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Leseprobe

 

 

 

 

PENELOPE WALLACE

 

 

Toter Erbe - guter Erbe

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 190

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

TOTER ERBE - GUTER ERBE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Guinne Barrington will sich von ihrem Mann Simon trennen. Doch der bittet sie, die Scheidung aufzuschieben. Die beiden sind von dem Erdöl-Millionär Winchester eingeladen, und Simon vermutet, dass dieser Besuch sein Leben entscheidend verändern wird.

Tatsächlich offenbart der Millionär, dass sechs der Anwesenden seine Kinder sind, und er setzt ihnen Apanagen aus. Und Simon Barrington - wird ermordet...

 

Penelope Wallace (* 30. Mai 1923; † 13. Januar 1997 in Oxford) war eine britische Kriminal-Schriftstellerin und die Tochter von Edgar Wallace, dem Meister der Spannung.

Der Roman Toter Erbe - guter Erbe erschien erstmals im Jahr 1980; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1982. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   TOTER ERBE - GUTER ERBE

 

 

 

 

 

 

 

For Michael!

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

 

Es war an einem Mittwochnachmittag im Oktober, als ich den Entschluss fasste, mich scheiden zu lassen.

Eigentlich gab es keinen unmittelbaren Anlass zu dieser Entscheidung, aber ich bezweifle, ob das immer der Fall ist.

Simon und ich hatten uns auseinandergelebt. Ich weiß zwar nicht genau, wann unsere Ehe zur eintönigen Gewohnheit geworden war, aber mir war schon länger klar gewesen, dass ich eines Tages einen Schlussstrich ziehen und mir irgendwo ein Einzimmer-Apartment mieten würde.

Das Ganze war also durchaus keine Augenblicksidee. Ich hatte Simons Untreue schon oft meiner eigenen Schuld gleichgesetzt, aber diesmal neigte sich die Waagschale auf seiner Seite tiefer. Ich glaubte nicht, dass Simon gegen eine Scheidung etwas einzuwenden hatte. Möglicherweise hatte er sogar vor, die neue Gefährtin seiner Abende zu heiraten. Falls er allerdings nicht einwilligen wollte, gedachte ich trotzdem auszuziehen.

Jetzt ist es soweit, dachte ich, als ich seinen Schlüssel im Schloss der Wohnungstür hörte. Simon hatte eine Abendzeitung in der Hand, die er jedoch überraschenderweise ungelesen beiseitelegte. Stattdessen wandte er sich mit dem Einsamer-kleiner-Junge-sucht-Freund-Lächeln, das er schon lange nicht mehr für mich übrig gehabt hatte, an mich.

»Wie geht’s dir?«, erkundigte er sich. »Hast du im Büro einen guten Tag gehabt?«

»Ja, danke«, erwiderte ich beinahe schroff. »Simon, ich muss mit dir sprechen.«

Ich hatte eigentlich erwartet, dass er eine Verabredung vorschützen und mich auf den nächsten Tag vertrösten würde, doch er schien an diesem Abend voller Überraschungen zu sein.

»Ich mixe uns erst mal einen Drink«, sagte er, schenkte mir einen Gin-Tonic ein und nahm sich selbst einen Whisky-Soda. »Setzen wir uns doch«, schlug er dann vor.

Ich nahm Platz und hatte das Gefühl, dass mir die Situation aus den Händen zu gleiten begann, war jedoch entschlossen, mich durchzusetzen.

»Ich glaube, es ist für uns beide besser, wenn wir uns scheiden lassen.«

»Wir sollen uns scheiden lassen?« Simon brachte es fertig, den Überraschten zu spielen.

»Ja. Du kannst wirklich nicht behaupten, dass wir eine ideale Ehe führen.«

»Wir haben uns doch geliebt.« ,

»Natürlich, aber das ist lange her«, entgegnete ich.

»Ich verstehe dich wirklich nicht, Guinne. Wir sind doch ganz glücklich miteinander.«

»Du bist vielleicht glücklich, aber nicht mit mir. Wir sehen uns ja kaum noch.«

»Tagsüber arbeiten wir beide... Und jeder, der sich in der Werbebranche auskennt, wird dir bestätigen, dass es ein harter Job ist. Ich muss Kunden zum Essen ausführen...«

»Manchmal, mein Lieber. Aber du verbringst doch nicht jeden Abend mit einem Kunden, oder?«

Simon gab sich missverstanden und verletzt.

»Ich versichere dir...«, begann er.

»Oh, nein! Bitte keine Schwüre«, fiel ich ihm ins Wort. »Du willst doch wohl nicht behaupten, dass du mir immer treu gewesen bist? Ich könnte ja einen Privatdetektiv engagieren und dich jeden Abend beschatten lassen.«

»Um Himmels willen, Guinne, das würdest du doch nie tun!«

»Wahrscheinlich nicht. Ich wollte dir nur klarmachen, dass wir mit Lügen nicht weiterkommen.«

Simon runzelte sorgenvoll die Stirn. Dann wurde er ärgerlich. »Der Anstoß kommt von dir«, sagte er schließlich vorwurfsvoll. »Du hast dich in einen anderen verliebt, stimmt’s?«

»Nein«, log ich.

Ich bin immer eine schlechte Lügnerin gewesen, und Simon merkte sofort, dass er meinen wunden Punkt getroffen hatte.

»Es ist James Walters, ja?«, fragte er.

»James? Der Chefredakteur? Lächerlich!«

»Dann ist es...«

»Hör zu, Simon! Ich verlasse dich nicht wegen einem anderen Mann«, unterbrach ich ihn energisch, und diesmal sagte ich die Wahrheit. »Ich möchte mich lediglich in aller Freundschaft von  dir scheiden lassen. Und keine Angst, ich werde keine Unterhaltszahlungen von dir verlangen. Ich weiß, dass du eine andere Frau hast. Glaub mir, es ist so besser für uns beide.«

Simon trank seinen Whisky aus und trug sein Glas zur Hausbar zurück.

»Möchtest du noch einen Drink?«

Ich schüttelte den Kopf und sah, wie er angestrengt nachdachte, während er sich noch einen Whisky einschenkte. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, sagte er: »Ich gebe nichts zu, Guinne. Aber falls es in der Tat eine andere Frau für mich geben sollte und ich dir verspräche, sie nie wiederzusehen, würdest du dann diese dumme Scheidung vergessen?«

»Warum solltest du sie aufgeben? Bitte, tu doch nicht so, als würdest du aus Liebe zu mir auf sie verzichten.«

»Du bist sehr hart...«

»Nein, nur realistisch.«

Simon starrte schweigend in sein Whiskyglas.

»Mein Entschluss steht fest, Simon«, fuhr ich fort. »Ich sehe mich nächste Woche nach einem Einzimmer-Apartment um. Und sobald ich was Passendes gefunden habe, ziehe ich aus.«

»Könntest du denn nicht noch warten?«

»Wozu denn?«

»Es ist möglich, dass ich demnächst befördert werde. Eine Scheidung könnte meine Chance zunichtemachen.«

»Was? In unserer modernen, aufgeklärten Zeit?«

»Der Direktor ist sehr altmodisch eingestellt.«

Ich erinnerte mich sofort an das förmliche, langweilige Abendessen mit Simons Chef und dessen Frau. Möglicherweise hatte Simon recht.

»Wann weißt du, ob du befördert wirst?«, erkundigte ich mich.

»In ein paar Wochen.«

Falls Simon die Wahrheit sagte, dann war seine Bitte durchaus zumutbar für mich. Was machte es schon aus, wenn ich noch ein paar Wochen länger bei ihm blieb. Ich dachte an meine Schuld... und sagte resigniert: »Also gut. Ich warte bis Ende November.«

»Danke, Guinne. Ich weiß das zu schätzen.«

Ich schwieg.

»Übrigens«, fuhr er fort, »haben wir eine Einladung für dieses Wochenende.«

»Vom wem und wohin?«, erkundigte ich mich müde.

»Es ist eine streng vertrauliche Sache.«

Als ich nichts sagte, setzte er nun doch hinzu: »Wir sind in eine Villa mit der Bezeichnung Shiplake-White-House in der Nähe von Henley eingeladen.«

»White-House?«, wiederholte ich erstaunt. »Aber das ist doch der Landsitz von Paul Winchester, dem verrückten Ölmillionär.«

»Er ist nicht verrückt.«

»Jeder, der immer noch eifrige Geschäfte macht, obwohl er schon Millionen verdient hat, ist für mich verrückt.«

»Na, jedenfalls sind wir nach White-House eingeladen.«

»Hat er das Haus zur Zeit vermietet, während er irgendwo am Persischen Golf Öl kauft?«, fragte ich schnippisch.

»Nein. Paul Winchester persönlich ist unser Gastgeber.«

»Ist er einer deiner Klienten?«

»Nein. Er arbeitet seit Jahren mit Starhurst und Wilkins zusammen.«

»Warum hat er uns dann eingeladen?«, wollte ich wissen.

»Wir sind nicht die einzigen Gäste. Es geht um eine Internationale Brüderschaft. Wir sollen Gründungsmitglieder werden.«

»Dann will er sicher Geld von uns.«

»Nein«, widersprach Simon.

»Leute wie er brauchen immer Geld für ihre verrückten Ideen. Arme Leute sind für Menschen seines Schlages nur dann interessant, wenn sie einen Adelstitel tragen. Also, was will er dann ausgerechnet von uns?«

»Keine Ahnung, Guinne. Aber die Bekanntschaft mit Winchester könnte meiner Beförderung dienlich sein. Und ich bin sicher, dass du dich amüsierst. Offen gestanden würde dir ein Wochenende auf dem Land verdammt guttun.«

»Die Sache gefällt mir nicht. Die Einladung muss ein Irrtum sein. Vermutlich denkt er, wir hätten Geld.«

»Männer wie Paul Winchester denken nicht, dass Leute Geld haben. Sie wissen es.«

»Trotzdem kommt mir das reichlich merkwürdig vor«, murmelte ich kopfschüttelnd.

Insgeheim hatte Simon mich jedoch neugierig gemacht. Außerdem hatte ich ihm soeben versprochen, bis Ende November bei ihm zu bleiben. Warum sollte ich ihm also seine Bitte nicht erfüllen?

»Also gut«, nickte ich. »Wann fahren wir nach Henley?«

»Morgen Abend. Ich dachte, es ist besser, wir nehmen den Zug. Unser Wagen ist kaum geeignet...« Er verstummte.

Ich wusste trotzdem, was Simon meinte. Ein Ford ist ein solides, aber kein repräsentatives Auto, wenn man bedachte, dass Paul Winchester sicher nur Rolls-Royce in der Garage stehen hatte.

»Guinne, wenn du dir ein paar Sachen zum Anziehen kaufen willst... Ich bin heute auf der Bank gewesen und kann dir etwas Bargeld geben.«

Im Klartext hieß das, dass ich ihn nicht mit einem abgewetzten Morgenmantel oder dem Cocktailkleid vom vergangenen Jahr blamieren sollte.

»Danke, ich brauche dein Geld nicht. Trotzdem werde ich mich morgen in der Mittagspause ein bisschen ausstaffieren.«

Simon schien beleidigt, und ich ärgerte mich insgeheim, dass ich so widerborstig war.

Er zog seine Brieftasche heraus und gab mir dreißig Pfund. »Nimm das trotzdem.«

Ich steckte das Geld ohne Widerspruch ein.

»Tut mir leid, aber ich komme heute zum Abendessen schon wieder nicht nach Hause, Guinne. Ich muss einen Kunden ausführen.«

Er sah mich so treuherzig an, dass ich annehmen musste, er habe die Wahrheit gesagt.

Nachdem Simon gegangen war, machte ich mir in der Küche ein paar Spiegeleier, trug meinen Teller ins Esszimmer und stellte die Kaffeemaschine an, die Jane mir geschenkt hatte.

Meine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich gerade ein Jahr alt gewesen war. Das hatte Jane, die Schwester meiner Mutter, mir erzählt. Bei ihr in Oxford war ich aufgewachsen. Jane, die einen beißenden Humor hatte, und Arthur, ihr Mann, der aus reichem Hause stammte und ein erfolgreicher Schriftsteller geworden war, hatten mich aufgezogen. Arthur, der das gute Leben geliebt hatte, war allerdings bald gestorben.

Das Telefon klingelte. Ich hob den Hörer ab und meldete mich.

Am anderen Ende war es vollkommen still.

Ich machte mir deswegen keine Gedanken, denn es war schon oft vorgekommen, dass bei Ferngesprächen die Verbindung nicht geklappt hatte.

Ich kehrte zu meinen Spiegeleiern und meiner Selbstbetrachtung zurück.

Natürlich war ich wütend gewesen, als Simon gelogen hatte. Allerdings hatte ich ebenfalls nicht die Wahrheit gesagt, als ich behauptet hatte, nicht in einen anderen Mann verliebt zu sein. Das war mein Schuldanteil. Doch in einem Punkt hatte ich nicht gelogen. Ich verließ Simon nicht, weil ich zu einem anderen Mann ziehen wollte. Der Mann, den ich liebte, war nämlich Bill Zefferson, und er hatte mich nie gebeten, mich scheiden zu lassen.

Bill kannte ich schon seit meinem achten Lebensjahr. Sein Vater war ein Freund von Arthur gewesen. Bill war damals zehn Jahre alt, und ich verehrte ihn von Anfang an. Im Laufe der Jahre wurde aus meiner Verehrung für ihn Liebe.

Ich werde nie seinen letzten Besuch in Oxford vergessen. Er studierte damals Jura in Cambridge und war gekommen, um mich zu einem Studentenball abzuholen.

Es war wunderbar gewesen, mit dem bestaussehenden Mann zu tanzen und zu wissen, dass er mein Bill war. Das glaubte ich wenigstens in meinem Champagnerschwips.

Der Ball war um drei Uhr morgens zu Ende, doch Bill hatte ein Ruderboot auf der Cam gemietet.

Eine Bootsfahrt bei Mondschein ist eine sehr romantische Angelegenheit, und ich war ein unreifes, siebzehnjähriges Mädchen, das allerdings schon vom Heiraten und nicht, wie er, von einem kurzen Abenteuer in einem schwankenden Boot träumte. Ich widersetzte mich deshalb seinen Wünschen.

Ich hatte versucht, ihm das auf dem Rückweg nach Park Town zu erklären, mich sogar entschuldigt und gesagt, dass ich am nächsten Morgen mit ihm noch einmal über alles sprechen wolle. Aber als ich anderntags kurz vor zwölf Uhr nüchtern aufwachte, war Bill bereits abgereist.

Ich hatte vergebens auf einen Brief von ihm gehofft und tagelang geweint. Ich nahm ihm sein heimliches Verschwinden nicht übel, sondern machte mir wegen meines herzlosen Nein in der Ballnacht Vorwürfe.

Wie gesagt, ich bin eine hoffnungslose Romantikerin gewesen, und so habe ich auch Simon kennengelernt, welcher der Meinung war, dass Ruderboote zum Händchenhalten und Küssen da seien, und der mich bat, seine Frau zu werden.

Aber die Erinnerung an den langaufgeschossenen Bill mit den grauen Augen und der männlichen Ausstrahlung, und an das, was hätte werden können, war mir immer geblieben.

Ich hatte mir eingebildet, in Simon verliebt zu sein und Bill vergessen zu können.

Aber ich hatte mich in zweifacher Hinsicht schuldig gemacht.

Ich hatte mich nur ein einziges Mal mit Jane gestritten, und das war eine Woche nach meiner Verlobung mit Simon gewesen. Wir tranken mit ihr zu Hause in Park Town Tee, als Jane sagte: »Simon, ich will offen zu dir sein. Ich kann Guinne keinen Penny hinterlassen, wenn ich mal sterbe.«

Ich war rot geworden, und Simon hatte irgendetwas Galantes geantwortet.

Natürlich hatte ich nicht extra betont, dass Jane die Wahrheit gesagt hatte, weil ich es für unwichtig hielt.

Erst als Jane starb und Simon erfuhr, dass sie lediglich die Zinsen von Arthurs beträchtlichem Vermögen bekommen hatte, begriff ich.

»Du hast mir nie erzählt, dass Arthur einen Sohn aus erster Ehe hatte, Guinne.«

»Der lebt doch in Australien«, antwortete ich ausweichend.

Ein Psychologe würde vielleicht herausfinden, dass ich Simon diese Tatsache bewusst verschwiegen habe, weil ich trotz seines Charmes seinen dringenden Wunsch nach Geld spürte.

Und derselbe Psychologe würde die Ursache für Simons Bedürfnis nach Reichtum vermutlich bei seinen Familienverhältnissen suchen. Simons Vater war kurz nach seiner Geburt gestorben, und seine Mutter, die berechnende, göttlich schöne Claire Barrington, hatte ständig mehr ausgegeben, als ihr jeweiliger Ehemann gerade verdiente. Claire hatte immer wieder nur reiche Männer geheiratet, und sie und Simon hatten es sich gutgehen lassen.

Aber während Simons ersten Studienjahres in Oxford hatte Claires damaliger Mann Selbstmord begangen. Zwar hatte er gerade so viel Geld hinterlassen, dass Claire, wenn auch bescheidener als bisher, soll, doch noch ganz gut davon leben konnte, aber für Simon reichte das Vermögen nicht mehr, und deshalb hielt er es für seine Pflicht, eine reiche Frau zu finden. Wieder läutete das Telefon. Ich hob den Hörer ab, und abermals blieb es am anderen Ende totenstill.

Ich wartete mit angehaltenem Atem.

Dann legte ich den Hörer wieder auf.

Ich hatte gelesen, dass Einbrecher oft in der Wohnung der Opfer anriefen, um festzustellen, ob jemand zu Hause sei oder nicht, und sah deshalb nach, ob sämtliche Türen und Fenster verschlossen waren.

Unsere Wohnung lag zwar im zweiten Stock, aber für einen geschickten Einbrecher war das sicher kein unüberwindliches Hindernis.

Ich schenkte mir eine Tasse Kaffee ein und schaltete den Fernsehapparat ein.

Das Telefon klingelte wieder...

Zuerst wollte ich nicht hingehen, aber dann dachte ich, es könnte vielleicht etwas Wichtiges sein, und hob erneut ab.

Wieder nur Stille.

Als ich diesmal auflegte, zitterten mir die Knie.

Diese merkwürdigen Telefonanrufe hatten etwas Bedrohliches an sich, und ich konnte mir kaum vorstellen, dass es sich um einen Fehler in der Leitung handelte.

Zur Beruhigung goss ich mir einen Schuss Kognak in den Kaffee und legte die Kette vor die Wohnungstür.

Das Telefon läutete zum vierten Mal.

Ich beschloss, abzuheben und dann den Hörer nicht wieder aufzulegen.

Ich nahm ab und nannte unsere Nummer.

»Hallo, Guinne.«

Ich war so erleichtert, dass ich beinahe meine Kaffeetasse fallen gelassen hätte.

»Hier spricht Betsy. Wie geht’s dir? Wir haben ja schon eine Ewigkeit nichts mehr von dir gehört.«

Ich kannte Betsy aus Oxford, und sie rief mich einmal im Jahr an. Unsere Gespräche endeten regelmäßig mit meinem Versprechen, dass wir sie bald besuchen würden. Dazu kam es jedoch nie.

Betsy lud mich erneut ein und sagte dann nach einer Pause: »Ich habe übrigens gestern einen alten Freund getroffen: Bill Zefferson. Erinnerst du dich noch an ihn? Er hat sich nach dir erkundigt. Sein Vater ist letztes Jahr gestorben, und er hat die Firma übernommen. Hallo, Guinne! Bist du noch da?«

»Ja.«

»Ich glaube, es geht ihm sehr gut. Er lebt in London und ist noch unverheiratet.«

»Ja, ich erinnere mich an ihn«, antwortete ich gezwungen ruhig.

Wir haben noch eine Weile höflich Konversation gemacht, aber ich konnte nur an Bill denken.

Bill hatte sich nach mir erkundigt.

Oder, was wahrscheinlicher war, Betsy hatte meinen Namen erwähnt. Und nun hatte sie zu mir gesagt, er sei unverheiratet. Wollte Betsy uns verkuppeln?... Auf Bills Anregung hin?

Dabei hatte Bill mir seit Jahren nicht geschrieben.

Ich verdrängte ärgerlich den dummen Gedanken, und als das Telefon wieder läutete, meldete ich mich missmutig.

Wieder nur Stille.

»Sie können mich kreuzweise!«, schimpfte ich und warf den Hörer auf die Gabel.

Danach fühlte ich mich besser.

Ich sah mir einen Film im Fernsehen an, wusch dann das Geschirr in der Küche ab und ging ins Bett.

Doch ich schlief unruhig und träumte schlecht. Irgendwann nach Mitternacht stand ich auf, ging ins Wohnzimmer und holte mir ein Glas Kognak. Dabei dachte ich wieder über Simon nach.

Könnte Simon der anonyme Anrufer gewesen sein? Aber warum sollte er so etwas tun?

In dem Alptraum, den ich gerade gehabt hatte, hatte er versucht, mich zu töten.

Im Viktorianischen Zeitalter war ein Mord weniger skandalös als eine Scheidung. Aber so altmodisch war Simons Chef sicher auch wieder nicht.

Vor meinem geistigen Auge sah ich Simon mit tränenverschleiertem Blick hinter seinem Schreibtisch sitzen, während ihm sein Chef mit trauriger Miene auf die Schulter klopfte und ihm seine sofortige Beförderung versprach.

Aber was bedeutete es eigentlich, wenn man bei einer Werbeagentur befördert wurde? Bekam man wichtigere und lukrativere Kunden vermittelt? Oder war Simons Gerede von der Beförderung nur ein geschicktes Manöver?

Schließlich gab ich die Grübeleien auf und ging ins Bett.

 

In der strahlenden Morgensonne des folgenden Tages kamen mir die Ereignisse des Vorabends absurd und unwirklich vor. Ich begriff selbst nicht mehr, wie mich ein paar Telefonanrufe in solche Angst hatten versetzen können.

Als ich die Küche betrat, hatte Simon sein Frühstück gerade beendet und ging aus dem Haus. An der Tür rief er mir noch kurz zu, dass er gegen achtzehn Uhr wiederkommen und zum Abendessen zu Hause sein würde.

Ich bin frühmorgens zu nichts zu gebrauchen, und James erwartete nicht, dass ich schon im Morgengrauen in meinem Büro saß.

In der Mittagspause lief ich zu Selfridges hinüber. Mein Morgenmantel war tatsächlich ziemlich abgetragen, und ich nahm an, dass Paul Winchester auch Hausmädchen hatte.

Also erstand ich mit Simons Betrag einen indischen Kaftan und ein paar Sandalen.

Als ich in unsere Wohnung zurückkam, war Simon bereits da. Ich hatte vergessen, etwas zum Abendessen einzukaufen, und machte deshalb nur ein paar Büchsen auf.

Während wir noch eine Tasse Kaffee tranken, besprachen wir Einzelheiten über unseren Besuch am nächsten Tag bei Paul Winchester.

»Wir treffen uns am besten am Bahnhof Paddington«, schlug Simon vor. »Der Zug fährt um sechs Uhr fünf. Könntest du um halb sechs dort sein?«

»Ich denke schon.«

»Ich nehme meinen Koffer mit ins Büro. Deshalb packe ich lieber gleich.«

»Es ist doch erst acht Uhr«, wandte ich ein.

»Trotzdem...« Damit verschwand Simon im Schlafzimmer.

Eigentlich hätte ich mir denken können, dass um halb neun das Telefon läuten und Simon es als erster abnehmen würde. Er sagte nur: »Ich verstehe«. Und: »Ja.« Dann seufzte er übertrieben laut und resigniert: »Wir treffen uns in zwanzig Minuten.«

»Ich muss noch mal weg«, teilte er mir unnötigerweise mit.

Nachdem er gegangen war, schaltete ich den Fernsehapparat ein.

Sobald ich Simon verlassen haben würde, würde es an der Zeit sein, meinen Lebensstil zu ändern. Ich brauchte dann abends nach dem Büro keine Mahlzeiten mehr zu kochen, die niemand essen würde. Ich würde öfter ins Theater oder ins Kino gehen und vielleicht sogar ab und zu ein Wochenende mit Betsy, Bob und deren Kindern verbringen.

Das Telefon klingelte. Stille.

Ich hatte eigentlich vorgehabt, die Störungsstelle anzurufen und überprüfen zu lassen, ob mit unserer Leitung etwas nicht in Ordnung war, aber ich hatte einen arbeitsreichen, anstrengenden Tag gehabt und daher die Störungsstelle nicht angerufen. Nunmehr tat ich es aber. Die Dame am anderen Ende konnte auf Anhieb nichts feststellen und versprach, den Technikern Bescheid zu sagen. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass sie sich davon nicht viel erhoffte.

Das tat ich, offen gestanden, auch nicht, aber ich wünschte, ich wäre kontaktfreudiger gewesen und hätte eine gute Freundin gehabt, der ich von den merkwürdigen Anrufen hätte erzählen können, um mich von ihr beruhigen zu lassen.

Doch ich hatte niemanden.

Ich dachte an Marjorie Taylor. Mit ihr war ich noch am besten befreundet. Doch soviel ich wusste, war sie die Frau, mit der Simon gerade mehr als flirtete.

Ich legte den Telefonhörer neben die Gabel.

Dann deckte ich den Tisch ab, spülte Geschirr, räumte das Wohnzimmer auf und legte den Hörer völlig in Gedanken wieder auf.

Das Telefon läutete erneut.

Diesmal meldete ich mich erst gar nicht, sondern horchte nur angestrengt in die Ohrmuschel, wie das der anonyme Anrufer am anderen Ende auch tat. Ich spürte genau, dass jemand angestrengt auf den ängstlichen Unterton in meiner Stimme horchte und auf einen hysterischen Ausbruch wartete.

Und langsam geriet ich in Panik. Jemand versuchte, mir systematisch Angst einzujagen, und die Methode begann Erfolg zu haben.

Ich ließ den Hörer auf dem Tisch liegen, goss mir einen Kognak ein und dachte nach.

Jemand wollte mich durch Psychoterror mürbe machen. Aber wer? Und warum?

Ich holte einen Block und einen Bleistift und beschloss, systematisch vorzugehen. Zuerst schrieb ich Einbrecher auf, strich das Wort jedoch bald wieder durch. Kein Einbrecher würde so viel Zeit darauf verschwenden, eine Wohnung auszukundschaften, in der sich absolut keine Wertgegenstände befanden. Außerdem hätte er sich davon tagsüber, wenn Simon und ich unseren Berufen nachgingen, ohne Schwierigkeiten überzeugen können.

Vielleicht sollte ich zuerst mit dem Warum anfangen. Ich musste das Problem logisch angehen. Was sollte ich tun, wenn diese Anrufe immer wieder erfolgten?

Sollte ich das Telefon abmelden? Und was nützte es, wenn ich den Hörer neben den Apparat legte, sobald ich zu Hause war?

Es war allerdings möglich, dass sich dieses Problem in fünf oder sechs Wochen, wenn ich Simon verlassen haben würde, von selbst löste. War das der Grund für die anonymen Anrufe? Wollte jemand erreichen, dass ich früher aus unserer Wohnung auszog? Simon jedenfalls nicht, denn er hatte mich gebeten, noch bei ihm zu bleiben. Aber was war mit Simons Freundin?

 

Oder hatten die Anrufe etwas mit der Wohnung zu tun? Wollte uns ein heimtückischer Hauswirt hinausekeln? Ich schloss auch diese Möglichkeit aus.

Die einzige vernünftige Erklärung schien die zu sein, dass mir jemand aus persönlichen Gründen so viel Angst einjagen wollte, dass ich auszog. Falls Simons Freundin die Anruferin war, dann wusste Simon Bescheid... denn die Anrufe kamen nur, wenn Simon nicht zu Hause... und vermutlich bei ihr war. Aber das ergab keinen Sinn.

Ich zerriss das Blatt Papier, führte mir noch einen Kognak zu Gemüte und schaltete den Fernsehapparat ein. Dabei entdeckte ich auf dem Gerät einen länglichen, weißen Briefumschlag, auf dem in Maschinenschrift Persönlich und darunter Guinne Barrington stand. Offensichtlich war der Brief untertags abgegeben worden und Simon hatte ihn auf den Fernsehapparat gestellt, weil er wusste, dass ich ihn dort entdecken würde.

Ich riss den Umschlag auf und begann hastig zu zählen.

Er enthielt zwanzig Fünfpfundnoten.

Dahinter steckte ein Zettel, auf dem in Maschinenschrift Für Garderobe stand. Eine Unterschrift fehlte. Ich überlegte kurz, ob das Geld von Simon sein könnte, denn wer außer ihm sollte wissen, dass ich im Augenblick gerade Geld für Kleider brauchte?

Aber Simon schrieb nie etwas auf der Maschine und adressierte Briefe an mich immer mit Mrs. Simon Barrington. Und falls er hundert Pfund für mich übrig hatte, dann hätte er sicher dafür gesorgt, dass ich wusste, wer der edle Spender war.

Die Ereignisse überstürzten sich.

Zuerst die Einladung eines verrückten. Millionärs, dann anonyme Telefonanrufe und jetzt diese anonyme Geldspende.

Natürlich konnte ich das Geld nicht annehmen, aber wie und wem sollte ich es zurückgeben?

Mir fiel das Abendkleid ein, dass ich bei meinem Einkaufsbummel gesehen hatte, und der Hosenanzug, und ich steckte die hundert Pfund in meine Handtasche.

 

Am nächsten Morgen fragte Simon mich, ob ich den Brief gesehen hätte.

»Ja«, antwortete ich. »Es ist nur ein Katalog gewesen.«

Ich verbrachte die Mittagszeit mit Einkäufen und war mit meinem Koffer um Viertel vor sechs am Bahnhof Paddington, um mich mit Simon zu treffen.

Ich habe den Bahnhof Paddington schon immer gern gemocht, hatte jedoch keine Zeit für nostalgische Gefühle, denn Simon hatte die Fahrkarten und drängte zur Eile.

»Wir sind knapp dran«, sagte er und nahm meinen Koffer.

Als er die Fahrkarten an der Sperre vorzeigte, hätte mich beinahe der Schlag getroffen, denn sie waren für die erste Klasse. Wir setzten uns in ein leeres Abteil.

Ich hatte inzwischen beschlossen, Simon von den anonymen Anrufen zu erzählen, und tat das auch, nachdem sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte.

Wie vorauszusehen war, glaubte Simon, dass ich mir die ganze Sache entweder nur eingebildet hatte, oder dass es eine Störung in der Leitung gewesen war, oder dass ich mir die Geschichte aus irgendeinem unerfindlichen Grund ausgedacht hatte.

Die folgende Viertelstunde schwieg ich beleidigt, bis Simon verkündete, dass er sich etwas frisch machen wolle.

Ich hatte das Mädchen ebenfalls an unserem Abteil Vorbeigehen sehen und war kaum überrascht, als Simon zwei Minuten später mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen zurückkam.

»Ist das nicht ein merkwürdiger Zufall«, begann er und strahlte. »Sie Ist ebenfalls bei Paul Winchester eingeladen.«

»Welch eine Überraschung!«, sagte ich sarkastisch und fragte mich, wer von den beiden sich wohl als erster zu erkennen gegeben hatte. Vielleicht hatten sie auch ein Codewort.

Aufgefallen war mir an dem Mädchen sofort der riesige Hund, den sie an der Leine geführt hatte. Ich gebe nur ungern zu, dass ich Angst vor Hunden habe, aber leider ist es so, dass ich eine gewisse Scheu vor ihnen nie habe überwinden können.

In Reading sah ich das Mädchen ebenfalls aussteigen, und ich ging besonders langsam, um dem riesigen Tier nicht zu nahe zu kommen. Ich hoffte inständig, sie würde sofort ein Taxi kriegen, doch als ich schließlich mit Simon den Bahnhof verließ, saß der Hund nur wenige Meter von uns entfernt neben seiner Herrin auf dem Bürgersteig. Ich hatte erst jetzt Gelegenheit, das Mädchen näher zu

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Penelope Wallace/Successor of Penelope Wallace.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit rehberg.
Übersetzung: Christine Frauendorf-Mössel (OT: A Clutch Of Bastards).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2021
ISBN: 978-3-7487-7464-8

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