WERNER STEINBERG
Die Augen der Blinden
KOSMOLOGIEN – SCIENCE FICTION AUS DER DDR, Band 9
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE AUGEN DER BLINDEN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Das Buch
Drei Menschen - eine Biologin, ein Arzt, ein Computer-Wissenschaftler - sind ausgezogen auf Erkundungsfahrt ins All, weil sie hoffen, unter außergewöhnlichen Bedingungen, frei von den Bindungen des Erden-Daseins, Antwort auf ungelöste Fragen ihres Zusammenlebens zu finden; denn beide Männer begehren die Frau.
Jahre, nachdem sie den blauen Planeten verlassen haben, landen die drei auf dem Dunkelstern Phi, wo unter der Herrschaft eines Hierarchen vernunftbegabte Pelz-Wesen leben. Im Spannungsfeld zwischen dem Hierarchen, der sie erpresst, ihm zu Willen zu sein, dem Wissenschaftler, dessen vernunftgesteuerte Aktivität sie fasziniert, und dem Arzt, der im kreatürlichen Lebensgenuss seine eigentliche Daseinsform erblickt, muss die junge Aria Wann sich entscheiden...
Der Roman Die Augen der Blinden des Schriftstellers Werner Steinberg (* 18. April 1913 in Neurode, Schlesien; † 25. April 1992 in Dessau), erstmals im Jahr 1973 veröffentlicht, erscheint als durchgesehene Neuausgabe im Apex-Verlag in der Reihe Kosmologien – Science Fiction aus der DDR.
DIE AUGEN DER BLINDEN
Erstes Kapitel
1.
Das monotone Summen der Aggregate, der aseptische Geruch der mattierten Metallwände, die makellose Schwärze des Alls - Aria Wann widersteht der Versuchung, einen flüchtigen Blick durch das Bullauge hinaus in die Unendlichkeit zu werfen, wo irgendwo unter diesem gewaltigen, rotierenden Startplateau, in dem sie sich befindet, der blaue Planet Erde schwimmt, auf dem sich zu dieser Stunde ihr Mann, Bronn Ziano, aufhält.
Zwar ist er Leiter der kleinen Raumexpedition, die geplant ist, aber er hat es ihr überlassen, sich um den dritten Begleiter zu kümmern, und so sitzt sie jetzt in diesem kahlen Zimmer Fernand Görens gegenüber, der als Personalbeauftragter der Allflugbehörde bekanntzugeben hat, ob ihr Antrag genehmigt wurde, eine wichtige Entscheidung, wie ist sie ausgefallen?
Er lässt sich Zeit, Görens, das monotone Summen, Aria Wann sieht ihn fünf Meter von sich entfernt in dem Quellsessel sitzen, der sich jeder Bewegung des Körpers geschmeidig anschmiegt, Görens indessen regt sich kaum, ein gelassener, in sich ruhender Mann in den besten Jahren, er hat die Achtzig kaum überschritten, denkt Aria Wann, nur die Linke liegt lässig auf der Tastatur des Computers, aus dem er den Bildschirm des Monitors schräg vor sich mit den letzten Angaben ihres Aktenstücks, nein, des Aktenstücks von Bronn Ziano, füttert; Aria Wann vermag die aufflimmernden Angaben aus der Entfernung freilich nicht zu lesen, sie fühlt sich gespannter, wie also mag die Entscheidung ausgefallen sein?
Sie hat Professor Maru Sodal als Begleiter vorgeschlagen, den Gefährten ihrer ersten Ehe, den hervorragenden Computisten, der ihrer Expedition wie kein anderer dienlich sein könnte, daran zweifelt sie nicht, aber unbekannt ist ihr, ob er die entscheidenden Aufgaben, die ihm bei der Besiedlung der Venus zugefallen sind, so weit gelöst hat, dass er freigegeben werden kann.
Als sie ihrem Mann den Namen Maru Sodal nannte, hatte er sie verblüfft angesehen und voll Missbehagen gefragt: »Hältst du das wirklich für richtig? Eine solche Reise ist kein Experimentierfeld für erloschene Gefühle!«
Sie hatte beiseite geblickt und geantwortet: »Ich weiß nicht, ob sie erloschen sind, Bronn Ziano. Doch davon abgesehen, wirst du zugeben müssen, dass es ein großer Gewinn für uns wäre, wenn Maru Sodal uns begleiten dürfte; denn die reichen Erfahrungen, die er hat, werden uns helfen, Rätsel zu lösen - und Rätsel vermutest du doch!«
Sie zweifelte nicht daran, dass diese Erklärung ihren Mann nicht überzeugte; aber stets war er großzügig gewesen, und so hatte er auch diesmal einen Disput vermieden, die Schultern gezuckt und gemurmelt: »Ich habe dir den Vorschlag überlassen; also akzeptiere ich ihn. Aber ich fürchte, Maru Sodal wird nicht freigegeben werden.«
Trotz Bronn Zianos Großzügigkeit bei dieser Entscheidung wusste sie, dass damit noch nichts entschieden war, auch in ihr selber nicht, und eines Tages würde Bronn Ziano erneut ein Gespräch darüber beginnen; was würde sie dann auf seine Fragen antworten?
Offenbar ist es nun beendet, das Auf blitzen der Ziffern und Zahlen, denn Görens macht eine energisch-abschließende Geste, der massige Schädel mit der grauen Haarmähne wendet sich der jungen Frau zu, sie mag die blauen Augen unter dem Gestrüpp der weißen Brauen. Görens sagt: »Die Daten sind geprüft und verglichen, das Ergebnis ist positiv, Professor Maru Sodal wird als »dritter die Besatzung vervollständigen.«
Im gleichen Augenblick ist Bronn Zianos Warnung wieder wach in ihr, sie erschrickt, aber nun gibt es nichts mehr zurückzunehmen, scheinbar kühl und unberührt erhebt sie sich und verlässt den Raum, die Entscheidung ist gefallen.
Draußen im magisch blauschimmernden Gang bleibt sie vor einem der Bullaugen stehen, und nun blickt sie tatsächlich hinaus in die makellose Schwärze des Alls, ist jedoch sogleich ein wenig ärgerlich auf sich selber, welche Torheit, von hier Ausschau nach dem blauen Planeten zu halten, er ist nur von der anderen Seite des Startplateaus aus zu erkennen, und selbst wenn sie ihn sähe, doppelte Torheit, könnte sie ihren Mann darauf nur ahnen, bald wird er hier auftauchen. Sie betrachtet verloren den schmal glänzenden Dianabogen des Monds, dann wendet sie sich ab und strebt mit kurzen entschiedenen Schritten ihrer Schlafkabine zu.
2.
Bronn Ziano steht an der Brüstung seines Lufthauses und schaut, zwölfhundert Meter über der Erdoberfläche schwebend, dem Sonnenuntergang zu, er drückt einen Hebel, das magnetische Kraftfeld verstärkt sich um wenige Grade, das Haus sinkt nieder auf einen weißen Wolkenballen, der darunter hintreibt, jetzt ist es, als ruhe es auf einem Schneehaufen, dessen Rand, von den letzten Strahlen der Sonne durchwühlt, rotgolden zu brennen beginnt, während unter der Wolke graublauer Rauch wegzustreichen scheint, um am östlichen Rande emporzusteigen.
Bronn Ziano lächelt unwillkürlich, als er daran denkt, wie merkwürdig sich die aufgeschäumte Kuppel seines Lufthauses, jetzt auf dieser Wolke sitzend, ausnehmen möge - die spitze Hälfte eines durchgeschnittenen Hühnereis, ins Gigantische vergrößert und nicht mit weißer Kalkschale bedeckt, sondern aus einer glitzernden Masse bestehend, von außen den Blick in ein Funkeln wegbrechend, von innen jedoch durchsichtig. Bronn Ziano segnet die Erfinder dieser leichten, windanfälligen Behausungen, die auf dem gleichmäßig sausenden Strom von Luftdüsen stehen und von dem magnetischen Kraftfeld willkürlich gehoben und gesenkt werden können - gesenkt bis zur Erde hin,- die er mehr als dieses metallene Startplateau liebt, das er als dünnen Strich schräg über sich in den noch hellfarbenen Himmel geritzt findet und das sich nachts in der Schwärze abzeichnen wird wie das stumpfweiße Mal, das ein Griffel auf einer Schiefertafel hinterlässt.
Es ist ihm zu künstlich, das Startplateau, zu makellos, zu aseptisch, da kann man beim besten Willen nicht einmal dreckige Fingernägel kriegen, pflegt er zu sagen, wenn er an seine geliebte schmutzige Erde denkt, den blauen Planeten, die Geburtsstätte der Menschheit, und mit Menschen hat er zu tun, der Arzt, der Chirurg, mit Blut, Fleisch, Knochen und Eingeweiden.
Aria Wann hingegen hat eine Neigung für jenes kunstvolle Gebilde dort oben, er weiß, dass sie sich auch jetzt da wohl fühlen wird, und er gesteht sich, dass es zu ihrem kühlen, zurückhaltenden Wesen passt, zu ihrer Art, sich zu geben, ja sogar zu ihrem ebenmäßigen Gesicht, zu ihrer kleinen, straffen Gestalt in dem knappsitzenden Raumanzug.
Passt es zu ihr? Er hat sie freilich auch anders kennengelernt, die kleine Schwarze mit den leicht geschlitzten schrägen Augen und den schmal in die Schläfen gezogenen, hochgebogenen Brauen, die eine Spur teuflisch wirken. Mit seiner fröhlichen, unbekümmerten Art hat er in ihr jene hingebungsvolle Leidenschaft zu wecken gewusst, die ihr bis dahin fremd gewesen sein musste und die sie selbst überraschte und begeisterte.
Sie schlossen die Ehe, die auf fünf Jahre befristet war wie alle Ehen, eine überschaubare Zeitspanne, innerhalb der sich die Partner klarwerden konnten, ob sie weiter zusammen leben wollten; sie galt als gelöst, wenn einer der beiden sie nicht durch seine Unterschrift verlängerte; so entfiel jeder äußere Zwang zum Zusammenleben, und die Ehe war aufgebaut auf freier Neigung, nicht selbstverständlich war das Gebundensein, sondern immer wieder zu erneuernder Beschluss, geboren aus Liebe, Verständnis, Werbung - der letzte Besitzstand, der am Menschen, Überbleibsel vergangener Eigentumsepochen, war gefallen.
In Kürze waren ihre ersten fünf Jahre vorüber, und vor einigen Monaten hatte Aria Wann ihm bedeutet, sie gedenke die Ehe nicht zu verlängern, weil sie eintönig zu werden drohe und keine Anreicherung mehr böte; er war erschrocken, denn er hatte das nicht empfunden, und in der Annahme, ihre Beziehungen würden sich neu beleben, wenn er für seine Frau, die Biologin, und sich selbst, den Chirurgen, ein gemeinsames Forschungsgebiet auftun könne, hatte er ihr eine Versuchsreihe über Organtransplantationen unter extremen Bedingungen vorgeschlagen; sie hatte ohne Zögern eingewilligt, und er erkannte daran ihren Willen, diese Bindung nicht leichthin aufzugeben; aber obwohl er sie außerdem besonders umwarb, hatte ihrer Vereinigung jenes elektrische Vibrieren gefehlt, das er von früher her kannte, und eines Nachts hatte sie gesagt: »Nein, Bronn Ziano, ich fürchte, gerade weil wir es so sehr wollen und wünschen, bleibt es aus.«
Ratlos hatte er geschwiegen - und dann war dieser Glücksfall eingetreten, der ihn jetzt, als er sich daran erinnert, aufatmen lässt: Ihm wurde eine Raumexpedition nach einem noch unerforschten Planeten gestattet, auf dem er Leben vermutete, er hatte Aria Wann vorgeschlagen, daran teilzunehmen, weil sie, die Biologin, dabei zu neuen Erkenntnissen gelangen könnte; er hatte nicht ausgesprochen, dass er es ihr auch deshalb vorschlug, weil darüber Jahre verstreichen würden, erfüllt mit ungeahnten Erlebnissen, die sie aneinander binden würden, so dass von dem Erlöschen ihrer Ehe vielleicht nicht mehr die Rede zu sein brauchte - und sie hatte eingewilligt! Da hatte er sie gebeten, den dritten Mann für die Besatzung auszuwählen und die Genehmigung der Allflugbehörde dafür einzuholen - angeblich, weil er im Augenblick beruflich sehr belastet sei, in Wahrheit, um Aria Wann enger an diese Expedition und damit an sich zu binden. Wenige Tage später hatte sie ihm Maru Sodal, ihren ersten Mann, vorgeschlagen; da war ihm klar gewesen, dass nichts entschieden war, aber ebenso klar war ihm, dass ein Einspruch von ihm eine vielleicht wirklich erstorbene Zuneigung Aria Wanns zu dem Professor möglicherweise in ihrer Phantasie erst wecken würde, und so hatte er zugestimmt, wenn auch schweren Herzens.
Die Umdunkelung der Erde hat jetzt beinahe die ganze Wolke erfasst. Bronn Ziano stößt sich von der Brüstung ab, löst seine Augen vom schmalen Strich des fernen Startplateaus und begibt sich zur anderen Seite des Lufthauses, die von letzten grellen Sonnenstrahlen gerade noch blitzend überstrichen wird, seine Augen sind geblendet, er schirmt sie mit seinen kräftigen Chirurgenhänden und sieht hinunter in den Nachtsee, in dem die Erde, seine Erde, ruht.
Bevor er in unendliche Weiten hinwegschießen wird, will er sie noch einmal betreten; der lange, hagere Mensch dreht sich um, beugt sich über den Höhenhebel und bedient ihn behutsam, dabei beobachtet er aufmerksam mit seinen grauen Augen die Skala des Höhenmessers, sein schmales knochiges Gesicht wirkt konzentriert, und wie draußen, während er niederschwebt, der Dunst der Wolke das Lufthaus zu umhüllen beginnt, denkt er: Ich muss sie wiedergewinnen, ich gebe sie nicht auf!
Der Ruck, mit dem das Lufthaus zwischen den Bäumen auf dem Erdboden aufsetzt, ist kaum zu spüren.
3.
Zu dieser Zeit betritt Aria Wann ihre Schlafkabine; diese kleinen Kammern liegen wabenartig am äußeren Rand der dicken rotierenden Plateauscheibe, hier sich aufzuhalten ist am angenehmsten, weil die Zentrifugalkraft am deutlichsten wirkt und die mangelnde Schwere ersetzt:
Aria Wann lässt sich in ihren Quellsessel nieder, in dessen linker Armstütze die elektromagnetischen Taster für die Raumbedienung eingelegt sind, aber sie benutzt sie nicht, sie schließt die Augen, lockert die Glieder, entspannt die Muskeln, die Arme gleiten von den Lehnen und hängen locker beiderseits des Sessels herunter, fast berühren die Fingerspitzen den Boden, und so, entkrampft und ganz gelöst, sammeln sich in ihr - von frühester Kindheit an gewohnte Übung - neue Kräfte, minutenlang ruht sie so, durchflutet von den Strömen des Alls, eins mit dem All, ehe sie aus dem Unbewusstsein wieder auftaucht wie ein Schwimmer, der den Fluten entsteigt.
Mit dem linken Zeigefinger berührt sie fast unmerkbar einen der Tastknöpfe, durch einen Sektor der mattierten Metallwand vor ihr geht es wie das nervöse Vibrieren eines Hundefells unter einer streichelnden Hand, die Partikelchen der Oberfläche geraten in eine lautlos-schütternde Bewegung und ordnen sich neu zu einer Spiegelfläche, in der sieht Aria Wann sich nun und mustert sich, eine mädchenhaft junge Frau mit ihren zweiunddreißig Jahren, zart und doch kräftig die Glieder, der Leib, schmal das Gesicht und fast blass wirkend unter den schwarzen, streng zurückgekämmten Haaren, kühl der Blick der dunkelbraunen Augen; mit unsichtbarem Lächeln gesteht sie sich, dass sie ihre Gefühle und Gedanken zu bändigen vermag.
Kann sie es stets, vermöchte sie es immer?
Maru Sodal, ihr erster Ehemann, war davon überzeugt und blieb es, ihn heiratete sie, als sie siebzehn war; damals erschloss sie sich mit einem ernsten Eifer, der ihr heute kindlich erscheint, die simplen Anfangsgründe ihres Berufs, alles kam ihr wie eine wichtige Entdeckungsreise vor, und sie bewunderte in Maru Sodal den arbeitsversessenen, fast genialen Computisten, der jener großen Arbeitsgruppe, die mit dem bedeutendsten Projekt der Menschheit, der Umgestaltung der Venus, befasst war, durch ideenreiche Computerentwicklungen die Darstellung ungeahnter Varianten ermöglichte; damals, gerade fünfundfünfzig Jahre alt, erhielt er den Professorentitel; ihn bewunderte sie begreiflicherweise, und als sie ihn kennenlernte, war sie geradezu fassungslos, weil er ihr mit wenigen Sätzen gleichsam nebenbei einige Geheimnisse ihres Berufs zu lüften vermochte, die sie für fast undurchdringlich gehalten hatte, und erst später begriff sie, dass er zu den großen Leistungen auf seinem Spezialgebiet nur deshalb befähigt war, weil er sich umfangreiche Kenntnisse aller anderen Bereiche anzueignen gewusst hatte; als sie das begriff, bewunderte sie ihn umso mehr.
Welchen Reiz sie selbst für ihn gehabt haben mochte dieses Rätsel konnte sie auch später nur unvollkommen lösen, vermutlich war es ihr ebenso jugendlicher wie ernster Eifer, der ihn bestrickte, diese Bereitschaft, sich rückhaltlos einer Sache hinzugeben - auch heute glaubt sie noch nicht, dass es der Wunsch war, eine Gespielin zu haben, und diesen Wunsch vermisste sie, die damals unerfahren war, nicht.
Es dauerte geraume Zeit, ehe sie sich darüber klar wurde, dass sie für Sodal nicht die gleichwertige Partnerin sein konnte, eher eine Schülerin, deren Anstrengungen er sich zugeneigt fühlte; da mochte sie das Lächeln nicht mehr, mit dem er auf ihre Fragen antwortete, sie empfand es als überheblich, obwohl es das ganz sicher nicht war. Erst allmählich schloss sich ihr auf, wie groß der Abstand an Wissen tatsächlich war, der ihn von ihr trennte, eine Kluft, so schien es ihr, und Maru Sodal befeuerte sie nicht, spornte sie zu wenig an, diese Kluft zu verringern und zu überspringen - er wünschte das sicher, aber seine Zeit erlaubte es ihm nicht; die Aufgaben, vor die er sich gestellt sah, mussten zum Wohle der Menschheit rasch gelöst werden, sie erforderten die äußersten Anstrengungen des ganzen Mannes.
Möglicherweise war da auch noch etwas anderes, das sie entbehrte und weshalb sie sich unerfüllt fand; Sodals Liebkosungen waren flüchtig, so, als sei er dabei weit von ihr entfernt, ja, als missgönne er sich die Zeit, die er darauf verwendete, sie schmolzen das Eis nicht, und deshalb sehnte sie sich nicht danach.
Nach dem Ablauf jener fünf Jahre jedenfalls war in Aria Wann der Entschluss gereift, das Zusammenleben mit ihm nicht fortzusetzen, sondern in intensiverer Arbeit als bisher jene Kluft zu überwinden, die ihn zum Lehrer, sie zur Schülerin gemacht hatte - also ihre gesamte Kraft auf ihre wissenschaftliche Weiterbildung zu verwenden, um eines Tages ein Mensch von der Gültigkeit und Geltung zu werden, wie Maru Sodal es war, und insofern wurde und blieb er ihr Leitbild.
Gemessen und ausgeglichen, wie er war, nahm er ihre Entscheidung zur Kenntnis und fügte sich; er hätte es als Vergewaltigung empfunden, hätte er sie umzustimmen versucht, denn er fürchtete, alle seine Argumente würden auf sie nicht sächlich, sondern überredend wirken, und dass es ihn bitter ankam, ahnte sie nur.
Es blieb kein Rest von Trauer zurück, im Gegenteil erschien es ihr in der Folgezeit so, als bemerkte Maru Sodal mit Vergnügen, welche Erfolge sie mit ihrer konzentrierten Forschung hatte, und er sagte es auch gelegentlich, denn sie begegneten sich manchmal bei der Lösung gemeinsam gestellter Aufgaben.
Dann kam jener Tag, der ihr unvergesslich bleiben wird: Maru Sodal saß neben ihr und berichtete von den Schwierigkeiten, die es bereitete, in die Venus-Atmosphäre einzellige Lebewesen einzuführen.
Sie arbeitete damals an der Weiterentwicklung bestimmter Mikroben und war auf die Idee verfallen, sie in eine Emulsion einzubringen, so dass die äußeren Bedingungen sich nicht veränderten und ausschließlich die Stoffwechselverhältnisse unterschiedlich waren, je nachdem, in welcher der beiden Flüssigkeiten, aus denen die Emulsion bestand, die Mikroben sich befanden.
In jenem Gespräch mit Maru Sodal meinte sie, so ähnlich ließe sich vielleicht eine Infiltration in die Venus-Atmosphäre durchführen. Maru Sodal hatte sich vorgebeugt, seine schwere, kurzfingrige Rechte auf ihr Knie gelegt und gesagt: »Das könnte die Grundlage der Lösung sein!«
Er war schweigsam geworden und bald gegangen, und ihr Einfall hatte, wie er ihr später mitteilte, wirklich zu der Lösung geführt. Von diesem Zeitpunkt an hatte sie sich ihm ebenbürtig gefühlt.
Nachträglich also noch, als sie nicht mehr mit Maru Sodal zusammen lebte, hatte er sie geprägt, und wenn sie vorgeschlagen hatte, er möge sie auf der Expedition begleiten, so war es auch, weil sie Lust auf enge gemeinsame Arbeit mit Maru Sodal hat, weil sie sich viel davon verspricht...
Wieviel eigentlich? Keine Zeit für den Spiegel! Ärgerlich berührt sie den Taster, die Spiegelfläche vibriert zurück in die geschlossene, unnahbare Metallwand. Sie tippt auf einen zweiten Kontakt, ein Teil der Wand gleitet lautlos hinweg, eine schmale hohe Nische, von kräftigem gelbem Licht durchströmt, ist freigegeben, sie nimmt sich aus wie ein Sonnenfenster.
Aria Wann erhebt sich, streift die Raumkleidung ab und tritt in die Nische, dabei durchbricht sie eine Lichtschranke, und zwei Sekunden später löst die fotoelektrische Zelle aus Hunderten fast unsichtbarer Düsen den erfrischenden Duft eines Reinigungssprays aus; inmitten des sie umstäubenden Dufts steht die Frau mit geschlossenen Augen und erhobenen Armen, sie atmet tief, es ist erquickend; über ihr wird die zarte Feuchtigkeit abgesogen. Nach kurzer Zeit wechselt der Spray, es ist jetzt eine duftende, leicht ölhaltige Flüssigkeit, als sanfter Schimmer liegt sie auf der Haut. Einen Moment zögert Aria Wann, doch dann drückt sie eine schmale Taste, der Spray verfliegt, und stattdessen füllt sich die Nische mit oszillierendem lilafarbenem Tiefenlicht, das ihren ganzen Körper durchdringt und mit einer angenehmen, schweren Müdigkeit zu durchtränken beginnt.
Sie steigt aus der Nische, die Lichtschranke wird durchbrochen, die Beleuchtung verlischt augenblicks, lautlos gleitet die Metallwand nahtlos zu.
Aria Wann tippt mit dem Fuß auf den Boden, dort schieben sich elastische Metallschuppen seitwärts auseinander, aus der Öffnung drängt sich das Quellbett hervor. Während sie sich darauf legt und auf den Schlaf wartet, muss sie flüchtig daran denken, wie Professor Maru Sodal die Entscheidung der Weltraumbehörde wohl aufgenommen haben möge.
4.
Maru Sodal befindet sich in diesem Augenblick auf dem Rückflug von einer letzten Inspektionsreise, die ihn um die Venus herumführte; er ruht, nun doch leicht ermüdet von den Anstrengungen, in seiner Kabine, die Untersuchungen seiner Kollegen sind, soweit das während des Fluges möglich war, abgeschlossen worden und zufriedenstellend ausgefallen; die Ergebnisse besagen eindeutig, man brauche nur nach dem zuletzt fixierten Programm fortzufahren, um eines Tages die Besiedlung der Venus zu ermöglichen.
Bis dahin war es ein weiter, ein schwieriger Weg gewesen.
Im Jahre 240 nach der Weltwende hatte man mit den ersten Versuchen begonnen, die theoretischen Überlegungen reichten sogar in die Zeit vor der Weltwende zurück; nachdem die Klassenverhältnisse endgültig beseitigt worden waren, galt es zunächst, die Erde neu zu strukturieren, Industrien umzugestalten und zu verlagern, Bildung und Lebensstandard der Menschen auf das gleiche Niveau anzuheben, Restbestände irriger Ideologien zu eliminieren, ehe man ernsthaft Kräfte auf grundlegende Venusexperimente verwenden konnte.
Schwierigkeiten bereiteten noch immer die hohe Temperatur, die an der Venusoberfläche 470 Grad erreichte, und der Mangel an Sauerstoff. Beides konnte letztlich jedoch kein Hindernis sein, weil - von gewissen Abweichungen abgesehen - der Zustand der Venus dem der Erde vor einigen Jahrmillionen glich.
Die Überlegungen liefen darauf hinaus, eine Entwicklung, die sowieso einsetzen würde, möglicherweise schon eingesetzt hatte, mit Hilfe von Infusorien zu befruchten und zu beschleunigen.
Alle Versuche waren zunächst fehlgeschlagen, weil die Infusorien trotz Vorsichtsmaßnahmen von den ungünstigen Verhältnissen zerstört wurden. Doch dann war es die beiläufige Bemerkung Aria Wanns gewesen, die Maru Sodal auf den Gedanken gebracht hatte, in die Atmosphäre Sauerstoffblasen einzuschießen und in diesen Blasen die Infusorien sich entwickeln und vermehren zu lassen, bis sie schließlich selbst die Substanz der Blasen veränderten und dabei gleichzeitig resistent gegen schädliche Umwelteinflüsse wurden; und immer wenn Maru Sodal danach an die Venus dachte, musste er gleichzeitig an Aria Wann denken, deren plötzlicher Einfall die Grundlage für das Gelingen des Plans gewesen war.
Die Idee der Infusorienbomben war geboren.
Noch jetzt rückt der Professor unbehaglich die breiten Schultern, wenn er an diesen Begriff denkt, den ein Verfasser utopischer Literatur unkorrekt, irreführend, ja falsch angewendet hatte, um einen komplizierten Vorgang zu simplifizieren; aber er war im Sprachgebrauch wegen seiner Anschaulichkeit hängengeblieben.
Da die Ergebnisse der ersten Versuche auf der Venus nur vage beobachtet werden konnten, wurde beschlossen, das VFZ, das Venus-Forschungs-Zentrum, in der Sahara aufzubauen, wo die natürlichen Bedingungen die Arbeiten begünstigten; es wurde ein gewaltiges Unternehmen, in dem Tausende von Wissenschaftlern tätig waren, und Maru Sodal war federführend.
Jetzt, nachdem der Erfolg gesichert ist, jetzt also erst, auf dem Rückflug von der Venus, spürt Professor Maru Sodal zum ersten Male die ungeheure Anspannung, unter der er jahrzehntelang gestanden hat, jetzt, als sie nachlässt; nun erst verlassen seine Gedanken die streng vorgeschriebenen Bahnen und schweifen ab. Unwillkürlich verfolgt er auf dem Monitor den Flug des Raumschiffs, die Venus, die fast den gesamten Bildschirm füllt, schrumpft langsam zusammen, Maru Sodal entfernt sich von ihr, entfernt sich von seiner Aufgabe, die gelöst ist, und er nähert sich einer anderen; das Startplateau indessen ist noch lange nicht sichtbar.
Überraschend für ihn war die Anfrage der Allflugbehörde gekommen, ob er gewillt sei, an der kleinen Expedition Bronn Zianos teilzunehmen; seine Anwesenheit beim VFZ sei nicht mehr erforderlich; man wünsche, dass die Besatzung mit möglichst weitreichenden wissenschaftlichen Ergebnissen zurückkehre... und plötzlich hatte es ihn gereizt, nach so vielen Jahren in einen anderen Sattel zu springen.
Wie er jetzt, die Beine weit von sich gestreckt, in dem Quellsessel ruht, berührt ihn der Gedanke, der tiefste Grund könne auch ein anderer sein, könne zumindest mitspielen in seinen Erwägungen - der nämlich, Aria Wann wiederzubegegnen und mit ihr als gleichberechtigter Partnerin eine Aufgabe zu lösen.
Gleichberechtigte Partnerin, das gesteht er sich bedauernd ein, war sie damals nicht gewesen, als er sich mit ihr verbunden hatte - äußerlich zweifellos, das verstand sich von selbst, innerlich jedoch nicht; denn er fühlte sich ihr in jeder Sekunde überlegen, musste sich überlegen fühlen, die Situation brachte es einfach mit sich, der Unterschied ihres Alters, seine Erfahrungen hatten ihn reifer gemacht. Nein, grübelte er, möglicherweise nicht reifer, einseitiger nur, ganz ausgerichtet auf seine wissenschaftliche Arbeit, während sie sich diese Gebiete erst erobern musste.
Jetzt war das zweifellos anders geworden.
Vielleicht, so überlegt er, würde sich ihre Bindung aneinander erneuern lassen; zwar hatte sie sich klaglos von ihm getrennt und an Bronn Ziano gebunden, von dem er nur wenig weiß, aber er selbst war es gewesen, der ihre Entwicklung entscheidend beeinflusst hatte; und es musste jetzt gerade fünf Jahre her sein, dass sie die Ehe mit Bronn Ziano eingegangen war. Konnte es da ohne tiefere Bedeutung sein, dass sie gerade ihn als dritten Teilnehmer für die Expedition vorgeschlagen hatte? Und wenn es so wäre, entspräche das vielleicht eigenen geheimen Wünschen?
Und auf einmal weiß Maru Sodal, wie sehr er sie vermisst hat und warum er immer wieder zu Gesprächen zu ihr zurückgekehrt ist: Mit ihrer Jugend, ihrer Spannkraft, ihrem Temperament würde auch er selbst sich vor dem Altern bewahren, würde jung und schöpfungskräftig bleiben!
Der Gedanke ist ihm unbequem. Denn er muss sich eingestehen, dass jene fünf glücklichen und bereichernden Jahre von ihm verspielt worden waren, weil er zu beschäftigt, vielleicht auch zu ungeschickt gewesen war, um sie an seiner Seite zu halten und sie spüren zu lassen, was sie ihm bedeutete - welches Glück, würde ihm das wiedergeschenkt werden!
In diesem Augenblick rauschen Lenkdüsen des Raumschiffs auf, eine Kurskorrektur, weiß Sodal, vom Bildschirm rutscht die Venus hinweg, gleich darauf schiebt sich das Horn der viertel beleuchteten Erde, noch weit entfernt, herein, und schräg über ihr weiß der Professor den kurzen Fadenstrich des Startplateaus, dort befindet sich jetzt Aria Wann, und plötzlich ist er ärgerlich auf sich selbst, was sollen diese Gedanken; er löscht den Monitor.
5.
Aria Wann hatte sich auf das Quellbett gelegt in der Erwartung, es werde nun jene angenehme hindämmernde Spanne zwischen Wachen und Schlaf beginnen, doch ihre Erinnerungen, die sie durch das Tiefenbad ausgelöscht wähnte, flackern erneut auf.
Wie immer Maru Sodal die Entscheidung, der Allflugbehörde aufgenommen hat, er kennt Aria Wann nur als die Kühle, Zurückhaltende; einer aber weiß, dass sie nicht so ist, einer kennt sie ganz anders: Bronn Ziano; es ist Abwehr in ihr, als sie sich gesteht, dass er sie bezauberte, verzauberte mit seinem unbekümmerten Wesen, seiner lässigen Fröhlichkeit, seinem Hang zu Traum und Spiel, Spiel auch mit ihr in den nächtlichen Stunden, erfinderisch und liebevoll, genussfreudig und erfüllend, sie erweckend zu einer ungestümen Leidenschaft, unbekannte Landschaft bisher, unerschlossenes Gelände, das sich auftat, Sehnsüchte, die sich erfüllten.
Ja, ihre Welt verwandelte sich jäh, gewann neue Farben, Töne, Dimensionen, als sie Bronn Ziano begegnete; der Anlass war läppisch gewesen, eine Bagatelle, ein Klacks, wie er später spöttisch sagte - sie hatte Leberschmerzen, die einen chirurgischen Eingriff erforderten, den nahm er vor, er hatte, wie er danach, vor ihrem Lager stehend, ernsthaft versicherte, lediglich eine Laus von der Leber entfernt, das sei alles gewesen.
Das war es, so war er, nahm die Dinge leichthin, verwandelte sie in farbige Luftballons, die er aufsteigen ließ, möglicherweise trugen sie eine Botschaft weit fort, vielleicht auch zerplatzten sie irgendwo in der Höhe, das kümmerte ihn nicht, ihm genügte der Anblick.
Er hatte nicht Maru Sodals Ruhm, nun ja, er war halb so alt, sagte sie sich damals, gerade achtundzwanzig; sie begriff indessen bald, dass Bronn Ziano ihn gar nicht begehrte; er sei kein Forscher, sagte er immer, er sei ein Täter, er habe die Menschen zu operieren, das tue er, und dabei verwende er die neuesten Erkenntnisse; das war wirklich der Fall, er hatte den Ruf, sichere und gediegene, gelegentlich kühne Eingriffe zu machen, und Aria Wann wusste auch, dass er sich dabei selbst hergab: Sie hatte ihn erlebt, wenn er nach stundenlanger exakter Arbeit völlig erschöpft, mit ergrauter Gesichtshaut, die Augen geschlossen, ausruhend im Sessel mehr lag als saß.
Gerade das aber veranlasste ihn, seine freie Zeit zu erholsamen Dingen zu verwenden, und erholsam fand er es, auf einer Wiese zu liegen, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und die Wolken treiben zu sehen; erholsam fand er es, mit seinem Raumfrosch sportliche Kapriolen im All zu fliegen; erholsam fand er es, Witze zu reißen, Unsinnigkeiten zu tun, zu blödeln, wie er frech bekannte; und erholsam fand er es, sie zu lieben.
Das war eine andere Art von Liebe, als Aria Wann sie bisher gekannt hatte, eine leidenschaftliche, erweckende Liebe, ein Spiel, das in vollkommener Hingebung endete, eine Erschöpfung im anderen - sie fand sich selbst verwandelt, eine Quelle der Leidenschaft brach in ihr auf, und nicht nur das: sie war geradezu betroffen, dass sie es nicht nur vermochte, sondern dass sie zeitweise entzückt davon war, sein Kätzchen Miau zu sein. Ja, sie war betroffen, erschrocken, was alles verbirgt sich in mir, aber sie war auch, das gestand sie sich ein, beglückt.
Als sie ihre Bindung an Maru Sodal einmal erwähnte, da hatte Bronn Ziano, der den inzwischen zum Professor ernannten Berühmten natürlich auch kannte, sie nur schräg angesehen und mit einem versteckten Lachen gesagt: »Maru Sodal? Dass ihr euch getrennt habt, begreife ich. Der hat dich nicht verspielt, sondern verarbeitet!«
Doch das war zu einer Zeit gewesen, als sie bereits geantwortet hatte: »Du magst recht haben, aber pass auf, dass du mich nicht verarbeitest, sondern verspielst!«
Damit war es ihr ernster gewesen, als das Wortspiel vermuten ließ; hatte Maru Sodal sie in seine Arbeit gebunden, so band Bronn Ziano sie in seine Lust.
Sie war objektiv genug, zu erkennen, dass beide ihr neue Lebensbereiche erschlossen hatten, auch Ziano, gerade Ziano; aber war das genug für viele Jahrzehnte? Sie bezweifelte es, sie hatte keinen Appetit darauf, nur das Kätzchen Miau zu sein, die Gespielin, und sie sagte es ihm; er nickte und machte unbeholfene Versuche, es zu ändern, indessen gelang das nur sehr unvollkommen, oder um es genau zu sagen: es misslang.
Jetzt freilich fragt sich Aria Wann, ob nicht sie selbst an diesem Misslingen zumindest Mitschuld trage; denn zu diesem Zeitpunkt fesselte bereits Maru Sodal ihre Aufmerksamkeit; nicht nur weil er ihr das Verdienst am Gedanken der Infusorienbomben zuschob - sie wusste, dass die Realisierung dieser Idee nur auf tausend weiteren Ideen beruhte, die er und seine Mitarbeiter beigesteuert hatten -, sondern well es sie tief beeindruckte, dass Maru Sodal selbstlos sein Leben opferte, um eine neue Epoche der Menschheit einzuleiten, und die Besiedlung der Venus würde man eines Tages so nennen. Das gab auch dem Mann Maru Sodal ein weit schwereres Gewicht, als es der Mann Bronn Ziano haben mochte - so glaubt sie wenigstens.
Wenn also in Kürze die ersten fünf Jahre ihrer Ehe mit Bronn Ziano verstrichen waren, so würde sie ein zweites Mal ihre Unterschrift nicht leisten.
Während Aria Wann auf dem Quellbett liegt und darüber nachdenkt, fragt sie sich freilich, ob sie überhaupt für eine lange Bindung geeignet sei, und sie zweifelt daran. Damals hatte sie sich Von Maru Sodal gelöst, und die Gründe schienen ihr einleuchtend; jetzt, so gesteht sie sich, kommen ihr die Gründe gegenüber Bronn Ziano ebenso einleuchtend vor; gerade das, wonach sie sich gesehnt und was sie erfüllt hat, ist einige Jahre später Ursache für eine Trennung, und wenn das wirklich so ist, sagt sie sich, ist es ein Unrecht gegenüber dem Partner, immer aufs Neue eine solche Bindung zu versuchen.
Denn in seiner Weise kennt ja auch Bronn Ziano die Rücksichtslosigkeit gegenüber seiner eigenen Person, wenn es um andere geht; Als er sich vor einigen Monaten mit seinem Raumfrosch im All sportlich getummelt hatte, eines seiner geliebten Vergnügen, hatte er einen SOS-Ruf aufgefangen, Havarie des Raumschiffs THESEUS, leckgeschlagen durch Meteoriten, unfähig, aus eigener Kraft zum Startplateau zurückzugelangen, und er, Bronn Ziano, war es gewesen, dem unter rücksichtslosem Einsatz seines Lebens die Rettung gelang; qualvolle Stunden für Aria Wann, in denen sie die spritzenden Funksprüche aufgefangen hatte, durch die sie nacherlebte, was sich unfassbar fern im All vollzog - nacherlebte, denn sie wusste ja, wenn sie die sich verhaspelnden Funksignale empfing, war das Drama längst weiter fortgeschritten, hatten sich Leben und Tod vielleicht bereits entschieden.
Die Allflugbehörde hatte Bronn Zianos Einsatz dadurch anerkannt, dass sie ihm freistellte, einen Flugwunsch zu äußern, das war gleich nach der Landung geschehen.
Er hatte es Aria Wann sofort nach der Heimkehr berichtet, hatte kein Wort über sein Abenteuer verloren, das war vorüber, hatte sie von unten her, während er den Raumanzug abstreifte, spitzbübisch angesehen und, die Brauen hochgeschraubt, gefragt: »Ahnst du, wohin?«
Sie hatte, das Herz noch beklommen von überstandenen Ängsten um ihn, den Kopf geschüttelt, und er hatte, mit leisem. Triumph in der Stimme, ergänzt: »Gut, ich zeige es dir!«
Aria Wann musste sich neben ihn setzen, er löschte die Raumbeleuchtung, sie hörte das leise Knackgeräusch, als er die Sternbilder einschaltete, er stellte den Reisecomputer an, der es ermöglichte, jede beliebige Stelle des sternübersäten Himmels heranzuführen und zu vergrößern bis zu jenen Details, die inzwischen durch die planmäßigen Allexpeditionen bekannt geworden waren.
Die Simulation war perfekt, mit einer Geschwindigkeit, die kein Raumschiff zu erreichen vermochte, schossen sie in das All hinein, Sterne stoben an ihnen vorbei, prasselten als Glutfontänen ausstoßende Sonnen vorüber oder prallten als eisige Monde in ihren Blick.
Während er mit sicherer Hand die Manipulation vollführte, schwieg Bronn Ziano; Aria Wann bemerkte, dass er sie auf den Spuren einer der letzten Expeditionen hinwegführte, sie war nur gespannt darauf, was das Ziel sein sollte - da verlangsamte er bereits ihre imaginierte Reise.
Bedächtig näherten sie sich nun einem Körper, den Aria Wann zunächst für einen Trabanten hielt, der sich aber als ein kleiner Planet mit verschatteten rötlichen Färbungen und einem winzigen Mond erwies.
Das Bild stand still, aus dem Dunkel hörte Aria Wann die Stimme Bronn Zianos: »Die Erforschung dieses Planeten soll planmäßig erst in vierzig Jahren erfolgen, er wird als wenig bedeutungsvoll angesehen, du weißt, dass wir unsere Expeditionen streng nach Programm durchführen.«
Er machte eine Pause, aber sie fragte nichts. Da eröffnete er kurz: »Das ist unser Ziel!« Fast gleichzeitig löschte er die Sternentafel, ihr Planet ging unter im Aufglimmen der Wand. Erst jetzt fragte sie: »Unser Ziel?«
»Ich nehme es doch an«, meinte er leichthin, »warum sollten sich dort keine Spuren von Leben finden, und ich könnte mir vorstellen, dass dich als Biologin das interessiert.«
Sie schwieg.
Er fuhr in leichtem Plauderton fort: »Drei Mann Besatzung sind vorgesehen, sind ja auch Pflicht, es kostet mich ein Wort, und du bist dabei.«
Das Ziel war verlockend, eine fremde, möglicherweise belebte Welt, ein Dasein, das noch keines Menschen Auge
geschaut hatte - sollte es ihr als Zeichen dafür gelten, dass Bronn Ziano sie tiefer begriff, als sie annahm? Sie stellte es in Rechnung, aber tiefst innen glaubte sie es nicht, nun, es würde sich zeigen.
Wieder ist der Gedanke an Bronn Ziano da, der noch auf der Erde ist, vielleicht schaut er irgendwo Schmetterlingen zu, das sähe ihm ähnlich, und Aria Wann muss ein Lächeln unterdrücken, ein flüchtiges Gefühl von Zärtlichkeit, das sie sich nicht gestatten will.
Das monotone Summen der Aggregate, der aseptische Geruch der mattierten Metallwände, mächtig treibt das rotierende Startplateau durch das All dahin, winzig die Schlafkabine im äußersten Rande, winziger noch die Gestalt der ruhenden Aria Wann, deren Erinnerungen jetzt verschwimmen, sich auflösen, die Wirkung des Tiefenlichts wird verstärkt durch die sich wandelnde Beleuchtung des Raumes, mit Hilfe eines elektromagnetischen Systems sinnreich induziert durch die sich verändernde Tiefe der Atmung; das silberne Leuchten der Metallwände geht über in die Farbe ausgedörrten Heus, wobei sich gleichzeitig der ganze Raum mit diesem aromatischen Duft zu füllen beginnt. Das sind die letzten bewussten Sekunden, bevor Aria Wann einschläft.
6.
Das Lufthaus setzt mit leichtem Ruck auf dem Ankerplatz auf, den Bronn Ziano inmitten eines Waldstücks ausgewählt hat.
Ein letztes Mal vor der großen Fahrt will er hier auf seiner geliebten Erde herumstöbern, er öffnet die ovale Tür und tritt hinaus, den grasigen Boden spürt er weich und federnd unter der Sohle. Nicht ohne Grund hat er diese Stelle ausgewählt.
Wenige Jahre nach der Weltwende waren die ersten Pläne zur Raumgestaltung der Erde entworfen worden. Die eigentlichen Produktionsstätten, heute längst computergelenkt und -überwacht, mit Kernenergie betrieben, lautlos funktionierende Maschinengewirke sozusagen, in deren Bereich nur wenige Menschen beschäftigt sein mussten, waren geballt in unwirtliche Gebiete verlegt worden, während die Lenkungs- und Verwaltungszentralen den Mittelpunkt der Wohngebiete bildeten, die, durchsetzt von Wäldern, Feldern, Flüssen und Seen, ineinandergriffen und keine abgegrenzten Ortschaften mehr bildeten.
Das zu bewirken hatte lange Zeit gedauert; denn vordringlich war die Anhebung der Bildung und des Lebensniveaus auf einen in allen Völkern gleichen Stand gewesen. Nun erst, der materiellen Not enthoben und dem Zwang, für den Lebensunterhalt den größeren Teil des Daseins zu opfern, entfaltete sich der Tätigkeitsdrang der Menschen frei, und Wissenschaft, Forschung, Kunst gewannen ungeahnte schöpferische Kräfte, die in die Menschen wie in kommunizierende Röhren eindrangen.
Rechtzeitig aber war man auf den Gedanken gekommen, frühere Wohnstätten aus der Zeit vor der Weltwende zu konservieren, um späteren Geschlechtern zeigen zu können, unter welch mühseligen und oft unwürdigen Umständen Menschen früher zu leben gezwungen waren. So war die gesamte Anlage von Chicago, diesem monströsen und entwürdigenden Gebilde, erhalten geblieben nicht als ein Museum, sondern als Zeugnis, so auch hatte man die Mittelstadt Dessau bewahrt, deren Bewohner sich schon vor der Weltwende um eine Neugestaltung bemühten, aber wie unzulänglich und ungeschickt war das alles noch! Nur mit Rührung kann Bronn Ziano den gebrochenen Zug der Straßen, die ermüdende Gleichförmigkeit der platten Gebäude mit den Zimmerschächtelchen, das greisenhafte Fortbewegungsmittel einer Straßenbahn betrachten, aber auch die vereinzelten Hütten, die sie sich mühselig am Rande der Stadt, dicht bei seinem Ankerplatz übrigens, erbauten und deren Mauern schon vor der Restaurierung kläglich geborsten waren - Bronn Ziano schlendert den Trampelpfad dorthin entlang, die Ruten der Bäume drückt er mit der Hand beiseite, sie schnellen hinter ihm schüttelnd in die laue Luft, es ist Sommerbeginn, ein verrückter Specht hämmert sich noch in der Dämmerung Nahrung aus der Rinde einer Eiche, deren verworrene Krone sich über die Wipfel der verstreuten Birken erhebt.
Vielleicht ist es ein sentimentaler Grund, der Bronn Ziano immer wieder hierher lockt, die Tatsache, dass vor der Weltwende hier einer seiner Vorfahren mütterlicherseits Bücher schrieb, er hat die kleine Bibliothek mit den zerfallenden Bänden entdeckt und, in abendlichen Stunden dort sitzend, wo früher einmal eine Art Terrasse gewesen sein muss, die geblasste Schrift auf dem miserablen Papier zu entziffern versucht - wie mühsam, das zu lesen, wie umständlich das alles erzählt war, keine Spur von jener Komplex-Dichtung, die heute, in wenige eindringliche Zeichen komprimiert, Handlungen Gefühle Gestalten vermittelt.
Der Wildwald ist bis zu jenem verfallenen Hexenhäuschen vorgedrungen, Bronn Ziano legt die flache Hand auf die feuchte Mauer, doch dann besinnt er sich anders, es genügt, ihm, noch einmal hier gewesen zu sein, so kann er die Erinnerungen mitnehmen in die Lichtjahrentfernung, er stapft zu seinem Lufthaus zurück, der Wald ertrinkt in den Schatten, und im noch blassen Blau des Himmels beben die ersten Sterne.
Die Rolltreppe hebt Bronn Ziano in den kleinen, spitz gewölbten Raum unter der Kuppel seines Lufthauses, hier ist es dunkel, das Himmelsgewölbe ist noch über ihm, er schaltet die Beleuchtung nicht ein. Am südöstlichen Horizont schieben sich plötzlich in einem nicht abreißenden Strom die Leuchtspuren von Raketen in das All, die den Atommüll aus den Kraftzentren hinwegbefördern.
Er steht da, den Kopf gesenkt, bohrt mit der Zunge in der Wange und überlegt, ob er noch einmal in seine Klinik am Schwarzen Meer hinüberfahren soll, sie ist ein Komplex, der sich - teils unterirdisch, um unerwünschte Außeneinflüsse zu eliminieren - mehrere Kilometer weit in das Landesinnere erstreckt; an dieser Stelle werden die Kranken aufgenommen und durchlaufen die verschiedenen Abteilungen, bis sie als Rekonvaleszenten in ärztlich überwachte Hotels in der Nähe des Strandes überwechseln, wo sie sich gleichsam übereinen Urlaub wieder in das alltägliche Dasein zurückfinden; das Meer die Luft die weite Sicht, ja sogar der heiße Sand an den nackten Füßen sind der Genesung günstig. Eigenartig, denkt Bronn Ziano, dass die Freude an einer entdeckten Schildkröte ein Stimulans für das Wohlbefinden ist, aber das scheint Aria Wann nicht zu verstehen.
Seine Gedanken gleiten ab, immer noch steht er so da, mit gesenktem Kopf, plötzlich erfüllt ihn Bitterkeit.
Die Eröffnung Aria Wanns, sie wolle die Ehe mit ihm nicht fortsetzen, hatte ihn überrascht und tiefer getroffen, als er es zeigte. Freilich hatte auch er empfunden, dass ihren innigen Stunden nicht mehr jene tolle Verlorenheit eigen war, die ihnen in den ersten Jahren ihr Gepräge gegeben hatte; aber er hatte das nicht als einen Verlust empfunden, sondern als einen natürlichen Vorgang der Gewöhnung und des Vertrautwerdens. Er hatte stets gedacht, von irgendeinem Zeitpunkt an ginge es nicht mehr um das Entdecken, sondern um dieses Gefühl, einander ganz zu kennen, gemeinsam den Lebensweg zu gehen und so viel Anregendes wie nur möglich in sich aufzunehmen.
Er schien indessen geirrt zu haben, und nun fragt er sich, was Aria Wann noch von ihm erwartet, was er ihr vorenthalten haben könnte, und er vermutet, er habe sich mit seinem eigenen Glück und seiner eigenen Zufriedenheit zu sehr begnügt und zu wenig darauf geachtet, ob auch Aria Wann davon erfüllt sei. Jetzt wirft er sich vor, dass er seine freie Zeit eigentlich nur darauf verwandt habe, sich selbst zufriedenzustellen. Hat nicht auch wieder er allein den Stern ausgesucht, zu dem sie fliegen wollen?
Das ist es, so scheint ihm - und diese Tatsache wird ihm zum Sinnbild für sein Verhalten ihr gegenüber.
Aber der Flug ins Ungewisse wird ihm Gelegenheit geben, ihr zu beweisen, dass er das ändert - er wird Aria Wann nicht aufgeben, er wird sie wiedergewinnen, das nimmt er sich vor, und plötzlich kommt ihm in den Sinn, dass er das richtige Alter erreicht habe, um sich an Kindern zu freuen und sie zu erziehen, darüber wird er mit Aria Wann sprechen, sie muss doch auch so empfinden, denkt er unsicher, und die Familienplanung gestattet nur Kinder, wenn eine Ehe gültig bleibt - unvorstellbar, dass Maru Sodal sich Kinder wünschen könnte.
Er sieht sie klein und nackt in der Wohnung herumtoben, er muss lächeln. Sie werden wie bisher in jenen Gebäuden wohnen, die an den Südost- und Südwesthängen der Rhodopen, des Rila- und Piringebirges auf geschäumt wurden, licht- und luftdurchlässig, gleichsam eingegossen in die Landschaft, so dass man mit den Millionen Menschen um sich herum verbunden und doch auf vernünftige Weise separiert ist, wenn man es will; nichts ist verschandelt, die laufenden Bänder, die die Menschen mit gestaffelten Geschwindigkeiten bis zu zweihundert Stundenkilometern befördern, sind ebenso wie die Versorgungszentren unterirdisch angelegt, und die lärmgedämpften Raumfrösche, die zur Überwindung größerer Entfernungen benutzt werden, lassen bei Start und Flug nur ein stetiges Zischen hören.
Wohin treiben seine Träume? Bronn Ziano ruckt sich zusammen, nein, er wird nicht noch einmal in seine Klinik fliegen! Er berührt einen Knopf, das Videophon steigt aus dem Boden, Bronn Ziano tastet die Nummer seines Assistenten, ein paar leere Räume, ein Stück Strandterrasse blitzen kurz auf dem Leuchtschirm auf, der Assistent hat durchgeschaltet bis in den Röntgenraum, da sieht ihn das vertraute Gesicht mit dem mongolischen Schnitt der Augen schon aufmerksam an.
»Wie steht es mit der Hypophyse?«, fragt Bronn Ziano ohne Umschweife. Es ist der einzige Fall, der ihm wirklich Sorgen macht, sie haben erstmals versucht, der dem Hirn angelagerten Drüse Chemikalien einzustrahlen, um die Funktion zu normalisieren.
Die Auskunft ist befriedigend, Bronn Ziano ist eine Spur enttäuscht darüber, dass er nun ohne weiteres entbehrlich ist; als er dieses antiquierte Gefühl in sich entdeckt, schüttelt er ärgerlich den Kopf.
Der Assistent sieht ihn fragend an, er hat die Bewegung auf den Krankheitsfall bezogen, und Bronn Ziano muss ihn beruhigen. Er trennt die Verbindung, auf einmal ist die Stille um ihn herum eindringlich, er ist doch sehr allein jetzt am Rande dieser konservierten kleinen altertümlichen Stadt, er hebt den Kopf und schaut in den Himmel, hell glänzt der Abendstern.
Zweites Kapitel
1.
Obgleich Bronn Ziano gegen das Startplateau eine Abneigung empfindet, fasziniert ihn der grandiose Anblick jedes Mal, wenn er sich nähert, auch jetzt ist das so.
Was sich aus der Entfernung als geriffelter Strich, bestenfalls als ein ins All geschleuderter Diskus ausnimmt, erweist sich als ein gewaltiges Schwungrad mit breitem wulstigem Rand. In diesen- Rand eingelassen ist die Technik, die Verwaltung, sind die Aufenthaltsräume, die Speisesäle, die Computer, gespeist mit Daten aller Lebensbereiche, sind am Rande die wabenartigen Schlafkabinen; mehrere hundert Menschen sind als Bedienungspersonal hier beschäftigt und werden alle sechs Monate abgelöst, sie haben sich diesen Lebensbedingungen angepasst, empfinden sie weder als belastend noch als fremdartig, für sie ist es Gewohnheit geworden, die Gangart zu verändern, wenn sie sich am Rande des Plateaus oder zum Zentrum hin bewegen, wo die Zentrifugalkraft nur noch minimal wirkt.
Bronn Ziano rekelt sich: diese Raumfrösche sind so verdammt eng. Hinter Kreisel und Steuerungsgerät, umgeben von Armaturen, liegt er eng geschnallt auf. dem Steuersitz und weiß hinter sich im Hauptteil des Froschs die Antriebsanlage mit den geballten Kräften; das Beglückende indessen für ihn ist, dass der Frosch nicht, wie die Großraketen, von Computern automatisch gelenkt wird, sondern dass er auf Handbedienung eingestellt ist, die sich nur im Katastrophenfall auf automatische Steuerung umstellt.
Und sie sind langsam, die Raumfrösche, angetrieben mit konventionellen Treibstoffen, man benötigt von der Erde zum Mond immer noch reichlich zehn Stunden!
Bronn Ziano späht durch das Ausschausystem, im Augenblick steuert er mit siebenundsechzig Grad auf das Startplateau zu, und er hat fast in der Mitte des Fadenkreuzes das, was er die Spinnennetze nennt. Anstelle der Radspeichen befindet sich im Zentrum des Plateaus im Durchmesser von 10,3 Kilometern ein Verbundnetz von elastischen Rohrgängen, die sich aus der Entfernung wie mehrere größere und kleinere aneinandergeknüpfte Spinnennetze ausnehmen, und in den Zentren dieser Netze ist jeweils der Platz für Start und Landung, ein Ausschnitt, in den die Rakete sich einsetzt oder aus dem sie sich herausdrückt; sie hängt da beinahe freischwebend, um zu verhindern, dass ihr Schub sich irritierend dem Startplateau mitteilt.
In dieser Sekunde blinkt im Kontrollgerät der Laserleitstrahl der Landezentrale auf, im Kopfhörer summen die Zahlen der Kurskorrektur, Bronn Ziano zündet in kurzen Zeitabständen die Lenkdüsen, gehorsam wendet sich die stumpfe Schnauze des Froschs, das Manöver gelingt, denn die funkelnde Aufschlagstelle des Lasers rückt unabänderlich auf den Mittelpunkt der Kontrollscheibe zu, mit Vergnügen spürt Bronn Ziano, dass er die Korrektur elegant ausführte, der Frosch rüttelt und schüttelt nicht, er folgt seinen Händen, als liefe er in Öl, so muss das ein Raumsportler können.
Dieses Gefühl! Dieses Gefühl, nicht nur die Technik zu beherrschen, sondern den eigenen Körper, ihn zu empfinden, aufgeladen mit Energie, auch den geringsten Fingerdruck schon zuvor in den Nerven zu spüren!
Gehorsam, artig geradezu schwingen die farbigen Bänder der Skalen, beben die Zeiger der Kontrolluhren, steigen und sinken die bunt glimmenden Säulen der Messgeräte, und in dieses ästhetische Abgestimmtsein summt unaufhörlich Anordnung auf Anordnung im Kopfhörer.
Kein Neigungswinkel mehr, der Frosch schiebt die Nase wieder herum, Bronn Ziano gewahrt das Startplateau vor sich, noch dreiundzwanzig Minuten, und er wird landen, noch vierundzwanzig oder fünfundzwanzig, und er wird Aria Wann begegnen, plötzlich ist sie wieder in seinem Bewusstsein. Während der Frosch auf das Startplateau zuschießt, sieht er sie bereits am Ende des Startganges ihn erwarten, unbewegt die straffe Gestalt, unbewegt das verschlossene, Gesicht, und sogar der kühl gebändigte Blick der braunen Augen wird nichts verraten, er kennt Aria Wann, er meint sie zu kennen.
Das Kontrollzentrum gibt Befehl, die Landung vorzubereiten, erneut muss sich Bronn Zianos Gewandtheit beweisen, seine Hände fahren flink wie die eines Pianisten über die zahllosen Bedienungskontakte, es verschafft ihm Genugtuung, den Befehl exakt auszuführen, vor Konzentration richtet er sich sogar in seinem Liegesessel ein wenig hoch, die Skalen, die Zeiger, die Säulen geraten sekundenlang in zuckend-hektische Bewegungen, selbst durch den Helm, durch die Muscheln der Kopfhörer hindurch vernimmt er das dumpfe Aufbranden der plötzlich umgestellten Lenkdüsen, das Startplateau rutscht seitlich aus dem Blickfeld, als werde es weggestoßen, eine Zeitlang ist da gar nichts, nur Schwärze des Alls, teuflisch leer und kalt, nicht samten anheimelnd wie die Erdennacht - doch da taucht er bereits auf, der blaue Planet, klein wie ein Tennisball, trotzdem vertraut.
Bronn Ziano lauscht auf die Daten, die ihm zugespielt werden, er könnte jetzt auf automatische Landesteuerung schalten, er tut es nicht, er mag das magnetisch-ölige Hineingleiten in den Auffänger nicht, bei der des Menschen Fähigkeit zur Präzision sich erübrigt, nein, er führt diese Operation selbst durch, er weiß, dass der Kranz der Antriebsdüsen sich jetzt ganz allmählich auswärts spreitet und der Feuerschweif sich langsam zu einer Halbkugel entfaltet, ein Kissen, auf dem und mit dem sein Frosch sich, langsamer werdend, der Piste nähert, sein Auge empfängt die Zeichen der Zeiger Skalen Säulen, sein Ohr das Gemurmel und Fiepen der Signale, in diesen Minuten wird er zu einer Schaltzentrale.
Er denkt nichts anderes, als seinen Raumfrosch sicher und elegant in den Auffänger sinken zu lassen, sanft auch, so dass die Elastik nicht strapaziert wird, er spürt den mehrmals federnden Ruck, im gleichen Augenblick schaltet er sämtliche Aggregate seines Raumfrosches aus, das geht blitzschnell vor sich, dann sinkt et zusammen, die Spannung ist weg, eine solche Landung von Hand ist immer wieder ein Abenteuer, es ist geglückt, das elastische Schaukeln verebbt, es geht in Beben über, es endet.
Die grünen Lampen der Nullschaltung glimmen, Bronn Ziano wirft den Hebel herum, der die Luke öffnet, drängt sich mit dem Oberkörper durch die knapp bemessene ovale Öffnung, fasst die Zugriffe draußen und zieht sich vollends hinaus, steht schwebend in dem Ausstieg, der sich durch einen der Spinnenfäden hinzieht.
Mit geübten Gleitschritten schwingt er sich, schwereentbunden, die drei Kilometer durch den Gang bis dorthin, wo er in die Felge des Diskus mündet, er betritt die Leitzentrale und füttert den Empfangscomputer mit den Daten seines Flugs, Formalitäten, die rasch getan sind.
Grüßend winkt er einem Freund zu, der hier an einem Schaltpult beschäftigt ist, in ihm ist jetzt die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Aria Wann, allerdings auch eine unbestimmte Spannung, wie sie ihn empfangen werde, es gibt da so Grade... Er schaut auf die Uhr, Aria Wann wird um diese Zeit speisen, vermutet er.
Doch im gleichen Augenblick, da er die Leitzentrale verlassen will und die Tür bereits zurückgleitet, sieht er Aria Wann rasch auf sich zukommen, sie sagt: »Ich dachte, du landest erst in neun Minuten, ich wollte dich erwarten.«
»Ach«, sagt er und drückt mit der Hand in deutlicher Liebkosung ihre Schulter, »vermutlich war im Treibstoff ein bisschen Sehnsucht...«
Sie sieht in sein freundliches hageres Gesicht, das ihr so vertraut ist, und im Augenblick empfindet sie schmerzhaft das Gefühl, dass Maru Sodal wohl nie auf den Gedanken käme, von der Sehnsucht als Treibstoff zu sprechen; sie bemüht sich, diese Empfindung zu überwinden, sie sagt: »Ich fürchte, wenn die Sehnsucht verbrannt ist, bleibt nur eine Handvoll Asche übrig; Liebe und Ehe brauchen einen dauerhaften Brennstoff.»
Sie sieht, dass er antworten will, aber sie mag in diesem Augenblick keinen Disput, sie lenkt ab: »Unsere Rakete hängt schön bereit. Soweit es mir möglich war, habe ich alles geordnet. Du musst es nur überprüfen.«
Er gibt ihre Schulter frei. »Du bist ein tüchtiges Mädchen«, sagt er flüchtig, »sei bedankt! Mir hat es gutgetan, noch ein bisschen Kräfte zu
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Werner Steinberg/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Verlag.
Cover: Christian Dörge/Apex-Verlag.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 21.01.2021
ISBN: 978-3-7487-7229-3
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