ERIC FRANK RUSSELL
GEDANKENVAMPIRE
- Galaxis Science Fiction, Band 36 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
GEDANKENVAMPIRE
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Das Buch
Bill Graham ahnte noch nichts von den mysteriösen Todesfällen in Dortmund und London oder ihrem gefährlichen Zusammenhang, als er in New York Zeuge des Todessturzes eines Menschen wird: Professor Walter Mayo stürzt aus dem 16. Stock des Hochhauses, in dem sein Labor untergebracht ist...
Irgendjemand, irgendetwas hat es auf die Wissenschaftler der Erde abgesehen. Sie müssen sterben, weil sie einer unheimlichen Bedrohung auf die Spur gekommen sind: den Gedankenvampiren...
GEDANKENVAMPIRE von ERIC FRANK RUSSELL (geboren am 6. Januar 1905 in Sandhurst, Surrey; gestorben am 28. Februar 1978 in Liverpool) erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
GEDANKENVAMPIRE
Erstes Kapitel
»Ein schnelles Ende droht der Kuh, die als erste gegen das Gemolkenwerden protestiert«, sagte Professor Peter Bjornsen halblaut vor sich hin. Diese etwas ungewöhnliche Bemerkung beruhte auf einer außerordentlich furchterregenden Erkenntnis. Er strich mit den langen, schlanken Fingern durch das vorzeitig weiß gewordene Haar. Seine Augen, bei deren Anblick man unwillkürlich an Frösche oder Fische erinnert wurde, glänzten seltsam, so als habe ihn ein unbekanntes Fieber gepackt. Er starrte aus dem offenen Fenster seines Büros. Drei Stockwerke tiefer brauste der Verkehr durch die Straßen Stockholms. Aber die Augen des Professors waren ins Leere gerichtet.
»Und die erste Biene, die sich dagegen auflehnt, dass man ihr den Honig wegnimmt, stirbt unter dem Schuh des Imkers.« Bjornsen schien das Rauschen des Verkehrs gar nicht wahrzunehmen. Plötzlich weiteten sich seine Augen, Angst sprach aus seinem Blick. Eine unnatürliche Kraft schien ihn zum Fenster zu ziehen, unwiderstehlich, so sehr er sich auch zu sträuben schien.
Er hob die Hände, als wolle er sich gegen etwas stemmen. Wie unter einem hypnotischen Zwang folgte sein Blick einer formlosen, farblosen Scheibe, die durchs Fenster herein und zur Decke des Raumes schwebte. Mit einer schier unmenschlichen Anstrengung drehte er sich um und rannte zur Tür. Auf halbem Wege stieß er ein kurzes Ächzen aus, begann zu stolpern, stürzte. Im Fallen streckte er die Hand aus und riss den Terminkalender vom Schreibtisch. Er begann zu keuchen, presste die Hand gegen das Herz und rührte sich nicht mehr. Der Lebensfunke war erloschen. In einem leichten Luftzug, der plötzlich aufkam und sich gleich wieder legte, flatterte das oberste Kalenderblatt. Es war der 17. Mai 2015.
Fünf Stunden vergingen, bevor die Polizei zu Bjornsen kam. Der Gerichtsarzt stellte Herzversagen fest, und das schrieb man auch auf den Totenschein. Auf dem Schreibtisch des Professors fand Polizei-Lieutenant Becker einen Zettel mit einer Notiz in der Handschrift des Toten.
Nicht genug zu wissen, ist gefährlich. Kein Mensch ist fähig, sich jede Sekunde des Tages bewusst zu sein, was er denkt; und über das, was er nachts träumt, weiß er so gut wie gar nichts. Ich weiß, dass ich bald sterben werde. Wenn das geschieht, dann muss...
»Muss was?«, fragte Becker. Er bekam keine Antwort. Die Stimme, die ihm die schockierende Auskunft hätte geben können, war für immer verstummt. Der Lieutenant hatte gehört, was der Gerichtsmediziner über die Todesursache gesagt hatte. Er verbrannte den Zettel. Der Professor war eben, so überlegte er, wie alle anderen Wissenschaftler ein komischer Kauz gewesen. Wenn solche Leute alt wurden, dann taten sie manchmal die verrücktesten Dinge. Musste wohl so sein, bei dem vielen akademischen Wissen, das diese Burschen Jahr für Jahr in sich hineinfraßen. Herzversagen stand auf dem Totenschein, und das war und blieb amtlich.
Am 30. Mai befand sich Dr. Guthrie Sheridan auf dem Weg durch die Charing Cross Road in London. Seine Bewegungen waren ruckartig wie die einer mechanischen Puppe. Sein Blick war starr in den Himmel gerichtet, während sich seine Beine wie aus eigenem Antrieb bewegten. Er sah aus wie ein Blinder, der den Weg kannte.
Als Jim Leacock den Doktor sah, fiel ihm dessen seltsames Benehmen erst nicht auf. Schnellen Schrittes ging er auf ihn zu und wollte ihm schon vertraulich auf die Schulter schlagen, als er entsetzt innehielt. Er blickte in das verzerrte Antlitz eines Menschen, der dem Wahnsinn nahe ist.
»Jim! Mein Gott, bin ich froh, dich zu sehen!«, sagte Guthrie und ergriff den Arm des anderen. Seine Stimme kam drängend. »Jim, ich muss mich mit jemandem aussprechen, sonst werde ich noch verrückt. Ich habe vorhin etwas ganz Unglaubliches entdeckt. Das hat es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben. Es ist einfach unfassbar. Aber es ist die Erklärung für gewisse Phänomene, die wir bisher überhaupt nicht beachtet haben.«
»Was hast du denn entdeckt?«, fragte Leacock. Er blickte den anderen neugierig an.
»Jim, eines kann ich dir jetzt schon sagen. Der Mensch ist ein Sklave. Er bestimmt weder über seinen Körper, noch über seine Seele. Jedes Tier im Wald ist besser dran -!« Er brach mitten im Satz ab und klammerte sich verzweifelt an den Freund. Seine Stimme wurde schrill. Hysterie klang durch. »Jetzt habe ich es gedacht, jetzt habe ich es gedacht!« Seine Knie knickten ein. »Es geht zu Ende mit mir!« Dann brach er auf dem Gehsteig zusammen.
Leacock beugte sich über ihn, öffnete sein Hemd, fühlte nach dem Herzschlag. Er spürte nichts. Das Herz des Mannes hatte aufgehört zu schlagen. Herzversagen, wie es schien.
Etwa um die gleiche Zeit, am selben Tag, ereilte Dr. Hans Luther ein ähnliches Schicksal. Man hätte es dem kleinen, rundlichen Wissenschaftler nicht zugetraut, dass er so schnell laufen konnte, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Er rannte durch sein Labor, die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße. Immer wieder wandte er den Kopf und blickte über die Schulter zurück. Ein glasiger Ausdruck stand in seinen Augen.
Er schleppte sich bis zur nächsten Telefonzelle und rief den Lokalredakteur der Zeitung an, einen Freund. »Vogel, ich habe etwas festgestellt, das von umwerfender Bedeutung ist. Ihr müsst es unbedingt drucken, ganz groß herausbringen, bevor es zu spät ist.«
»Könnten Sie das etwas präziser erklären?«, fragte Vogel.
»Ein breites Band ist um die Erdkugel gespannt, und darauf steht: Betreten verboten!« Schweißperlen liefen von Luthers Stirn herab.
»Sehr spaßig«, entgegnete der Redakteur, der das allerdings gar nicht lustig fand, denn sein Gesicht auf dem kleinen Bildschirm des Fernsehtelefons blieb ausdruckslos. Wissenschaftler, das wusste er, hatten manchmal die kauzigsten Einfälle.
»Sie müssen mich anhören!«, schrie Luther. Mit dem Handrücken wischte er sich über die Stirn. »Sie kennen mich doch. Sie wissen, dass ich nicht lüge, dass ich keine Witze mache. Alles, was ich Ihnen sagen werde, kann ich beweisen. Und ich sage Ihnen, dass unser Planet vielleicht schon seit Tausenden von Jahren eine... ah... ah!«
Dann herrschte Stille in der Telefonzelle, nur aus dem Hörer, den jetzt keine Hand mehr hielt, drang die erschreckte Stimme des Redakteurs: »Luther! Luther! Was ist geschehen?«
Aber Dr. Hans Luther konnte es ihm nicht sagen. Sein Körper rutschte an der Wand herab auf den Boden der Telefonzelle. Er verdrehte die Augen, die seltsam glänzten, und fiel auf die Seite.
Er öffnete den Mund, aber kein Geräusch kam mehr heraus. Er starb in grauenvoller Lautlosigkeit.
Der Redakteur schrie immer wieder den Namen des Wissenschaftlers, aber die toten Ohren hörten ihn nicht.
Bill Graham hatte keine Ahnung von diesen drei Ereignissen. Die Sache mit Mayo erlebte er jedoch mit. Ganz zufällig wurde er Zeuge des Geschehens.
Er ging gerade durch die vierzehnte Straße West in New York, als er völlig grundlos und ohne jegliche Veranlassung in die Höhe blickte. Neben ihm ragte der Wolkenkratzer des Martin Building in den Himmel. Und da sah er die menschliche Gestalt, die gerade an der Fensterreihe des zwölften Stockwerks vorbei herabstürzte.
Der Körper überschlug sich in der Luft, und es sah aus, als käme eine Vogelscheuche herunter. Mit einem lauten Klatschen, bei dem sich einem der Magen umzudrehen drohte, prallte die Gestalt auf das Pflaster, wurde durch die eigene Wucht ein paar Meter weiter geschleudert und blieb dann liegen. Es klang, als springe jemand mit beiden Füßen auf eine reife Melone. Die Betondecke des Gehsteigs sah aus, als habe man einen Kübel roter Farbe ausgekippt.
Zwanzig Meter von Graham entfernt blieb eine dicke Frau ruckartig stehen und starrte auf den großen roten Fleck und das formlose Bündel. Ihr Gesicht bekam die Farbe einer nicht mehr ganz frischen Auster. Sie ließ ihre Handtasche fallen, legte sich auf den Gehsteig, schloss die Augen und murmelte Unsinniges vor sich hin. Im Handumdrehen bildete sich ein Kreis aus etwa hundert schreienden und kreischenden Passanten um den Ort der Tragödie. Der Kreis wurde immer enger, weil alle die zerschlagene Leiche sehen wollten. Wer hinten stand, wollte nach vorn, und diejenigen, die sich übergeben mussten, fanden keinen Weg hinaus.
Der Tote hatte kein Gesicht mehr. Die Kleidungsstücke, soweit man diese als solche noch erkennen konnte, sahen aus, als hätte man sie durch einen Brei aus gequirlten Heidelbeeren und Quark gezogen.
Graham hatte im Krieg schon ganz andere Leichen gesehen. Der Anblick dieses Toten verursachte ihm keine Übelkeit. Er beugte sich über die Leiche. An einer Stelle ragte eine kleine Plastikkarte aus der Kleidung. Es war eine Visitenkarte, schmierig von Blut. Er las den Namen ihres verblichenen Besitzers und stieß einen leisen Pfiff aus.
»Professor Walter Mayo! Das kann doch nicht wahr sein!«
Er schluckte, blickte noch einmal auf die menschlichen Überreste zu seinen Füßen, dann zwängte er sich durch die Menge, in der es inzwischen zu summen begonnen hatte wie in einem Hornissenschwarm. Er rannte in die Halle des Martin Building, hinüber zu den Personenaufzügen.
Im sechzehnten Stock blieb die Transportscheibe stehen, und Graham sprang auf den Gang hinaus. Er rannte den langen Flur hinunter, bis er Mayos Labor erreichte. Die Tür stand offen.
In den Laborräumen befand sich niemand. Nichts deutete darauf hin, dass sich hier etwas Ungewöhnliches abgespielt hatte.
Auf einem etwa zehn Meter langen Arbeitstisch standen Apparaturen für einen chemikalischen Versuch. Alles schien vorbereitet zu sein, aber als Graham die Röhren und Glaskolben berührte, waren sie kalt. Offensichtlich war mit dem Experiment noch nicht begonnen worden.
Aufgrund der Beschaffenheit und Anordnung der Gefäße und Verbindungsstücke stellte Graham fest, dass hier eine fraktionierte Destillation vorgesehen war. Das Stofftrennungsverfahren sollte in sechzehn Stufen erfolgen. Der Stoff, der verdampft werden sollte, sah aus wie getrocknete Kräuter.
Der Luftzug zwischen der Tür und dem geöffneten Fenster bewegte einige Papiere auf dem Schreibtisch des Wissenschaftlers. Graham trat an das Fenster und blickte hinunter. Vier Polizisten in blauen Uniformen hatten sich durch den Ring der Gaffer gedrängt und standen bei dem zerschmetterten Leichnam. Der Krankenwagen war soeben eingetroffen.
Graham wandte sich vom Fenster ab und betrachtete die Papiere auf dem Schreibtisch des Professors. Er wusste nicht, wonach er suchen sollte, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging. Er sah sich noch einmal im Labor um, dann ging er hinaus. Während er in der durchsichtigen Ein-Mann-Aufzugsröhre nach unten schwebte, sah er in den beiden benachbarten Röhren zwei Polizisten nach oben fahren.
In der Halle des Gebäudes stand eine Reihe von Telefonzellen. Nachdem er eine Nummer gewählt hatte, erschien auf der kleinen runden Bildscheibe das Gesicht eines Mädchens.
»Mr. Sangster, bitte, Hetty.«
»Ja, Mr. Graham.«
Das Gesicht des Mädchens verschwand und das eines offensichtlich sehr robusten Mannes erschien.
»Mayo ist tot«, berichtete Graham ohne Umschweife. »Er hat sich aus einem Fenster im sechzehnten Stock des Martin Building gestürzt. Der Körper schlug nur wenige Meter von mir entfernt auf. Ich hätte ihn nicht erkannt, wenn ich nicht zufällig eine Visitenkarte gefunden hätte.«
»Selbstmord?«
»Könnte man meinen«, sagte Graham, »aber ich glaube es nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich Mayo sehr gut kannte. Ich habe seit zehn Jahren mehr oder weniger regelmäßig dienstlich mit ihm zu tun gehabt. Wie Sie wissen, ist meine Dienststelle an bestimmten Forschungsaufträgen stark interessiert, und meine Aufgabe war es, die Projekte zu prüfen und die Förderungswürdigkeit festzustellen. Für vier seiner Projekte hat Mayo bereits Geld von uns bekommen.«
»Ich weiß«, sagte Sangster und nickte.
»Normalerweise sind die Wissenschaftler ziemlich nüchterne Menschen«, fuhr Graham fort. »Und bisher hatte ich von Mayo den Eindruck, dass er durch gar nichts aus der Ruhe zu bringen sei. Sie können mir glauben, Mayo ist nicht der Typ, dem man einen Selbstmord zutrauen würde. Jedenfalls nicht, solange er alle seine fünf Sinne beisammen hat.«
»Das glaube ich Ihnen unbesehen«, sagte Sangster. »Was soll ich also veranlassen?«
»Die Polizei hat keinen Grund, diesen Fall nicht wie einen ganz normalen Selbstmord zu behandeln. Ich kann mich nicht einmischen, weil ich für solche Fälle nicht zuständig bin. Ich schlage also vor, von höchster Stelle der Polizei den Auftrag zu geben, diesen Fall ganz besonders gründlich zu untersuchen. Zumindest soll man versuchen, die Hintergründe aufzudecken.«
»Ich werde das veranlassen«, sagte Sangster. »Die zuständige Abteilung wird sich darum kümmern.«
»Danke«, sagte Graham.
»Keine Ursache. Wenn wir an der Richtigkeit Ihrer Entscheidungen jemals Zweifel hätten, würden wir Ihnen andere, weniger wichtige Aufgaben zuweisen.« Er senkte den Blick, und Graham hörte Papier rascheln. »Es gibt noch einen ähnlich gelagerten Fall.«
»Was!«, rief Graham.
»Dr. Irwin Webb ist heute gestorben. Wir hatten uns vor zwei Jahren mit ihm in Verbindung gesetzt. Er sollte für uns ein neues Zielgerät entwickeln, und wir stellten ihm die finanziellen Mittel dafür zur Verfügung.«
»Ich erinnere mich gut daran.«
»Webb ist vor einer Stunde gestorben. Die Polizei hat uns benachrichtigt, weil man bei seinen Papieren einen Brief von uns gefunden hat.« Sangster machte ein grimmiges Gesicht. »Sehr seltsame Umstände haben zu seinem Tod geführt. Der Gerichtsarzt behauptete mit Entschiedenheit, Webb sei an einem Herzversagen gestorben. Und während er starb, hat er um sich geschossen - scheinbar nur Löcher in die Luft.«
»Löcher in die Luft geschossen?«, fragte Graham verwundert.
»Sie fanden eine Selbstladepistole in seiner Hand, und zwei Patronen fehlten. Kurz darauf holte man Geschossfragmente aus der Wand seines Arbeitszimmers.«
»Komisch.«
»Männer wie Mayo und Webb sind für unser Land und den wissenschaftlichen Fortschritt zu wichtig, als dass man ihren Tod nur mit einem Achselzucken zur Kenntnis nehmen könnte. Schon gar nicht bei so mysteriösen Begleitumständen. Webbs Fall scheint mir von beiden der ungewöhnlichere zu sein. Deshalb möchte ich, dass Sie sich damit befassen. Ich wünsche, dass Sie sich persönlich alle Unterlagen ansehen, die er hinterlassen hat. Vielleicht finden Sie etwas, das uns Aufschluss über die Sache geben könnte.«
»Die Polizei wird Schwierigkeiten machen. Meine Vollmachten reichen nicht so weit«, meinte Graham.
»Man wird die Polizei in Kenntnis setzen, dass Sie namens der Regierung den Auftrag haben, Einsicht in die Papiere des Toten zu nehmen.«
Ungefähr in der Mitte zwischen Tür und Fenster des Raumes lag Webb auf dem Teppich. Die blicklosen Augen starrten an die Decke, die Augäpfel waren so stark nach oben gedreht, dass die Pupillen unter den Lidern lagen. In der rechten Hand hielt er noch die Selbstladepistole. An der Wand hatten die Spurensicherer acht Kreise um die Einschüsse der jeweils vier Segmente der beiden abgefeuerten Geschosse gezeichnet.
»Er hat auf etwas geschossen, das sich ungefähr in dieser Richtung befunden haben muss«, sagte Lieutenant Wohl zu Graham, während er eine dünne Schnur von der Wand mit den Einschüssen zu einer Stelle etwa anderthalb Meter über der Leiche spannte.
»Daran besteht wohl kein Zweifel«, sagte Graham.
»Aber es gab nichts, worauf er geschossen haben könnte«, fuhr Wohl fort. »Mehrere Personen befanden sich in unmittelbarer Nähe dieser Tür, als die beiden Schüsse fielen. Sie rannten sofort in den Raum und fanden den Mann in den letzten Zügen. Er versuchte zu sprechen, schien ihnen etwas sagen zu wollen, aber er brachte keine Worte über die Lippen. Niemand wäre in der Lage gewesen, den Raum zu verlassen, ohne dabei beobachtet worden zu sein. Sechs glaubwürdige Zeugen versichern uns das. Darüber hinaus bestätigte der Gerichtsarzt, dass ein Herzversagen die Todesursache ist.«
»Vielleicht hat der Mann recht«, meinte Graham. »Vielleicht aber auch nicht.«
Und noch während er sprach, kam es ihm so vor, als zöge eine kalte Luftströmung durch den Raum. Irgendein Instinkt meldete sich warnend in Grahams Gehirn, aber dann war dieser Eindruck auch schon vorbei. Zurück blieb ein schwaches Gefühl der Beklemmung, vielleicht vergleichbar mit der Furcht eines Hasen, der sich in sein Versteck duckt, während am Himmel der Habicht kreist.
»Jedenfalls halte ich diese Erklärung für etwas simpel«, fuhr Lieutenant Wohl fort. »Ich habe den Verdacht, dass dieser Webb unter Zwangsvorstellungen litt, und da ich noch nie gehört habe, dass Herzkranke unter Halluzinationen leiden, muss er wohl etwas eingenommen haben, das die Ursache von beidem ist.«
»Halten Sie ihn für drogensüchtig?«, fragte Graham.
»Genau das! Ich wette, die Obduktion wird meinen Verdacht bestätigen.«
»Geben Sie mir Bescheid, wenn das stimmt«, sagte Graham.
Er setzte sich hinter den Schreibtisch des Wissenschaftlers und durchsuchte den Inhalt. Er fand jedoch nichts von Interesse und auch nichts, was zu einer genaueren Prüfung Veranlassung gegeben hätte. Enttäuscht schloss er die Schubladen.
Als nächstes kam der große Wandsafe an die Reihe. Lieutenant Wohl hatte die Schlüssel dazu und sagte: »Wir fanden sie in seiner rechten Hosentasche. Ich habe noch nicht im Safe nachgesehen, da ich Anweisungen erhielt, auf Sie zu warten.«
Graham nickte und schloss den Safe auf. Als die Tür aufging, konnten weder Graham noch Wohl einen Ausruf des Erstaunens unterdrücken. Denn im Safe-Inneren hing ein großes Blatt Papier, und darauf stand: Freiheit ist nur möglich bei höchster Wachsamkeit. Falls mir etwas zustößt, an Bjornsen wenden.
»Wer zum Teufel ist Bjornsen«, fragte Graham und holte den Zettel aus dem Safe.
»Keine Ahnung. Nie von ihm gehört.« Wohl blickte das Blatt Papier ratlos an und sagte dann plötzlich: »Geben Sie es mir. Es scheint von einem Block zu stammen. Die schwachen Eindrücke könnten uns Aufschluss darüber geben, was Webb auf das darüber liegende Blatt geschrieben hat. Vielleicht gelingt es dem Labor, die Zeichen leserlich zu machen und Zusammenhänge herzustellen.«
Graham reichte ihm den Bogen Papier. Wohl ging damit zur Tür und reichte ihn jemandem, der draußen gewartet hatte. Nachdem er seine Anweisungen gegeben hatte, kehrte Lieutenant Wohl zu Graham zurück.
Die nächste halbe Stunde verwendeten sie dazu, den eigentlichen Inhalt des Wandsafes zu untersuchen. Das Ergebnis war mager. Sie konnten lediglich feststellen, dass der Wissenschaftler nicht nur sehr ordentlich gewesen war, sondern auch etwas von der Kunst der Buchführung verstanden hatte. Jedenfalls hatte er genaue Aufzeichnungen über seine Einkünfte und Ausgaben geführt.
Als der Lieutenant zufällig in den Kamin blickte, fiel ihm die Asche auf dem Rost auf. Es war nur sehr wenig, aber von dem Blatt Papier, das hier verbrannt worden sein musste, war nur noch feines Pulver übriggeblieben. Die Worte, die vielleicht darauf gestanden hatten, waren im wahrsten Sinne des Wortes zu Staub geworden.
»Solche offenen Kamine sind Überbleibsel aus dem zwanzigsten Jahrhundert«, bemerkte Wohl. »Er scheint ihn dazu benutzt zu haben, Aufzeichnungen und Schriftstücke zu verbrennen. Offensichtlich gab es Dinge, die er unbedingt für sich behalten wollte. Was mochte das wohl gewesen? Und wer durfte das nicht erfahren?« Das Telefon summte, und während er hinging, sagte Wohl: »Falls dieser Anruf aus dem Labor kommt, dann erfahren wir jetzt vielleicht die Antwort auf beide Fragen.«
Der Anruf kam tatsächlich aus dem Labor. Während das Gesicht eines Mannes auf dem Bildschirm erschien, drückte Wohl auf einen Knopf, damit Graham mithören konnte.
»Es ist uns gelungen, die Schriftzeichen auf dem Blatt Papier, das Sie uns geschickt haben, lesbar zu machen«, sagte der Mann. »Ein Zusammenhang ist nicht erkennbar, aber vielleicht können Sie damit etwas mehr anfangen als wir.«
»Lesen Sie vor«, sagte Wohl. Er hörte aufmerksam zu, während der andere Mann vorlas:
»Es ist bekannt, dass Seefahrer besonders empfänglich sind. Davon ausgehend wird zu überprüfen sein, wie sich Bewohner von Küstengegenden im Vergleich zu denen im Binnenland verhalten. Wahrscheinlich Unterschiede in den optischen Eindrücken. Fawcett muss mir Unterlagen über die Häufigkeit von Kropfbildung bei Schwachsinnigen und Schizophrenen besorgen. Besonders bei letzteren. Es steckt System hinter diesem Irrsinn, man muss nur die Zusammenhänge herausfinden.«
Der Mann auf dem Bildschirm hob den Blick. »Es sind zwei Absätze. Das war der erste.«
»Lesen Sie weiter!«, drängte Graham. Während der Mann den nächsten Absatz vorlas, ließ Graham den Bildschirm nicht aus den Augen. Das Gesicht des Lieutenants wurde dagegen immer ratloser.
»Es gibt eine Verbindung zwischen den unmöglichsten und scheinbar zusammenhanglosen Ereignissen. Es gibt seltsame Dinge, die man mit gewissen anderen Erscheinungen einfach nicht in Verbindung bringt. Zum Beispiel Lichterscheinungen am Himmel, heulende Hunde, Hellseher, über die wir zu Unrecht lächeln. Inspirationen, Gefühlsregungen und Schlechtigkeit. Glocken, die von selbst läuten. Schiffe, die auf ruhiger See verschwinden. Streit, Brutalität, Rituale. Pyramiden ohne Spitzen. Wie der Alptraum eines überspannten Surrealisten. Ich würde zweifeln, wenn ich nicht genau wüsste, dass Bjornsen recht hat. Man muss der Welt die Augen öffnen, sofern dies ohne Massenmord möglich ist!«
»Nun, was habe ich Ihnen gesagt?«, fragte Wohl. Er tippte mit dem Zeigefinger bedeutungsvoll an seine Stirn. »Übergeschnappt durch Drogenmissbrauch.«
»Abwarten«, sagte Graham und beugte sich über das Telefon, um sein Gesicht in den Aufnahmebereich der Kamera zu bringen. »Verwahren Sie dieses Blatt an einem sicheren Ort. Fertigen Sie zwei maschinengeschriebene Abschriften davon an und schicken Sie sie per Boten an Sangster, Finanz- und Kreditabteilung der Regierung in der Bank of Manhattan.«
Dann schaltete er den Verstärker aus und legte den Hörer zurück. Das Licht auf dem kleinen Bildschirm ging aus.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Sie gern zum Präsidium begleiten«, sagte er zu Wohl.
Sie verließen den Raum gemeinsam. Wohl war davon überzeugt, dass der Fall in die Zuständigkeit der Rauschgiftabteilung gehörte. Graham überlegte, ob die beiden Todesfälle nicht doch natürlicher Natur sein konnten, trotz der etwas mysteriösen Umstände. Als sie über die Straße gingen, beschlich beide ein seltsames Gefühl. Etwas las ihre Gedanken und zog sich zufrieden zurück.
Zweites Kapitel
Im Präsidium erfuhren sie nichts Neues. Die Männer des Erkennungsdienstes waren aus den Räumen von Mayo und Webb zurückgekehrt, und die Fingerabdrücke waren untersucht worden. Es handelte sich in der Hauptsache um die Abdrücke der beiden Wissenschaftler; die wenigen anderen, die sie außerdem gefunden hatten, waren nicht in der Kartei.
In beiden Fällen waren die Räumlichkeiten gründlich durchsucht worden. Man hatte nichts gefunden, was den Verdacht der Polizei erregt oder den von Graham bestätigt hätte.
»Bleibt nur noch die Obduktion«, sagte Wohl. »Wenn sich herausstellt, dass Webb Rauschgift genommen hat, schließe ich die Ermittlungen in diesem Fall. Er starb an einem Herzversagen, während er auf Gespenster schoss, die ihm im Drogenrausch erschienen waren.«
»Und bei Mayo könnten wir in diesem Fall dann wohl annehmen, dass er glaubte, in die Badewanne zu steigen, als er sich aus dem Fenster stürzte?«, fragte Graham ironisch.
»Wie?« Wohl machte ein überraschtes Gesicht.
»Ich schlage vor, dass man bei beiden Leichen eine Obduktion vornimmt - falls dieses bei Mayos Zustand überhaupt möglich ist.« Graham griff nach seinem Hut. »Rufen Sie Sangster an, und geben Sie ihm die Ergebnisse durch.« Dann verließ er das Dienstzimmer des Lieutenants.
An der Ecke Pine Street und Nassau Street hatte es einen Unfall gegeben. Trotz der vielen Leute, die die Stelle umringten, konnte Graham feststellen, dass es sich um zwei Luftfahrzeuge handelte, die offensichtlich in der Luft zusammengestoßen und abgestürzt waren. Immer mehr Neugierige fanden sich ein, um zu gaffen. Das erregte Geraune hörte sich an wie das Summen eines mächtigen Schwarmes von Hornissen. Graham spürte die krankhafte Erregung, die von der Menge ausging, fast körperlich, als er einen weiten Bogen um die Stelle machte. Es war, als läge eine ganz besondere Art von Schwingungen in der Luft. Die Gier der Menschen nach Sensationen ist unermesslich, dachte er, während er davonging.
Er betrat das Gebäude der Bank of Manhattan und nahm den pneumatischen Aufzug, der ihn in den vierundzwanzigsten Stock brachte. Er betrat das Vorzimmer, wechselte mit Hetty ein paar Worte und ging zu der Tür weiter, auf der Mr. Sangster stand. Er klopfte an und ging hinein.
Sangster hörte wortlos zu, während Graham berichtete. »Mehr war nicht herauszubekommen, Sir«, schloss Graham. »Wir haben keinen einzigen konkreten Anhaltspunkt. Außer vielleicht dem, dass Webb um sich schoss, obwohl niemand außer ihm im Zimmer war. Und ich glaube nach wie vor nicht, dass Mayo Selbstmord begangen hat.« ,
»Und was ist mit diesem Hinweis auf den Namen Bjornsen?«, fragte Sangster.
»Der Polizei ist es bis jetzt noch nicht gelungen, eine Person dieses Namens zu ermitteln. Das braucht wahrscheinlich Zeit.«
»Hat man beim zuständigen Postamt angefragt, ob man dort vielleicht einen Brief von Bjornsen an Webb gefunden hat?«
»Nein. Daran hatten wir schon gedacht. Lieutenant Wohl hat angerufen und nachgefragt. Es sind lediglich zwei Briefe belanglosen Inhalts von ehemaligen Studienkollegen von Webb eingegangen. Diese Wissenschaftler scheinen selbst noch nach langen Jahren Kontakt miteinander zu halten. Besonders wenn sie voneinander unabhängig an ähnlichen oder verwandten Projekten arbeiten.«
»Was im Fall Bjornsen zutreffen könnte«, bemerkte Sangster.
»Da fällt mir etwas ein!« Graham überlegte kurz, dann griff er nach dem Telefon. Er wählte und schaltete den Verstärker ein. Dann sagte er: »Smithsonian Institut? Ich möchte bitte Mr. Harriman sprechen.«
Die Verbindung wurde hergestellt, und
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Eric Frank Russell/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: N. N./Christian Dörge.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Otto Kühn und Christian Dörge (OT: Sinister Barrier).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 22.02.2021
ISBN: 978-3-7487-7518-8
Alle Rechte vorbehalten