DAY KEENE
Eine Frau wie Wachs
Drei Romane in einem Band
Apex Noir, Band 1
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
1. EINE FRAU WIE WACHS (Moran's Woman)
2. SARG MIT FLIESSENDEM WASSER (Murder On The Side)
3. WENN DER SARG PASST (If The Coffin Fits)
Das Buch
Man hat Emily vor Dan Moran gewarnt, aber sie schlug alles in den Wind. Denn für diesen Fremden, den sie eines Nachts in ihrem Zimmer versteckt hatte, ging sie jedes Risiko ein. Und dabei hatte sie viel zu verlieren: eine angesehene Familie, ein reiches Erbe und die Liebe des erfolgreichsten Mannes der Stadt. All das opferte sie bedenkenlos für Moran, einen entlaufenen Häftling. Denn sie glaubte als einzige an seine Unschuld...
Die verblichene Mrs. Hanson ist noch warm, als ihr Mann sie findet. Das Halsband, das sie trägt, ist ihm neu: ein Nylonstrumpf. Die zukünftige Mrs. Hanson hat andere Dinge am Hals: einen erschossenen Sträfling, einen geplünderten Tresor und natürlich die Polizei. Auch das kann tödlich sein...
Fünf nagelneue Tausend-Dollar-Scheine überzeugen Privatdetektiv Tom Doyle aus Chicago, dass er einem langjährigen Freund helfen muss, der in Central City ein Vergnügungslokal besitzt. Noch kennt er seinen Auftrag nicht, als er am Flughafen von Central City mit zwielichtigen Gestalten in ziemlich handgreifliche Berührung kommt...
Day Keene (eigentlich Gunard R. Hjertstedt; geboren am 28. März 1904 in Chicago; gestorben am 9. Januar 1969 in Studio City, Los Angeles, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Drehbuchautor. Insgesamt veröffentlichte er ungefähr 200 Kurzgeschichten und etwa 50 Romane, zum ganz überwiegenden Teil Detektivgeschichten.
Der vorliegende Band enthält die Romane Eine Frau wie Wachs (1959), Sarg mit fließendem Wasser (1956) und Wenn der Sarg passt (1952).
Der Apex-Verlag veröffentlicht Eine Frau wie Wachs in seiner Reihe APEX NOIR, in welcher Klassiker des Hard-boiled- und Noir-Krimis als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
1. EINE FRAU WIE WACHS (Moran's Woman)
Erstes Kapitel
Der Vierte Juli versprach heiß und wolkenlos zu werden. Schon bei Tagesanbruch war vereinzelt Knallerei zu hören, die hie und da von der betäubenden Explosion einer Salutsalve unterbrochen wurde. Das junge Völkchen von Hewitt, weiß oder farbig, begann mit seinem Vorrat an Feuerwerkskörpern herumzuexperimentieren.
Gegen acht Uhr hatte Doktor Mason bereits drei leichtere Verbrennungsfälle verarztet und zwei Tetanusspritzen verabreicht. Sam Farney, der Inhaber des Drugstores am Marktplatz, musste seinen Laden eine halbe Stunde früher öffnen, um vier Tuben Heilsalbe zu verkaufen.
Als dann um neun Uhr - zur Feier des Tages zwei Stunden später als sonst - der vergitterte Lastwagen mit den vier Straßenkehrern aus dem nahe gelegenen Sträflingslager durch das Lagertor rollte und über die schattengesprenkelte Landstraße in Richtung Stadt ratterte, war die Temperatur bereits auf sechsunddreißig Grad im Schatten gestiegen. Alle waren sich darüber klar, dass ihnen ein besonders heißer Feiertag bevorstand.
Das Farmervolk war schon in aller Frühe mit Auto oder Pferdegespann im Wäldchen eingetroffen. Gegen Viertel nach zehn, als das allerletzte der rot-weißen Fähnchen tun die provisorisch errichtete Tribüne drapiert war und die in Schweiß gebadeten Organisatoren des amerikanischen Frontkämpferverbandes die letzten Details der Parade ausgeklügelt hatten, war das Thermometer auf glatte achtunddreißig Grad geschnellt. Ein paar Leute, vorwiegend Kinder, hatten sich ins Wasser verzogen.
Die Hitze nahm einem den Atem. Aber das dunkle schlammige Wasser des Sees und die langen grauen Moosflechten, die von den hohen Eichen herabbaumelten, gaben dem Wäldchen einen Hauch von Kühle.
Anders in der Innenstadt. In Hewitt herrschte die Hitze erbarmungslos. Der Teer schmolz in Bläschen zwischen den roten Ziegeln des Straßenpflasters. Die Palmen auf dem Gerichtsvorplatz ließen in der Sonne trübselig die ausgedörrten Wedel hängen. Kaum ein Geschäftsmann, abgesehen von denen, die Feuerwerkskörper oder Eis verkauften, machte sich die Mühe, seinen Laden zu öffnen. Auf den Parkbänken hockten die alten Männer so regungslos wie Gipsfiguren. Die Straßen lagen ausgestorben bis auf den Reinigungstrupp, der den Abfall aus den Hinterhöfen der Geschäfte unter dem scharfen Blick eines bewaffneten Aufsehers hervorkehrte.
Vom Wetter her war es ein Tag wie jeder andere. Aus drei Gründen jedoch sollte dieser Unabhängigkeitstag den Leuten aus dem Verwaltungsbezirk Apalachicola im Gedächtnis haften bleiben.
Erstens wurde die First National Bank von Hewitt, die an einem gesetzlichen Feiertag eigentlich hätte geschlossen bleiben sollen, um achtundsiebzigtausend Dollar beraubt Und ihr Kassierer, Harry Miller, ermordet.
Zweitens wurde am Nachmittag des gleichen Tages May Arnold, die dreißigjährige Frau des Zahnarztes Edmund Arnold, dessen Praxis im Thayer-Hochhaus lag, an einem Ort, wo sie nichts zu suchen hatte, splitternackt und halb tot aufgefunden. Eine unbestimmte Anzahl Männer hatte sich wiederholt verbrecherisch an ihr vergangen. Ihr Begleiter, Jack Hayes, der neue Fußballtrainer an der Oberschule, erlag später seinen Verletzungen.
Drittens, und das war das einschneidendste Ereignis für die Gemeinde als solche, gelang zum ersten Mal in der Geschichte des Verwaltungsbezirks ein Massenausbruch aus dem Sträflingslager ein paar Meilen vor der Stadt. Indes die meisten der achtzig Sträflinge umgehend wieder eingefangen und zurück ins Lager gebracht wurden, konnten zwei von ihnen, Goldjunge Moran und Orin, Taylor, die beide eine längere Strafe absitzen mussten, entkommen.
Das also war der Vierte Juli in Hewitt, Kreishauptstadt des Verwaltungsbezirks Apalachicola.
Zweites Kapitel
Der Nachmittag blieb weiterhin warm. Emily Hewitt, zwischen Honoratioren und ihren Gattinnen auf der fahnengeschmückten Tribüne im Wäldchen eingezwängt, fühlte sich äußerst unbehaglich. Noch nie im Leben hatte sie sich so gelangweilt.
Die hohe weiße Halsbinde ihres Reitanzugs erstickte sie fast. Ihre Reithosen waren zu eng. Sie hatte das Gefühl, in einer Pfütze zu sitzen. Der langatmige Redner, der Geruch der schwitzenden Menge, vermischt mit dem Bratfischdunst, verursachten ihr Übelkeit. Sie schwor sich - wie an jedem vierten Juli - im nächsten Jahr den Sommer über zu verreisen.
Allerdings glaubte sie, als eine Hewitt eine gewisse Stellung wahren zu müssen. Einer ihrer Vorfahren väterlicherseits war Gouverneur des Staates gewesen. Hewitt war nach ihm benannt worden. Ein anderer Hewitt war Justizminister gewesen. Sie schien also in einer Sackgasse zu stecken. Wenn eine gesellschaftliche Stellung und Vermögen Vorteile boten, so waren auch genug Pflichten damit verbunden.
Sie war eine hübsche rotblonde Frau und mit ihren dreiundzwanzig Jahren seit zwei Jahren Witwe. In der Gemeinde wirkte sie für verschiedene Wohltätigkeitseinrichtungen. Sie war ehemalige Präsidentin der Junioren-Liga und Direktorin des Early Memorial Krankenhaus-Komitees. Sie beschaffte Geldmittel, half in der Tageskrippe für farbige Kinder und war eine anerkannte Mäzenatin des Alice-Mapleton-Heims für ledige Mütter.
Während der Redner endlos weiter leierte, fächelte sie sich heftig, doch ohne Erfolg, mit einem Stück Pappe Luft zu.
Auch die Aussicht auf den Abend war wenig verlockend. Für die Auserwählten fand im Country Club der Jahresball mit anschließendem Feuerwerk statt. Die chronischen Trinker würden etwas tiefer als sonst ins Glas schauen, der übliche Prozentsatz Ehebrecher würde sich etwas früher in die Büsche schlagen. Ed Arnold würde sich wie immer mit dem verkehrten Mann anlegen. Auf dem Heimweg würde ihr dann Hi Thayer wahrscheinlich wieder einen Heiratsantrag machen. Sie hielt in der Menge nach Hi Ausschau. Vermutlich diskutierte er wie gewöhnlich über Politik. Und dann zu Hause würde sie ihn - um ihr Gewissen zu beschwichtigen, weil sie sich nicht entscheiden konnte und Hi solange hinhielt - hineinbitten und ihm gestatten, sie nach oben in ihr Schlafzimmer zu tragen.
Zum vierten oder gar schon zum fünften Mal? Emily war leicht verlegen. Nicht bei dem Gedanken, mit Hi ins Bett zu gehen, sondern weil es ihr so wenig bedeutete, dass sie sich noch nicht einmal erinnern konnte, wie oft es schon geschehen war.
Sie fächelte sich etwas schneller Luft zu. Andererseits war es mit Everett das gleiche gewesen. Sie hatte sich so viel von der Ehe versprochen und so wenig bekommen. Falls die Psychologin aus dem Frauenclub recht damit hatte, dass in jeder Frau eine schlafende Tigerin steckte, die nur der richtige Mann wecken konnte, dann hatte das leidenschaftliche Getue der beiden Männer, die sie bisher besessen hatten, ihr kaum ein klägliches Miauen entlocken können.
Lange nachdem Hi befriedigt nah Hause marschiert war, lag sie dann meist schlaflos, lauschte den Grillen und Ochsenfröschen im Sumpf und fragte sich, was bei ihr wohl nicht stimmte oder ob sie überhaupt eine normale Frau war. Wenn doch nur einmal ein Mann sie ohne dieses kindische Herumgefummel richtig genommen hätte, vielleicht hätte sie dann ein wenig Geschmack an der Sache bekommen.
Jane Vinson, Richter Vinsons Frau, rückte ihren Stuhl näher und flüsterte: »Mein Gott, wie lange will er noch quasseln?«
»Keinen Schimmer«, flüsterte Emily zurück.
Die Nachricht vom Bankraub und Harry Millers Tod erreichte die Festwiese im Wäldchen kurz nach drei Uhr. Anfangs, ja sogar noch Monate später, herrschte einige Verwirrung über die Einzelheiten des Überfalls. Nur ein einziger wusste, wie viele Männer eingedrungen waren und wie sie aussahen: Harry Miller. Und Harry Miller war tot.
Sogar der Zeitpunkt des Überfalls war unbekannt. Es konnte zu einer x-beliebigen Zeit am Vormittag oder in den frühen Nachmittagsstunden passiert sein. Mit Sicherheit wusste man nur, dass die Stahlkammer geplündert worden war und dass Sam Harris, der Inhaber der Tankstelle Ecke Fünfte und Jackson Street, der um z Uhr 55 in der Bank einen Fünfzigdollarschein wechseln wollte, Mr. Miller mit drei Kugeln in der Brust und zwei im Hinterkopf auf dem Boden ausgestreckt vorfand. Angesichts der Tatsache, dass den ganzen Tag über Feuerwerkskörper explodiert waren, konnte man noch nicht einmal die Zeit genau festlegen, zu der die Schüsse abgegeben worden waren. Nicht einmal die Tattergreise auf den Parkbänken hatten sie gehört; und selbst wenn, so hatten sie nicht darauf geachtet.
Kein Gedanke natürlich, mit den Festlichkeiten jetzt noch weiterzumachen. Kurz nach dem ersten Sirenengeheul, das die Ankunft von Sheriff Cronkite ankündigte, der Bezirksstaatsanwalt Hi Thayer und zwei Hilfssheriffs, die zum Wäldchen abkommandiert gewesen waren, abholen kam, verkrümelten sich die Farbigen in der Menge. Die Farmer packten ihre Körbe, stiegen in ihre Wagen und folgten kurz darauf.
Emily tat es um Harry Miller aufrichtig leid, aber sie war erleichtert, dass der Redner abbrechen musste. Sie zupfte sich die durchnässten Reithosen von der feuchten Haut ab und gesellte sich zu Sally Playford, Jane Vinson und May Arnold in den Schatten der immergrünen Eiche, wo der Frauenverein einen Erfrischungsstand aufgeschlagen hatte.
»Wie grässlich für die arme Vi«, sagte sie voll Mitgefühl. »Ich habe sie erst neulich im Club gesprochen, und sie strahlte vor Glück. Sie meinte, dass ihnen das Baby, nachdem sie sich erst so lange Zeit damit gelassen hatten, jetzt eine völlig neue Lebenseinstellung gab, wie ein ganz neuer Anfang. Und nun ist Harry tot.«
May Arnold wollte wissen, wo der Sheriff gewesen war.
»Im Bett, wahrscheinlich«, ließ sich Jane Vinson vernehmen. »Jeder weiß, dass er zu alt für den Job ist. Er hätte sich schon vor Jahren pensionieren lassen sollen.« Sie versuchte, nicht gar zu besserwisserisch zu sein. »Ich habe ja schon immer gesagt, dass so was kommen musste, dabei möchte ich wetten, dass Tod Harry hundertmal davor gewarnt hat, die Bank nach Kassenschluss offen zu halten. Besonders, wenn er allein war.«
May Arnold linste auf ihre Armbanduhr. »Na ja, jetzt ist Harry schlauer. Und nun, wenn ihr nichts dagegen habt, mache ich mich besser auf die Socken. Ich habe Ed versprochen, ein paar Einkäufe für ihn zu erledigen.«
Emily fragte sich, wem sie damit wohl noch etwas vormachen wollte. Sie an Mays Stelle hätte etwas mehr Diskretion walten lassen. In der Stadt wusste jeder, mit Ausnahme von Ed selbst, dass sie eine Affäre mit Jack Hayes hatte. May hätte wenigstens den neuen Fußballtrainer der Oberschule dazu überreden können, einen weniger auffallenden Wagen zu fahren. Es war verblüffend, wie leuchtend sich Zinnoberrot von den graubraunen Baumstümpfen der Kiefern, die die Landstraßen säumten, abhob.
Als May fort war, rümpfte Sally Playford die Nase. »Einkäufe machen - so, so.« Sie zupfte an dem Oberteil ihres Kleides, das ihr am Körper klebte. »Lass es dir von mir gesagt sein, eines Tages oder eines Nachts wird Ed sie noch mal in flagranti erwischen. Und dann wird es ihr so schlecht gehen wie dem armen Harry.«
»Zweifellos«, stellte Jane Vinson fest. »Aber May glaubt wohl, dass es die Sache wert ist. Was hat uns noch diese Psychologin aus Miami letztes Jahr erzählt? Ihr wisst doch, über die Tigerin...«
Emily lächelte schief. »Dass in jeder Frau eine Tigerin steckt, die nur der richtige Mann wecken kann.«
»Wenn ihr mich fragt, so ist das ein Haufen Schleichwerbung für die Männer«, vertraute ihnen Sally an. »Ich persönlich bin vollauf damit zufrieden, nur ein Kätzchen zu sein. Vielleicht ist es nicht so amüsant, aber doch entschieden sicherer!«
Emily lachte. Langsam strebte sie durch die Hitze ihrem Auto zu. Das Ganze schien ihr Ansichtssache. Es hing davon ab, wieviel eine Frau vom Leben erwartete. In gewisser Hinsicht beneidete sie May Arnold. May hatte etwas gefunden, was sie nie kennengelernt hatte.
Bei ihrer Ankunft im Wäldchen hatte sie ihr cremefarbenes Kabriolett mit dem Pferdeanhänger im Schatten geparkt, doch inzwischen hatte es die weiterwandemde Sonne erreicht. Glücklicherweise war sie umsichtig genug gewesen, Ben zu bitten, Lady gleich nach Hause zu reiten. Wenn sie das versäumt hätte, wäre die Stute, die sie in der Parade geritten hatte, jetzt in einer schlimmen Verfassung. Die Ledersitze fühlten sich scheußlich heiß an. Sie schnitt eine Grimasse und fuhr das Auto mit Anhänger in den Schatten. Sie stieg aus, legte ihre maßgeschneiderte Reitjacke ab und befreite sich von der Halsbinde, während sie wartete, bis sich der Sitz abgekühlt hatte.
In Reithosen, Stiefeln und dünner Seidenbluse fühlte sie sich körperlich wohler, aber ihre melancholische Stimmung hielt an. Eine lange ermüdende Woche lag hinter ihr: als erstes ihr zweimonatliches Pensum als Helferin für die Kinderkrippe. Dann das Herumkutschieren für das Mütterheim. Kein großer Erfolg. Je mehr Geld man auftrieb, um ihnen zu helfen, desto mehr Mädchen kamen in Schwierigkeiten; so sah es jedenfalls aus.
Falls man mit der Feier frühzeitig Schluss machte - und so war es - hatte sie versprochen, beim Krankenhaus vorbeizufahren und mit dem Verwalter über die dringend benötigten neuen Röntgeneinrichtungen zu sprechen. Der Aufsichtsrat würde diese Riesenausgabe niemals billigen. Das wusste sie jetzt schon. Es musste wieder darauf hinauslaufen, dass sie einen Scheck ausschrieb, um das Leben eines Haufens rotnackiger Hinterwäldler zu retten, die sie nicht kannte und die sie einen feuchten Kehricht angingen. Nur weil sie Geld hatte. Nur weil sie eine Hewitt war.
Sie lehnte sich gegen die Wagentür. Alles schien so sinnlos. Der kommende Abend würde den Tag nur fortsetzen. Die gleichen Gesichter, die gleichen Stimmen. Vielleicht sollte sie Hi doch heiraten? Vielleicht konnte ein Kind ihrem Leben einen Sinn geben, so wie Vi Miller es von sich und Harry behauptet hatte.
Hi würde eines Tages ein hohes Tier im Staat sein. Nominierung und Wahl zum Posten des Bezirksstaatsanwaltes waren nur die erste Sprosse der politischen Karriere, die er zu erklimmen hoffte.
Emily erwog die Angelegenheit. Gewiss, Hi war zehn Jahre älter als sie. Aber dreiunddreißig war noch kein Alter. Und er war bestimmt nicht hinter ihrem Geld her. Hi besaß mehr Vermögen als sie. Wenn er ihr doch nur mehr bedeutet hätte. Vielleicht hätte es geklappt, wenn er sich nicht immer wie so ein verdammter Gentleman aufgeführt hätte.
Sie strich über den Ledersitz. Er hatte sich mittlerweile abgekühlt. Sie stieg ein, zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in den wolkenlosen Himmel.
Ja. Eine Heirat mit Hi Thayer konnte eine teilweise Lösung ihres Problems sein. Zumindest brauchte sie sich dann nicht ständig zu langweilen. Sie hätte dann wenigstens ein oder zwei Kinder gehabt, die ihre Tage ausfüllten. Andererseits schienen Geschirrspülen, Windelwaschen und Nachwuchs kein allzu großer Ausgleich für ein unbefriedigtes Leben. Man hätte doch annehmen sollen, dass jeder Frau das Recht auf ein wenig Tigerinnengebrüll zustand.
Mit einem Seufzer ließ sie den Motor an und fuhr in Richtung Stadt. Nicht alle Festteilnehmer waren nach Hause gegangen. Vor der Bank drängte sich eine größere Menge sowie drei Streifenwagen der Ortspolizei und zwei Wagen der Staatspolizei. Emily kam zu dem Schluss, dass sie nicht in der Haut der Bankräuber stecken wollte, wenn und falls man sie einfing. Harry Miller war einer der beliebtesten Männer im Bezirk gewesen. Sie überlegte, ob sie anhalten sollte, ließ es dann aber sein. Es gab nichts für sie zu tun, und Hi würde ihr sowieso alle Einzelheiten berichten, wenn er sie zum Ball im Country Club abholte.
Sie fuhr durch die Stadt zum Krankenhaus, das am anderen Ende lag. Nackt bis zum Gürtel und ohne Kopfbedeckung, die gebräunten Oberkörper vor Schweiß glänzend, arbeiteten vier der Sträflinge des Gefangenenlagers in der Spätnachmittagssonne auf dem Krankenhausgelände. Ein schmerbäuchiger, schwerbewaffneter Aufseher im Khaki-Anzug, der im Schatten einer Bougainvillea hockte, ließ sie nicht aus den Augen.
Dass Lagersträflinge innerhalb der Stadtgrenzen arbeiteten, war Emily ein Dom im Auge. Und nicht nur ihr, sondern auch einigen anderen Bürgern von Hewitt. Seit seinem Amtsantritt hatte Sheriff Cronkite ständig Männer aus dem Sträflingslager herangezogen, um Müll abzufahren und die öffentlichen Anlagen und das Wäldchen instand zu halten: zum Rasenmähen, Bewässern und Beschneiden. Der Sheriff behauptete nicht ohne Logik, dass die Steuern damit niedrig gehalten würden. Das stimmte. Nichts im Gesetz sprach gegen solche Praktiken. Nun, vielleicht ließ der Sheriff jetzt, nachdem die Bank ausgeraubt und Harry Miller ermordet worden war, von dieser Gewohnheit, ehe einer seine Häftlinge ausbrach und in seinem Drang nach Freiheit ein noch abscheulicheres Verbrechen beging.
Emily bedachte den bewaffneten Aufseher im Vorbeifahren mit einem direkten Blick. Als sie den Viermanntrupp passierte, musste sie achtgeben, um nicht einen Sträfling, der einen Schubkarren voll Strauchwerk zu einem wartenden Laster schob, umzufahren. Dabei übersah sie die große Harke, die, mit den Zähnen nach oben mitten auf dem schmalen Fahrweg lag. Der Holzstiel polterte gegen die Unterseite des Cadillacs, und mit einem Zischen bohrten sich die Metallzähne in ihren rechten Hinterreifen.
Der Aufseher war verärgert. »Verdammt und zugenäht«, fluchte er, als er sich aufrappelte und aus dem kühlen Schatten des Gesträuchs hervortrottete. »Wer von euch Mistkerlen hat die Harke hier in der Auffahrt liegenlassen?«
Einer der Sträflinge, ein blonder Junge von knapp zwanzig, sagte scharf: »Halt dein Mundwerk ein bisschen im Zaum, Murphy. Wir sind in Damengesellschaft.«
Die anderen drei Sträflinge hatten ihre Arbeit unterbrochen und bestaunten Emily mit unverhohlener Bewunderung, als sie ausstieg und den Schaden untersuchte. Sie starrte zurück. Keinem von ihnen sah man den Sträfling an. So tiefgebräunt und mit ihrem militärischen Haarschnitt hätten sie eine Gruppe anständiger Studenten sein können, die sich ihr Studium verdienten.
Der Aufseher spuckte einen Strahl Tabaksaft aus. »Tut mir leid, Miss, dass das passiert ist.«
Der Fettwanst stank nach Whisky. »Das sollte es Ihnen auch«, erwiderte Emily hitzig. »Was soll das, diese Männer am vierten Juli arbeiten zu lassen? An einem gesetzlichen Feiertag!«
Der Fette wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Nicht für diese Jungs, Miss. Dies sind die Unverbesserlichen. Alles Knastschieber auf lange Zeit. Und wenn der Captain mir sagt, lass sie schuften, dann lass ich sie eben schuften.«
Der Blonde, der die Ausdrucksweise des Aufsehers missbilligt hatte, zwinkerte Emily zu. »Immerhin können sie uns nicht unterschieben, dass wir die Bank geknackt haben. Aber das ist wohl die einzige Schandtat, die sie uns nicht angehängt haben.«
Emily ertappte sich dabei, wie sie sein Lächeln gegen ihren Willen erwiderte. Dieser Junge konnte nicht schlecht sein, zumindest nicht durch und durch schlecht. Nicht mit diesen himmelblauen Unschuldsaugen.
Der Aufseher verpasste ihm einen Fausthieb und trat ihn ohne Leidenschaft. »Warst schon den ganzen Tag reif dafür, Moran. Steh jetzt auf und wechsle den Reifen für die Dame. Noch eine unverschämte Bemerkung, und ab geht's morgen in den Schwitzkasten mit dir.«
»Jawohl, Sir«, versetzte der blonde Bursche mit gemimter Ehrerbietung.
Unter den wachsamen Blicken des Aufsehers und seines drohenden Karabiners kam Moran auf die Füße, zog den Zündschlüssel aus der Zündung, schloss den Kofferraum auf und hob mit müheloser Anmut das Reserverad heraus.
Emily sagte genauso hitzig wie vorher: »Das war völlig unnötig! Sie hatten keinen Grand, ihn zu schlagen. Ich werde Sie sowohl dem Sheriff wie dem Bezirksstaatsanwalt melden.«
Den Fettwanst erschütterte das nicht. »Tun Sie das, Miss. Die kennen Moran. Wir haben ein paar üble Typen im Straflager, aber er ist der schlimmste. Jetzt halten Sie sich besser 'n bisschen zurück, ehe er es noch mit 'nem Trick versucht.«
Trotzig blieb Emily neben ihrem Auto stehen, während der blonde Junge den Wagen hochwuchtete und das defekte Rad abmontierte. Er war einer der bestgebauten Männer, die ihr je begegnet waren. Sein Bronzekörper war schlank, aber muskulös und strahlte elementare Kraft aus. Arm- und Schultermuskeln bewegten sich leicht bei der Arbeit. Der Blutfleck auf seinen aufgeschlagenen Lippen schien ihr wie eine Entweihung seiner scharf geschnittenen Gesichtszüge.
Emily reichte ihm ihr Taschentuch. »Da. Sie wischen sich besser den Mund ab.«
Moran nahm es gelassen. »Danke. Wie kommt's, dass Sie keine Angst vor mir haben, Miss Hewitt?«
»Wieso - sollte ich?«
Morans flüchtiges Lächeln war ansteckend. »Nein.«
»Woher wissen Sie, wie ich heiße?«
Statt den Schlüssel zu benutzen, schraubte Moran die Radschrauben mit den Fingern fest. »Oh, ich hab' Sie hier und da schon gesehen. Ich weiß sogar, wo Sie wohnen. In dem weißen Kolonialbau dort, mit den vielen Säulen davor, drüben am anderen Ufer.«
»Stimmt«, nickte Emily.
Der Aufseher schubste Moran mit dem Gewehrkolben. »Kümmere dich um den Reifen, Moran. Du hast kein Recht, mit der Dame zu schwatzen.«
Moran ignorierte ihn und lächelte zu Emily hoch. »Wissen Sie was, Miss Hewitt?«
»Ja?«
»Sie sind hübsch. Sehr hübsch.«
»Ich warne dich, Moran«, knurrte der Aufseher.
Der Junge starrte sie immer noch bewundernd an. Der Hunger nach einer Frau stand so deutlich in den offenen blauen Augen, dass Emily unbehaglich zumute wurde und sie einen Schritt zurückwich. Sie fühlte sich plötzlich nackt; ihr war, als ob der Junge nach ihr greifen wollte.
Moran drehte sich zu dem Aufseher um. »Mich warnen, wovor? Weil ich die Wahrheit sage?« Sein Blick kehrte zu Emily zurück. »Weil ich lieber mit einem hübschen Mädchen ins Bett gehen möchte, anstatt in einer stinkenden Baracke mit achtzig anderen Kerlen zu schlafen?«
Der Aufseher schlug wieder auf ihn ein, diesmal mit dem Gewehr, und stieß den großen Burschen vom Wagen fort.
»Ich hab' dich gewarnt, du obszönes Schwein.« Er machte ein Zeichen mit dem Kopf. »Komm mal einer von euch her, lass den Wagenheber runter und tu den Reifen zurück in den Kofferraum.« An Emily gewandt fügte er hinzu: »Und Sie machen besser, dass Sie hier wegkommen, Miss. Es ist nicht richtig und normal für 'nen jungen Mann zu wissen, dass er jahrelang ohne Frau sein muss. Sie wissen, wie ich's meine. Das macht sie irgendwie gehässig. Und der Sonnyboy hier hat noch 'n langes Ende abzureißen.«
Emily zwang sich zu der Frage: »Wie lange?«
Der Aufseher behielt Moran im Schussfeld, als der verdrießlich aufstand und dahin zurückkehrte, wo er seine Sense hatte fallen lassen. »Bei dem kann man von Glück reden, dass er für zehn bis zwanzig Jahre eingebuchtet ist.« Er spie wieder einen Strahl Tabaksaft in den Oleanderbusch. »Und wie's aussieht, wird er die Strafe voll absitzen.«
Emily langte nach ihrer Handtasche auf dem Wagensitz. Der feiste Aufseher schüttelte den Kopf. »Die dürfen kein Geld annehmen, Miss. So jung und hübsch, wie Sie nun mal sind«, meinte er freimütig, »tun Sie denen und mir den größten Gefallen, wenn Sie jetzt einsteigen und weiterfahren. Sie wissen, was ich meine...«
»Ja, ich verstehe«, sagte Emily.
Sie stieg ein und schlug die Tür zu. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nur mit Mühe den Schlüssel in das Zündschloss brachte. Als sie in den Rückspiegel sah, hätte sie um Morans willen heulen können. Der blonde Junge rührte sich nicht vom Fleck. Er lehnte sich auf den langen Stiel seiner Sense und zerknüllte das parfümierte Taschentuch, das sie ihm gegeben hatte, in der Hand.
Lange, nachdem er außer Sicht war, verfolgte sie noch der Ausdruck seiner Augen. Es spielte keine Rolle, was er verbrochen hatte. Es war einfach nicht fair, dass er die besten Jahre seines Lebens damit zubringen sollte, öffentliche Anlagen sauber zu halten, Gräben auszuheben und Müll aus Hinterhöfen zu kehren.
Es kam ihr wie Verschwendung vor.
Drittes Kapitel
Ben wartete auf der vorderen Veranda, als Emily endlich nach Hause kam. Ihre Niedergeschlagenheit hatte sich nicht gelegt. Wie vorausgesehen, hatte sie einen Scheck für die neue Röntgeneinrichtung ausgestellt, sogar einen höheren, als sie es sich eigentlich leisten konnte. Wenn d's Bibelwort stimmte, dass Geben seliger als Nehmen war, dann musste sie sehr selig sein. Es hatte den Anschein, dass sie ständig die Gebende war, ohne dass jemand einmal etwas für sie tat.
Der Stallknecht machte sich Sorgen wegen des Füllens, das am Morgen zur Welt, gekommen war, und Emily ging durch die hereinbrechende Nacht zu den Ställen. Das Wetter war immer noch heiß und feucht. Nachtnebel zog vom Fluss her auf, und das Atmen fiel schwer.
Als ihr Vater noch lebte, hatte er Gespannpferde gezüchtet und sie mit gutem Profit verkauft. Aber als er und ihre Mutter vor fünf Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen waren, hatte sie den größten Teil des Stalls losgeschlagen. Jetzt waren die wenigen Pferde, die sie sich zu ihrem Vergnügen hielt, ihre einzige Familie.
Das neugeborene Füllen lag auf der Seite in der Box. Emily kniete sich hin und tastete es überall ab. Soweit sie feststellen konnte, fehlte dem Fohlen nichts, außer dass es Hunger hatte. Sie befahl dem Stallknecht, ihm auf die Füße zu helfen. Er gehorchte. Da torkelte das Fohlen, nachdem es einen Augenblick steifbeinig auf seinen staksigen, viel zu langen Beinen balanciert hatte, sanft von Emily geführt durch die Box und begann, an der Stute zu säugen.
Emily wischte sich die Hände ab und schnippte die Strohhalme von ihrer Reithose. Man brauchte Fohlen oder einen Mann eben nur in die richtige Richtung zu schubsen, dachte sie.
Bessie wartete in der Spülküche auf sie. Die Haushälterin war ungehalten. »Schön spät kommst du heim! Jetzt aber marsch nach oben und raus aus den Reithosen! Und bade und zieh dich um, damit du hübsch bist, wenn Mister Hi dich abholen kommt. Du wirst den Mann noch so lange hinhalten, bis er dir davonläuft.«
»Ja, Bessie«, murmelte Emily lammfromm.
Sie konnte sich nicht an eine Zeit erinnern, in der Bessie sie nicht herumkommandiert hätte. Die matronenhafte Negerin hatte sie in ihre Obhut genommen, als sie ungefähr so alt wie das Fohlen gewesen war. Bessie schimpfte ständig an ihr herum. Andererseits liebte die Frau sie innig. In Bessies Augen war sie unfehlbar.
»Los jetzt!«
»Schon gut, Bessie.«
Trotz aller dem Nachtwind geöffneten Fenster war es unerträglich heiß in den hohen Räumen. Emily ging erschöpft durch die Halle und die breite geschwungene Treppe in den ersten Stock hinauf. Dies war der letzte Sommer, den sie in Hewitt verbrachte; nächstes Jahr wollte sie am liebsten nach Alaska reisen!
Bessie hatte ihr das Badewasser eingelassen. Sie streifte die Kleider ab, ließ sie in einem Haufen auf dem Boden liegen und stieg in die Wanne. Das Wasser war lauwarm und parfümiert. Es tat ihrer Haut wohl, verbesserte jedoch nicht ihre Laune. Sie lehnte sich in der Wanne zurück und betrachtete ihren Körper. Ihr Busen war wohlgeformt und fest; die Beine lang, mit schmalen Fesseln. Eigentlich keine üble Figur. Eine Verschwendung, sie nur dem Krankenhaus, dem Frauenverein, der Juniorenliga und der Kinderkrippe zugutekommen zu lassen.
Sie drückte sich tiefer in die Wanne und seifte sich ab. Ironischerweise war der einzige Lichtblick dieses Tages, das einzig Ungewöhnliche, ihr Zusammentreffen mit dem Sträfling gewesen. Der Hunger in seinen Augen machte sie immer noch verlegen. Immer noch spürte sie Morans Blick über ihre Figur gleiten, der kühn und voller vertraulicher Bewunderung gewesen war. Sie stellte sich vor, in seinen Armen zu liegen, und war leicht schockiert über den Gedanken. Nette Mädchen, das heißt, Mädchen aus ihren Gesellschaftskreisen, dachten nicht an solche Sachen. Oder doch?
Sie stieg aus der Wanne, frottierte sich ab und schlüpfte in saubere Unterwäsche. Auch das Anziehen half nicht viel. Ihre Wangen glühten, ihr war fiebrig heiß.
Sie öffnete das Flügelfenster in ihrem Zimmer und trat auf die obere Veranda hinaus. In den süßlichen Duft von Geißblatt und Jasmin mischte sich der stechende Geruch von verbranntem Pinienholz. Sie sah sich um und entdeckte das Feuer. Tausendmal konnte man den Hinterwäldlern predigen, dass diese Art Abbrennen gefährlich war, jedes Jahr zündeten sie das Buschwerk von neuem an. Sie behaupteten, das verschaffe ihnen besseres Weideland für ihr Vieh. Das Feuer schien klein und in der Nähe des Sträflingslagers zu liegen. Vielleicht verbrannte das Wachpersonal dort auch Müll.
Emily kehrte in ihr Zimmer zurück, um sich zu schminken und anzukleiden. Aber stattdessen warf sie sich über ihr Bett, drückte das Gesicht in die Kissen und weinte. Sie schluchzte immer noch, als Bessie ins Zimmer kam.
»Bitte, Kleines«, bat die Frau, »wein doch nicht.« Sie betrachtete das Foto des abgestürzten Lieutenant Hubbard. »Alles wird schon gut werden. Du kannst doch nicht ewig um ihn trauern. Das Leben gehört den Lebenden.«
Emily setzte sich auf und trocknete sich die Augen am Saum des Kopfkissenbezugs. Bessie war eine Idiotin. Sie weinte nicht um ihren Mann. Bei seinem Tod hatte sie lediglich Erleichterung empfunden. Wenn er den Düsenjäger nicht besser gemeistert hatte als seine ehelichen Pflichten, war es kein Wunder, dass er auf die Nase gefallen war.
»Was du brauchst, Kleines«, bemerkte Bessie weise, »ist ein Mann.«
»Nichts einfacher als das.« Emily stand auf und trat an den Ankleidetisch. »Morgen hängen wir ein Schild draußen an den Zaun: Junge Stute sucht Hengst.«
Bessie tätschelte sie leicht. »Pssscht, sag' nicht solche Sachen!«
Emily war zerknirscht. »Tut mir leid.«
Fertig angezogen saß sie auf der unteren offenen Veranda, als Hi Thayer kam, um sie in den Country Club abzuholen.
Thayer warf seinen Hut in einen Sessel und beugte sich zu ihr herunter, um sie zu küssen. »Erzähl mir nur nicht, du bist wieder unartig gewesen, und jetzt lässt dich Bessie nicht ins Haus.«
Emily lachte. »Nein. Ich habe nur nachgedacht. Wie wär's mit einem Drink?«
Thayer ließ seine stattliche Länge in einen Sessel sinken. »Blendende Idee. Einen großen. Und unverdünnt.«
Emily schenkte an der Rollbar zwei Gläser ein. »Hast du den Raubüberfall bearbeitet?«
»Den ganzen Tag. Das heißt, den ganzen Nachmittag.«
»Gibt's was Neues?«
»Noch nicht.« Thayer streckte die Beine von sich. »Wer das Ding auch gedreht hat, er war ziemlich smart. Da es Feiertag war und die Bank eigentlich geschlossen hätte sein sollen, wissen wir noch nicht einmal den Zeitpunkt der Tat. Und bis jetzt haben wir keine Menschenseele auftreiben können, die irgendeinen Fremden in der Stadt gesehen hat.« Er zuckte die Achseln. »Aber es waren ja auch alle draußen im Wäldchen.«
»Vielleicht war es ein Einheimischer?«
»Das glauben wir allmählich auch.« Thayer nahm Emily den Drink ab, den sie ihm eingegossen hatte. »Herzlichen Dank.« Er leerte das Glas mit einem Zug. »Und jetzt, wenn es dir nichts ausmacht, gehen wir in den Club.«
»Triffst du dich dort mit jemandem?«, fragte Emily.
»Nein. Aber ich bin hungrig.« Als Thayer sie die paar Schritte zur halbkreisförmigen Auffahrt hinunterführte und ihr in seinen Wagen half, erkundigte er sich: »Und wie ist's dir ergangen?«
Emily strich sich den weiten Rock des Abendkleides glatt. »So la-la. Als ich vom Wäldchen kam, hatte ich eine Reifenpanne im Krankenhaus.«
»Wie kam denn das?«
»Ich bin über eine Harke gefahren. Ein Sträfling aus dem Lager hatte sie verkehrt herum liegen lassen.«
»Haben sie dir den Reifen gewechselt?«
»Ja. Ein blonder Bursche namens Moran.«
»Das sieht ihm ähnlich«, bemerkte Thayer trocken.
»Kennst du ihn?«
»Ich habe ihn hinter Gitter gebracht. Er hat zehn bis zwanzig Jahre vor sich und noch Glück, dass es nicht lebenslänglich ist.«
»Was hat er ausgefressen?«
»Einen Mann beim Pokerspiel umgelegt. Vor ungefähr sechs Monaten. Als du in New York warst.«
Emily ertappte sich dabei, wie sie Moran verteidigte. »Ist das denn so schlimm, einen Mann beim Pokern umzubringen?«
»Ja, wenn du die Spielhölle dabei mit der Waffe in der Hand ausnimmst. Von Rechts wegen hätte er auf den elektrischen Stuhl gehört.«
»Hatte er schon früher was verbrochen?«
»Ja, und nicht zu knapp. Scheckfälschungen, Raub, Einbruch und Notzucht.«
»Das glaube ich nicht!«
»Ich kann beim Gericht vorbeifahren und dir sein Register zeigen.«
»In seinem Alter?«
»Oft sind die Jungen die schlimmsten. Moran ist mit dem Gesetz in Konflikt geraten, noch ehe er aus der Grundschule war.«
Emily suchte nach einer Entschuldigung für ihn. »Er muss aus einem zerrütteten Elternhaus stammen.«
»Nein, aus einer guten Familie in Charleston.«
»So hört er sich aber gar nicht an.«
»Nein. Aber er ist aalglatt und scharf wie eine frischgeschliffene Rasierklinge«, meinte Thayer. »Außerdem ein verdammt gutaussehender Bursche, das muss ich ihm lassen. Bei seiner Verhandlung saßen zwei Frauen unter den Geschworenen. Es stand auf Messers Schneide, ob sie ihn verurteilen oder ihm ihre Telefonnummer geben wollten.«
Emily merkte, dass ihr der Kopf wehtat. Hoffentlich legte sich das nach dem Essen. Unmöglich, dass sie sich so in Moran geirrt haben sollte. Trotz seiner anzüglichen Bemerkungen schien er solch ein ordentlicher, sympathischer Junge zu sein.
In der Bar des Country Club stießen sie auf die bekannten Gesichter. Nur die übliche forcierte Fröhlichkeit fehlte fast ganz. Jeder hatte Harry Miller gern gemocht, und allen tat seine Witwe leid.
Emily versuchte, ihre Stimmung zu heben, indem sie drei Cocktails hintereinander hinunterkippte. Doch sie vertieften nur ihre Depression und das Gefühl der Sinnlosigkeit. Ihr kam die phantastische Vorstellung, dass sie, Hi und die anderen eleganten Männer und Frauen nur Ameisen waren, die ziellos auf einem Tennisball herumkrabbelten. Immer im Kreis herum.
Das Essen war gut, aber sie hatte keinen Appetit. Als der Kellner ihnen den Kognak brachte, sah sie von ihrem Glas auf und stellte fest, dass Hi sie beobachtete.
»Ein bisschen wacklig auf den Beinen?«
»Mir geht's nicht so gut«, gab sie zu. Sie hätte gern hinzugefügt, dass sie allein sein wollte, konnte aber nicht unhöflich sein.
»Soll ich dich nach Haus bringen?«
»Dafür wäre ich dir dankbar. Schließlich sehe ich ein Feuerwerk nicht zum ersten Mal.«
Wortlos fuhren sie durch die schwüle Hitze zurück. Das große Haus am Fluss lag im Dunklen. Gewöhnlich endeten die Festlichkeiten zum Unabhängigkeitstag erst lange nach Mitternacht, und Ben und Bessie, die noch nicht mit Emilys Rückkehr rechneten, waren zu einer religiösen Veranstaltung gegangen.
Seltsamerweise wollte Emily jetzt, da sie zu Haus war, nicht allein sein. »Komm mit hinein, Hi«, bat sie.
Immer noch schweigend folgte ihr Thayer den Pfad hinauf zur Veranda und setzte sich neben sie auf die Hollywoodschaukel. »Was ist los, Liebling?«
»Ich weiß nicht«, gestand Emily. »Es ist... Na ja, ich bin so durcheinander.«
»Hat es etwas mit uns zu tun?«
»Ja.«
»Was Gutes oder was Schlechtes?«
»Was Gutes, glaube ich.«
Thayer zog sie zu sich auf den Schoß, und sie küssten sich, während die Insekten um sie herumsummten. Emily nahm sein Gesicht in beide Hände. Der Druck seiner Lippen auf den ihren gefiel ihr. Sie liebte den Geruch von Männlichkeit an ihm, mochte seine kraftvollen Arme. Vielleicht, wenn sie ihn heiratete und sich bemühte, ihm eine gute Frau zu sein, würden sich mit der Zeit ihre Sinne entflammen und ihr die Erfüllung bringen.
»Wir können nach oben gehen, wenn du willst«, flüsterte sie. »Ben und Bessie kommen erst in ein paar Stunden zurück.«
»Nein«, flüsterte Thayer an ihren Lippen.
»Warum nicht?«
»Wir sind schon zu oft oben gewesen.« Er packte sie an den Schultern. »Himmel, Emily, begreifst du nicht? Ich liebe dich. Ich will dich heiraten. Ich will Kinder mit dir haben!«
Emily klammerte sich an seine Kraft. Warum auch nicht? Wenn sie Hi heiratete und Kinder bekam, war sie wenigstens nicht mehr einsam. Und es gab immer noch die Chance, dass sich das andere dann von selbst einstellen würde. »Also gut«, sagte sie schlicht.
Seine Arme schlossen sich fester um sie. »Also gut - was?«
»Ich will dich heiraten, Hi. Bald«, fügte sie hinzu. »Morgen früh. Sobald wir die Lizenz bekommen können.«
Thayer brüllte zwei Worte: »Heil und Segen!«
Dann machte er sich an ihrem Rock zu schaffen.
Emily war leicht belustigt. »Ich dachte, du wolltest nicht nach oben?«
»Das will ich auch nicht«, sagte er lakonisch und drückte ihre Schultern sanft in das Kissen der Hollywoodschaukel. »Ich werde unser erstes Baby gleich hier in Angriff nehmen.«
Emilys Belustigung verflog. »Aber Hi!«
»Was spricht dagegen?«
Emily überlegte, und ihr fiel nichts ein. »Nein«, gestand sie. Und plötzlich lachte sie und schlang die Arme um seinen Hals. Endlich einmal benahm er sich nicht wie ein Gentleman!
In diesem Moment jaulte eine Polizeisirene auf, und ein Paar Scheinwerfer, von einem Rotlicht begleitet, bogen von der Straße ab und kamen rasch die Auffahrt hoch.
Emily trommelte mit den Fäusten gegen Thayers Brust. »Um Himmels willen, lass mich los! Da kommt jemand.«
Thayer fluchte halblaut und sprang brüsk hoch. Emily zupfte -ihren Rode glatt und setzte sich zurecht.
Der Streifenwagen hielt in der Auffahrt. Ein jugendlicher Hilfssheriff leuchtete sich mit der Taschenlampe einen Weg durch die Dunkelheit hoch zur Veranda. »Sind Sie da, Mr. Thayer?«, rief er. »Man hat mir im Country Club gesagt, dass ich Sie hier finden könnte.«
»Ja«, antwortete Thayer. »Ich bin hier. Was gibt's, Olsen?«
Der Hilfssheriff nahm die Mütze ab und fuhr mit dem Finger über das nasse Schweißleder. »Das Sträflingslager meldet einen Massenausbruch.«
»Einen Ausbruch?«
»Ja, Sir. Einer der Aufseher, ein Mann namens Murphy, wurde getötet. Und die Burschen aus dem Lager machen die ganze Gegend unsicher. Offenbar hat einer von ihnen einen Waldbrand gelegt, und während sie so taten, als ob sie ihn löschen wollten, machte sich das ganze verdammte Lager aus dem Staub!« Als der Lichtkegel seiner Taschenlampe auf Emily fiel, fügte er hinzu: »Entschuldigen Sie das harte Wort, Miss Hewitt.«
Emily schnappte nach Luft. »Sagten Sie, dass alle Männer ausgebrochen sind?«
Der Hilfssheriff richtete den Lichtstrahl auf sein eigenes Gesicht. »Stimmt. Sie schwärmen durch die ganze Gegend hier. Aber am meisten Sorgen machen uns die fünf oder sechs, die den Aufseher umlegten und in einem der Transporter entkamen.«
Thayer trat von der Veranda herunter. »Ich wette, Moran ist auch dabei.«
»Ganz recht, Sir. Er und Orin Taylor haben beide 'ne lange Strafe abzusitzen.«
»Wieso ging die Sirene nicht?«
»Die haben sie vorher mit einer Axt eingeschlagen. Aber einer unserer Männer repariert sie gerade.«
»Verstehe.«
Der Hilfssheriff setzte sich die Mütze wieder auf. »Ausgerechnet heute Nacht muss das passieren, wo die ganze Mannschaft schon nach den Bankräubern fahndet.« Er schüttelte den Kopf. »Der Sheriff bittet Sie, zum Gerichtsgebäude zu kommen und die Suche zu organisieren.«
»Sagen Sie ihm, ich komme sofort«, erwiderte Thayer.
»Ja, Sir. Vielen Dank.«
Der Hilfssheriff stapfte zu seinem Wagen zurück und machte mit quietschenden Reifen eine Kehrtwendung.
Thayer starrte den blinkenden Rücklichtern nach. »Und gerade heute Nacht.«
Emily verließ die Veranda, warf sich ihm in die Arme und hob ihm das Gesicht zum Kuss entgegen. Vergeblich versuchte sie, die Zärtlichkeit festzuhalten, die sie eben noch für den Mann empfunden hatte, den sie heiraten wollte.
»Es tut mir so leid, Hi.«
»Ja, mir auch«, entgegnete er knapp.
»Fahr schon vor. Ich komme zum Gericht, sobald ich mich umgezogen habe.«
»Tu das bitte. Mir ist es lieber, wenn du nicht allein im Haus bleibst.«
Emily beobachtete, wie sich Thayer hinters Steuer klemmte. Als er ein Stück die Auffahrt hinuntergefahren war, blökte die Sirene des Sträflingslagers zaghaft auf, dann drang ihr Aufheulen durch die ganze Waldlandschaft. Im Nebel war es ein unheimlicher, tückischer Laut, der Gewalttätigkeit und plötzlichen Tod vorauszusagen schien.
Emily lehnte sich kraftlos gegen die weißen Säulen, die den oberen Balkon und das Verandadach trugen.
Sie konnte sich nicht über ihre Gefühle klarwerden. Als es ihr dann doch gelang, war sie davon schockiert: Sie hoffte, dass Moran und die anderen Jungs davonkamen.
Viertes Kapitel
Im Gerichtsgebäude roch es muffig nach Alter. Es war eine bekannte Tatsache, dass eine der letzten Schlachten des Sezessionskrieges in seinem Vorgarten ausgetragen worden war.
Mit vor Erregung glänzenden Augen verfolgte Emily fasziniert das ständige Kommen und Gehen der Uniformierten im Büro des Bezirksstaatsanwalts. Hier im ersten Stock herrschte eine Geschäftigkeit wie in einem betriebsamen Bahnhof oder Flughafen. Die Telefone auf His Schreibtisch und in Sheriff Cronkites Büro gegenüber standen nicht still.
Sie liebte diese Männerwelt. Sie hatte Hi im Gerichtshof gesehen, aber dieses war eine Seite seiner Persönlichkeit, von der sie bisher nichts gewusst hatte. Er dünkte ihr auf einmal ein Fremder: energisch, tüchtig, unerbittlich.
Richter Vinson legte ihr väterlich die Hand auf ein Knie, das jetzt in einer Leinenhose steckte. »Sie sollten nicht hier rumsitzen, Kindchen. Gehen Sie doch rüber zu Jane.«
»Nein, danke«, lehnte Emily ab. »Ich finde es wundervoll hier.«
Ein Hilfssheriff brachte ihr Kaffee in einem Pappbecher. »Nehmen Sie einen Schluck. Befehl vom Bezirksstaatsanwalt.«
Emily freute sich: Ein gewisses Gefühl geteilter Vertrautheit war doch geblieben. Selbst wenn ihre intimen Beziehungen nicht so recht zufriedenstellend waren, so konnte sie sich doch jederzeit auf Hi verlassen. So beschäftigt, wie er im Moment war, hatte er noch Zeit gefunden, an sie zu denken.
Während sie ihren Kaffee schlürfte, entstand unten vor dem Gerichtsgebäude ein Tumult. Er breitete sich im Parterre aus, drang dann nach oben, und einen Augenblick später stieß ein hagerer Lageraufseher einen winselnden Jungen mit dem Gewehrlauf ins Büro.
»Hier ist noch einer«, meldete er knapp. »Einer von den Kerlen, die sich in dem Transporter davongemacht haben. Hab' ihn dabei erwischt, wie er gerade ein Auto aus Jimmy Grants Garage stehlen wollte.«
Es war einer der Burschen, die Emily auf dem Krankenhausgelände getroffen hatte. Sein Hemd war zerfetzt, seine Brust blutverschmiert, und sein Gesicht fast formlos geschlagen. Was sie noch davon erkennen konnte, war aschgrau vor Schmerz oder Angst. Unter ihren Blicken versuchte er mit dem Wimmern aufzuhören, aber es gelang ihm nicht. Es war schrecklich, einen Mann so heulen zu sehen.
»Prächtig«, lobte Thayer. »War er bewaffnet?«
Der Aufseher schüttelte den Kopf. »Nein, aber das konnte man ja nicht wissen. Ich hab's nicht darauf ankommen lassen.
»Das sehe ich«, bemerkte Thayer, »Wie heißt er?«
»Mitchell. Tom Mitchell, Sir.«
Thayer fand den Namen auf der Liste vor sich und hakte ihn ab. »Wo treiben sich die andern herum, Mitchell?«
»Scher'n Sie sich zum Teufel«, schluchzte der Junge.
»Sind sie immer noch im Transporter, oder haben sie sich ein Auto organisiert?«
Der Junge sackte zwischen den beiden Männern zusammen, die ihn festhielten. »Raten Sie doch. Sie sind ja schließlich das hohe Tier hier.«
Der Lageraufseher schob sich Kautabak zwischen die Lippen. »Sieht so aus, als ob er noch mal 'ne Abreibung braucht.«
»Wer hat den Ausbruch geplant?«, versuchte es Thayer noch einmal.
»Gehn Sie zum Teufel.«
»Du machst es dir selbst nur schwerer, Söhnchen. Raus mit der Sprache! Wer von euch hat den Aufseher umgebracht?«
Als Antwort spuckte der Junge auf den Boden.
Der Aufseher reichte sein Gewehr einem Hilfssheriff. »Ich glaube, ich kann ihn zum Sprechen bringen.« Er kehrte Emily den Rücken zu, damit sie nicht sah, was er machte. Plötzlich schrie der Junge wie ein Tier auf.
»Der Staatsanwalt hat dich was gefragt.«
»Nein, bitte«, flehte der Junge. Dann hörte er auf zu schreien und hing schlaff zwischen den beiden Männern, die ihn stützten.
Der Aufseher war enttäuscht. »Ich fresse 'n Besen, wenn der nicht vor meiner Nase ohnmächtig geworden ist.«
»Bringt ihn nach unten und sperrt ihn ein«, ordnete Thayer an. »Ich will ihn mir später noch mal vornehmen.«
Emily lehnte sich zurück und legte eine Hand über die Augen. Es war fast, als ob man sie selbst gequält hätte. Ihre Schenkel schmerzten, über ihrer Brust schien die Haut zu spannen. Ihre Lippen wollten sich nicht über den Zähnen schließen. Sie hatte den Wunsch, auf irgendetwas einzuschlagen, ganz egal, auf was. Einerlei, was der Junge getan hatte, selbst wenn er den Aufseher umgebracht hatte, so besaßen sie doch nicht das Recht, ihn jeder menschlichen Würde zu entkleiden, ihn so zu demütigen und zu erniedrigen. Eine solche Behandlung war barbarisch...
»Ich hab' es Ihnen ja gesagt«, meinte Richter Vinson. »Sie sollten lieber zu uns rüber gehen und Jane Gesellschaft leisten.«
Emily gewann mit Mühe ihre Fassung wieder. »Nein, vielen Dank.«
Sie beobachtete, wie Thayer wieder hinter seinem Schreibtisch Platz nahm. Wenn ihn die brutale Behandlung von Mitchell berührt hatte, so verriet sein Gesicht nichts davon, als er sich jetzt über eine Landkarte beugte. »Mag sein«, stellte er schließlich fest, »dass uns die anderen Burschen durch die Sperren geschlüpft sind. Allerdings fast eine Unmöglichkeit, weil jede Straße hier im Bezirk hermetisch abgeriegelt ist.«
Sheriff Cronkite kam ins Büro. Er schien um zehn Jahre gealtert, seit Emily ihn im Wäldchen zuletzt gesehen hatte. Sein Gesicht war so aschfahl wie das von Mitchell, das Kinn, die Schultern, ja sogar der weiße Schnauzbart hingen mutlos herab.
»Der Hundetrupp hat den Transporter gefunden«, teilte er mit. »Sechs Meilen tief in den Pinienwäldern, auf dieser Seite vom alten Pearson-Sägewerk.«
Thayer nahm seinen Hut und stülpte ihn auf. »Gut. Dann können wir von da ausschwärmen.« Als Emily auf stand, um sich ihm anzuschließen, sagte er: »Vielleicht solltest du lieber hierbleiben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn ich die Frau eines Bezirksstaatsanwalts werden will, gewöhne ich mich besser daran.«
Er hob die Schultern. »Wie du willst. Aber es wird wohl ziemlich unerfreulich werden.«
Der Mond war jetzt aufgegangen, aber der Bodennebel hatte sich verdichtet. Thayer folgte dem Wagen des Sheriffs so dicht, dass er von Zeit zu Zeit auf die Bremse treten musste, um nicht aufzufahren. Als sie sich der Brücke näherten, peitschten Schüsse durch die schwüle Nacht; der Sheriff und Thayer hielten beide an und sprachen mit den Männern, die die Brücke bewachten.
»Zwei von unseren Jungs haben gerade was aufgescheucht«, berichteten die Männer. »Es schwamm den Fluss hinunter. Aber die Jungs konnten nicht feststellen, ob es ein Flüchtling oder nur ein Reh war.«
»Was heißt, sie konnten es nicht feststellen?«
»Genau das, Mr. Thayer«, meinte der Sprecher. Er deutete ins Dunkel. »Ziemlich dichtes Unterholz hier, und als sie sich einen Pfad zum Fluss freigehackt hatten, war das Ding schon am anderen Ufer.«
»Aha.«
Der Mann schloss die ausgedehnten Ländereien des Hewitt'schen Besitzes in seine weitausholende Armbewegung ein. »Und wenn sie da durch sind und das Sumpfgebiet erreicht haben, sind sie uns durch die Lappen. Aber die Jungs haben getroffen. Zumindest sind Blutspuren an den Blättern.«
»Okay. Holen Sie sich Verstärkung, schwärmen Sie aus und durchkämmen Sie den Sumpf«, befahl Thayer. »Wir sind auf dem Weg zum alten Sägewerk. Die Suchhunde haben gerade den Transporter aufgespürt.«
Die Straße hier war furchig und mit Pflanzen überwuchert, die das Metall der kleinen Wagenkolonne streiften. Bis auf Liebespärchen in ihren Autos war die alte Straße zum Sägewerk jetzt so gut wie unbefahren. Dann erweiterte sich die überwucherte Straße zu einer kleinen Lichtung.
Jenseits der Lichtung war deutlich Hundekläffen zu hören. Als Thayer bremste, trat einer der Hundeführer an seinen Wagen, entdeckte Emily neben ihm, und anstatt laut zu sprechen, erstattete er seinen Bericht im Flüsterton.
»Nein!«, rief Thayer. Und dann: »Oh, Gott.« Daraufhin wand er sich zu Emily an seiner Seite. »Du wartest hier. Und diesmal ist das ein Befehl!«
»Wie du meinst«, erwiderte Emily.
Sie beobachtete, wie Thayers Rücken in der Nacht untertauchte und fragte sich eine bange Minute lang, was sich wohl in der Baumgruppe dort, jenseits der Lichtung abspielte. Dann, als das Bellen der Hundemeute einen Augenblick aussetzte, hörte sie deutlich, oder es schien ihr so, May Arnold aufschluchzen:
»Oh, nein! Nicht noch mal!«
Die Kehle war ihr plötzlich wie zugeschnürt. Emily stieg aus und überquerte die Lichtung zu der Baumgruppe hin. Auf dem Boden lagen zwei Gestalten, umringt von grimmig blickenden Beamten. May Arnolds ausgestreckter weißer Körper bäumte sich auf, während ihr gepeinigter Geist die Schändung immer wieder durchlebte.
»Bitte, bitte, bitte«, wimmerte sie. »Bitte aufhören...«
Emilys Lippen verzerrten sich. Es bestand kein Zweifel, was mit May geschehen war. Sie war wiederholt vergewaltigt worden, von vielen Männern; Männern mit der monatelang, ja vielleicht jahrelang unterdrückten Gier nach einer Frau.
Der Fußballtrainer lag nicht weit entfernt. Er hatte verbissen um sein und Mays Leben gekämpft, Kopf und Gesicht waren blutverkrustet. Er atmete noch, aber nur schwach.
Sheriff Cronkites Stimme klang tonlos. »Wie ich sehe, waren Hayes und Mrs. Arnold zu einer kleinen Knutscherei hier herausgefahren, und ein paar Sträflinge haben sie dabei überrascht. Als sie von May das gehabt hatten, was sie wollten, nahmen sie sich Hayes' Auto, um damit die Straßensperren zu durchbrechen.«
Thayer nickte. »Ja, so wird's gewesen sein.«
Der junge Doktor Phipps hatte sich mittlerweile energisch einen Weg durch die Umstehenden gebahnt. Er kniete kurz neben Hayes nieder, begab sich dann zu der stöhnenden Frau. Nach einer flüchtigen Untersuchung öffnete er seine Tasche, nahm eine Injektionsspritze heraus und schob eine Nadel ein.
»Keine Chance für Hayes, fürchte ich«, erklärte er den Männern. »Ihn hat's erwischt. Wenn Mrs. Arnold keine inneren Verletzungen hat - aber diese Blutungen lassen leider darauf schließen -, kann ich sie wahrscheinlich durchbekommen.« Und während er die Spritze füllte, fügte er kopfschüttelnd hinzu: »Aber selbst dann bezweifle ich, dass ihr Geisteszustand je wieder derselbe sein wird.«
Der Sheriff sah aus, als ob ihm übel würde. Er zog sein Jackett aus und deckte es über die wimmernde Gestalt. Er seufzte. »Tja, alles was wir jetzt noch tun können, ist eine sofortige Suchmeldung nach dem Auto durchzugeben. Erinnert sich einer von euch Jungs an die Nummer?«
Thayer entdeckte Emily in der Menge und führte sie zurück zum Wagen. »Ich habe dir gesagt, dass du dich nicht vom Fleck rühren sollst.«
Sie schauderte. »Ich konnte einfach nicht anders. Nicht, als ich May hörte.«
Thayer legte den Gang ein. »Und jetzt bringe ich dich nach Hause. Danach werde ich direkt vor deinem Haus eine Wache postieren.« Er nickte den beiden Hilfssheriffs zu. »Jackson und Hill, folgen Sie mir.«
Emily protestierte gegen eine Bewachung, aber sie war doch erleichtert. Nie würde sie die sich windende Gestalt auf dem Erdboden vergessen. Nie, selbst wenn sie hundert Jahre alt würde.
Als sie vor dem Hewitt-Haus ankamen, graute schon der Morgen. Der Nebel über dem Fluss hatte sich aufgelöst, und in den hohen Bäumen am Ufer zwitscherten die Vögel. Das pausenlose Quaken des Polizeifunks in Thayers Auto hatte Emilys Kopfschmerzen verschlimmert. Als sie vor der Veranda anhielten, streckte sie die Hand aus und stellte den Sender ab.
»Wenn du nichts dagegen hast.«
Thayer zündete eine Zigarette an und gab sie ihr. »Im Augenblick, glaube ich, hast du keine besonders hohe Meinung von den Männern.«
Emily sagte die Wahrheit. »Nein. Aber von Frauen auch nicht, was das anbelangt.«
»Eine scheußliche Schweinerei«, gab Thayer zu. »Du gehst jetzt rein und zu Bett. Und ich möchte, dass du den ganzen Tag schläfst. Mindestens bis Mittag.«
Emily tätschelte seine Wange. »Und du? Wirst du zum Schlafen kommen?«
Thayer schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
Emily stieß die Wagentür auf und kletterte hinaus. »Aber du rufst mich doch heute Abend an?«
»Ja, oder ich komme vorbei. Und mach dir keine Gedanken.« Er winkte den beiden Hilfssheriffs, die aus ihrem Wagen stiegen. »Jackson und Hill bleiben draußen auf Posten.«
Emily strich ihm über die Wange. »Du bist so lieb.«
Als sie dem Wagen nachsah, wie er zurücksetzte, dann die Auffahrt hinunter und über die Brücke fuhr, war sie ihm doppelt dankbar. Thayer war so verständnisvoll. Sie hatte schon gefürchtet, dass er mit hereinkommen wollte. Aber nach allem, was sie in der Baumgruppe gesehen hatte, war ihr der Gedanke an einen Mann, ganz egal an welchen, einfach widerlich.
Die Vordertür war verschlossen, und sie musste in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel graben. Bessie hatte die Rollbar an ihren üblichen Platz im Wohnzimmer gefahren. Sie schenkte sich einen steifen Bourbon ein und nippte noch daran, als sie nach oben ging.
Im Kampf gegen die Hitze hatte Bessie die hohen Flügelfenster geöffnet, die auf die obere Veranda führten, und den Deckenventilator angestellt. Emilys Schlafzimmer war angenehm kühl und morgenfrisch, und das verschlafene Zwitschern und Piepsen der Vögel draußen in den Bäumen hatte etwas Friedliches an sich.
Sie trat auf die Veranda hinaus und blickte nach unten. Es war immer noch zu dunkel, um die Männer zu sehen, die vor dem Haus Wache hielten, aber ihre glimmenden Zigaretten waren ihr eine Beruhigung. Nicht, dass sie sich Sorgen machen musste. Nachdem sie Hayes' neuen Wagen gestohlen hatten, waren Taylor, Moran und die anderen gefährlichen Ausbrecher inzwischen gewiss schon Meilen entfernt.
Wieder im Schlafzimmer, setzte sie sich auf die Bettkante und schlürfte langsam ihren Whisky. Sie war erschöpfter - seelisch und körperlich -, als sie gedacht hatte. Sie war so müde, dass sie einfach einschlafen wollte: ohne Nachthemd, ja sogar, ohne sich die Zähne zu putzen oder ihr Make-up zu entfernen.
Leicht angesäuselt von ihrem Drink, musste Emily bei dem Gedanken kichern. Das würde Bessie ehrlich schockieren. Die Emily Hewitts dieser Welt mochten Männer, mit denen sie verheiratet waren, verführen - aber vorher schminkten sie sich immer gewissenhaft ab und putzen die Zähne. Und niemals, niemals schliefen sie splitterfasernackt!
Nur widerwillig kroch sie aus dem Bett und tappte, noch immer unbekleidet, ins dunkle Badezimmer. Die Stimme kam aus der Finsternis.
»Nicht schreien, bitte nicht!«, flehte er. »Wenn Sie schreien, legen mich die beiden draußen um.«
Automatisch tastete Emily nach dem Lichtschalter. Das Licht fiel auf Moran, der - nackt bis auf ein Paar arg zerschlissener Hosen - auf dem Wannenrand hockte, so dicht vor ihr, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren.
Fünftes Kapitel
Anstatt zu schreien, wich das rotblonde Mädchen ins Schlafzimmer zurück und tastete nach der Pistole in der Nachttischschublade.
»Wagen Sie's nur nicht!«, keuchte sie. »Wenn Sie mich anrühren, schieße ich!«
Sie wirbelte blitzschnell herum, um Moran abzuwehren und stellte fest, dass sie mit sich selbst gesprochen hatte. Der blonde Mann war ihr nicht gefolgt. Er saß immer noch auf dem Rand der Badewanne. Ärgerlich riss sie ein weißes Satin-Negligé aus dem Schrank und warf es sich über, ehe sie an die Badezimmertür zurückging und die Pistole auf ihn richtete.
Moran rührte sich nicht, sondern presste nur das blutige Handtuch gegen seine Rippen. »Nur zu. Drücken Sie ab. Und leisten Sie gleich ganze Arbeit. Besser tot, als dahin zurück, wo ich herkomme.«
Emily zielte immer noch auf ihn. »Wie sind Sie hier hereingekommen?«
»Ich bin über den Weinstock geklettert. Den mit den gelben Blüten. Alamanda heißt er, glaube ich.«
»Sind Sie es, den die Polizisten drüben am anderen Ufer gejagt haben?«
»Stimmt«, sagte der Junge nonchalant. »Und Sie sind sogar noch schöner, als ich dachte.«
»Soll das ein Kompliment sein?«
»Wie Sie wollen.«
Emily schwenkte die Pistole. »Raus hier.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Moran inspizierte die Wunde unter dem Handtuch, »Weil ich nicht sterben will. Und die Beamten, die Ihr Freund draußen postiert hat, würden mich abknallen, ehe ich noch drei Meter weit gekommen wäre.«
»Haben Sie gesehen, wie mich Mr. Thayer nach Hause gebracht hat?«
»Klar.«
»Warum sind Sie überhaupt hierhergekommen?«
Moran dachte über die Frage nach. »Das habe ich mich auch schon gefragt. Und wissen Sie, zu welchem Schluss ich gekommen bin?«
Emily hatte ihre Selbstsicherheit wiedergewonnen. Ihre Stimme klang leicht verächtlich. »Na und?«
Moran wurde ernst. »Weil Sie in sechs Monaten die einzige sind, die mich heute Nachmittag wie einen Menschen behandelt hat. Und ich wollte Sie wiedersehen, ehe man mich schnappte.«
»So, wie Sie May Arnold gesehen haben?«
»Wer ist May Arnold?«
»Eine Frau hier aus dem Ort, die ihr im Wald vergewaltigt habt. Und nicht nur einmal, sondern immer wieder, nachdem ihr Begleiter halbtot geschlagen war.«
Moran ließ das triefnasse Handtuch auf den Boden fallen, nahm ein sauberes vom Ständer und drückte es gegen seine Wunde. »Ich habe schon gefürchtet, dass diese aufgeputschten armen Teufel so etwas anstellen würden. Darum bin ich auch gleich, als wir aus dem Lager raus waren, vom Transporter abgesprungen.«
Emily fühlte etwas von ihrer Selbstsicherheit schwinden. »Sie waren nicht bei der Vergewaltigung dabei?«
Der Junge sah mit blauen Unschuldsaugen von seiner Wunde auf. »Ehrenwort. Ich habe niemals eine Frau angefasst, die mich nicht wollte. Noch nie im Leben.«
»Wie verträgt sich das mit Ihrer Verurteilung wegen Notzucht?«
Trotz seiner offensichtlichen Schmerzen musste Moran grinsen. »Die hat mich schon gewollt. Dummerweise war sie noch ein bisschen jung. Aber das erfuhr ich erst hinterher.«
»Und der Raubüberfall? Und die gefälschten Schecks?«
»Ich sehe, Sie haben sich über mich informiert.«
»Ich habe nur zufällig Hi Thayer danach gefragt.«
»Alles harmlose Jugendstreiche.«
»Und der Mann, den Sie beim Pokern umbrachten?«
Sein Gesicht verdüsterte sich. »Das«, erklärte er leise, »war Notwehr. Nur hat mir das leider niemand abgenommen.« Er zog die Mundwinkel herab. »Also gut, machen wir Schluss damit. Rufen Sie die Polizisten von unten hoch, damit sie mich zum Gerichtsgebäude abführen und sich der ganze wackere Haufen über mich hermachen kann. Wenn sie dann mit mir fertig sind, werde ich wahrscheinlich mit tausend Freuden gestehen, dass ich den Aufseher getötet und die Frau vergewaltigt habe, von der Sie sprachen. Ich werde sogar noch zugeben, dass ich die Bank geplündert und den Kassierer umgelegt habe. Dann können sie das, was von mir übrig ist, auf den elektrischen Stuhl schicken. Und das ist mir lieber, als bis zu meinem Lebensende in einem Straßenbautrupp zu vegetieren.«
»Ich dachte, Ihre Strafe beträgt zehn bis zwanzig Jahre?«
Moran prustete los. »Sie kennen diese Gefängnisbonzen nicht. Wenn man erst einmal Dreck am Stecken hat, ist man erledigt. Nur, weil ich mir schon früher etwas zuschulden hab' kommen lassen, werden sie bestimmt alles, was heute Nacht geschehen ist, auf mein Konto buchen. Und das Teuflische ist, dass ich nicht das Gegenteil beweisen kann. Jetzt sind Sie dran. Welche Geschworenen würden mir glauben, dass ich, während das alles über die Bühne ging, hier in Ihrem Badezimmer gesessen habe?«
Emily musste wider Willen lächeln. »Ich fürchte, da haben Sie nicht so ganz unrecht.«
Wenn sie doch nur gewusst hätte, was sie mit Moran machen sollte! Das Vernünftigste war natürlich, die Posten unten zu rufen, aber das brachte sie nicht übers Herz. Alles, was Moran gesagt hatte, war richtig. Wenn er erst wieder in Haft saß, würde sich alles genauso abspielen, wie er es beschrieben hatte. Sie war ja Zeuge geworden, was sie mit dem anderen Flüchtling, mit Mitchell, gemacht hatten.
Ihr war heiß in dem Satin-Negligé, sie löste den Gürtel ein wenig. Dann, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, fragte sie: »Wie schwer sind Sie verletzt?«
Moran betrachtete wieder seine Wunde. »Nicht schlimm, glaube ich. Ich hab' zwar 'ne Menge Blut verloren, aber die Wunde scheint sauber. Ein glatter Durchschuss, nehme ich an.« Moran ließ mit der freien Hand kaltes Wasser ins Waschbecken laufen, wusch sich das Blut vom Gesicht und fuhr sich mit nassen Fingern durchs Haar. Das verbesserte sein Aussehen ungemein. Als er fertig war, fragte er: »Ich möchte gern wissen...«
»Was?«
»Ob ich eine Zigarette bekommen könnte.«
Emily holte ein Päckchen vom Nachttisch. Ihre Hände berührten sich, als er es ihr abnahm, und Emily merkte, dass ihre Finger zitterten. Hoffentlich nur aus Mitleid. Sie mochte diesen Jungen. Sogar Hi hatte erwähnt, dass er aus guter Familie kam, und seine Manieren und seine Sprechweise bestätigten das. Trotz der Wunde und der Schmerzen, die er haben musste, hatte er kein einziges Mal geklagt. Wie er da im Badezimmer saß, konnte man ihn eher für einen Logiergast als für einen entlaufenen Sträfling halten.
Moran steckte sich eine Zigarette an. »Vielen Dank.«
»Bitte.« Emily wurde plötzlich bewusst, dass sie immer noch die Pistole hielt, und sie kam sich albern vor. Sie legte sie in die Nachttischschublade zurück. Dann ließ sie die Jalousien herunter, nachdem sie die Verandatüren geschlossen hatte. »Jetzt kommen Sie am besten hier rein und lassen mich mal die Wunde sehen, während ich überlege, was ich mit Ihnen mache.«
Moran grinste. »Ich weiß, dass Sie im Krankenhaus waren, aber sagen Sie mir nur nicht, dass sie Ärztin sind.«
Es fiel nicht schwer, mit ihm zu lächeln. »Nur für Pferde.«
»Ich hab' schon Schlimmeres gehört.« Die Zigarette im Mundwinkel und immer noch ein gefaltetes Handtuch gegen die Seite gepresst, humpelte Moran aus dem Badezimmer. »Sie sind ein Engel. Wo soll ich mich hinsetzen?«
Emily wollte gerade sagen: aufs Bett. Aber das hätte sich nicht richtig angehört. Stattdessen meinte sie: »Dort auf die Chaiselongue.«
Moran musterte das mit gelbem Satin bezogene Möbel. »Vielleicht kommt Blut darauf?«
»Machen Sie sich darüber kein Gedanken.«
Auf dem Weg zur Liege blieb Moran vor dem gerahmten Foto des seligen Lieutenant Hubbard stehen. »Wer ist der gutaussehende Flieger?«
»Mein verstorbener Mann.«
»Mann? Warum nennt man Sie dann Miss Hewitt?«
»Weil Everett und ich erst ein paar Tage verheiratet waren, ehe er abstürzte. Niemand in der Stadt hatte sich noch daran gewöhnt, mich mit Mrs. Hubbard anzusprechen.«
»Ist er schon lange tot?«
»Drei Jahre.«
»Oh...«
Es war der Ton, in dem er das sagte. Er machte Emily schmerzhaft klar, dass sich das Zittern ihrer Finger auf ihren ganzen Körper übertragen hatte. Eine seltsam unbekannte Schwere lag in ihren Gliedern, die sie verwirrte und irritierte.
Moran streckte sich auf der Liege aus, als ob es das natürlichste von der Welt wäre. »An die Arbeit, Doktor. Ich bin soweit.« Als sich Emily über ihn beugte, schob er das Handtuch von seiner Wunde über den großen Riss in seiner Hose vom.
Die Wunde war sauber. Die Kugel, die wahrscheinlich von einem Gewehr stammte, war glatt durch die festen Muskeln gedrungen. Auch ein Arzt konnte da nicht mehr tun als sie. Emily säuberte den Einschuss und Kugelaustritt so gut sie konnte, desinfizierte sie, legte aseptischen Verbandsmull drauf und befestigte ihn mit Heftpflaster.
»Das sollte genügen. Einstweilen wenigstens«, erklärte sie und stellte die Medikamente zurück in den Medizinschrank im Badezimmer. »Was Sie jetzt brauchen, ist Ruhe.«
Moran lachte rau auf. »Soll das ein Witz sein? Sie wissen doch genau, was mich erwartet, wenn ich hier verschwinde.«
»Ja. Leider weiß ich das«, gestand Emily.
Moran grinste ansteckend. »Trotzdem, tausend Dank. Sie wiederzusehen war es schon wert, sich anschießen zu lassen. Besonders so, wie ich Sie gesehen habe.«
Emilys Kopfschmerzen kehrten zurück. Sie konnte den Jungen nicht dem preisgeben, was vor ihren Augen mit Mitchell geschehen war. Wenn sie mit Hi sprechen konnte, bevor Moran wieder aufgegriffen wurde, konnte sie ihn vielleicht überreden, Morans Fall zu überprüfen. Oder ihn dazu bewegen, Moran in ein Krankenhaus zu transportieren, bis seine Verletzung geheilt war.
Ihr Zimmer lag neben einem wenig benutzten Gästezimmer. Sie öffnete die Verbindungstür und schaute hinein. Das Zimmer war sauber, das Bett gemacht. Ihr Entschluss war gefasst. »Ich kann Sie nicht so laufenlassen. Schwören Sie, dass Sie den Aufseher nicht umgebracht haben?«
»Ich schwör's.«
»Und dass Sie nicht einer von denen waren, die May Arnold vergewaltigt haben?«
»Das schwöre ich auch.«
»Dann will ich Sie hier verstecken, bis ich mit dem Staatsanwalt sprechen konnte. Ich habe ein wenig Einfluss auf ihn, und vielleicht lässt sich irgendetwas arrangieren.«
»Da wäre ich Ihnen sehr dankbar«, sagte Moran.
Emily half ihm auf die Beine. Er war geschwächter als vorher, konnte kaum stehen. Er machte zwei zaghafte Schritte und sackte dann zusammen. Seine tastende Hand packte die Schulter ihres Negligés. Der Satin war neu und glatt, er fiel ihr von den Schultern, und der Gürtel löste sich. Das Negligé glitt zu Boden, während sie unter Morans vollem Körpergewicht taumelte. Sie sammelte Kräfte, von denen sie bisher nichts geahnt hatte, und versuchte, ihn zum Bett zu führen. Dort angelangt, stolperte sie über das heruntergefallene Negligé, und beide landeten auf dem Bett, er halb auf ihr.
Der Sturz hatte seine Wunde frisch aufgerissen. Seine Augen, nur Zentimeter von den ihren entfernt, waren geschlossen.
Um sich nicht gleich von ihm lösen zu müssen, studierte sie sein Gesicht. Dieser Mann konnte nicht so durch und durch verdorben sein, wie ihn Hi geschildert hatte. Ein Mann, der ihr diese Gefühle einflößte, konnte nicht schlecht sein.
Dann schlug Moran die Augen auf und sah sie an.
»Nein...«, protestierte sie. Aber sie wusste, dass ihr Blick sie verriet. »Nein«, rief sie noch einmal scharf. »Sie sind zu schwach.«
Aber sie konnte ihn nicht aufhalten; wollte es auch gar nicht.
Es war so ganz anders als alles, was sie bisher erlebt hatte. Und als es vorüber war, blieb Emily erschöpft liegen und fühlte sich doch kühl und leicht. Mit einem Finger strich sie über Morans Brust. Dann schrie sie unterdrückt auf: Der Mann neben ihr blutete wieder. Weinend bemühte sie sich, das Blut zu stillen, das durch den Mullverband sickerte. Es war alles nur ihre Schuld. Er wusste ja nicht, was er tat. Sie hoffte, dass sie ihn nicht umgebracht hatte. Moran durfte nicht sterben.
Andere Geräusche kamen ihr zu Bewusstsein. Vom Rasen unten schrien Männerstimmen herauf, jemand hämmerte gegen die Tür.
»Alles in Ordnung, Emily?«, fragte Bessie. »Hast du gerufen?«
»Nein«, erwiderte Emily heftig. »Geh schon. Bitte, lass mich in Ruhe.«
Stattdessen öffnete Bessie mit der Vertraulichkeit langer Dienstjahre die Tür. Wortlos blieb sie auf der Schwelle stehen. Als sie die Sprache wiedergefunden hatte, seufzte sie: »Jesus! Bist du denn noch bei Trost?«
Emily weinte immer noch. »Ich weiß nicht.«
Bessie schloss die Tür, trat ans Bett und starrte auf Moran herunter. »Du liebe Güte«, jammerte sie. »Ist er einer von den Jungs, die aus dem Lager ausgebrochen sind?«
»Ja«, flüsterte Emily.
»Hat er dir Gewalt angetan?«
»Nein! Und untersteh dich, die Polizei zu rufen!«
Als sie wieder sprach, war die Stimme der anderen Frau sanft und voller Verständnis. »Du hast keinen Grund, mit mir zu maulen, Schätzchen. Ich tu ja alles, was du sagst. Hab' doch von dem Tag an, als du geboren warst, immer auf deiner Seite gestanden.« Bessie machte eines der Flügelfenster auf und rief von der Veranda herunter: »Alles in Ordnung, ihr Herren! Bei der ganzen Aufregung und so, da hat Miss Emily nur einen schlechten Traum gehabt.«
»Okay«, rief Jackson zurück. »Ich hatte schon überlegt, wie ich diesen Weinstock hochklettern könnte. Mr. Thayer zieht uns die Haut bei lebendigem Leib ab, wenn Miss Hewitt etwas zustößt.«
Bessie kam ins Zimmer zurück und schloss das Fenster. »Ein hübsches Kerlchen, das ist er. Bist du in ihn verliebt?«
»Ich weiß nicht so recht.«
Bessie war realistisch. »Also, wenn ich sie liebe, lasse ich sie ran, und wenn ich sie ranlasse, liebe ich sie. Du willst wohl nicht, dass er stirbt?«
»Kein Gedanke!«
Bessie krempelte die Ärmel ihres geblümten Morgenrocks hoch. »Dann sitz nicht so rum und flenne und lass dir das Blut über deinen hübschen Busen laufen, Liebchen. Hilf mir, ihn richtig aufs Bett zu legen, dann lass kaltes Wasser ablaufen, damit wir ihm 'ne Kompresse machen können. Er wird uns noch verbluten, wenn wir nichts tun.«
Emily küsste Morans geschlossene Augen. Dann half sie Bessie, ihn auf dem Bett auszurecken, zog ihm die zerfetzten Hosen aus und schob ihm ein Kissen unter den Kopf.
So vertieft waren sie in ihre Aufgabe, dass keine der beiden Frauen merkte, wie der scheinbar Bewusstlose für einen Moment vorsichtig ein Auge aufklappte. In seinem Blick lagen Spott und Triumph. Dann kniff Moran die Augen wieder zu und begann zu stöhnen.
Sechstes Kapitel
War wirklich schon eine Woche verstrichen? Es war kaum zu glauben. Als Emily in der klimagekühlten Behaglichkeit des Frauenvereins saß, kam ihr zu Bewusstsein, dass sie sich noch nie so ausgefüllt, so zufrieden, so ganz als Frau gefühlt hatte. Und das hatte seinen Grund. Sie spielte ihr Bridgeblatt mechanisch, aber mit Bedacht. Sie durfte sich alles erlauben, nur nicht, den Hauch eines Argwohns zu erregen. Wenn Sally Playford nur nicht so viel geschnattert hätte!
»Eine Woche, eine ganze Woche«, feixte Sally. »Und die Polizei ist noch keinen Schritt weiter, weder bei dem Bankraub noch bei dem Ausbruch aus dem Lager.«
Jane Vinson nahm den Stich mit einem Herzbuben. »Oh, das würde ich nicht sagen, Sally. Sie haben doch alle wieder eingefangen. Bis auf vier: White und Phillips, Taylor und Goldjunge Moran.«
Emily wünschte, die Leute würden Dan nicht Goldjunge nennen. Dan hatte schon recht - wenn man erst einmal in Schwierigkeiten steckte, wollte jeder einem am Zeug flicken.
»Aber sie haben doch noch immer keinen blassen Dunst, wer die Bank ausgeraubt hat, oder Harry Miller umgebracht oder auch nur, wer an der Vergewaltigung von May Arnold beteiligt war.«
»Das stimmt«, räumte Jane ein.
Beth Scott, die Mays Platz in der Bridgerunde eingenommen hatte, übertrumpfte Emilys Königin. »Ich bin da mehr oder weniger Sallys Meinung. Schließlich kommt es auf das Resultat an. Immerhin sind drei Leute getötet und achtundsiebzig- tausend Dollar gestohlen worden. Und als ich mich gestern mit Ed Arnold unterhielt, sagte er, der Spezialist aus Jacksonville hätte ihm anvertraut, dass May nie wieder so wird wie früher, weder seelisch noch körperlich.«
Sally Playford schnitt eine Grimasse. »Tja, wer mit dem Feuer spielt...«, zitierte sie maliziös. »Ihr wäre ja nichts passiert, wenn sie dort geblieben wäre, wo sie hingehört - zu Hause, bei ihrem Mann.«
Emily verspürte den Wunsch, ihr Blatt hinzuwerfen und rauszugehen. Noch nie war ihr aufgefallen, wie missgünstig Sally doch war. Aber sie wagte um keinen Preis, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ein paar Mädchen hatten ohnehin schon Bemerkungen darüber gemacht, wie wohl und blühend sie aussah.
Jane Vinson schrieb die Punkte an. »Ach, Quatsch. Anwesende natürlich ausgenommen, aber ich kann euch aus dem Stegreif fünfzehn Frauen nennen, die ihren Mann betrogen haben oder es immer noch tim. Die arme May hat eben Pech gehabt. Zu dumm, dass Hayes und sie sich gerade diese Stelle zum Parken aussuchen mussten.«
»Da magst du recht haben«, räumte Beth Scott ein. Sie raffte die Karten zusammen und schob sie Emily hin. »Du gibst. Ich für meinen Teil hätte gern eine Coca-Cola.«
Emily stapelte die Karten und mischte. Wenn sie von zu Haus fort war - und sie musste einen Teil des Tages außer Haus verbringen, um den äußeren Anschein zu wahren -, schienen ihr diese Stunden, ja selbst Minuten, eine nutzlose Zeitverschwendung. Ständig sorgte sie sich um Moran. Nur bei dem Gedanken an ihn wurde ihr schon warm ums Herz. Er war so rührend, so fürsorglich, ein richtiger Mann. Sie schreckte hoch, als sie merkte, dass Beth mit ihr sprach. »Was hast du gesagt?«
»Nur, dass sich schon mal einer totgemischt hat.«
Emily teilte die Karten aus. »Tut mir leid. Ich habe nur was überlegt.«
Beim Spiel dachte sie weiter nach. Auf irgendeine Weise musste sie Dan aus der Stadt schaffen. Sie konnte nicht einfach dem Sheriff oder Hi erzählen, dass Dan Moran am Tod des Lageraufsehers und Jack Hayes' unschuldig war und nichts mit dem Überfall auf May Arnold zu tun hatte. Man würde sie fragen, woher sie das wusste. Und schließlich konnte sie ihnen ja nicht erklären: »Das hat er mir gestern Nacht gesagt. Versteht ihr, ich habe ihn die ganze Zeit seit dem vierten Juli in meinem Zimmer versteckt...«
Daraufhin hätte Sheriff Cronkite sie als Helfershelferin festnehmen und Hi sie zumindest in eine Irrenanstalt sperren lassen.
Als die Bridgepartie schließlich zu Ende war und sie ihren Tee getrunken und an ihrem Stück Kuchen geknabbert hatte, zwang sie sich - anstatt nach Hause zu eilen, wonach sich jede Faser ihres Körpers sehnte -, in der Stadt Verbandsmull und eine neue Rolle Leukoplast zu kaufen.
Der Drogist fragte interessiert: »Das junge Fohlen hat wohl immer noch Kummer mit seinen Fesseln, was, Miss Emily?«
Emily begnügte sich mit einer Halbwahrheit. »Es geht ihm besser, aber ich will sicher sein, dass es keine Infektion gibt.«
»Tja, das kann ich Ihnen nachfühlen.«
Sie wartete auf ihr Wechselgeld, als der FBI-Beamte hereinkam. »Mein Name ist Eagan«, erklärte er dem Drogisten. Dann wandte er sich an Emily. »Und Sie sind, glaube ich, Miss Hewitt.«
Etwas atemlos bestätigte Emily das. »Stimmt. Aber woher kennen Sie meinen Namen?«
Sie war erleichtert, als der Beamte von der Bundespolizei lächelte. »Der Bezirksstaatsanwalt hat Sie mir mal gezeigt.«
»Arbeiten Sie an dem Bankraub?«
»Ja, schon seit einer Woche. Es war nämlich eine Bundesreservebank.« Der Beamte richtete sein Augenmerk wieder auf den
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Gunard R. Hjertstedt/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Astrid Alexa Stange, Mechtild Sandberg, Christian Heinecke und Christian Dörge.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 12.01.2021
ISBN: 978-3-7487-7122-7
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