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Leseprobe

 

 

 

 

FRANK YERBY

 

 

Pirat und Gentleman

 

Roman

 

 

 

 

Apex Adventure, Band 5

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

PIRAT UND GENTLEMAN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

Kit Gerado, der unbesiegbare König der Seeräuber in den Gewässern des Karibischen Meeres, ist eine ebenso tollkühne wie ritterliche Erscheinung. Als Schrecken der Männer, als bewunderter Held der Frauen, so steht er auf der Kommandobrücke seiner Brigantine, unermüdlich auf der Suche nach seinem gehassten Gegner, dem spanischen Granden Luis del Toro, und nach der geliebten Frau, der heißblütigen Lady Rotkopf, die ihm an Kühnheit nicht nachsteht...

 

Der Roman Pirat und Gentleman des US-amerikanischen Autors Frank Yerby (* 5. September 1916 in Augusta, Georgia; † 29. November 1991 in Madrid, Spanien)  erschien erstmals im Jahr 1948; eine deutsche Erstausgabe folgte 1951. 

Pirat und Gentleman erscheint in der Reihe APEX ADVENTURE, in welcher Klassiker der Abenteuer-Literatur als durchgesehene Neuausgaben neu aufgelegt werden. 

   PIRAT UND GENTLEMAN

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Kein Wind an dem gigantischen blauen Himmelsbogen, hoch über der Karibischen See! Nur drunten, wo die Brecher wild übereinander stürzen, weißer Schaum die See bedeckt und Wasserdampf wie aus einer Küche emporsteigt, herrscht der heulende Sturm. Pfeifende Böen packen die schweren Wolken, die von Zeit zu Zeit wie überladene Lastschiffe niedersinken und in wenigen Augenblicken zerfetzt sind, zerrissen, aufgelöst in lose Strähnen, die der donnernde Wind mit Schaum und Gischt vermischt nach Lee weiterreißt – dorthin, wo die Brandung tosend an den Felsen der Isle de Vaches emporsteigt. Kuhinsel heißt das Eiland und schützt den südlichsten Hafen Saint Dominguez... Wer Kit Gerado auf der Taurolle an Deck sitzen sah, konnte einen Augenblick glauben, er bewege sich nicht. Nur einen Augenblick – dann musste er erkennen, dass der schlanke, aufrechte Körper des jungen Mannes unglaublich geschickt dem Stampfen und Rollen der Seaflower zuvorkam: so geschickt, dass es den Eindruck erweckte, er sei der einzig unbewegte Punkt in dieser wirbeligen Welt.   

Das dachte auch Bernardo Diaz, der sich mit großer Mühe durch Gischtwolken und heulende Böen nach vorne kämpfte. Noch hatte Bernardo den ersten Offizier der Seaflower nicht erreicht, als dieser plötzlich mit den sehnigen Fingern den Knoten seiner Schärpe löste, das Tuch von den Hüften zog und trotz des Sturmes ausgebreitet gegen seine Knie hielt. Bernardo hatte diese Geste schon oft gesehen; er seufzte verstohlen, denn er wusste, was sie bedeutete. Von seinem Standpunkt aus konnte er den schwarzen Reiher im goldenen Feld nicht sehen, das Emblem des Banners, das Christobal Gerado jetzt als Schärpe trug. Er wusste trotzdem, dass Kit es betrachtete; sie waren beide schon Freunde gewesen, als Kit den schwarzen Reiher zum ersten Mal sah. Und, wie damals, veränderte sich auch diesmal wieder Kits Gesicht; sein Mund wurde hart, seine Augen eisblau; die Knöchel am Handrücken traten weiß aus den geballten Fäusten heraus.

Der schwarze Reiher war schuld daran, dass sie an Bord dieses Höllenschiffes Seaflower leben mussten, dachte Bernardo traurig. Damals, ehe Kit die Standarte eroberte, flatterte sie lustig im Schein der Nachmittagssonne an der Lanze eines gepanzerten Kürassiers, der auf einem tänzelnden andalusischen Hengst saß und eine Prozession von Reitern durch die engen Straßen von Cádiz führte.

Cádiz – ach, Cádiz! –, weißummauerte Traumstadt, glänzende Perle am indigofarbenen Meer, Gewirr von niedrigen Häusern mit flachen Dächern und engen Straßen! Gab es das wirklich oder war es nur ein schlechter Streich der Phantasie? Und wer war Kit, der angeblich aus Cádiz stammte? Wer war dieser Junge, der fließend Kastilianisch sprach, obwohl seine Augen blau waren wie das Licht in einem norwegischen Fjord; dessen Haar nicht schwarz war, sondern ein goldenes Gespinst von Sonnenstrahlen?

Bernardo schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden, und stampfte wieder auf den jungen Offizier zu. Er sah seltsam genug aus, der konvertierte Jude Bernardo Diaz. Seine Schultern waren doppelt so breit wie die Schultern eines anderen Mannes, seine Arme unförmige Muskelknoten, sein Brustkasten einfach riesig – aber die Beine darunter waren dünne Spazierstöcke, krumm und schwächlich: Zwölf Jahre auf den Galeeren Seiner Katholischen Majestät König Philipps IV. von Spanien, und vier weitere Jahre auf den Galeeren des Kalifen der Berberei konnten einen Mann so entstellen. Jetzt, mit neununddreißig Jahren, sah Bernardo wie ein fünfzigjähriger Mann aus.

Er warf einen kurzen Blick über die nackten Masten der Seaflower, die vor dem Klüver und einem kleinen Sprietsegel am Wind lag – dann wieder auf den jungen Offizier.

»Neuigkeiten, Kit«, sagte er. »Schlechte Nachrichten! Die Männer in der Focksel toben!«

Kit zuckte die Achseln. »Weiß ich«, sagte er. »Meuterei liegt bei ihnen immer nur einen halben Strich von Recht voraus!«

»Heute liegt sie sogar Recht voraus«, erwiderte Bernardo. »Sie steuern geradewegs auf die Meuterei zu. Sie haben es einfach satt, und du kannst es ihnen nicht übelnehmen! Auf offener See mag es noch angehen; aber hier, zwei Meilen vor einem Hafen zu liegen und sich vom Wind in Stücke schlagen lassen – das ist mehr, als sie vertragen.«

»Und – wissen sie vielleicht nicht, warum?«, fragte Kit mit einem Unterton von Gereiztheit. »Wollen sie es mit einer Flotte von zwölf Kriegsschiffen aufnehmen?«

»Haben die Franzosen soviel im Hafen?«, sagte Bernardo erstaunt.

»Ja! Und für sie ist die Seaflower ein englisches Schiff. Ich wette, wir haben keine zehn Engländer an Bord; aber solange Lazarus das Kommando führt, gilt sie als Englisch. Und selbst wenn sie uns in Frieden ließen, weil wir keinen Union Jack im Mast führen – glaubst du im Ernst, sie dulden diesen Lepra-Kahn in ihrem schönen Hafen?«

»Lazarus!« Bernardo spie das Wort verächtlich aus. »Er ist die Wurzel von unserem ganzen Unglück! Weißt du, ich gebe ja zu, dass er seine verrottete Haut in keinem europäischen Lazarett mehr unterbringen kann – aber hier, in den Kolonien, gäbe es weiß Gott genug hübsche Plätzchen...«

Kits schlanke, gebräunte Hand tastete nachdenklich nach dem Spitzbart, der an seinem kräftigen Kinn saß. Er zupfte versonnen daran und betrachtete gleichzeitig Bernardos hageres, semitisches Gesicht. Der empfindsame Bernardo verstand den unausgesprochenen Vorwurf, der aus den zusammen gekniffenen Augen seines Freundes sprach; aber die Angelegenheit erschien ihm zu ernsthaft, um sich von Gefühlen bestimmen zu lassen.

»Schau her, Kit«, sagte er hartnäckig, »ich habe weiß Gott genug Mitgefühl mit dem armen Burschen und seiner schrecklichen Krankheit, die ihn bei lebendigem Leib auffrisst. Aber mit welchem Recht setzt er dich der gleichen Gefahr aus? Dich, und mich, und jeden Mann an Bord dieses Unglücksschiffes? Wer sind wir, dass wir sein Los auf Ewigkeit teilen – während die ganze übrige Welt ihn zum Teufel jagt, wo er immer erscheint?« Bernardo beugte sich näher, seine Stimme war drängend, überredend. »Lazarus ist ein alter Mann. Stell dir vor, du wärst der Kapitän der Seaflower...«

Kit wandte sich von ihm ab und starrte über die See auf den entfernten Hafen. »Wenn ich Kapitän wäre«, sagte er so langsam, dass seine Worte einzeln, granithart und ohne einen Funken Wärme herauskamen, »dann würde ich dieses Lepra-Schiff mitten in den Hafen von Cartagena hineinsegeln, über dessen Zitadelle das Banner des schwarzen Reihers flattert; und ich würde meinen Weg mit Kanonen und Flinten, Haus für Haus, durch die Straßen der Stadt freikämpfen, bis ich vor Don Luis’ Haustür stände, Bernardo! Du weißt, was das heißt! Unter Lazarus leben sie! Unter meinem Kommando würden sie wie Hunde sterben! Übrigens verdienen sie es nicht besser...« Bernardo blickte hinab auf die Schwingen des schwarzen Reihers, die sich über Kits goldener Schärpe ausbreiteten.

»Du kannst ihn nicht vergessen«, murmelte er. »Nicht wahr?«

»Vergessen – den Kerl?« Kit holte tief Luft. »Luis del Toro vergessen? Erst dann, wenn ich ihm mit eigenen Händen das Herz aus der Brust gerissen habe!«

Nun, ich werde ihn auch schwerlich vergessen, dachte Bernardo bitter. Don Luis ist ein Ungeheuer an Grausamkeit – ein wahrer Sohn des Übels, an dem Satan, sein Vater, sehr viel Wohlgefallen hat. Er hebt einen Finger, und schon besitze ich kein Land und kein Geld mehr. Warum? Weil ich als Jude geboren wurde. Er nickt mit dem Kopf, und eine Frau stirbt auf der Folter, ein Feigling nimmt sich selbst das Leben; und wir, Kit und ich, müssen um die halbe Welt fliehen auf einem Pestschiff, das von der ganzen Menschheit gemieden wird – so grauenhaft scheint es ihr... Er beugte sich wieder vor und bewegte die massigen Schultern. Was geht uns del Toro an, dachte er, del Toro spielt im Augenblick keine Rolle. Es geht um unseren eigenen, leprakranken Kapitän! 

»Sei doch einmal vernünftig, Kit!«, sagte er. »Du weißt so gut wie ich, was los ist. Du weißt, was geschieht, wenn wir an Land gehen! Selbst die alten Weiber von sechzig Jahren fliehen heulend vor uns. Man betrügt uns um unsere Beute: Kein Händler zahlt uns einen anständigen Preis – wir dürfen nicht einmal eine Rumkneipe betreten! Nein, wir sind keine Leprakranken, aber wir werden so behandelt: Kein Rum, kein Geschäft, keine Freudenmädchen! Gott im Himmel, Kit! Die Männer werden über kurz oder lang meutern, und wir beide werden im Kampf für Lazarus und seinen verrotteten Kadaver fallen. Wenn du aber Kapitän wärst...«

Kit betrachtete seinen Freund kühl.

»Wenn du Kapitän wärst«, fuhr Bernardo hartnäckig fort, »könnten wir nach Basse-Terre oder sogar nach Port de Paix hineinsegeln und würden stürmisch begrüßt. De Cussy wurde letztes Jahr in Cap Français umgebracht; seitdem hat Saint Dominguez einen neuen Gouverneur, den Sieur Ducasse, der Freibeuter liebt, weil er selbst einmal einer gewesen ist. Mann Gottes, überlege doch – selbst Laurens de Graff und Daviot, die schlimmsten Menschenschinder und Schlächter seit L’Ollonais, segeln in Port de Paix ein und aus, ohne dass ihnen jemand ein Haar krümmt!«

»So?«, sagte Kit.

Bernardo fuhr fort: »Warum sollte der Ehrenwerte Sieur Christophe Girodeux, gebürtiger Franzose, das nicht genauso gut tun?«

Kit lächelte: »Du weißt so gut wie ich, dass ich nur zur Hälfte Franzose bin. Mit demselben Recht kannst du mich Christobal Gerado nennen, den Bastard eines spanischen Granden! Oder, wenn’s gefällig ist, Kit, den englischen Seehund, für den mich die ganze karibische See hält.«

Bernardo lachte. »Meiner Meinung nach stammt Kit mit der goldenen Mähne von sämtlichen Nationen ab. Er kann sich sein Vaterland aussuchen.«

Kits glatte Stirne war nachdenklich gerunzelt. Er erinnerte sich noch genau an den Tag, als Lazarus in sein Leben eintrat; er trug eine Maske vor dem Gesicht, die den andern Menschen den Anblick des lebendigen Todes ersparte. Seine Finger waren totenweiß und schrecklich geschwollen – ohne Nägel, von der Lepra abgefressen am zweiten Glied. Kit, der Furchtlose, lehnte an der Tür und wartete darauf, dass es den Fingern gelänge, die Maske des Todes zu lösen. Sie fiel plötzlich, und Kit blickte in etwas, was ihm wie das Antlitz eines uralten Löwen erschien: die Nase übermäßig groß, aufgetrieben und mit kleinen Auswüchsen besetzt, die Stirn zerklüftet und faltig, die Wangen lose herabhängend, mit grässlichen weißen Flecken, die Ohren dick und über alle Maßen verlängert.

Die blauen Augen unter den zerklüfteten Brauen hatten ihn einen Augenblick unendlich traurig angeblickt; dann flammte jäh Wut in ihnen auf.

»Ich bin ein Mann, dem man gehorcht, Bursche!«, brüllte Lazarus, »nicht ein Mann, den man angafft!« Das war der Anfang gewesen. Kit wusste seitdem um Lazarus’ Einsamkeit und um sein geheimes Grauen. Er hatte auch erfahren, bei mancher Gelegenheit, dass Lazarus ein freundlicher und großherziger Mann war; dass nur die Krankheit ihn deformierte. Er blickte Bernardo an.

»Nein«, sagte er freundlich und bestimmt. »Ich heiße den Mord an einem alten Mann, den das Schicksal zerbrochen hat, nicht gut! Lazarus ist immer anständig zu mir gewesen!«

»Wer spricht denn von Mord?«, fragte Bernardo. »Es gibt Tausende von Inseln in dieser See, auf denen ein Mann friedlich sein Ende erwarten kann – im Sonnenschein, mit Früchten und Fischen, die ihn ernähren; sogar Geflügel, wenn er eine Jagdflinte hat. Wer hindert uns, ihm eine junge, heißblütige Negerin oder Karibin zu kaufen, die seine alten Knochen erwärmt. Es wäre ein Segen für ihn.«

Kit runzelte die Stirn: »Ich wundere mich immer wieder darüber, wie höflich eine geschickte Zunge das Wort Verrat umschreiben kann«, knurrte er. »Nein, Bernardo – kein Wort mehr! Schluss damit!« Er wandte sich ab.

Der Wind kam aus Osten und zerrte an den Palmen von Hispaniola, die vor ihnen am Ufer standen. Mitunter riss er die Krone einer Palme ab und warf sie in die kochende See. Die schwere Dünung unter den Brechern bewegte sich träge und unerbittlich, als ob die See aus dickem Zuckersirup bestände; hin und wieder krachten Tonnen weißen Wassers wuchtig gegen das Heck der Seaflower. Die Brigantine lag, nur von Klüver und Sprietsegel gehalten, mit Westkurs vor dem Sturm, sodass ihr schmales Heck die Kanonenschläge der See aushalten musste. Sie glitt dahin, bald durch tiefe, graue, ölige Wassermulden, die sie bis zu den Masten verschluckte; stieg dann jäh zum Himmel empor, Bugspriet und Klüverbaum fast senkrecht nach oben gerichtet, und hing minutenlang in dieser verzweifelten Stellung zwischen der See und dem blauen Himmel – bis eine neue Laune des Sturmes sie wieder nach unten schickte.

Es geschah in einem solchen Augenblick, dass eine kleine Gruppe von Männern sich schwerfällig von der Focksel löste und gegen den Sturm auf Lazarus’ Kabine zusteuerte. Augenblicklich war Kit auf den Füßen und glitt mit der geschmeidigen Bewegung einer Pantherkatze in die Kajüte des kranken Kapitäns, um ihn über den Ausbruch der Meuterei zu unterrichten. Der alte Mann blickte seinen Offizier aus grauen Augen an, als dieser die Tür aufriss und in die düstere Kajüte stürmte.

»Was ist los, Kit?«, fragte er. »Warum rennst du so?«

»Die Männer...«, sagte Kit, ein wenig aufgeregt.

»Meuterei?«, brummte Lazarus. »Erwarte ich schon lange! Na, Kit, wie ist’s – sollen wir sie niederschlagen?«

Kit blickte ihn erstaunt an. »Sollen wir sie niederschlagen?«, wiederholte er erstaunt. »Gibt es irgendeinen Zweifel darüber?«

»Ja, Kit,« sagte Lazarus bedächtig, »allerdings gibt es einen Zweifel. Wenn ich nämlich sterbe, wirst du Kapitän von diesem Schiff. Ich frage mich schon seit einiger Zeit, ob ich das Recht habe, dir den Weg zu versperren. Wofür? Nur für den Genuss dieses fragwürdigen Daseins? Was für ein Recht, Kit, habe ich noch, mich an dieses Leben zu klammern?«

Kit sah seinem Kapitän offen in die Augen.

»Nicht um diesen Preis, Sir!«, sagte er mit fester Stimme.

»Guter Junge, Kit, guter Junge! Hätte gerne einen Sohn gehabt, der so war wie du! Ist aber im Augenblick unwichtig. Immerhin – du hast meine letzten Lebensjahre besser gemacht als ich hoffen durfte.« Er erhob sich schwerfällig. »Na schön, wollen wir es den Schweinen mal zeigen! Mir gleich, wie es ausgeht.«

»Lassen Sie mich ran, Sir«, sagte Kit wild. »Höchste Zeit, die Burschen bekommen eine Lektion von mir, die sie nie wieder vergessen!«

»Ruhe, Kit«, brummte Lazarus, »Ruhe!« Seine unförmigen Finger griffen nach der Maske. »Du kannst mit ihnen abrechnen, wenn du selber Kapitän bist!«

»Glauben Sie wirklich, dass ich jemals Kapitän werde? Wenn Sie über Bord gehen, Sir, springe ich Ihnen nach. Ich habe das Gesindel zum Angriff über die Reling von zwölf spanischen Galeonen geführt – und was haben die Kerls dabei gelernt? Nichts! Sie beneiden mich immer noch, dass ich Offizier bin. Höchste Zeit, dass sie meine Faust einmal spüren!«

»Schon recht«, sagte Lazarus gutmütig, »sie sollen sie spüren, Kit! Bist du bewaffnet?«

»Ja«, knurrte Kit und wies auf die Griffe seiner Pistolen. »Wir töten sie nicht, wenn sie uns nicht dazu zwingen«, sagte Lazarus. »Viel besser, sie ohne Gewalt zu unterwerfen. Aber das hier ist gut für alle Fälle...« Er nahm eine Entenfuß-Pistole in die Hand. Kit betrachtete die merkwürdige Waffe. Vier Rohre, die fächerförmig auseinanderliefen, sodass man das ganze Deck eines Schiffes damit bestreichen konnte. Nur ein Hahn mit Flintstein, der auf einen Fingerdruck hin alle vier Rohre gleichzeitig löste. Lazarus stopfte eine Überladung Pulver in jedes Rohr und ein halbes Dutzend Sauposten darauf. Ein Schuss aus dieser Handkartätsche, dachte Kit, und das ganze Deck ist reingefegt. »Eine Erfindung des Königs George«, erklärte Lazarus, »gedacht als Spezialwaffe gegen Straßenpöbel. Vielleicht nimmst du diese Donnerbüchse herunter, sie ist genauso gut wie der Entenfuß! Brauchst keine Angst zu haben, Kit. Sie ist gereinigt worden, seit ich sie dorthin gehängt habe.«

Kit nahm die überschwere kleine Waffe vom Nagel, die einen Gewehrschaft hatte, obwohl sie nicht länger als eine Reiterpistole war. Die trichterförmige Mündung war glänzend poliert. »Lade sie mit gehacktem Blei«, wies ihn Lazarus an. »Ein Drittel des Gewichtes Pulver. Sie schlägt aus wie ein spanisches Maultier! Aber wenn wir beide schießen, bleibt keine Seele an Deck übrig.«

Kit lud die Waffe und blickte unentwegt nach der Tür. Lazarus sah seine Blicke und schüttelte den Kopf. »Sie wagen nicht, hier einzubrechen«, sagte er kurz. »Müssten einer nach dem anderen hereinkommen, und wir könnten sie nacheinander abstechen. Die Kerls wissen Bescheid – sie erwarten uns an Deck.«

Kit erhob sich, die hässliche Donnerbüchse schussbereit über dem Arm. »Noch ein Wort, Kit«, sagte Lazarus. »Wenn das Theater vorüber ist, setzen wir Segel nach Port Royal.«

Kit hob erstaunt die Brauen: »Jamaika? Warum das?«

»Will auf englischem Boden an Land gehen. Liefere mich selbst den Engländern aus, während ihr weiterfahrt. Halt jetzt das Maul, Junge! Ich weiß so gut wie du, dass Engländer und Spanier im Augenblick ein verdammtes Bündnis gegen Frankreich geschlossen haben. Will trotzdem nicht auf irgendeiner einsamen Insel ausgesetzt werden. Das verdammte Bündnis dauert nicht mehr lange. Ich habe mehr spanische Galeonen versenkt als irgendein Engländer seit Drake. Bündnis hin und her, meine Landsleute fühlen wie ich. Blut ist dicker als Tinte! Außerdem«, sein Lächeln wurde schief, »sie finden ja gar keinen Henker, der es wagt, mir den Strick um den Hals zu legen.«

Kit blickte finster. »Wollen Sie das wirklich, Sir?«

»Wirklich, Kit! Hab’ die See und das Kämpfen satt. Du bist jetzt an der Reihe! Los, geh’n wir!«

Sie traten hintereinander durch den Kajütengang auf das schwankende Deck. Die Matrosen hatten den Eingang zur Kabine in einem Halbkreis umstellt. Ihre Gesichter waren dunkel und drohend. Nur Bernardo hielt sich abseits von ihnen, die Pistolengurte kreuzweise über den breiten Schultern. Als Kit und Lazarus das Deck erreicht hatten, glitt Bernardo schweigend zu ihnen. Kit vermerkte es mit einem spöttischen Lächeln.

»Hab ich dich jemals im Stich gelassen?«, fragte Bernardo halblaut.

»Nie«, erwiderte Kit. »Ich wusste von Anfang an, dass du mitmachst!«

»Du hast eine gute Chance, jetzt mit ihm zu sterben, Jude!«, sagte Lazarus. Dann, zu den Männern gewandt: »Singt euer Lied, Burschen, und sagt euern Vers auf! Macht es ein bisschen kurz! Wir sind nicht neugierig.« Tim Waters, ein verschrumpelter kleiner Engländer, trat vor; ein Hieb mit dem Cutlass hatte ihm einmal das Gesicht gespalten, ein Auge ausgeschlagen und die Lippe aufgerissen; seit dieser Zeit zeigten sich seine hässlichen gelben Zähne dauernd in einer Art widerlichem Lächeln.

»Hören Sie, Cap’n«, begann er, »wir haben darüber nachgedacht, die Männer und ich...«

»Mag eine schöne Schweinerei dabei herauskommen, wenn ihr nachdenkt«, knurrte Lazarus, »sprich weiter!«

»Schauen Sie her, Cap’n – Sie müssen doch selbst zugeben, dass da etwas nicht stimmt. Wir liegen mitten im Orkan, und keine drei Meilen entfernt, auf Steuerbordseite, wartet der beste Hafen der Welt!«

»Richtig! Und in dem besten Hafen der Welt warten zwanzig französische Schiffe, bis an die Zähne bewaffnet – Fregatten, Korvetten, Brigantinen, Sloops, was weiß ich. Willst du’s mit denen aufnehmen, Tim?« Tim Waters kratzte mit dem hornigen Fuß über das Deck. »Ach, die Franzosen«, sagte er listig, »die haben ja gar nichts gegen uns Freibeuter. Die Froschesser sind ganz nett, wenn man nur ihre Sprache versteht. Nun, und wir haben uns gedacht, wenn die Seaflower die französische Flagge setzt und mit dem Lilienbanner in den Hafen segelt...«

»...und mit Lazarus als Kapitän, der mehr als dreißig französische Schiffe versenkt hat? Habt ihr euch das auch überlegt?«

Waters zögerte, verzerrte sein narbiges Gesicht zu einem hässlichen Lächeln und warf einen Blick auf seine Kameraden.

»Ich und die Männer, Sir«, stieß er plötzlich aus, »stellen uns vor, dass Sie vielleicht Vernunft annehmen, wenn man Sie darum bittet. Nehmen Sie mal an, Dupre übernehme das Kommando« – er nickte einem vierschrötigen Gaskogner zu – »na, also, ich will gehängt sein, wenn die Froschesser uns nicht wie Brüder aufnehmen. Wir könnten Sie in der Segellast verstecken, Sir, irgendwann später an Land setzen. Na, und dann gehen Sie eben in die Berge. Leben wie ein König in den Bergen – zwanzig schwarze Dirnen, die Ihnen jeden Wunsch an den Augen ablesen...«

»Ganz schön«, sagte Lazarus ruhig. »Und wenn die Franzosen an Bord kommen und das Schiff durchsuchen? Dann überliefert ihr mich ihnen in Ketten, nicht wahr?«

Waters warf wieder einen unsicheren Blick über die Schulter. Ein ärgerliches Murmeln erhob sich unter den Männern. Kühn gemacht, trat Waters noch einen Schritt näher an den Lepra-Kapitän und grinste hinterlistig.

»Also, wenn Sie keine Vernunft annehmen wollen, Cap’n«, sagte er, »dann hilft ja alles gute Zureden nichts!«

Kit konnte sehen, dass die Matrosen sich zum Sturm bereitmachten. Er trat vor und richtete die Mündung der Donnerbüchse auf sie.

»Ich glaube«, sagte er mit seiner klaren, ruhigen Stimme, »ich bekomme langsam Lust, die Hälfte von euch über den Haufen zu schießen«

»Und ich die andere Hälfte!«, knurrte Lazarus und senkte den Entenfuß.

»Und wenn ihr einen übriglasst«, lachte Bernardo, »dann kriegt er von mir einen Schuss in die Gedärme!« Die Männer hielten inne, wie vor einer hohen Mauer. Kit sah, wie ihre Augen angstvoll von der Trichtermündung der Donnerbüchse zu den tiefschwarzen Eulenaugen des Entenfußes wanderten, und von dort zu den zierlichen Duellpistolen, die Bernardo schussbereit in der Hand hielt.

»Nun hören Sie doch mal zu, Cap’n...«, sagte Waters unsicher.

»Du hirnloser Halunke – du Straßenköter!«, sagte Lazarus langsam, »glaubst du im Ernst, dass du es mit Captain Lazarus aufnehmen kannst?«

»Nein, Cap’n, nein!«, winselte Waters. »Sie sind im Irrtum: Wir wollten Ihnen bestimmt nichts tun! Mein Gott, glauben Sie mir doch! Die Männer und ich wollten Sie nur ein bisschen fesseln. Kein Angriff auf Ihr Leben!«

Lazarus hellblaue Gletscheraugen lagen immer noch auf Waters Gesicht. Sie waren eiskalt – plötzlich aber glomm ein kleines Feuer in ihnen auf.

»Ja, Tim, wenn ich es bedenke, dann hast du es eigentlich gut mit mir gemeint! Kein Anschlag auf meine Person, auf mein Leben. Zärtlich wie ein Blutsbruder!« Er griff mit seiner entstellten Hand zu Kit hinüber und flüsterte: »Dein Dolch, Kit.« Der Offizier reichte ihm die Waffe.

»Bei den Kariben gibt es eine Zeremonie«, sagte der Kapitän ruhig, »mit der sie Blutsbrüderschaft machen. (Halt sie im Auge, Kit!) Sehr interessante Zeremonie!« Er zog den Dolch mit der Spitze über sein Handgelenk; Blut quoll aus dem Schnitt hervor. »Jetzt du, Tim«, sagte er höflich, »streck deine Hand aus – ehrlicher, treuer Seekamerad!«

Waters war hilflos; sein Gesicht wurde grau, seine Stimme murmelte, ohne dass er ein verständliches Wort herausgebracht hätte. Das gesunde Auge quoll beinahe heraus, als er die unförmige Hand des Kapitäns anstarrte, aus der immer noch dicke Blutstropfen quollen. Langsam sank er auf die Knie.

»Cap’n«, stöhnte er, »bei der Gnade unseres Heilands Jesus Christus...«

Aber Lazarus näherte sich ihm unaufhaltsam. Der Mann sank zusammen in sich; er war nicht viel mehr als ein Bündel Angst, ein zu Tode erschrockenes Tier. Die wüste Pranke des Lepra-Kapitäns schoss vor und fasste das linke Handgelenk des Seemannes. Vergeblich suchte Waters sich freizumachen; diese Stummelfinger verfügten über eiserne Kraft. Der Dolch in der Hand des Kapitäns schlitzte die Haut seines Unterarmes; langsam, leidenschaftslos drückte der Kapitän seine blutende Hand gegen die des Matrosen. Das Blut vermischte sich und tropfte auf Deck. Plötzlich ließ Lazarus los und lächelte die Mannschaft der Seaflower höflich an.

»Die Waffen auf Deck, Jungens«, sagte er, »aber schnell! Heute gibt’s keine Meuterei! Auf drei... Eins...«

Pistolen und Haumesser klirrten auf Deck. Kit starrte die Männer an; er fühlte sich schwach im Magen.

»Alle Mann zurück in die Focksel!«, brüllte Lazarus plötzlich. Die Männer rannten wie gepeitschte Hunde nach dem Vorschiff.

Waters erwachte aus seiner Betäubung, erhob sich von Deck und stolperte ihnen nach. Seemannsmesser flogen aus den Hüftentaschen und glitzerten vor seinen Augen. »Fort von uns!«, brüllten die Männer. »Du hast die Lepra!«

Waters starrte sie entgeistert an; Tränen liefen aus seinem gesunden Auge über sein Gesicht. »Männer«, quäkte er, »Kameraden! Um der Liebe unseres Heilands Jesus Christi willen – ich habe mit euch gekämpft... Habe mit euch aus einer Schüssel gegessen.«

Ein bärtiger Mann knurrte trocken: »Das hast du – aber du wirst es nie wieder! Geh zu deinem Blutsbruder! Geh zu Cap’n Lazarus!«

»Ja, Tim«, sagte Lazarus sanft, »komm zu mir! Ich zeige dir, wie es ist, wenn man bei lebendigem Leib verrottet. Bei mir lernst du, was ein Mann fühlt, dessen Finger Glied um Glied abfaulen, bis er nur noch Pranken hat. Gar nicht schlimm, ganz schmerzlos. Kannst deine Hand in eine Kerze halten und lachen, wenn die Haut verkohlt. Dauert lange, Tim, sehr lange. Und die ganze Welt gegen dich – jeder betet für deinen Tod. Kannst mit mir an Land geben und erleben, wie die verkommenste Hure von Basse-Terre, halbblind von der Syphilis, heulend wegrennt, wenn sie dich sieht! Ja, Tim, so ist es, nicht anders! Komm, Leprabruder!«

Waters schrie auf wie ein Tier. Er hob einen Augenblick verzweifelt die Hände zum Himmel und warf sich dann auf seine Schiffskameraden.

»Ihr dreckigen Schweine«, schrie er, »ihr...!«

Es waren seine letzten Worte. Kit sah, wie der bärtige Mann in sein Hemd griff und eine verborgene Pistole herausriss. Waters war ihm so nahe, dass seine Jacke von dem Schuss Feuer fing; er fiel, plötzlich ohne Knochen, wie ein Bündel auf Deck, streckte sich noch einmal im Todeskampf und blieb verzerrt liegen.

Lazarus schüttelte bedauernd den Kopf. »Na, na«, fragte er, »und wer schmeißt ihn jetzt über Bord?« Es war offenbar, dass niemand es wagte.

»Lass das Schwein liegen«, knurrte der Schwarzbärtige.

»Ja«, sagte Lazarus, »das ist richtig. Lasst ihn liegen, bis er verwest und der Wind die ganze Focksel mit dem Gestank seines Kadavers füllt. Na Jungens, ich glaube, ich bin nicht mehr lange der einzige Leprakranke an Bord.« Er ging in seine Kajüte zurück. Kit folgte ihm.

»Nimm das Ruder«, sagte Lazarus. »Kurs nach Jamaika! Die Burschen hatten ihre Lektion.«

»Aber was machen wir mit Tim«, fragte Kit entsetzt.

»Schmeiß ihn heute Nacht selbst über Bord! Lass ihn aber den ganzen Tag vorne liegen. Wird ihnen gut tun! Vergessen es nicht – bis zu ihrem Lebensende.«

Kit ging hinauf zur Pup und legte die Seaflower auf Westkurs. Die Männer auf dem Vorschiff starrten fassungslos den Körper von Tim Waters an. Den ganzen Tag liefen sie vor Spriet und Klüver nach Westen ab; in der Nacht wurde auch noch das Sprietsegel geborgen. Aber der Sturm war so gewaltig, dass sie trotzdem anderntags die Küste von Jamaika vor sich sahen.

Als die Männer entdeckten, dass Tims Körper über Nacht verschwunden war, zeigten sie sich willig bei der Arbeit. Die Seaflower glitt auf den Hafen von Port Royal zu. Kurz vor der Einfahrt stieg Bernardo als Ausguck in den Mars. Er war noch nicht lange oben, als sie seine donnernde Stimme vernahmen: »Hart Backbord! Hart Backbord, schnell, um Gottes willen!«

So dringlich klangen seine Worte, dass Kit ohne eine Frage nach dem Grund hart Ruder legte. Die Seaflower war ein gutes Schiff. Sie gehorchte auf der Stelle und drehte in einem schäumenden Halbkreis über Backbordbug auf Gegenkurs. Ihr guter Trimm rettete ihnen das Leben. Ein langsames Kauffahrteischiff wäre der hohen Sturzwelle, die plötzlich aus dem Nichts erschien, nicht entkommen. Es hätte quer zur See gelegen, wäre entmastet worden und rettungslos kapseist. Aber die Seaflower lag schon auf Gegenkurs, als der furchtbare Schlag das Achterschiff traf.

Für eine Zeit ertrank die Welt Kits in einem schäumenden Wassergebirge, das den Himmel auslöschte und mit dem Getrommel eines Weltuntergangs über ihn und die Brigantine hereinbrach. Auf der kleinen Ruderplattform stehend, nur von der geschwungenen Reling geschützt, erhielt er mit voller Wucht den Nachschlag der Grundsee, der ihn platt auf Deck warf. Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein erster Blick auf das Ruderholz, das steif und unbewegt war, als triebe die Seaflower in einer tödlichen Windstille. Kit prüfte seine Muskeln, zog sich am Ruder hoch und schüttelte verwundert den Kopf. Eine Welle, dachte er, eine ungeheure Welle; aber woher...? Er blickte sich um. Die halbe Mannschaft der Seaflower stand auf den achteren Aufbauten und starrte nach Port Royal. Kit rief einen der Männer an und übergab ihm das Ruder.

Hinter der Seaflower war das Wasser glatt, kaum von einer Dünung geschwellt; ein leichter Wind blies von See her in die Bucht. Am Ufer stand ein ungeheurer Rauchpilz über dem, was vor Zeiten einmal die Stadt Port Royal gewesen war – ein ungeheurer Rauchpilz, dessen Säule so breit war wie die ganze Stadt. Er erhob sich so hoch, dass sein Schirm den Himmel zu berühren schien. Kit konnte auch die roten Flammenzungen sehen, die den Qualm nährten. Plötzlich löste sich eine zweite Welle vom Ufer, kleiner und schwächer als die erste. Als sie auf das Schiff zuraste, mit einem hohlen, gurgelnden Gebrüll, sah Kit die letzten Häuser von Port Royal wie betrunken von einer Seite zur anderen taumeln und schwerfällig zusammenbrechen. Die Woge war kaum vorbei, als etwas Neues geschah, etwas ebenso Furchtbares: Auf der linken Seite der Stadt öffnete sich ein Berg an seiner Spitze. Noch ehe sie recht begriffen hatten, zerriss er in zwei Hälften – eine Last von ungeheuren Felsen über die Stadt ergießend. Kit sah die zollgroßen Gestalten der Menschen von Port Royal, die wie aufgestörte Ameisen hin und her rannten, während die Erde unter ihren Füßen kreiste; er sah, wie einige von ihnen von gähnenden Abgründen verschlungen wurden, die sich öffneten und im nächsten Augenblick wieder schlossen. Von dem festen Deck der Seaflower betrachtet, war dies alles merkwürdig friedlich, unwirklich – mehr ein Traum als ein wirkliches Schauspiel. Es dauerte geraume Zeit, bis er begriff, dass eine Stadt vor seinen Augen unterging.

Als Kit sich umwandte, sah er Captain Lazarus, der aus seiner Kajüte trat.

»Was ist denn los, Kit«, fragte er.

»Ich glaube, Sir«, erwiderte Kit mit einem Versuch, ruhig zu erscheinen, »dass Sie in diesem Hafen wohl keine königlichen Beamten mehr finden werden, denen Sie sich ausliefern können. Sehen Sie doch!«

Lazarus Augen folgten Kits Zeigefinger. »Gott und Heiland!«, stieß er hervor. »Was ist das?«

»Erdbeben, Sir«, sagte Bernardo, »Erdbeben, verbunden mit Seebeben. Habe bereits ein Erdbeben in Italien erlebt. Nicht zu vergleichen mit dem, was hier geschieht!«

Kit griff plötzlich nach der Reling und fixierte eine Ecke des Hafens. Eine spanische Galeone erschien hinter einer Landzunge, durchbrach den Qualm- und Dampfgürtel der Küste und gewann die offene See. Es war eine jener verrückten, geradezu perversen Folgeerscheinungen der Machtpolitik des ausgehenden 17. Jahrhunderts, dass ein spanisches Schiff ungestraft einen Hafen benutzen konnte, der den Nachfolgern von Drake, Hawkins und Henry Morgan gehörte. Aber die wachsende Macht des vierzehnten Ludwig von Frankreich hatte ganz Europa, darunter auch traditionelle Erbfeinde, zu einem Bündnis gegen Frankreich zusammengeschweißt; das dekadente Spanien war, trotz seiner riesigen Besitzungen in der neuen Welt, nichts mehr, was eine europäische Macht zu fürchten hatte. Zumindest nicht unter einem König wie Karl dem Verhexten. Kit wandte sich zu dem dritten Offizier des Schiffes, einem abtrünnigen Spanier namens Patricio Velasco.

»Lass Segel bergen, Pat«, sagte er halblaut.

Patricio schickte die Männer in den Mast. Die Segel der Brigantine wurden aufgegeit, das Schiff verlor rasch an Fahrt.

»Klarschiff zum Gefecht«, sagte Kit. Die Horde schmutziger, halbnackter Bukanier strömten über Deck, die Kanonen wurden ausgerannt; Teerlunten flackerten hinter jeder Kanone auf.

Kit verfolgte aufmerksam den Kampf des spanischen Schiffes mit der kochenden Brandung. Es durchbrach sie und kam heran, majestätisch, gewaltig. Fast spielend überholte es die Seaflower. Kits Hände, die die Reling umklammerten, wurden plötzlich weiß vor Anstrengung. Bernardo und Patricio neben ihm hielten den Atem an. Der Spanier musste viel näher kommen, bevor die leichten Kanonen der Seaflower irgendeine Wirkung auf seinen massiven Bau ausüben konnten. Er glitt näher, aufreizend langsam: ein riesiger Ozeanbeherrscher, der einen winzigen Zwerg überholte. Warum schießen sie nicht, fragte sich Kit. Es war, als verachte der Spanier seinen Gegner – als weigere er sich, Kenntnis von seinem Dasein zu nehmen. Kits Lippen wurden dünn und hart unter dem hellblonden Bart.

Er fühlte plötzlich Bernardos große Hand an seinem Arm, einen stählernen Griff. Kit sah sich erstaunt nach ihm um. Aber Bernardo zeigte wortlos auf den Wimpel, der unter der spanischen Flagge am Mast wehte. Es war ein einfaches Emblem: ein schwarzer Reiher auf einem goldenen Feld. Der Anblick betäubte Kit einen Augenblick; dann packte Freude sein Herz und das Blut in seinen Adern begann zu kochen – Don Luis del Toros Banner!

»Sein Schiff!«, flüsterte er heiser. »Sein Schiff! Bei allen Heiligen, Bernardo, ich will seine schmutzigen Knochen in die See werfen, bevor die Nacht kommt!« Bernardos dunkle Augen wurden schmal. Er betrachtete die Galeone genau, ließ keine Einzelheiten ungeprüft. »Ich glaube, du greifst sie lieber nicht an, Kit!«, sagte er vorsichtig. »Es ist keine echte Galeone, obwohl sie so aussieht. Eher ein Linienschiff, möchte ich sagen – mindestens hundert Kanonen!«

»Kümmere dich nicht um ihre Kanonen!«, schnarrte Kit ihn an. »Gott verdamme das Schiff und seine Kanonen! Ich greife an! – Hart Backbord!«, brüllte er zum Rudergänger.

Die Seaflower legte sich über und lief im spitzen Winkel auf das Linienschiff zu.

»Drei Strich Steuerbord«, schrie Kit nach einer Weile. Wieder veränderte die Seaflower ihren Kurs und lief jetzt parallel zu der Galeone – bereit zu einem laufenden Gefecht.

»Klar zu einer Breitseite!«, befahl Kit. Die Kanoniere beugten sich über ihre Kanonen, die Gesichter bleich vor Furcht.

Bernardo sagte nichts. Er wusste, dass eine Breitseite aus den Riesenkanonen des Spaniers die kleine Brigantine klar aus dem Wasser heben würde. Aber er wusste auch, dass im Augenblick niemand Kit aufhalten konnte.

Kit hob die Hand, um das Feuersignal zu geben. Aber die Hand fiel nicht – sie schwebte in der Luft, unentschlossen, während ihr Besitzer das seltsame Schauspiel auf dem Oberdeck des Spaniers verfolgte. Das war kaum eine Pistolenschussweite von der Backbordseite der Seaflower entfernt; alles, was auf Deck geschah, war deutlich zu erkennen. Sogar das heisere Gelächter der Spanier drang durch den Wind hindurch zu ihnen. Kits Hand fiel nicht – er senkte sie langsam, Zoll um Zoll, ohne Feuererlaubnis zu geben. Denn auf dem Oberdeck des Spaniers schwankte, schlank wie eine Weidengerte, die weiße Gestalt einer Frau. Kit hing weit über der Reling und verfolgte mit offenen Augen den Kampf der nackten Gestalt mit den zerlumpten Spaniern, deren Kleidung offenbar durch das kombinierte See-Erdbeben schwer gelitten hatte. Er sah alles – wie sie wegzulaufen versuchte, wie sie wieder gefangen wurde, wie die braunen Finger der Spanier ihre goldenen Haare packten und ihren Kopf nach hinten rissen, bis er außer Sicht kam, weil ein hakennasiger, schwarzbärtiger Seemann sich über sie neigte.

»Hunde und Hundesöhne!«, wütete Kit. »Gebt mir eine Muskete!« Ein Seemann sprang nach achtern und brachte ihm die schwere, unförmige Waffe. Kit strich den Lauf am Pfosten der Lee-Reling an und zielte sorgfältig. Aber ehe er feuern konnte, riss die Frau sich wieder los. Ihre Hand griff nach dem Spanier, fuhr empor und zeigte einen Augenblick den glänzenden Stahl des Dolches, den sie ihm entrissen hatte. Im nächsten Augenblick fuhr der Dolch nieder und versank bis zum Griff in dem nackten, schneeigen Halbrund ihrer entblößten Brust. Kit sah, wie sie langsam auf Deck sank – sah es in einem Schleier bitterer Wut, der die Welt vor seinen Augen verschwimmen ließ. Dann wurde sein Blick wieder scharf und er krümmte den Finger. Der Rückschlag der Waffe warf ihn beinahe zu Boden; der Spanier auf dem anderen Schiff rollte schreiend über Deck. Die Kugel hatte ihm den Unterkiefer abgerissen.

Erst jetzt schienen die Spanier die Brigantine zu bemerken und rannten zu ihren Kanonen. Aber Kit hatte wieder seine Hand gehoben, und diesmal ließ er sie fallen. Alle Stücke der Seaflower lösten sich gleichzeitig, Himmel und See schienen plötzlich erfüllt von dem Gebrüll der Kanonen. Aber als der Rauch sich gelichtet hatte, schien es, als habe die Breitseite der Seaflower den Spanier kaum berührt; nur eine Reihe von toten Seeleuten verriet, dass das Feuer der Brigantine nicht ganz umsonst gewesen war. Im nächsten Augenblick ergoss sich ein wütender Hagel von Schüssen aus den kleineren Waffen des Spaniers: aus Feldstücken, Feldschlangen, Falkonetts, Schwenkgeschützen, Rabinetten und Minenwerfern.

Das Kleinfeuer summte durch die Takelage der Seaflower und richtete wenig Schaden an. Aber Kit wusste, dass der Spanier in der nächsten Minute eine Breitseite abfeuern und die ungeheure Feuerkraft seiner Vierundsechzigpfünder zum Tragen bringen würde. Zwei oder drei Treffer konnten genügen, um die Seaflower auf ebenem Kiel absaufen zu lassen. Er rannte zum Rudergänger und schrie gleichzeitig Kommandos für die seemännische Besatzung unter dem dritten Offizier. Die Matrosen backten die Segel, sodass die Seaflower an Fahrt verlor. Sie blieb hinter dem Spanier zurück und glitt aus dem Feuerbereich seiner Breitseite. Als der Klüverbaum frei vom Stern des Spaniers zeigte, wurden die Segel wieder gesetzt und das Ruder herumgeworfen. Wieder legte sich die schlanke Brigantine nach Backbord über und segelte hart im Kielwasser unter der Galeone hindurch; auf diese Weise war das große Schiff wehrlos: Es konnte nur mit leichten Heckgeschützen arbeiten, während der Seaflower die gesamte, noch nicht benützte Steuerbordartillerie zur Verfügung stand.

In diesem Augenblick erschien Lazarus wieder auf Deck. Er warf einen flüchtigen Blick umher und nickte. »Gut gemacht, Kit«, sagte er. »Aber da du den Spanier weder entern noch versenken kannst, scheint es mir richtiger, wenn wir ablaufen.«

»Niemals!«, sagte Kit hitzig.

Lazarus lächelte wieder. »Sei vernünftig, Kit«, sagte er. »Was für eine Chance hat eine Brigantine gegen ein Linienschiff?«

»Dieses Schiff«, erklärte Kit, »segelt unter dem Banner eines Mannes, den ich hasse. Ich habe einen Schwur geleistet, ihn zu töten.«

»Deinen Schwur wirst du ein anderes Mal halten müssen!«, erwiderte Lazarus ruhig; »im Augenblick besteht mehr Aussicht, dass er dich tötet.«

Kit wollte protestieren; doch im gleichen Augenblick begannen die Männer auf seinem Vorschiff wild zu schreien. Er rannte zur Back, gefolgt von Bernardo und Lazarus. Ein ganzes Knäuel von Matrosen drängte sich an der Klüver-Reling zusammen und zeigte aufgeregt auf das himmelhohe Heck des Spaniers. Kit starrte hinauf und riss erstaunt den Mund auf.

»Heilige Mutter Maria!«, sagte er halblaut, »haben die Burschen alle Weiber von Port Royal an Bord genommen?«

Auf dem hohen Pup des Spaniers wand sich eine andere schlanke Gestalt in den Armen eines breitschultrigen Hidalgos. So nahe waren sie der spanischen Galeone, dass Kit deutlich die Ähnlichkeit zwischen ihr und dem Mädchen, das unter den Händen der spanischen Matrosen gestorben war, erkennen konnte. Nur das flammendrote Haar, leuchtend wie die Abendsonne, das in einer wilden Mähne über ihre Schultern strömte, unterschied sie von ihrer toten Schwester. So gebannt war Kit von ihrem Anblick, dass Sekunden vergingen, ehe er Zeit fand, die vertrauten Züge des spanischen Hidalgos zu erkennen. Dann aber schnaubte er wütend auf: Der Spanier, der das Mädchen in den Armen hielt, war Don Luis del Toro. Kit winkte einen Mann mit einer Muskete heran; aber als er die Waffe in den Händen hatte, konnte er nicht schießen, ohne das Mädchen zu gefährden. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, einen Schuss auf Don Luis anzubringen. Plötzlich lächelte er, hob die Muskete langsam und zielte sorgfältig.

Die Muskete brüllte auf, der Schuss traf die Rah des großen Lateinsegels – ein Schauer von Holzsplittern regnete auf Don Luis entblößtes Haupt. Der Grande fuhr herum und ließ das Mädchen los. Während Kit ungeduldig nach einer anderen Muskete griff, sah er ihre schlanke Gestalt über das reichvergoldete Schnitzwerk der Reling gleiten. Im nächsten Augenblick sprang sie weit hinaus in die Luft, tauchte mit dem Kopf zuerst in das Kielwasser der Galeone und warf nicht mehr Spritzer auf als ein scharfes Messer. Kit riss sich von dem Anblick los und zielte wieder auf Don Luis. Aber der Spanier hatte sich hinter den Lateinsegelmast auf den Pup geworfen und schrie nach seinen eigenen Musketieren.

Der Kopf des Mädchens erschien wieder an der Oberfläche, wie eine scharlachrote Hibiskusblüte auf türkisfarbenem Wasser – eine verlockende Zielscheibe für die spanischen Musketiere. Sie kümmerten sich nicht um Kit und die Brigantine im Kielwasser, sondern legten eifrig und mit rohen Scherzen auf das Mädchen an. Vorbeizuschießen schien auf die kurze Entfernung geradezu unmöglich. Aber bevor einer von ihnen dazu kam, einen Schuss zu lösen, brüllte die Langrohrkanone, das sogenannte Jagdrohr, auf der Back der Seaflower auf. Als der Pulverqualm sich verzogen hatte, fehlten einige Yards von der Reling der Galeone und mit ihr die mordlustigen Musketiere. Don Luis kroch auf dem Bauch und in Deckung des Mastes nach unten und war im Augenblick mit einer Muskete schwerlich zu erreichen. Unter ihnen aber wartete das Mädchen. Kit warf die Waffe auf Deck und gab hastige Kommandos. Eine Wurfleine klatschte ins Wasser; die Brigantine verlangsamte ihre Fahrt und das Mädchen wurde an Bord geholt.

Ein Dutzend Hände streckten sich ihr entgegen, als sie an der Schiffswand hochkam; aber Kit stieß die anderen beiseite, erwischte sie unter den Armen und hob sie über die Reling. Er stellte sie leicht auf die Füße, trat zurück und betrachtete sie. Das rotgoldene Haar hing jetzt nass über ihre Schultern und zog einen kupfernen Zirkel um das kleine Gesicht mit den merkwürdig hohen Backenknochen, die ihr das Aussehen verliehen, als habe sie eine Mongolenfalte in den Augenwinkeln. Sie sah ihn schlitzäugig an; aber mit der Zeit weiteten sich ihre Augen, ohne dass sie es zu bemerken schien, und wurden schließlich so groß, dass ihr kleines Gesicht noch kleiner erschien. Tiefgrüne Augen, in denen seltsame Lichter tanzten; ihre Farbe entsprach genau dem Smaragd, den Kit an seinen Ohren trug.

Er betrachtete sie ausgiebig. Er sah die leuchtendrote Kurve ihres Mundes, der jetzt vor Scham und Schmerz zusammengekniffen war – ließ seinen Blick über die weiße Rundung ihres Nackens gleiten und betrachtete die schlanke Gestalt, die von einem nassen Laken nur unvollkommen bekleidet wurde. Hinter ihm lief unterdrücktes Murren durch die Reihen der Mannschaft. Kit fuhr herum und starrte die Männer wütend an. Sie waren verhungert nach Frauen; ihre wilde Lust nach dem Mädchen verdrängte im Augenblick jeden anderen Gedanken. Wie lange, fragte sich Kit, werde ich sie in Zaum halten können? Sie – und mich? 

In diesem Augenblick trat Lazarus um die Ecke der Aufbauten und kam langsam auf die Gruppe zu; er berührte den Arm des Mädchens mit dem Stöckchen, das er gewöhnlich in der Hand trug, wenn er über Deck ging.

»Komm!«, sagte er freundlich zu ihr. Sie wandte sich schweigend um und folgte ihm in seine Kajüte. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Kit stand neben seinen Matrosen und starrte auf die verschlossene Tür. Er verstand sie plötzlich ausgezeichnet – die Wut, die aus ihrem unterdrückten Knurren sprach. Was er wohl mit ihr anfängt?, fragte er sich bitter. Dieser alte, von der Krankheit zerfressene Kerl... Der Gedanke jagte ihm plötzlich eisige Schauder des Schreckens durch die Adern. Diese lichte Haut, weiß wie der Schnee auf den Bergen Spaniens, wenn die Morgensonne auf ihm ruht – sollte sie der Berührung mit den Fingern des lebendigen Todes unterliegen? Würde dieses einmalige, hinreißende Feuerhaar weiß werden und ausfallen; die Haut, die jetzt glatt und fest über den scharf geschnittenen Backenknochen lag, würde sie sich tödlich grauweiß verfärben, von purpurnen Kreisen durchsetzt?

Er musste aufhören, darüber nachzudenken. Wütend fuhr er herum und schrie der Mannschaft Kommandos zu, jagte sie in die Masten und ließ alle Segel setzen, bis die Wanten beinahe unter dem Druck der gespannten Leinwand rissen. Der Rudergänger musste die Brigantine auf neuen Kurs legen – sie entfernte sich jetzt schnell von dem großen Spanier, mit dem sie in einen so ungleichen Kampf eingetreten war. Kit ließ wieder Kurs auf Hispaniola setzen, und als ihm nichts mehr zu tun übrigblieb, kletterte er hinauf auf die Back und blieb dort stehen, in tiefe, zumeist sehr unerfreuliche Gedanken versunken. Lange nach Sonnenuntergang verließ er die Back und ging langsam Schritt für Schritt auf Lazarus Kajüte zu. Ein paar Matrosen standen immer noch davor und starrten hungrig auf die geschlossene Tür.

»Fort mit euch!«, brüllte Kit sie an. »Macht, dass ihr an eure Arbeit kommt, oder ich lass euch an den Daumen aufhängen und mit der neunschwänzigen Katze streichen! Vorwärts jetzt, Burschen, lebhaft!« Die Bukanier schlichen davon wie bösartige Hunde. Einige starrten immer noch über die Schultern auf die geschlossene Tür. Lange stand Kit schweigend davor und wusste nicht, was er tun sollte; plötzlich öffnete sich die Kajüte, die klobige Gestalt Lazarus’ erschien vor dem düsteren Schein einer Laterne im Türrahmen, lehnte sich hinaus und brüllte Kits Namen. »Aye, aye, Sir?«, sagte Kit.

»Komm her«, flüsterte Lazarus. »Komm rein und nimm das Mädchen mit, bevor etwas geschieht. Ich war ein Narr; aber ich war so lange einsam... Ihre Haut ist so hell... Ich dachte, bevor ich sterben müsste, sei mir das Schicksal noch etwas schuldig – nur dies eine Mal! Aber nein! Komm, Kit, nimm sie mit in deine Kabine.«

»Was ist passiert?«, knurrte Kit düster.

»Nichts!«, erwiderte Lazarus. »Nur – sie bat mich, meine Maske abzulegen.«

»Oh!«, flüsterte Kit.

»Nein, sie wurde nicht ohnmächtig! Das wäre zu viel für mich gewesen. Nein, Kit, sie blickte mir grade ins Gesicht – und spie dann vor mir aus; vor Abscheu! Komm rein und nimm sie mit, Kit.«

Kit betrat die düstere, übelriechende Kajüte. Das Mädchen kauerte auf einem Stuhl; sie war halb ohnmächtig, ihre Schultern zuckten. Kit legte ihr sanft die Hand auf die Schultern. Sie zuckte zusammen und blickte auf, nackte Angst in den smaragdgrünen Augen; als sie ihn erkannte, beruhigte sie sich ein wenig. »Kommen Sie bitte mit mir«, sagte Kit in seinem steifen, etwas unbeholfenen Englisch, das er von Lazarus gelernt hatte. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich tue Ihnen nichts.«

Wieder erhob sie sich schweigend und folgte ihm. Er ging die Stufen des Kampanje-Niederganges vor ihr empor, eine Hand leicht am Griff seiner Pistole. Lazarus’ dumpfes Murmeln klang immer noch in seinen Ohren: »Sie hat mein Gesicht gesehen – mein altes entstelltes Gesicht – und dann – und dann...«

Kit öffnete seine Kabine und zeigte auf die Hängematte. »Legen Sie sich bitte nieder und ruhen Sie sich aus«, sagte er. »Sie sind sicher hungrig? Soll ich Ihnen Essen holen?«

»Hungrig?«, wiederholte das Mädchen und schien jetzt wirklich seekrank zu werden. »Hungrig? Ich kann nie wieder etwas essen, nie!«

Kit starrte sie an, ohne etwas zu bemerken.

»Wo werden Sie schlafen?«, erkundigte sie sich.

»Draußen«, sagte Kit. »Vor der Tür – damit nicht einer auf die Idee kommt, aus Versehen in meine Kammer zu gehen.«

»Und Sie – Sie kommen nicht herein?«

Kit schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, sagte er schlicht. »Ich werde Sie nicht belästigen.«

Das Mädchen wurde plötzlich ärgerlich; Wut glomm in den Smaragdaugen auf.

»Und das soll ich glauben? Sie sind ein Mann, obwohl Sie manchmal wie ein Mädchen aussehen, und alle Männer sind Tiere.«

Kit betrachtete das ärgerliche Gesicht; seine blauen Augen waren dunkel und verrieten nicht, was er dachte. »Es tut mir leid, dass Sie das glauben«, begann er; aber das Mädchen unterbrach ihn sofort.

»Glauben? Ich glaube nicht – ich weiß es! Ich brauche nur an Don Luis zu denken, der nach Port Royal kam, um uns von dem Erdbeben zu retten. Haben Sie nicht gesehen, wie er uns gerettet hat? Elisabeth, meine süße Schwester, fand den Tod durch ihre eigene Hand auf dem Deck der Galeone – nachdem diese spanischen Schweine sie fertiggemacht hatten. Und ich? Ha, große Ehre – Don Luis reservierte mich für seinen eigenen Gebrauch. Und hier, an Bord eines englischen Schiffes – dieser schreckliche, abscheuliche alte Mann...«

Kits Hand glitt in die Schärpe und kam mit der Pistole daraus hervor. »Da!«, sagte er, »nehmen Sie die Pistole. Wenn irgendjemand in diese Kabine will – auch ich – schießen Sie!«

Die Augen des Mädchens wurden groß und dankbar. Er las die Worte mehr von ihren Lippen, als dass er sie verstand. »Ich danke Ihnen!«

Aber eine seltsame Freude tanzte zugleich in ihren grünen Augen, und Kit spürte plötzlich einen eisigen Schrecken. »Die Pistole ist nicht dazu da, damit Sie sich selber erschießen!«, sagte er scharf.

»Und warum nicht? Was für einen Grund habe ich noch, weiterzuleben? Gibt es irgendwo in der Welt einen anständigen Mann – wenn so etwas überhaupt existiert – der mich noch haben möchte? Kann ich jetzt noch nach Jamaica zurückkehren, zu meinem Verlobten Reginald? Soll ich zu ihm sagen: Hier, nimm mich, missbraucht, entehrt wie ich bin? Ich könnte meine Haut mit eisernen Bürsten reiben und würde doch niemals mehr die Flecken loswerden, die seit heute auf mir liegen. Der Schmutz ist tiefer gegangen, er sitzt nicht mehr auf der Haut – er liegt auf meiner Seele.«

»Geben Sie die Pistole wieder her«, sagte Kit.

»Nein«, erwiderte das Mädchen sanft, aber bestimmt. »Sie brauchen keine Angst zu haben, ich tue mir nichts an. Wenn ich den Mut dazu besäße, würde

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Frank Yerby/Apex-Verlag/Successor of Frank Yerby.
Bildmaterialien: N.N./Christian Dörge.
Cover: N.N./Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Isabell Horn (OT: The Golden Hawk).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 07.01.2021
ISBN: 978-3-7487-7074-9

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