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Leseprobe

 

 

 

 

JEAN POTTS

 

 

Selbstmord auf Bestellung

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 185

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

SELBSTMORD AUF BESTELLUNG 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Man gilt etwas im Mittelwesten, wenn man ein Covey ist. Man lebt nicht in New York, wie es Evan Covey tut.

Alles Unsinn, was die kleine Harriet da faselt von Mordanschlägen auf ihren Vater, Win Covey. Nur Evan, der für ein paar Tage nach Hause gekommen ist, lässt sich keinen Sand in die Augen streuen.

Und als Onkel Win tot aufgefunden wird, zweifeln Evan und Harriet keinen Augenblick daran, dass er ermordet wurde...

 

Jean Catherine Potts (* 17. November 1910; † 10. November 1999) war eine vielfach preisgekrönte US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Selbstmord auf Bestellung erschien erstmals im Jahr 1958; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1971.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  SELBSTMORD AUF BESTELLUNG

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Kaum war Evan aus dem Flugzeug gestiegen, da brandete der Wind, den er ganz vergessen hatte, ihm wie die Glutwelle eines Hochofens entgegen. Sein sengender Atem blies ihm die Haare hoch, presste den leichten Stoff seines Anzugs gegen seine Beine und peitschte ihm die Krawatte ins Gesicht. Als Evan den Flugsteig erreichte, wo sein Bruder auf ihn wartete, hatte er das Gefühl, sein Mund sei völlig ausgedörrt.

»Unheimlich, nicht wahr?«, sagte Covey, nachdem er ihm die Hand geschüttelt hatte. Nicht ohne einen gewissen Stolz schweifte sein Blick über den weiten, ausgebleichten Himmel, der ganz ohne Wolken war. »Wie in einem Backofen. Wenn das noch ein paar Tage anhält, trocknet uns der Mais vollkommen aus.«

»Wo ist Mama?«, fragte Evan. »Drinnen?«

Sie, nicht Covey, hatte er erwartet. Er hatte sich ganz darauf eingestellt, sie so anzutreffen, wie er sie in Erinnerung hatte - klein und schmal, in weißen Leinenschuhen und einem blau-weiß gemusterten Sommerkleid, den flachen Strohhut fest und sicher aufs Haar gedrückt, das sie mit drei großen Kämmen hochzustecken pflegte.

Es versetzte ihm daher einen merkwürdigen kleinen Stich, als Covey sagte: »Mama hielt es für besser, nicht mitzukommen. Die Fahrt ist doch ziemlich lang, und sie hat in letzter Zeit unter der Hitze gelitten.« Und Covey konnte nicht ganz ein kleines, sehr feines Lächeln des Triumphes unterdrücken. Früher einmal - sagte dieses Lächeln - warst du der Sonnenschein, und vielleicht bist du es immer noch, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass sie nach all den Jahren nicht einmal gekommen ist, dich abzuholen. »Deshalb wollten sie und Vater lieber zu Hause auf dich warten.«

»Es ist doch alles in Ordnung, oder?«

Evans Stimme verriet die Unruhe, die plötzlich in ihm wach geworden war. Denn das sah ihr so ganz und gar nicht ähnlich. Ob es nun heiß war wie in einem Badeofen oder kalt wie am Nordpol - es war einfach nicht ihre Art. Und ihre Briefe waren in letzter Zeit auch merkwürdig gewesen - irgendwie anders, auf eine Art und Weise, die Evan nicht klar definieren konnte. An der Oberfläche wirkten sie nicht anders als sonst, begannen wie immer mit dem vertrauten »Mein lieber Sohn«, berichtete dann trocken und humorvoll vom Leben zu Hause und endeten unweigerlich mit der sehnsüchtigen Frage: »Wann kommst du wieder einmal nach Hause? Du warst so lange nicht mehr hier. Alles Liebe, Mama.« Nein, er konnte nicht klipp und klar sagen, was es war, doch er spürte, dass in den Briefen ein Ton mitschwang, der anders war und deshalb - weil seine Mutter in seinem rastlosen Leben stets der ruhende Pol gewesen war - beunruhigend.

»Es ist alles in Ordnung«, versicherte Covey. »Es geht beiden ganz ausgezeichnet. Vater macht natürlich manchmal sein Rücken zu schaffen, das weißt du ja, und sie werden beide nicht jünger; aber das geht uns allen so. Ich muss allerdings sagen, dass New York dir gut zu bekommen scheint. Du siehst nicht einen Tag älter aus.«  

Das hatte er vorhin schon gesagt, als er Evan die Hand schüttelte. Doch Covey war immer schon der Auffassung gewesen, dass man eine Feststellung, wenn sie überhaupt erwähnenswert war, ruhig fünfmal hintereinander treffen konnte. Die Familie machte ihre Scherze darüber, genauso wie man über Evans herzhaften Appetit und Vaters Schwäche für schmalzige Musik scherzte.

Während sie an der Gepäckausgabe warteten, spürte Evan, wie eine Welle der Wärme für Covey in ihm aufstieg; der gute alte Covey, der mit seinem schütteren Haar und der randlosen Brille schon recht gesetzt aussah. Kein schlechter Kerl. Ein wenig steif vielleicht, doch man konnte sich auf ihn verlassen. Das wusste Evan. Nicht ein einziges Mal hatte Covey sich geweigert, ihm in Momenten der Krise Geld zu leihen, nicht ein einziges Mal hatte er es ihm später unter die Nase gerieben. Und Evan wusste auch, dass er Mama, obwohl er immer ihr Liebling gewesen war, enttäuscht hatte. Covey war es gewesen, der sein Leben so eingerichtet hatte, wie sich das ihrer Meinung nach für einen Angehörigen des Hoyt-Covey-Clans gehörte. Man ließ sich in Fontenelle nieder, heiratete standesgemäß, setzte zwei oder drei gesunde, aufgeweckte Kinder in die Welt und lebte glücklich und zufrieden bis zum Tode.

Auf der Fahrt nach Fontenelle, die gut eine Stunde dauerte, erkundigte sich Evan nach Coveys standesgemäßer Ehefrau - es ging ihr ausgezeichnet -, den beiden Jungen - es ging ihnen ausgezeichnet, wenn sie auch natürlich viel Arbeit machten - und nach dem Geschäft - Covey konnte nicht klagen.

Gleichermaßen höflich und interesselos erkundigte sich Covey nach Evans Tun und Lassen. Evan habe seine Stellung bei der Werbeagentur aufgegeben, um ein Buch oder ein Theaterstück zu schreiben? Manche dieser Stückeschreiber scheffelten ja wirklich das Geld. Er wünsche ihm jedenfalls viel Glück. Aber wann habe er denn nun eigentlich vor, zu heiraten und einen Hausstand zu gründen?

Benommen von der Hitze und von der Unterhaltung, die in eine Sackgasse zu führen drohte, bemühte sich Evan, das Gefühl niederzukämpfen, dass es ein Fehler gewesen war, nach Hause zu kommen. Was hätte er sich eigentlich gedacht, als er die zweifelhafte Bequemlichkeit seiner New Yorker Wohnung aufgegeben hatte, um sie gegen die weite Öde von Fontenelle einzutauschen? Und dann auch noch im Hochsommer! Ohne zu sehen starrte er zum Wagenfenster hinaus und ließ die sich ins Endlose dehnende Landschaft an sich vorüberziehen. Ein großartiger Anblick, wenn man etwas für Weite und Leere übrig hatte.

Wie hatte er nur diese Dummheit machen können? Wie hatte er nur den Wind vergessen können?

Ganz allmählich, während der langen Fahrt durch Hitze und Staub, verschmolz Evans Überzeugung, dass es falsch gewesen war, überhaupt nach Hause zu fahren, mit einem Gefühl des Unbehagens, einer Ahnung, dass etwas Drohendes, Bedrückendes in der Luft lag. Es trieb ihn, nochmals zu fragen: »Zu Hause ist doch alles in Ordnung? Mama geht es gut, oder?«

»Bestens. Ausgezeichnet. Wie gesagt, sie leidet ein bisschen unter der Hitze. Und dann macht sie sich natürlich auch Sorgen um Onkel Win.«

Covey brach ab, verlegen, peinlich berührt. Zweifellos schämte er sich für Evan, der vergessen hatte, nach Onkel Win zu fragen.

»Lieber Gott«, rief Evan beschämt, denn Onkel Win gehörte zu den wenigen Menschen, an denen ihm wirklich etwas lag. »Mich hat die Hitze auch schon erwischt! Wie geht es ihm? Was hat er eigentlich gehabt? Einen Herzanfall? Mama hat mir nie genau geschrieben, was eigentlich los war.«

»Nein?« Coveys Blick schweifte kurz und durchdringend zu seinem Bruder hinüber und kehrte dann zum breiten Band der Straße zurück. »Er erholt sich ganz gut. Jetzt kann er schon fast den ganzen Tag auf sein. Eine Zeitlang wussten wir nicht einmal, ob er überhaupt durchkommen würde.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass es so ernst war«, sagte Evan.

Typisch Mama, dachte er. Sie hatte ihn nicht beunruhigen wollen. Doch hier lag die Erklärung für den veränderten Ton ihrer Briefe. Sie musste sich schreckliche Sorgen gemacht haben. Seit ihrer Kindheit hatte sie ihrem Bruder Win äußerst nahegestanden. Kein Wunder, dass sie Evan noch nachdrücklicher als sonst gedrängt hatte, nach Fontenelle zurückzukehren. Die arme Mama, sie hatte ihn gebraucht und war zu stolz gewesen, es ihm offen zu gestehen. Und Onkel Win! Evan fand es beinahe unmöglich, sich den Mann, der so viel Charme und Lebenslust besaß, als Invaliden vorzustellen.

»Er freut sich schon auf dich«, bemerkte Covey.

Es blieb keine Zeit, das Thema weiterzuverfolgen, denn schon holperten sie über die Brücke, unter der sich schmal und seicht der Fluss hindurchwand, und vor ihnen öffnete sich die Hauptstraße von Fontenelle.

»So, da wären wir - wieder daheim. Seit du das letzte Mal hier warst, hat sich natürlich viel verändert. In den letzten fünf Jahren ist viel gebaut worden. Du wirst die Stadt kaum wiedererkennen.«

Evan fand den Ort nicht verändert, höchstens etwas weitläufiger als früher. Doch er war zu höflich, das zu sagen. Wieder spürte er Unruhe.

»Unser Haus ist doch wie immer?«, fragte er.

Natürlich war es so wie immer. Es war ebenso unantastbar wie Mama, die ihr ganzes Leben darin gelebt hatte und zweifellos auch darin sterben würde. Das Covey-Haus hatte man es in ihrer Jugend genannt und auch noch lange Jahre, nachdem sie geheiratet hatte. Doch jetzt, nach mehr als vierzig Jahren, hatten sich selbst die Alten daran gewöhnt, es das Hoyt-Haus zu nennen. Genau wie Mama hatte es dem Wandel der Zeit keine Zugeständnisse gemacht. Es war gepflegt und gut instand gehalten, doch ausgesprochen altmodisch; ein unschönes, großes Haus, von seinen Bewohnern geliebt, weggerückt von der baumbestandenen Straße, mit einer Veranda, die von immergrünen Büschen umschlossen war, einem bauchigen, breiten Erkerfenster im Erdgeschoss und einem von Fliegengittern geschützten Balkon, auf dem im Sommer die Kinder zu schlafen pflegten, im ersten Stock. Der alte Pfosten, an dem früher die Pferde festgemacht worden waren, stand noch immer am Rand des Bürgersteigs. Und von der hohen, alten Kastanie vor dem Haus schwang noch immer die alte Schaukel, und darunter war noch immer der braune Fleck niedergetretenen Rasens.

Der Fahrweg schlängelte sich um das Haus herum zu dessen rückwärtigem Teil. Kaum hatte Covey den Wagen angehalten, da war Evan schon herausgesprungen und rannte die Stufen der Veranda hinauf. Die Metalltür mit dem Fliegengitter fiel klirrend hinter ihm zu. Er rannte in die große Küche, und dort wartete Mama, eilte ihm entgegen.

»Du bist da!«, sagte sie. »Endlich bist du da.«

Er beugte den Kopf, und sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Mama war für überschwängliche Zärtlichkeitsausbrüche nicht zu haben. Umso mehr überraschte es ihn, Tränen in ihren Augen zu sehen, Tränen, die sie einfach überging. Auch Evan tat so, als wären sie nicht da und als läge nicht ein Zittern in ihrer Stimme, als sie rief: »Ralph, sie sind da. Er ist hier!«

Vater kam schon durch die Tür. Er streckte Evan die Hand entgegen. Ein Lächeln erhellte sein gutgeschnittenes Gesicht. Ja, er sah noch unglaublich gut aus. Mit den Jahren war seine früher sportlich gestählte Gestalt etwas schwammiger geworden, sein Haar hatte einen weißen Schimmer bekommen, doch den feingemeißelten Zügen, der Güte seines Ausdrucks hatte das Alter nichts anhaben können. Er war der einzige in der Familie, der wirklich gut aussah. Weder Evan noch Covey - obwohl sie beide hochgewachsen waren wie ihr Vater - konnten es mit ihm aufnehmen.

Und Mama hatte man gewiss nie als hübsch bezeichnen können. Selbst als junges Mädchen, dachte Evan, muss sie unscheinbar gewesen sein. Ihre Figur war gut proportioniert, Hände und Füße waren klein und zierlich, doch das Gesicht hatte unregelmäßige Züge, die beinahe grob wirkten, Haut und Haar erinnerten in der Färbung an hellen Sand, und die Nase war übersät von Sommersprossen. Und doch trug sie den eigentlich recht hässlichen Kopf so hoch, als wäre es der Kopf einer Schönheit.

Onkel Win besaß das gleiche Air von Vornehmheit und angeborener Überlegenheit. Das war die Art der Coveys in Fontenelle; denn wenn man ein Covey war, dann war man zum Herrscher geboren - das war so selbstverständlich, dass keiner darüber nachdachte.

Er hatte nicht gleich Gelegenheit, sich nach Onkel Win zu erkundigen. Die Erregung über das Wiedersehen war zu groß, zu viele Fragen wurden gestellt, zu viel gab es zu erzählen. Covey kam mit Evans Koffer herein und fuhr wieder ab. Er und Phyllis würden später mit den Kindern zum Abendessen kommen.

»Brathühnchen?«, fragte Evan.

»Natürlich Brathühnchen«, versicherte Mama. »Und Erdbeertorte. Bier habe ich auch da für dich. Es steht im Kühlschrank. Ich trinke ein Glas Ginger Ale. - Komm, Ralph, gehen wir ins Wohnzimmer, da ist es kühler.«

Ja, es war kühler dort. Evan konnte von draußen den Wind hören, der an den Bäumen im Garten riss und wild und heiß durch das laubbedeckte Land fuhr. Doch in dieses schattige Zimmer mit der hohen Decke konnte er nicht eindringen. Die Jalousien vor dem Erkerfenster waren zur Hälfte heruntergelassen, und der Raum war in angenehme grünliche Beleuchtung getaucht. Die Zeit hatte diesem Zimmer nichts anhaben können. In der Ecke tickte die große alte Standuhr die Stunden hinweg. Von der Wand blickte Großvater Covey mit ruhigem Vertrauen auf seine Nachkommen nieder.

»Du hast die Sessel neu beziehen lassen«, stellte Evan anklagend fest, und Mama lachte laut heraus vor Freude.

Er hatte sich in dem Sessel am Fenster niedergelassen. Das war sein Platz, gerade so, wie Mama ihren Platz auf dem Schaukelstuhl hatte und Vater den seinen in dem schäbigen Morris-Sessel. Einen Moment lang schien es, als wäre er nie weg gewesen. Es gab nichts zu sagen. Oder vielleicht gab es zu viel zu sagen.

»Wie geht es denn nun Onkel Win eigentlich?«, fragte Evan. »Du hast mir nie geschrieben, dass es so ernst war. Du hast mir nicht einmal geschrieben, was ihm eigentlich gefehlt hat.«

Mamas Gesicht verfiel plötzlich, als litte sie körperliche Qual. Es war Vater, der ihm antwortete - ganz unbefangen, doch der Blick, den er Mama zuwarf, verriet, dass er ihr zu Hilfe eilte.

»Es geht ihm gut. Kein Grund zur Sorge mehr. Der Arzt meint, dass er in ein, zwei Monaten wieder ganz auf dem Damm sein wird.«

»Natürlich«, echote Mama, die sich inzwischen erholt hatte. »Es geht ihm gut. Und er freut sich so auf dich, Evan. Aber ich glaube trotzdem, dass wir lieber bis morgen warten, ehe wir hinüberfahren. Er ist abends immer ein wenig müde.«

Ja, es war klar, dass da etwas nicht in Ordnung war. Evan hätte am liebsten ganz unverblümt darauf hingewiesen, dass man ihm noch immer nicht gesagt hatte, was Onkel Win eigentlich fehlte. Doch er beschloss, damit zu warten, bis er mit Mama allein war. Dann war Zeit genug, unverblümte Fragen zu stellen.

»Und wie geht es Pearl?«, fragte er. »Und Harriet?«

Pearl war Onkel Wins Frau, seine zweite Frau. Sie war viel jünger als Onkel Win, im gleichen Alter wie Evan und Covey. Und Harriet, die nach der lange verstorbenen Großmutter Covey so genannt wurde, war ihre Tochter.

»Sie ist unglaublich gewachsen«, antwortete Mama mit offensichtlicher Erleichterung und warf Evan einen dankbaren Blick zu. »Sie ist schon größer als ich. Das arme Kind.«

»Das arme Kind?« Er konnte es sich nicht verkneifen, Mama ein wenig zu necken. »Du meinst, sie sieht Pearl ähnlich?«

»Guter Gott, nein. Ich meine nur - na ja, du weißt schon. Sie ist in diesem unglücklichen Alter. Und sie war ja immer schon - ein wenig schwierig.«

»Harriet ist ein Fratz«, stellte Vater ganz sachlich fest. »Das war ja auch nicht zu vermeiden. Win verwöhnt sie fürchterlich. Aber ich finde trotzdem, dass Covey sie zum Flughafen hätte mitnehmen können. Sie wollte so gern mitfahren.«

»Ich weiß. Aber sie hätte sich ja anständig benehmen können. Sie hätte sich ja nicht gerade den heutigen Tag auszusuchen brauchen, um Covey zu erklären, dass er und Phyllis hirnlose Herdentiere sind.« Mamas Augen blitzten belustigt. Selbst auf Kosten ihrer Familie konnte sie sich amüsieren. »Genau das hat sie gesagt - hirnlose Herdentiere. Ohne die Reklamesendungen am Fernsehen, erklärte sie, hätten Covey und Phyllis keine blasse Ahnung, was ihnen gefalle und was nicht. Das hätte sie doch wenigstens bis morgen für sich behalten können. Wirklich, manchmal weiß ich gar nicht, was in das Kind gefahren ist. Aber wenn man fünfzehn ist, tut man solche Dinge einfach.«

»Es wundert mich, dass sie nicht schon hier ist, um einen verwandten Geist wie Evan zu begrüßen, einen Intellektuellen aus New York, der wert ist, von ihr zur Kenntnis genommen zu werden. - Da!« Vater neigte den Kopf zur Seite, als draußen die Klingel anschlug. »Wetten, dass das Harriet ist?«

»Du bist ihr großer Schwarm«, sagte Mama. »Sei nett zu ihr, ja, Evan?«    

»Natürlich«, antwortete Evan.

Es war ein leichtfertig gegebenes Versprechen, das musste er bald feststellen. Es schien beinahe unmöglich, dass es ein menschliches Wesen geben konnte, das so wenig einnehmend war wie Harriet. Allein schon wenn man sie ansah, fühlte man sich gereizt. Man gewann den Eindruck, dass sie einen mit Absicht herausfordern wollte. Zumindest hätte sie gerade stehen können; stattdessen jedoch stand sie mit gekrümmten Schultern, eingefallener Brust und vorgeschobenem Bauch lässig da, zweifellos die Pose eines Mannequins imitierend, das sie kürzlich in einer Zeitschrift bewundert hatte. Ihr helles Haar fiel ihr in langen strähnigen Fransen in die Stirn. Das dunkelblaue Kleid wirkte wie ein formloser Sack, und an den Füßen - den größten Frauenfüßen, die Evan je gesehen hatte - trug sie Sandalen aus bunten, zusammengeknoteten Bändern, die Evan an arme Indianerfrauen erinnerten. Er konnte nur mit Mühe den Blick von ihnen wenden. Harriets Hände steckten in langen, angeschmutzten weißen Handschuhen, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck blasierter Weltmüdigkeit.

»Tag, Tante Marianna«, sagte sie. Ihre Augen glitten über Evan hinweg, als wäre er ein uninteressantes Stück Möbel. »Hallo, Evan. Willkommen in unserer Wüstenei.«

Er hatte sie an sich drücken, ihr einen Kuss geben, ihr ein paar nette belanglose Worte sagen wollen, wie sich das bei einer Kusine gehört, die einen anschwärmt und die man fast sieben Jahre lang nicht gesehen hat. Doch stattdessen streckte er ihr nur die Hand entgegen, die sie mit den behandschuhten Fingerspitzen kurz und flüchtig berührte. Nicht ein Wort fiel ihm ein, das er ihr hätte sagen können.

»Setz dich, Harriet«, sagte Mama. »Möchtest du nicht - äh - deine Handschuhe ablegen? Wie wäre es mit einem Cola?«

Harriets Füße wirkten noch größer, als sie sich setzte. Sie legte ihre Handschuhe nicht ab.

»Einen Martini gibt es wohl in diesem Haus nicht«, murmelte sie mit einem gelangweilten Heben der einen Augenbraue.

»Auf keinen Fall«, versetzte Mama. »In deinem Alter...«

»Schon gut, Tante Marianna. Dann eben ein Cola. Natürlich, Das ist ja so gesund.«

»Ich hole es«, erbot sich Vater, und auf dem Weg zur Küche zwinkerte er Evan zu.

Danach breitete sich Schweigen aus. Evan riss sich zusammen und sagte: »Es ist nett, dich wiederzusehen, Harriet. Ich hätte dich nie im Leben erkannt. Du hast dich so verändert.«

Harriet ging nicht darauf ein.

»Und wie ist das Leben im guten alten New York?«, erkundigte sie sich und gähnte hinter höflich vorgehaltener Hand. »Ich werde wohl selbst einmal hinfahren müssen. Das gehört nun mal dazu.«

»Ja, ich weiß. Entsetzlich ermüdend, diese Konventionen.« Evan konnte es sich nicht versagen, ihren Ton nachzuahmen. Doch gleich darauf fing er einen Blick von Mama auf und war beschämt. Schön, er würde es wieder gutmachen. Er würde ihr vom Leben im guten alten New York berichten. Mama würde er berichten, nicht Harriet. Sollte die ruhig da sitzen bleiben mit ihren lächerlichen weißen Handschuhen und die blasierte Dame von Welt spielen. Er bemühte sich, möglichst amüsant über die letzten sieben Jahre seines Lebens zu berichten - seine Wohnung, die Stellungen, die er verloren oder aufgegeben hatte, die Leute, die er kannte - Iris erwähnte er allerdings nicht -, und das Stück, das er schreiben wollte.

Mama und Vater waren natürlich hingerissen. Evan auch. Er war so gebannt von seiner eigenen Erzählkunst, dass er die Quelle seiner Gereiztheit beinahe vergessen hätte. Nur ein paarmal flammte der Ärger wieder in ihm auf, wenn er zufällig zu ihr hinüberblickte. Sie blätterte in einer Zeitschrift.

Als er mitten in einer Anekdote war, die er selbst höchst belustigend fand, unterbrach sie ihn.

»Da kommt ein Auto. Ist das vielleicht Covey mit seiner Brut? Dann muss ich hier weg. Das kann ich wirklich nicht ertragen.«

Vater warf einen Blick zum Esszimmerfenster hinaus und verkündete, ja, es sei Covey. Mama sprang verwirrt auf. War es wirklich schon so spät? Guter Gott, sie hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit verflog. Das Abendessen war noch nicht fertig.

Harriet entschwand, ohne auf Wiedersehen zu sagen.

»Tut mir leid, dass ich dich so gelangweilt habe«, rief Evan ihr nach.

Sie blieb einen Moment stehen.

»Denk dir nichts. Das bin ich gewöhnt.«

»Du lieber Himmel«, sagte Evan, als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte. »Die gehört mal richtig übers Knie gelegt.«

»Ich weiß«, versetzte Mama zerstreut, während sie zur Küche eilte. »Das arme Kind. Die Handschuhe! Fang lieber vor Covey nicht von ihr an. Da wird er unausstehlich.«

Man vermied es also geflissentlich, während des Abendessens und später von Harriet zu sprechen. Auch Onkel Win wurde nicht erwähnt. Das fiel Evan auf. Nun, er hatte ja gleich gewusst, dass er würde abwarten müssen, bis er Mama für sich allein hatte.    

Die Gelegenheit bot sich erst, als Covey mit seinem Anhang abgezogen war. Und als wüsste er, was Evan im Sinne hatte, kündigte Vater an, dass er die Absicht habe, zu Bett zu gehen; es sei ein langer Tag gewesen.

»Komm, Mama, setzen wir uns noch ein bisschen auf die Veranda«, schlug Evan vor, und sie folgte ihm mit einem kleinen Seufzer hinaus.

Evan kam ohne Umschweife zum Thema.

»Also, was ist mit Onkel Win?«

Es musste wirklich schlimm sein. Mama versuchte immer noch auszuweichen.

»Er war sehr krank, aber Doktor Morrison sagt...«

»Ich weiß, dass er sehr krank war. Ich möchte wissen, was ihm eigentlich fehlt.«

»Ja«, sagte Mama. Das Rasseln ihres Fächers brach ab. »Evan - Win wollte Selbstmord begehen.«

»Was?« Er versuchte sich zu erinnern, was er erwartet oder befürchtet hatte. Einen Schlaganfall, eine unheilbare Krankheit. Etwas Natürliches. Etwas Glaubhaftes. »Onkel Win hat einen Selbstmordversuch gemacht? Das kann ich nicht glauben!«

»Ich konnte es zuerst auch nicht glauben. Aber es bleibt einem nichts anderes übrig, als es zu glauben, wenn er - wenn er selbst es sagt. Und er hat es gesagt. Er hat gesagt, er will sich gar nicht erholen. Er will sterben.«

Onkel Win wollte sterben? Onkel Win, der das Leben so liebte, der jeden Tag auf seine eigene stille Art genoss und auskostete? Onkel Win, der den gleichen trockenen Humor, die gleiche Selbstsicherheit besaß wie Mama?

»Aber um Gottes willen, Mama. Warum denn?«

Er sah, dass sie am Rande eines Zusammenbruchs war. Sie saß noch aufrechter als sonst, und ihre Stimme war sachlich, beinahe kurz.

»Ich weiß es nicht. Er will uns den Grund nicht sagen.«

»Aber irgendjemand muss es doch wissen. Pearl oder jemand...«

»Pearl«, sagte Mama. Sie sprach den Namen so aus, wie sie ihn immer ausgesprochen hatte, als hätte er einen üblen Geschmack. »Was weiß sie denn schon über Win? Zuerst behauptete er, es sei ein Unfall gewesen, aber wir wussten natürlich alle, dass er sich unmöglich das Messer aus Versehen so...«

»Er wollte sich erstechen?«

»Ja, mit dem alten Jagdmesser von Papa. Win hat es immer in seinem Arbeitszimmer gehabt. Er hat das Herz nur ganz knapp verfehlt.«              

»Wie haben sie ihn denn - wer hat ihn gefunden?«

»Harriet«, antwortete Mama. »Man kann es ihr nicht übelnehmen, dass sie - dass sie so ist, wie sie ist. Obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht behaupten kann, dass sie früher auch nur ein Jota anders war. Und Win war immer so verrückt mit ihr...«

Ja, verrückt. Vernarrt in Harriet, obwohl er sich ursprünglich einen Sohn gewünscht hatte.

»Ja«, fuhr Mama mit der gleichen sachlichen Stimme fort, »Harriet ging hinunter, um sich eine Tafel Schokolade zu holen - das Kind ißt dauernd Süßigkeiten, es war zwei Uhr morgens und sie hörte jemanden stöhnen, als sie am Arbeitszimmer vorbeiging. Dort hat sie ihn gefunden. Er war über seinem Schreibtisch zusammengesunken.«

»Und es kann kein Unfall gewesen sein? Er kann doch zum Beispiel ein Glas zu viel getrunken haben, hat angefangen, mit dem Messer herumzuspielen, und dann...« Es war bekannt, dass Onkel Win hin und wieder ein wenig zu tief ins Glas guckte.

»Er hatte nichts getrunken. Natürlich haben wir die Leute in dem Glauben gelassen, dass es ein Unfall war, aber Billy Morrison sagte mir am nächsten Morgen unter vier Augen, dass es seiner Ansicht nach auf keinen Fall versehentlich geschehen sein kann. Und Win gab schließlich auch zu, dass es kein Unfall war, sondern dass er es mit Absicht getan hat.«

»Aber es muss doch einen Grund dafür geben«, beharrte Evan. »Er muss Sorgen gehabt haben. Depressionen.«

»Ich will gar nicht behaupten, dass Win mir immer sein Herz ausgeschüttet hat, das hat er selten getan. Aber ich kenne ihn, und ich habe ihn lieb. Ich kann nicht glauben, dass er Sorgen gehabt hat, ohne dass ich es zumindest geahnt hätte. Und doch muss es so gewesen sein, und ich habe nichts gemerkt. Ich muss blind gewesen sein. Das ist deprimierend, Evan. Da liebt man einen Menschen, und dann kann man nicht einmal - und trotzdem passiert so etwas.«

Ein Schluchzen brach aus Mama hervor. Sie wandelte es in ein Husten und begann wieder eifrig mit ihrem Fächer zu wedeln.

»Geschäftliche Sorgen«, meinte Evan. »Geldsorgen vielleicht.«

»Da würde ich bestimmt Bescheid wissen. Wenn finanzielle Schwierigkeiten bestanden hätten, dann hätte ich das am eigenen Leib verspürt. Du weißt ja, wie dein Großvater in seinem Testament verfügt hat. Und was die Kanzlei angeht, so ist dort nach allem, was Homer erzählt, alles in bester Ordnung.«

Und Homer musste es wissen, dachte Evan. Er war seit fünfunddreißig Jahren Onkel Wins Partner.

»Dann vielleicht private Sorgen, familiäre Schwierigkeiten. Seien wir doch einmal ehrlich, Mama, Onkel Win und Pearl sind sicher nicht das glücklichste Ehepaar in der Stadt.«

Mamas Antwort machte ihrem Gerechtigkeitssinn alle Ehre.

»Sie sind aber auch nicht das unglücklichste. Man muss es Pearl lassen - sie tut ihr Bestes. Wenn das alles vor siebzehn, achtzehn Jahren geschehen wäre, als er sich von Nell scheiden ließ, um Pearl zu heiraten, wäre es nicht so schwer zu begreifen.«

Evan war damals im College gewesen. Dennoch war der Widerhall des Skandals auch bis zu ihm gedrungen. Die Bürger von Fontenelle hatten genießerisch mit den Lippen geschmatzt. So ein Skandal war ihnen seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen. Winthrop Covey hatte sich von seiner so ungemein standesgemäßen Ehefrau scheiden lassen, um seine Sekretärin zu heiraten, seine ungemein unstandesgemäße Sekretärin. Pearls Familie war Pack, und sie war mehr als zwanzig Jahre jünger als er.

»Pearl hat ihm gegeben, was er sich gewünscht hat«, fuhr Mama fort, noch immer bemüht, ganz gerecht zu sein. »Ein Kind. Das war sein größter Wunsch. Deswegen kam es zwischen ihm und Nell zum Bruch. Pearl kann schließlich nichts dafür, dass es kein Junge war.«

Dagegen gab es nichts zu sagen.

»Kommt Tante Nell eigentlich diesen Sommer zu Besuch?«

»Sie ist schon hier. Seit Juni schon. Erst war sie zwei Wochen bei uns, und jetzt wohnt sie bei Flora Griffith.«

»Weiß sie die Wahrheit über Onkel Win?«

»Ich konnte es ihr nicht verschweigen«, erwiderte Mama. »Sie ist immerhin eine meiner besten Freundinnen und hatte sowieso schon Verdacht geschöpft, dass es kein Unfall war. Wie alle Leute in der Stadt wahrscheinlich. Nell gibt natürlich Pearl die Schuld...«

Ja, natürlich. Tante Nell hatte den Schlag, den die Scheidung ihrem Stolz und ihrer Eitelkeit versetzt hatte, nie verwunden und sich innerlich niemals von Onkel Win lösen können. Sie liebte ihn immer noch. Konnte es ihm ähnlich ergangen sein? War es möglich, dass er alle diese Jahre dazu gebraucht hatte, seinen Fehler zu sehen, der jetzt nicht mehr rückgängig zu machen war? Hatte er deshalb sterben wollen? Wenn dem so war, dann war dies der spektakulärste Fall von »Spätzündung«, von dem Evan je gehört hatte.

»Und wie soll ich mich verhalten, wenn ich ihn morgen besuche? Ich meine, darf ich wissen, wie die Dinge liegen?«

»Er weiß, dass ich dir alles erzählt habe. Er wird es dir selbst sagen, vermute ich. Er ist eigentlich ganz offen. Nur das Wichtigste weigert er sich uns zu sagen, und ich – oh, Evan, ich habe solche Angst, dass er es noch einmal versucht. Wenn wir nur feststellen könnten, was ihm zugestoßen ist! Deshalb bin ich so froh, dass du da bist. Er hat dich immer gern gehabt. Du warst weg, hast Abstand von den Dingen hier - vielleicht siehst du etwas, was mir nicht auffällt, weil ich nicht die richtige Perspektive habe.«

»Ich kann es versuchen«, meinte Evan.

Am liebsten hätte er Mamas Hand getätschelt, doch er unterließ es. Sie ließ sich nicht gern trösten. Trost bedeutete Mitleid. Und niemand - nicht einmal ihr Lieblingssohn - hatte das Recht, für Marianna Covey Hoyt Mitleid zu empfinden.

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Dann gingen sie hinein.

Evan schlief natürlich oben auf dem Balkon. Doch obwohl er todmüde war, konnte er nicht einschlafen. Es war so still hier. Nichts war zu hören, keine Verkehrsgeräusche, keine lauten Stimmen angetrunken heimkehrender Nachbarn. Nur das Ticken seiner Armbanduhr schien überlaut. Und dann, gerade als er einnickte, hörte er ein Geräusch, ein leichtes Kratzen am Fliegengitter. Er öffnete die Augen und sah in ein Gesicht. Mit einem Ruck fuhr er hoch.

»Lieber Gott«, sagte er. »Was machst du denn hier?«

»Ich wollte mit dir reden«, flüsterte Harriet. Sie sprang von der hohen Zeder, an der sie, wie Evan so oft in seiner Kindheit, emporgeklettert war, auf den äußeren Rand des Balkons.

»Du brauchst dich nicht zu genieren. Ich guck’ dir nichts ab«, zischte sie Evan zu, als dieser verwirrt die Decke bis zum Hals hinaufzog.

»Was fällt dir eigentlich ein?«, fragte er gereizt. »Wie kommst du dazu, einen mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu reißen?«

Harriet überging die Frage.

»Sie hat dir doch sicher erzählt, dass Papa versucht hat, sich umzubringen?«, sagte sie.

»Äh - ja.« Sein Ton war nicht mehr so grob. Es musste ein schreckliches Erlebnis für das arme Ding gewesen sein, den Vater so vorzufinden. Harriet machte zwar ganz den Eindruck, als hätte sie ein dickes Fell, aber man konnte nie wissen.

»Das dachte ich mir. Aber es stimmt nicht. Mir ist es ganz gleich, was die anderen sagen. Es stimmt nicht.«

Sie klammerte sich also an die Unfalltheorie. Verständlich. Mama hätte dasselbe getan; nur war sie zu aufrichtig, um die Augen vor den Tatsachen zu verschließen.

»Vielleicht nicht. Aber warum hätte er...«

Doch Harriets Gedanken bewegten sich schon in anderen Bahnen.

»Als du heute Nachmittag von New York erzählt hast, warum hast du da nichts von deiner Freundin erwähnt?«

»Von meiner Freundin? Woher willst du denn wissen, dass ich eine habe?«

»Natürlich hast du eine. Wir Coveys sind alle sexy. Ist sie toll?«

»Nicht besonders.«

»Aha, sie ist also hässlich. Deshalb hast du wohl nichts von ihr erzählt?«

»Jetzt hör mal her, du Fratz! Ob meine Freundin hübsch oder hässlich ist, kann dir piepegal sein. Aber wenn du’s genau wissen willst, was Festes ist das sowieso nicht. Sie ist nämlich verheiratet.«

»Oh.« Harriet presste das Gesicht gegen das Fliegengitter. »Deshalb. Verheiratet. Genau wie bei Mutter und Stanley.«

»Wie? Mutter und wer?«

»Stanley«, wiederholte Harriet. Sie kratzte sich am Rücken. Eine Mücke schien sie gestochen zu haben. Heute Abend hatte sie keine Handschuhe an. »Sag bloß nicht, dass Tante Marianna dir davon nicht gleich erzählt hat.«

»Wovon redest du überhaupt?«

»Hm, vielleicht hat sie dir wirklich nichts davon erzählt. Kann sein, dass sie’s selbst nicht mal weiß. Hier geht eine ganze Menge vor, wovon sie keine Ahnung hat. Sie ist schrecklich arglos, weißt du. Wie so viele Frauen aus ihrer Zeit.«

Evan war am Rand seiner Geduld.

»Los, rück endlich heraus mit der Sprache! Warum bist du hergekommen? Weil du mir von deiner Mutter und diesem Stanley erzählen wolltest?«

»Unsinn. So was finde ich zum Sterben langweilig.«

»Dann komm endlich zur Sache. Ich bin nämlich müde.«

Er machte Anstalten, sich niederzulegen.

»Warte! Ich meine - er hat keinen Selbstmordversuch gemacht.«

Er versuchte, ihr Gesicht zu sehen. Bleich und verschwommen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jean Potts/Apex-Verlag/Successor of Jean Potts.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Mechtild Sandberg (OT: Lightning Strikes Twice).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2021
ISBN: 978-3-7487-7379-5

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