder hinüber.

Als er sich gesetzt hatte, erklärte Emerson: »Nun zu Ihren Aufgaben, Mr. Murray. Sie werden sich vor allem mit den Artikeln, um die man uns bittet, beschäftigen, ferner Berichte an die Verwaltung zusammenstellen und Beiträge für verschiedene Publikationen des Museums schreiben.« Er erläuterte ausführlich das Arbeitsprinzip der Abteilung für Europäische Malerei. Als er sich gerade über Kataloge ausließ, erblickte er etwas auf dem Fußboden und hielt mitten im Satz inne. »Verdammt«, sagte er, dann rief er: »Miss Janis!«

»Ja, Mr. Emerson?« Es klang ein bisschen gereizt, als könnte sie sich nicht gleichzeitig auf ihre Arbeit und seine Wünsche konzentrieren.

»Vielleicht irre ich mich, aber habe ich Sie nicht schon vor einer Woche gebeten, diesen Karton mit Mr. Chandlers Sachen aus meinem Büro zu entfernen?«

»Ja, das haben Sie, Mr. Emerson. Aber ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Der Karton stand vorher drei Wochen lang in Mr. Goulds Büro und davor...«

»Das geht mich nichts an. Sorgen Sie dafür, dass das Zeug verschwindet, wenn Sie die Regale aufräumen. Und zwar noch heute Nachmittag.«

»Aber wohin soll ich...«

»Versuchen Sie es einmal bei Mr. Ferris. Ich glaube, bei ihm hat der Karton noch nicht gestanden.«

»Ja, Mr. Emerson.« 

»Nein, Mr. Emerson.« 

Ein rundlicher Mann mit einem strahlenden Gesicht stand plötzlich im Büro. Er trug einen üblichen grauen Anzug, aber handgesteppte Schuhe mit hübschen Schnallen. Auch durch die modischen Koteletten unterschied er sich von den anderen.

»Guten Morgen, George. Ich nehme an, das ist unser neuer Curatorial Assistent.«

Emerson sagte: »Roger Murray - Stanley Ferris.« 

»Nun zu diesem Karton«, erklärte Ferris. »In meinem Büro habe ich keinen Platz dafür.« Er lächelte. »Bei mir muss alles ordentlich sein.« Er gehörte offenbar zu den Menschen, die mit ihrem unerschütterlichen guten Humor bei ihren Mitmenschen oft Mordgelüste wecken.

»Sie sollten mir mal Ihr Geheimnis verraten, Stanley«, meinte Emerson. »Wie bringen Sie es nur fertig, dass Ihr Schreibtisch immer so ordentlich aussieht? Wenn ich etwas weglege, wächst sofort etwas anderes nach.«

»Das müssen Sie schon selbst herausfinden«, sagte Ferris, dann wurde er ernst. »Gould und ich haben gestern mit der Anschaffungskommission konferiert, George.«

»Und?«

»Sie wollen unbedingt Aldeburgs Cézanne haben. Sie sind noch nicht sicher, wie weit sie gehen wollen, aber ich habe das Gefühl, dass sie eineinhalb Millionen akzeptieren würden. Darunter kriegen wir das Bild ohnehin nicht. Natürlich wurde dauernd davon geredet, wieviel wir in letzter Zeit ausgegeben haben.«

»Sehen Sie mich nicht so an. Falls Sie sich erinnern: Ich war gegen den Monet.«

»Glauben Sie mir, George, Ihnen macht man keinen Vorwurf. Ich habe sogar das Gefühl, dass Sie wegen Ihrer Sparsamkeit bei der Verwaltung einen Stein im Brett haben. Nein, ich werde immer angeschrien. Aber ich sage ja, wenn man gute Sachen haben will...«

»Muss man dafür bezahlen, ich weiß.«

»Seien Sie nicht so zynisch. So interessiert man wenigstens Leute für das Museum, die sonst nicht mit großer Kunst in Berührung kämen.«

»Die sollten vielleicht lieber zu Hause bleiben. Entschuldigen Sie mich.« Das Telefon auf Emersons Schreibtisch läutete. Ein paar Lämpchen blitzten auf. Er griff nach dem Hörer und meldete sich: »Emerson. Ja? Verbinden Sie mich. Guten Morgen, Mr. Fischer...«

Ferris nickte Murray leutselig zu.

»Danke gut. Und Ihnen? - Ja, ich höre... Wie war das? Wie konnte so etwas passieren? Was fehlt?«

Bei diesen letzten Worten sahen Ferris und Murray, wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen, Mr. Emerson an.

Es entstand eine längere Pause. Dann sagte Mr. Emerson: »Ja, ich verstehe. Es ist also alles in Ordnung. - Gut. - Floren Sie, ich werde wahrscheinlich einen meiner Leute bei Ihnen vorbeischicken, um mich aus erster Hand zu informieren. Vielen Dank für Ihren Anruf. Auf Wiederhören.« Er legte den Hörer auf, verschränkte die Hände und legte sie auf den Schreibtisch. »Großer Gott, George, lassen Sie uns nicht so zappeln«, sagte Ferris.

»Letzte Nacht wurde bei Fischer eingebrochen«, antwortete Emerson ruhig.

»Was?«, rief Murray.

»Großer Gott«, murmelte Ferris.

»Keine Aufregung, dem Cézanne ist nichts passiert.«

Ferris stieß einen tiefen Seufzer aus. »Soll das heißen, dass jemand in Fischers Galerie eingebrochen hat, ohne den Cézanne anzurühren? Was soll das?«

»Das dürfen Sie mich nicht fragen. Fischer war auch ein wenig verwirrt. Er hat erwähnt, der Cézanne hänge versteckt in einem Hinterzimmer.«

»Und warum, zum Teufel, wurde eingebrochen? Was ist gestohlen worden?«

»Ein paar Amerikaner aus dem neunzehnten Jahrhundert, Bilder, die kein Mensch haben will.«

»Ist irgendwelcher Schaden entstanden? Ich meine, was ist eigentlich geschehen?«

»Regen Sie sich nicht so auf, Stanley. Ich will noch einmal versuchen, Oscar zu erreichen. Vorhin war er noch nicht da. Dabei verspätet er sich sonst nie. Ich glaube, wir sollten jemanden hinüberschicken und uns wenigstens den Cézanne genau ansehen.« Emerson griff wieder nach dem Hörer und bat Sandy, es noch einmal bei Gould zu versuchen. Nach einer Weile legte er auf. »Immer noch nicht da. Seltsam, nicht wahr?«

»Vielleicht hat ihn jemand zu Hause angerufen, und er ist schon in der Galerie.«

»Nein, das hätte Fischer mir bestimmt gesagt.« Er seufzte. »Dann muss ich wohl selbst hingehen. Dabei...« Er hielt inne. »Ich habe eine Idee. Murray, Ihre erste offizielle Mission im Auftrag des Metropolitan besteht darin, in der Galerie von Albert Fischer nach dem Rechten zu sehen. Sagen Sie ihm, dass ich heute noch selbst vorbeikomme. Und bitten Sie Miss Janis, immer wieder bei Mr. Gould anzurufen.« Kopfschüttelnd fügte er hinzu: »Das sieht Oscar überhaupt nicht ähnlich.«

»Ich hab’s gehört«, sagte Sandy,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: John Alexander Graham/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge (Model: Anna Borkowska).
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Norbert Wölfl und Christian Dörge (OT: The Aldeburg Cézanne).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2021
ISBN: 978-3-7487-7644-4

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