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Leseprobe

 

 

 

 

CARTER WICK

 

 

Schwarzes Leder

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 194

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

SCHWARZES LEDER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

 

 

Das Buch

Drei Menschen in San Francisco in einem Spiel, bei dem nicht jeder gewinnt.

Der Mörder: Frank Crosby, 23; schwarzes Leder, weißer Sturzhelm. Zwei Vorstrafen, Aufenthalt unbekannt.

Der Augenzeuge: John Taggert, 9; er hat Angst. Wenn er redet, wird ihn der Mann mit dem Sturzhelm töten.

Der Kriminal-Polizist: Jack Winters, 52; er gibt nicht auf - auch nicht in hoffnungslosen Fällen...

 

Der Roman Schwarzes Leder des US-amerikanischen Schriftstellers Carter Wick (*21. September 1924; † 12. Juli 1996) erschien erstmals im Jahr 1972; die deutsche Erstveröffentlichung folgte 1975.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  SCHWARZES LEDER

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Dienstag, 4. Dezember

16.20 Uhr

 

Crosby, der neben dem Fahrer saß, drehte sich ruckartig um und beobachtete den allmählich dichter werdenden Strom des Feierabend-Verkehrs. Der Wagen parkte am höchsten Punkt des letzten, flachen Hügels vor dem Ozean. An diesem Abend war der Pazifik grau und düster. Crosby konnte deutlich in beide Richtungen sehen: landeinwärts hinunter zur Innenstadt von San Francisco, auf der anderen Seite bis zum Strand. Ein leichter Winterregen nieselte vom Himmel, verdüsterte die Wolken, glasierte die Gehsteige und trieb die Fußgänger von den Straßen. Für das, was Crosby vorhatte, kam ihm der Regen gerade recht. Wenn es regnete, wurde es früher dunkel.

Er schaute auf die Uhr. Nur noch zehn Minuten. Wenn Turner nicht innerhalb von zehn Minuten auftauchte, würden sie hier abhauen. Denn Verzögerungen bedeuteten Gefahr. Und Turner war genau der Typ, von dem man sich Schwierigkeiten erwarten konnte. Mit seinem glatten, scheißfreundlichen Gesicht, seiner College-Boy-Kleidung und seinem aufgeblasenen Gerede war er ein Problem für sich. Turner, der Amateur. Amateure brachten Gefahr mit sich, das stand fest.

Ein paar Sekunden lang betrachtete Crosby die Stromlinienformen der Kawasaki, die genau vor dem Wagen abgestellt war. Eine neue Maschine, stark und wendig, die 750er. Die Kawasaki war keine Woche alt, noch nicht eingefahren. Vor fünf Tagen war Crosby in die Verkaufsstelle gekommen und hat 1.600 Dollar auf den Tisch geknallt. Er hatte kein Wort gesagt, nur die Scheine gezählt.

Noch acht Minuten...

Crosbys Blick verweilte kurz auf Patterson, der geduckt hinterm Lenkrad des Wagens saß. Patterson war lässig: ein aufgeweckter Bursche, der sich gemächlich bewegte und Tacheles redete - mit faulem Blick, aber ohne Macken. Patterson war achtunddreißig; zweimal hatte es ihn erwischt. Beim drittenmal würde er lebenslänglich bekommen - ohne Aussicht, den Bau in absehbarer Zeit wieder verlassen zu können. Also blieb er lässig. Und schlau. Ein Mann mit Erfahrungen. Patterson kannte alle Tricks. Ihn konnte nichts mehr überraschen.

»Der Dreckskerl lässt sich nicht blicken«, sagte Crosby. »Es ist schon fast halb fünf.«

Patterson zuckte mit den Schultern. Er hatte die Figur eines Basketball-Spielers. Dabei fraß er den ganzen Tag. Aber er setzte kein Gramm Fett an.

»Um halb fünf hauen wir ab«, sagte Crosby. »Ich habe keine Lust, noch länger auf den Scheißkerl zu warten. Vielleicht hält er uns einfach hin. Ja, bestimmt hält er uns hin - das Schwein.«

Wieder zuckte Patterson mit den Schultern. Dann, während er in den Rückspiegel blickte, murmelte er: »Du willst doch auf eigene Faust arbeiten, Mann. Also, mach dir nicht gleich in die Hose. Wart erst mal, was passiert, bevor du...«

»Jetzt hör mir mal gut zu: du tust, was ich dir gesagt habe. Du weißt schon: zweimal hupen. Das ist alles. Zweimal hupen. Um das andere brauchst du dich nicht zu kümmern. Du hältst nur deine Augen offen, klar?«

»Klar. Aber vergiss nicht...«

»Vergiss du lieber nicht, was wir ausgemacht haben. Er parkt hinter uns und bleibt im Wagen sitzen. Ich steige aus und setze mich auf die Maschine. Wenn Turner sieht, dass ich starte, fährt er los. Er voraus, ich hinterdrein, im Abstand von einem Block. Und du bleibst hinter mir, auch im Abstand von einem Block. Vergiss bloß nicht, die Augen offen zu halten...«

»Da ist er ja.« Patterson sprach leise; seine Augen wirkten müde und gelangweilt. Aber seine Hände hielten das Lenkrad sehr fest. »Dahinten, in dem hellen Buick Electra.«

Augenblicklich riss Crosby die schwere Tür der Limousine auf. Dann langte er nach hinten auf den Rücksitz des Wagens nach dem großen, weißen Sturzhelm. Während er draußen stand auf dem Gehsteig, stülpte er sich den Helm über, zog die Schnalle des Kinnriemens fest, klappte das dunkel getönte Visier herunter. In dem schwachen Licht des Spätnachmittags und hinter dem Visier war sein Gesicht nicht zu erkennen.

Als Crosby zu seinem Motorrad trat, glitt seine Rechte kurz unter die schwere schwarze Lederjacke. Er berührte die unter seiner linken Achsel befestigte Lederhülle. Mit der Linken tastete er nach der braunen Papiertüte, die in der rechten Innentasche der Lederjacke steckte. Dann stieg er auf die Kawasaki, öffnete den Benzinhahn, schaltete die Zündung ein und kickte den lautstarken Zweizylindermotor an. Noch einmal tastete er nach der Lederhülle, dann nach dem Revolver, der darunter in seinem Hosenbund steckte. Jetzt war er fertig. Er zog die Lederhandschuhe an, drehte am Gasgriff, ließ den Motor aufheulen. Währenddessen bog der Buick aus der Reihe der parkenden Wagen aus.

Crosby atmete tief ein.

Sein Ziel hieß Land’s End.

 

John streckte einen Fuß bis zum Boden aus und drehte den Sessel herum, dass er durch das Panoramafenster ins Freie schauen konnte.

Ein trüber, langweiliger Tag. Er war früh aus der Schule gekommen - Lehrerkonferenz. Danach hatte er drei Stunden lang ferngesehen und gewartet, dass es zu regnen aufhörte, weil er sein neues Fünfgang-Fahrrad ausprobieren wollte. Jetzt war es fast halb fünf. Und bald würde es dunkel sein.

»Wie spät ist es eigentlich?« Die Stimme seiner Mutter, von oben.

»Halb fünf«, antwortete die Stimme seines Vaters. »Die Party ist von fünf bis sieben.«

Seine Mutter antwortete etwas, was John nicht verstehen konnte.

Halb fünf...

Was gab’s um halb fünf im Fernsehen? Bestenfalls irgendein Quiz. Und ansonsten nur Wiederholungen. Bis sieben war das Programm auf allen Kanälen uninteressant...

»John?« Seine Mutter rief ihn von oben.

Er räusperte sich. »Ja?«

»Was machst du denn?«

»Nichts.«

»Wo bist du?«

»Im Wohnzimmer.«

Er hörte die leichten, schnellen Schritte seiner Mutter auf der Treppe, drehte den Sessel in Richtung auf die Tür zur Diele, roch das Parfüm seiner Mutter, ehe er sie selbst zu Gesicht bekam. Dann stand sie neben der Tür, betrachtete sich im großen Spiegel der Diele, drehte sich erst auf die eine, dann auf die andere Seite. Sie trug ihr gesticktes Seidenbrokatkleid und Silberschuhe. Ihr blondes Haar war sorgfältig in Locken aufgetürmt. Und sie hatte ihre beste, teuerste Perlenkette angelegt. Es war eine wichtige Party - eine, die Vater nicht versäumen durfte.

Schließlich wandte sie sich um und kam ins Wohnzimmer.

»Ich habe gerade mit Sandras Mutter gesprochen«, sagte sie. »Sandra kann erst um sechs hier sein. Aber sie macht dir ein Abendbrot. Gebratenes Huhn.« Sie warf einen Blick auf den Jungen. »Du magst doch gebratenes Huhn?«

»Klar.«

»Bis dahin kannst du fernsehen. Dein Vater wollte nicht zu der Party gehen. Ich habe erst vor ein paar Stunden erfahren, dass wir nun doch hingehen. Deshalb konnte ich nichts mehr vorbereiten. Und Sandra war schon weg... Aber du bist ja fast ein großer Junge.«

Er sah zu, wie sie mit ihren langen Fingern durch die Luft wedelte, um den Lack trocknen zu lassen, und gab keine Antwort.

Sein Vater kam mit raschen Schritten die Treppe herunter.

»Wo hast du deinen Mantel, Edith?« Seine Stimme klang scharf.

»Oben. Ich hab’ dir doch gesagt, du sollst ihn mir herunterbringen, wegen des Nagellacks.«

Sein Vater machte sich nicht die Mühe, ihr etwas zu entgegnen. Er drehte sich um und lief noch einmal nach oben, nahm zwei Treppen auf einmal.

»Okay, da ist der Mantel.« Er hielt ihr den weichen Pelzmantel hin, damit sie hineinschlüpfen konnte. Sein Vater trug den neuen, braunen Seidenanzug.

»Eigentlich sollten wir gar nicht hingehen zu dieser blöden Party«, sagte sein Vater. »Morgen fliege ich nach New York, und ich habe noch nicht einmal meine Verkaufslisten in Ordnung gebracht. Nun, mein kleiner Tiger...« Er wandte sich ihm zu, um sich zu verabschieden. John stand auf. »Bleib brav, mein Junge. Mach uns keinen Ärger.«

»Klar. Vielleicht fahre ich noch mal schnell bis Land’s End und zurück - mit dem neuen Fahrrad.«

»John, aber nicht heute Abend«, wandte seine Mutter ein. »Es ist schon zu spät. In einer halben Stunde wird es dunkel. Ich meine, du...«

»Meine Güte, es hat doch den ganzen Nachmittag geregnet. Ich habe das Rad noch nicht einmal ausprobieren können, und...«

»Es regnet noch immer.«

»Nein. Jetzt nieselt es nur noch ein bisschen. Ich kann ja meinen Anorak anziehen. Und du hast mir versprochen, dass ich...«

»Lass ihn doch bis Land’s End fahren und wieder zurück, in Gottes Namen.« Die Stimme seines Vaters klang unfreundlich. »Dann sitzt er wenigstens nicht die ganze Zeit vor dem verdammten Fernseher.«

»Na schön...« Seine Mutter zog die Stirn in Falten. »Aber bleib nicht zu lange aus, John. Nur einmal hin und zurück. Vergiss nicht, um diese Zeit ist ziemlich viel los auf den Straßen. Und dann...«

»Komm endlich, Edith. Ich möchte früh dort sein, damit wir so bald wie möglich wieder gehen können. Du hörst ja, ich muss mich danach noch um meine Verkaufslisten kümmern.« Sein Vater nahm den Arm seiner Mutter und ging mit ihr zur Haustür. Dann drehten sie sich beide um und sagten ihm auf Wiedersehen. Wie sie so nebeneinanderstanden, lächelnd und fein angezogen, hätten sie für einen Fotografen posieren können.

Als er ihnen einen netten Abend wünschte, sah er sie noch einmal lächeln. Dann waren sie draußen.

 

»Bleiben Sie einen Augenblick dran. Ich hab’ ein Gespräch auf der anderen Leitung.« Winters drückte auf den Knopf, dann auf einen zweiten, der den Apparat für die andere Leitung freigab.

»Lieutenant Winters, hier spricht Myron Katz von der Staatsanwaltschaft.«

»Ah, ja. Bitte, gedulden Sie sich einen Augenblick. Ich habe gerade meinen Inspektor auf der anderen Leitung. Er ruft vom Tatort an. Ich bin in einer halben Minute mit ihm fertig - dann kann ich Ihnen berichten, was sich bisher ergeben hat.«

»Fein.« In der Stimme des Staatsanwalts klang Ungehalten- heit an. Nach dem Protokoll war es unmöglich, einen Staatsanwalt warten zu lassen. Auch wenn der Kriminalbeamte den Rang eines Lieutenants bekleidete. Und wenn Katz erst seit drei Jahren im Amt war.

»Bis gleich«, sagte Winters, dann wechselte er wieder die Leitung. »Evans?«

»Jawohl, Sir.«

»Ich bin in einer halben Stunde dort. Halten Sie den Verdächtigen solange fest. Wie war noch mal die Adresse?«

»Eddy vier-fünfundfünfzig. Nicht weit vom Leavenworth. Sie wissen schon - eines von diesen Halbseiden-Hotels.«

»Ich weiß. Also, bis gegen fünf.« Er schaltete sich wieder auf die zweite Leitung. »Myron?«

»Ja.« Die Stimme von Myron Katz klang noch immer leicht pikiert.

»Bis jetzt haben wir folgendes ermittelt.« Winters blickte mit gerunzelter Stirn auf den gelben Notizblock. »Es sieht so aus, als hätten wir es mal wieder mit einer Nutten-Zuhälter- Sache zu tun. Das Opfer hatte einen Freier bei sich - bis gegen vierzehn Uhr. Der Zuhälter ist um Viertel nach zwei aufgetaucht. Die beiden bekamen Streit - im Zimmer des Opfers. Jemand soll zweimal laut Nein! gebrüllt haben. Zwanzig Minuten später hat der Zuhälter bei uns angerufen. Genau um vierzehn Uhr fünfunddreißig. Er sagte, er hätte sie bewusstlos vorgefunden, seiner Meinung nach von einem Sturz. Aber es sei auch möglich, dass sie von einem Unbekannten niedergeschlagen worden sei. Der Zuhälter hat angeblich versucht, sie wiederzubeleben, aber sie sei kurz danach gestorben. Also habe er seinen Anwalt verständigt. Dann rief er bei uns an. Der Anwalt ist mittlerweile bei ihm.«

»Wann genau hat der Streit stattgefunden? Darauf kommt es meines Erachtens an. Haben Sie Zeugen dafür, dass der Streit erst begann, als der Freier weg war und nachdem der Verdächtige dort angekommen ist? Das wäre das Entscheidende.« Die Stimme des Staatsanwalts klang jetzt eher quengelig und vorwurfsvoll.

»Sie haben recht«, antwortete Winters trocken.

»Na und?«

»Angeblich ist da eine Zeugin. Aber sie hat nichts gesehen. Nur etwas gehört. Natürlich sieht in solchen Hotels keiner den anderen.«

Katz kommentiert® den letzten Satz mit einem mürrischen Knurren.

»Wenn Sie wollen, können Sie nach Hause gehen«, schlug Winters vor. »Ich rufe Sie an, wenn ich die Sache überprüft habe.«

»Ja nun...« Katz zögerte. »Eigentlich wollte ich mich selbst dort umsehen.«

»So, wie es bis jetzt aussieht - ohne Geständnis, ohne Tatwaffe, ohne Augenzeugen und mit einem Anwalt am Tatort! - wäre das vermutlich für Sie reine Zeitverschwendung.«

»Ja, vielleicht, aber...« Katz seufzte. Winters sah geradezu den verdrossenen, skeptischen Blick seines Gesprächspartners. Katz war ein mürrischer Mensch. »Na schön. Aber rufen Sie mich in jedem Fall zu Hause an. Auch, wenn Sie den Verdächtigen nicht in Haft nehmen. Rufen Sie mich an.«

»In Ordnung. Ich melde mich vermutlich gegen sieben bei Ihnen.«

»Ja. Gut. Sieben ist gut. Bis dann, Lieutenant.«

»Bis dann.«

Winters knöpfte seinen Dienstrevolver im Halfter an den Gürtel, steckte die Handschellen ein und meldete sich ab.

 

 

16.55 Uhr

 

Crosby schaltete den Gang aus und ließ die Maschine die letzten paar Meter rollen. Turner war links neben dem Gelände zur Aussichtsplattform auf dem Parkplatz stehengeblieben. Patterson parkte seinen Wagen dicht bei der Einfahrt. Crosby bremste, senkte den Kickständer und schaltete die Zündung ab. Den Benzinhahn ließ er offen. Er wollte sich nicht so lange aufhalten, dass der Motor absaufen würde, und es war möglich, dass er schnell starten musste. Er stieg vom Motorrad und blieb dann ein paar Sekunden lang bewegungslos neben seiner Maschine stehen. Während er den fast verlassenen Parkplatz von Land’s End überblickte, drehte er sich in einem wohlberechneten Kreis auf dem Absatz. Außer Pattersons Limousine und Turners Buick sah er nur zwei weitere Wagen - vermutlich zwei Liebespaare, die auf den Einbruch der Dunkelheit warteten. Der eine war ein Ford, der andere ein Volkswagen. Und bei beiden waren die Scheiben von innen angelaufen.

Befriedigt wandte sich Crosby dem am nächsten gelegenen Fußweg zu. Turner würde ihm folgen. Und wenn Gefahr drohte, würde Patterson zweimal hupen. Dafür bekam er zweihundert Dollar. Eine Menge Geld für zweimal hupen, dachte Crosby.

Als genieße er die Aussicht auf den grauen Pazifik unter dem schiefergrauen, rotgesäumten Horizont, schaute Crosby hinunter auf die niedrigen Brecher. Von der Aussichtsplattform fiel die mit verkrüppelten Pinien und Wacholder bewachsene Küste steil ab bis zum Strand. Schmale Trampelpfade wanden sich in Serpentinen nach unten, verlockten die mutigeren Touristen, hinunterzuklettern bis zum Strand. Aber am Beginn jedes Weges warnten große Tafeln vor den Gefahren der Brandung.

Am Geländer des Parkplatzes war ein blaues Fahrrad festgekettet. Ein nagelneues Herren-Sportrad mit Fünfgangschaltung.

Crosby schaute sich um - zuerst nach Patterson, dann nach Turner. Dann streifte sein Blick die Umgebung; er suchte nach dem Besitzer des Fahrrads. War das ein akzeptables Risiko - ein einzelnes Fahrrad, dessen Besitzer irgendwo in der näheren oder weiteren Umgebung sein mochte?

Ohne sich noch einmal umzusehen, betrat er den Fußweg, den er sich tags zuvor ausgesucht hatte. Schon nach der ersten Kurve ging der Weg steil bergab. Crosbys Stiefel rutschten auf dem Kies aus, bis sie festen Halt fanden. Aber Crosby war den Weg am Vortag zweimal gegangen. Also gab es nun keine unliebsamen Überraschungen.

Nach zwanzig Metern ging es wieder um eine Haarnadelkurve. Dort verzweigte sich der Weg. Crosby hatte Turner gesagt, er solle sich rechts halten. Das war das einzige, was Turner sich merken musste: nach der zweiten Kurve rechts zu gehen.

Gleich dahinter kamen wieder eine Kurve und dann eine kleine, ebene Fläche, zwei auf drei Meter, nach allen Seiten hin sichtgeschützt. Crosby ging bis an den gegenüberliegenden Rand der Fläche. Dann drehte er sich um, hörte Turners Schritte - er schien ebenfalls auf dem Kies ins Rutschen gekommen zu sein -, Zog seine schweren Lederhandschuhe aus und steckte jeweils einen davon in die rechte und die linke Hüfttasche seiner schwarzen Lederjeans. Er konnte es sich nicht leisten, einen Handschuh auf dem Weg zu verlieren. Hier nicht, und jetzt nicht.

Schritte kamen näher. Noch ein paar Sekunden, und Turner würde vor ihm stehen. Crosby klappte das dunkelgetönte Visier seines Sturzhelms nach unten und öffnete den Reißverschluss der Lederjacke knapp zehn Zentimeter.

Er war bereit.

Und Turner kam - bereit oder nicht.

Groß und schlank, trug er die für ihn typischen College-Boy-Kordhose, eine elegante, halblange Schaflederjacke und die karierte Wollmütze eines schottischen Landedelmanns. Turner war angezogen wie zu einem Sonntagsspaziergang.

Aber seine Schritte verrieten, dass er Angst hatte. Seine Füße in den teuren, kurzschäftigen Stiefeln bewegten sich unsicher auf dem Kies. Er hielt die Hände seltsam gespreizt vom Körper weg, als könnte er es nicht ertragen, sich selbst zu berühren. Der weiche Mund war verzogen, wirkte leicht ärgerlich - dabei verbarg er nur das Zucken seiner Mundwinkel.

Crosby spreizte die Beine ein wenig weiter und grub die Hacken der Stiefel in den Boden. Dabei beobachtete er die angstverzerrten Augen des anderen. Turners Gesicht verzog sich in nervösen Zuckungen. Dachte er an seine schlanke, blonde Frau - an sein Flugzeug - seine Schränke voll teurer Kleidung? Fühlte er, dass ihm das alles entglitt?

»W-wo...« Turner leckte sich die blassen Lippen. »Wo ist das Geld? Haben Sie es dabei?«

»Klar. Aber was bekomme ich dafür?«

»Ich - ich verstehe nicht. Ich meine, es ist doch alles abgemacht, oder?«

Crosby hob den linken Arm, um in seine Lederjacke zu langen - in die rechte Innentasche. Er zog eine kleine braune Papiertüte heraus. Die Tüte sah so aus, als wäre ein Bündel Banknoten darin.

»In Zehnern und Zwanzigern - okay?«

Turner öffnete die Lippen. Babylippen, die Schnute eines Flaschenkindes. Er nickte einmal, ein zweites Mal. Turners rechte Hand verschwand in der großen Brusttasche seiner schafledernen Jacke, kam mit einer ähnlichen, aber umfangreicheren Tüte wieder hervor. Wie besprochen. Turner hatte aus seinen Erfahrungen gelernt. Wenn auch zu spät.

Crosby beobachtete, wie Turner auf ihn zukam, mit zögernden, schlurfenden Schritten. Turner hielt seine Papiertüte wie ein kleiner Junge vor sich hin. Seine Blicke waren auf Crosbys Augen gerichtet, er suchte nach einem Zeichen hinter der Plastikscheibe des heruntergeklappten Visiers. Jetzt waren sie einander nahe genug, um den Austausch vorzunehmen. Nahe genug, um einander zu berühren.

Crosby hörte sich selbst sagen: »Da ist nur noch eins - etwas ist nicht in Ordnung.«

Seine Stimme war sehr leise. Hatte er die beiden Sätze überhaupt gesagt, oder stammten sie aus einem vergessenen Alptraum? Er sah, wie Turner blinzelte, sah, wie sich die weichen Lippen wieder rundeten.

»W-was meinen Sie mit...« Eine kleine rosa Zunge beleckte den süßen Schmollmund.

»Die Schwierigkeit«, hörte sich Crosby sagen, »besteht darin, dass Sie nicht alles da drin haben - wie ich höre. Man sagt, Sie haben erst mal den Rahm abgeschöpft. Es hieß fünfundsiebzig Prozent für mich, fünfundzwanzig für Rankin. Aber Sie haben sich zuvor schon schadlos gehalten, und zwar an meinem Anteil. Das ist es, was ich gehört habe.«

»N-nein, aber nein...«

Er schüttelte so heftig den Kopf, dass sich die Wollmütze löste. Turners Augen traten vor Angst aus den Höhlen. Er wich einen, zwei-Schritte zurück. Presste die Papiertüte fest gegen seine Schaflederjacke. Wie ein Kind die Tüte mit den Bonbons.

»Sie haben den ganzen Stoff mit meinem Geld gekauft. Mein Bargeld, Sie Dreckskerl. Und dann...« Crosby schluckte, schaute sich rasch nach allen Seiten um. Seine Stimme dröhnte in seinen Ohren, gefährlich laut. »Sie haben mich beschissen, Sie Schwein«, flüsterte er. »Oder etwa nicht?«

»N-n-nein...«        

Schritt für Schritt taumelte Turner rückwärts. Dabei hörte er nicht auf zu stottern. Seine Augen waren noch immer weit aufgerissen und er umklammerte noch immer die Papiertüte.

Crosby steckte seine Tüte in die Jackentasche und streckte Turner die geöffnete Handfläche entgegen.

»Geben Sie es mir.«

»A-aber d-das Geld.« Es war ein leiser, verzweifelter Protest. »Mein Anteil.«

»Hergeben!«

Plötzlich wirbelte Turner herum, begann zu laufen, beide Arme ausgebreitet wie eine flatternde Krähe, in der einen Hand noch immer die Papiertüte. Die karierte Wollmütze fiel ihm vom Kopf, wie in Zeitlupe, hing noch einen Augenblick in der Luft.

Fünf Sätze, ein Hechtsprung wie beim Football, und Crosby traf genau zwischen die beiden Schultern der Schaflederjacke mit geballten Fäusten. Turner stürzte mit dem Gesicht voraus in den Kies, er hielt noch immer die Papiertüte fest. Leise schrie er auf. Strampelte mit den Beinen. Strampelte wie wahnsinnig. Mit der judogestählten Rechten wollte Crosby den Hals treffen, traf aber nur den Kragen der dicken Lederjacke. Seine linke Hand wühlte in Turners Haar. Ein zweiter Hieb mit der Rechten, diesmal genau auf den Hals unter dem Ohr. Aber Turner wehrte sich, wehrte sich immer noch. Crosby langte mit der Rechten unter seine schwarze Nappajacke.

Ein Eispickel schnellte auf Armlänge hoch, sauste dann im Bogen nach unten. Zwischen Ohr und Halsansatz spritzte Blut auf den hellen Schaflederkragen. Ein Schrei erstickte in leisem Gurgeln. Noch einmal schnellte der Eispickel in die Höhe, sauste herunter, blieb diesmal stecken. Der Körper des Mannes am Boden zuckte, dann lag er still da.

Crosby konnte kaum atmen - das heftige Klopfen seines Herzens schien ihm den Brustkorb zu sprengen. Langsam richtete er sich auf, kämpfte nach Luft, den Kopf erhoben, mit hochgerecktem Oberkörper.

Erst allmählich ließ das Pochen seines Herzens ein wenig nach; das Pumpen des Brustkorbs wurde schwächer. Und dann war es auf einmal finster. Erschreckt riss Crosby die Augen auf. Er sah Turners Gesicht im Dreck. Turners offene Augen. War er...

Die Papiertüte.

Turners verkrampfte Finger hatten die Tüte nicht mehr zu halten vermocht. Auf einmal stand Crosby neben ihm, mit zitternden Beinen. Er war...

Die Tüte lag neben dem Weg. Unbeschädigt. Nicht mit Blut befleckt. Nicht aufgerissen. Crosby senkte den Blick, sah den Eispickel, den er noch« immer in der Hand hielt. Auf diesen Augenblick, die Minute nach dem Mord, hatte er sich vorbereitet. Er nahm den Eispickel am Griff, beugte sich über Turner, wischte den blutverschmierten Griff sorgfältig an Turners Schaflederjacke ab. Dann richtete er sich wieder auf, hob den Arm. Damit man ihn gut werfen konnte, hatte er zwei Bleigewichte an den Griff des Eispickels geklebt.

Der Eispickel segelte weit über die niedrigen Wacholderbüsche, drehte sich langsam im Flug, verschwand im dunkler werdenden Himmel. Kein Mensch würde...

Ein Hupsignal.

Noch eins. Zwei. Das Zeichen. Patterson gab ihm das Zeichen.

Die Polizei? Hatte sie einen Tip bekommen? Oder Rankins Leute, die die Übergabe kontrollierten?

Aber auch darauf war er vorbereitet. Er musste sich langsam und überlegt bewegen. Vorsichtig. Er bückte sich, hob die Papiertüte mit der Linken auf, steckte sie in die Innentasche der Lederjacke, neben seine eigene Tüte - die Tüte mit den Zeitungsfetzen. Er zog den Reißverschluss zu, dann... Er zögerte. Unter seiner linken Achsel hing das Futteral des Eispickels.

Sollte er sich die Zeit nehmen, das Futteral verschwinden zu lassen? Sollte er...?

Nein.

Um das Futteral loszuwerden, musste er die Lederjacke ausziehen. Und damit den Revolver, das Futteral, die Papiertüten den Blicken freigeben.

Er trat einen Schritt von dem Toten zurück.

Ohne sich lange umzusehen, wusste er, dass es kein Versteck gab für die Leiche. Das Gestrüpp war zu dicht und verwachsen. Die Leiche musste bleiben, wo sie war. Aber er musste weg. Schnell. Und leise.

Also ging er langsam den Weg nach oben. Er lauschte angestrengt, schaute sich um, trat so vorsichtig wie möglich auf. Jetzt war er hinter der ersten Kurve. Turner, hinter ihm, war nicht mehr zu sehen. Er...

Waren da nicht andere Schritte, direkt vor ihm? Wieder eine Kurve. Er hörte...

Ein Junge stand mitten auf dem Weg.

Die Augen weit aufgerissen, stand der Junge bewegungslos da. Sein Mund war offen, als wollte er ihn schüchtern etwas fragen. Der Junge trug weiße Turnschuhe, eine Blue Jeans, einen hellblauen Nylonanorak mit weißem Saum.

Unwillkürlich riss Crosby den Kopf herum. Er starrte den Weg hinunter. Im schwachen Licht war nichts zu sehen als grauer Kies und dunkelgrüne Flecken zu beiden Seiten des Weges. Keine Schaflederjacke. Keine karierte Wollmütze.

Als er sich wieder nach vorn wandte, betrachtete er den Jungen, der noch immer wie erstarrt dastand. Zehn, vielleicht auch jünger. Furchtsame Augen. Magerer Hals.

Crosbys rechte Hand war unter der Lederjacke, am Kolben des Revolvers.

Aber ein Schuss wäre riskant gewesen. Riskanter als ein vor Schreck stummer, vor Angst betäubter Zehnjähriger.

Der Junge hatte nichts gesehen. Nichts gehört. Und Crosbys Gesicht war bei dem schwachen Licht und hinter dem getönten Visier des Sturzhelms nicht zu erkennen.

Crosby fühlte, wie sich seine Muskeln anspannten. Er senkte die Hände. Der Blick des Jungen folgte seinen Händen, folgte ihnen wie gebannt.

»Ist das dein Fahrrad dort oben? Das blaue?«

Die Kaninchenaugen des Jungen richteten sich auf Crosbys Gesicht; er öffnete den Mund. »J-ja.« Es war ein Flüstern. Ein schwaches Atmen, das im Wind unterging.

»Was hast du hier überhaupt zu suchen?«

»Ich - ich will heim. Ich habe - habe eine Spazierfahrt gemacht. Aber jetzt fahre ich heim« Der Junge stotterte. Seine Augen waren wieder auf Crosbys rechte Hand gerichtet.

»Was heißt Spazierfahrt?«

»Ich - ich wollte nur...« Der Junge konnte nicht sprechen. Konnte seine Augen nicht heben. Konnte sich nicht bewegen. Schließlich gelang es ihm, mit den Schultern zu zucken.

»Hast du was gehört? Bist du deshalb hier?«

Keine Antwort.

»Du sollst mir antworten, verdammt noch mal!« Plötzlich hatte sich Crosbys Hand am Anorak des Jungen festgeklammert. Er drehte die Hand. »Ob du was gehört hast, frage ich.«

»N-nein. Ich - ich hab’ gar nichts gehört. G-gar nichts.«

Crosby schaute hinunter auf seine Hand, sah das Blut auf dem hellblauen Anorak des Jungen.

Turners Blut.

Hatte der Junge es auch gesehen? Hatte er deshalb auf Crosbys Hand gestarrt - auf die blutverschmierte Hand?

Er hatte den Eispickel abgewischt.

Die Hand hatte er vergessen.

Aber vielleicht war es sogar gut - das mit dem Blut. Es half ihm, den Jungen einzuschüchtern. Das Blut konnte ihn schützen. Retten.

»Du gehst jetzt schleunigst hinauf«, flüsterte er. »Setzt dich auf dein verdammtes Fahrrad. Und machst, dass du hier wegkommst. Schleunigst. Nimm dein Scheißfahrrad und hau hier ab. Und wenn du auch nur einen Ton sagst - ganz gleich, wem -, dann bist du dran. Ich bring dich um. Ich dreh dir den Kragen um, bis dir die Augen aus dem Schädel treten. Hast du mich verstanden?«

Die großen, braunen Augen starrten ihn wie betäubt an.

»Verstanden?« Er packte den Jungen an den mageren Schultern, packte ihn hart. Fühlte, wie der Körper des Jungen zu zittern begann. »Antworte!« Er schüttelte die Schultern, fühlte, wie der Junge nachgab.

»Ich - ich ver-verstehe. Ich...« Crosby merkte, wie der Körper zu zucken begann, hörte ein leises Schluchzen, fühlte die Erschütterung.

»Also gut. Hau ab. Und sag keinem, dass du hier warst. Niemandem! Denk dran: Wenn du quasselst, leg’ ich dich um.« Er stieß den widerstandslosen Körper von sich, so fest er konnte. Der Junge verlor das Gleichgewicht, stürzte mit den Knien auf den Boden, breitete die Arme weit aus. Aber noch in derselben Sekunde war er wieder auf den Beinen und rannte. Schluchzte laut. War verschwunden.

Crosby hob seine rechte Hand und sah Turners Blut, das an den Fingern und an der Handfläche klebte. Innerhalb der Jacke war auch sein Handgelenk rot. Er drehte die Hand um, schaute den Handrücken an. Aber nur die Innenseite war blutig, sonst nichts. Die Tätowierung - Kette und Morgenstern - war deutlich zu sehen. Die blonden Haare waren...

Die Tätowierung!

Hatte der Junge sie gesehen?

Er schaute in die Richtung, aus der er die Schritte vernommen hatte, hörte, wie Metall gegen Metall klapperte. Das Fahrradschloss.

Langsam ging er nach oben, zog die Handschuhe aus der Tasche. Die langen Stulpen würden die Ärmel der Lederjacke bedecken, das Blut und die Tätowierung verhüllen.

Aber war er vielleicht auch an einer anderen Stelle blutig?

Hatte er überhaupt schon nachgeschaut, ob seine Lederjacke, die Nappa Jeans blutig waren?

In dem schwachen Licht konnte er nicht viel erkennen. Er nicht, und jemand anders erst recht nicht. Er musste nur möglichst im Dunkeln bleiben.

Er keuchte, kletterte die letzten paar Meter nach oben, rutschte über den Kies. Noch eine Kurve - die letzte. Er kannte den Weg. Er...

Vor ihm das Geländer des Parkplatzes. Vier Schritte, und er war auf der Aussichtsplattform. Turners Buick, der Ford, der Volkswagen, Pattersons Limousine - alles wie zuvor.

Der Junge radelte schwankend auf die Ausfahrt zu. Drehte sich einmal um - nur einmal. Wackelig passierte er die Einfahrt, bog nach links ab.

Crosby schaute hinüber zu Pattersons Wagen, hob seine Rechte, deutete auf den Jungen mit dem Fahrrad. Er sah, wie Patterson die dunkelhäutige Hand kurz vom Lenkrad nahm und ihm ein Zeichen gab, dass er den Befehl verstanden hatte.

 

John drehte sich um, lauschte auf das Geräusch eines schweren Motorrads. Das Motorrad kam näher, rollte aus, blieb stehen. Ein Motorradfahrer auf dem Parkplatz.

Es war fast fünf. John wandte sich wieder dem Ozean zu. Manchmal kletterte er ganz hinunter, bis zur Brandung. Wenn er sich an die flechtenbewachsenen Felsen lehnte, fühlte er den Sand zittern unter dem Ansturm der Brecher. Manchmal, bei Sturm, spritzte die weiße Gischt bis hoch über seinen Kopf und fiel wie eine vom Wind zerfetzte Spitzendecke auf den schwarzen Stein.

Er ging langsam den steilen Pfad hinunter, stieß die Schuhe nachlässig in den Kies. Der Himmel über ihm war dunkelrot. Wolken hingen in langen, bleiernen Schichten über den Horizont. Vom nahen Parkplatz her hörte er das Dröhnen eines schweren Motorrads. Vielleicht ein Rocker, der stehenblieb, um einen Schluck aus seiner Whiskyflasche zu trinken, oder eine Dose Bier. Auch beim stärksten Regen trugen die Rocker nur Blue Jeans, nietenbeschlagene Lederjacken und verdreckte, alte Schaftstiefel. Rocker stampften beim Gehen mit den Füßen und brüllten, wenn sie redeten. Wenn man nicht tat, was sie sagten, schlugen sie einen mit Fahrradketten und traten einen in den Bauch.

Er nahm an der Abzweigung den linken Weg. Er wollte mindestens halb hinunter bis zur Brandung. Und danach auf der anderen Seite wieder nach oben klettern. Jetzt, wo so wenige Wagen oben auf dem Parkplatz standen, würde er niemandem begegnen. Er fühlte sich einsam - zu einsam.

Und mit der Dunkelheit kam die Gefahr.

Er blieb stehen, lehnte sich gegen einen Felsvorsprung.

Von rechts hörte er einen erstickten Schrei.

Er blinzelte, schaute hinüber in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Blinzelte wieder. War jemand hingefallen? Die Schilder auf den Wegen warnten die Fußgänger, nicht zu weit...

Noch ein Schrei, kürzer, ganz leise. Er ging rasch auf die Stelle zu, auf einem fast ebenen Weg, der quer über den Steilhang verlief. An der Abzweigung sah er die Wagen auf dem Parkplatz. Jetzt Waren zwei dazugekommen, zwei Wagen und ein Motorrad. Er wandte sich nach links, bergab.

Eine riesige Gestalt in schwarzem Leder stand mitten auf dem Weg - ein Motorradfahrer. Die Beine in den schwarzen Stiefeln gespreizt, die Arme angewinkelt, die Fäuste geballt. Der Mann hatte einen weißen Sturzhelm auf dem Kopf. Das Gesicht war hinter dem getönten Kunststoffvisier nicht zu erkennen. Nach vorn geneigte Schultern, die Beine zum Sprung bereit - eine schwarze, tödliche Gefahr.

Aber er konnte nicht weglaufen - konnte sich nicht einmal umdrehen. Konnte sich nicht bewegen. Er hörte, wie der Mann ihn etwas fragte; es ging um sein Fahrrad. Er nickte. Antwortete. Ja, das war sein Fahrrad. Er konnte den Blick nicht abwenden von der undurchsichtigen Plastikmaske. Konnte sich nicht bewegen. Konnte nicht denken. In seinen Ohren begann ein Dröhnen. Ein immer lauter werdendes Dröhnen...

»...hast du hier überhaupt zu suchen?«, fragte eine raue Stimme.

Er konnte nicht antworten. Brachte kein Wort heraus. Seine Augen waren auf die rechte Hand des Mannes gerichtet. Die Finger ballten sich und lockerten sich wieder, ballten sich erneut. Die Hand eines Wahnsinnigen.

Die Finger des Mannes waren blutverschmiert.

Jetzt fragte ihn der Mann, ob er etwas gehört habe. Ob er deshalb hier sei.

Er konnte noch immer nicht antworten. Hatte das Blut etwas mit dem kurzen, erstickten Schrei zu tun? Hatte der Mann...

»Du sollst mir antworten, verdammt noch mal!« Plötzlich packte ihn die blutige Hand am Anorak. Die Hand war tätowiert; eine blaue Kugel mit Nägeln an einer dicken roten Kette. Die Kette verschwand am Handgelenk unter dem Ärmel der Lederjacke.

Als sich die Hand drehte, sah er,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Carter Wick/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Fried Holm und Christian Dörge (OT: The Faceless Man).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2021
ISBN: 978-3-7487-7495-2

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