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Leseprobe

 

 

 

 

ED LACY

 

 

Ein sanftes Ende

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 169

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

EIN SANFTES ENDE 

Prolog 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

 

 

Das Buch

»Ich bin Matt Lund, Polizeibeamter aus New York. Sie können mir glauben, ich habe schon viele seltsame Mordfälle erlebt - aber dieser übertrifft alle anderen.

Hier lernte ich lebendige Tote, eine jungfräuliche Geliebte und Todesfälle im Wert von 50.000 Dollar kennen...!«

 

Ed Lacy (* 25. August 1911 als Leonard »Len« S. Zinberg in New York City; † 7. Januar 1968 in Harlem) war ein US-amerikanischer Schriftsteller, der in Deutschland vorrangig durch seine Kriminalromane und Detektivgeschichten bekannt wurde. Er nutzte zusätzlich das Pseudonym Steve April und schrieb in frühen Jahren auch unter seinem Geburtsnamen. Ed Lacy wurde mehrfach mit dem Edgar-Allan-Poe-Award ausgezeichnet.

Der Roman Ein sanftes Ende erschien erstmals im Jahr 1958; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1973. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   EIN SANFTES ENDE

 

 

 

 

 

 

 

  Prolog

 

 

»...natürlich bin ich so schnell wie möglich hergekommen, aber es war schon zu spät. Er muss bereits wenige Sekunden, nachdem er mit mir telefoniert hatte, gestorben sein. Als ich ihn fand, lag er über dem Tisch in der Diele. Sehen Sie, wir sind doch mehr als nur alte Bekannte. Wir sind gute Freunde - also glauben Sie mir bitte, dass ein Arzt in so einem Fall nicht mehr viel tun kann. In seinem Alter muss man immer mit einem Herzversagen rechnen.« Dr. Edward Barnes legte seine Hand auf die zitternde Schulter des anderen Mannes'; eine kräftige und zugleich sanfte Hand.

»Ja... Ich - ich verstehe, Edward.« Die Stimme klang gedämpft und trotzig.

»Was haben Sie gesagt?«, fragte der Arzt, legte die eine Hand an sein Ohr und strich sich mit der anderen die Regentropfen vom Gesicht.

»Ich sagte... Keine Angst, ich werde es schon schaffen. Es ist nur, weil... Ich werde ihn sehr vermissen. Sie wissen, wie nahe wir einander gestanden haben.«

Der Arzt nahm den abgetragenen Filzhut vom Kopf und sagte: »Kommen Sie, es nützt nichts, wenn Sie weinen. Was soll man sagen, wenn ein Mensch gestorben ist - ein Mensch, der zugleich ein guter Freund in vielen, langen Jahren gewesen ist? Und doch suche ich nach irgendeiner bedeutungslosen Floskel. Unser einziger Trost mag sein, dass er ein langes und sinnvolles Leben führen durfte. Und dass er einen leichten Tod gestorben ist. Erinnern Sie sich an den alten Spruch der Indianer: Tod ist nichts weiter als der Beginn eines neuen Weges. Wissen Sie noch, wie Sie mit mir darüber gesprochen haben?«

»Ja, ich erinnere mich. Sicher, ich habe gewusst, dass es eines Tages so kommen würde. Aber – oh, mein Gott! Ed, nun ist es so plötzlich, ohne jede Vorwarnung gekommen!«

»Lassen Sie sich ruhig gehen... Weinen Sie, wenn Sie glauben, dass es Sie erleichtert.« Barnes öffnete die Tür seines "Wagens und griff nach hinten auf den Rücksitz, wo er seine große, schwarze Tasche stehen hatte. »Das ist fetzt der Schock - begreiflich. Ich gebe Ihnen etwas, was Ihre Nerven beruhigt. Damit kommen Sie leichter darüber hinweg.«

»Ich brauche keine Beruhigungsmittel.«

»Hören Sie zu: Es ist spät in der Nacht, und wir können vor morgen früh nichts weiter tun. Hier draußen im Regen stehen hat wenig Sinn, davon bekommen wir beide höchstens eine Erkältung. Wenn Sie wollen, bleibe ich die Nacht bei Ihnen.«

»Nein.«

»Kommen Sie, zu dieser späten Stunde... Ich bleibe gern bei Ihnen, wenn Sie das beruhigt.«

»Nein, Ed, vielen Dank. Mir geht es - mir geht es schon besser...«

»Dann nehmen Sie wenigstens diese Tablette, damit werden Sie schlafen können, bis...« Das regennasse und runzelige Gesicht des Arztes verzog sich plötzlich vor Überraschung, als er fühlte, wie ihm der andere mit aller Wucht in den Bauch trat. Ächzend klappte er zusammen, die Arme ausgebreitet wie ein Schwimmer, der zum Sprung ins Wasser bereitsteht, dann taumelte er rückwärts auf den Wagen zu und presste die Hände gegen den schmerzenden Leib.

Der Mörder drückte die eine Hand auf den weit geöffneten Mund seines Opfers, die andere gegen die scharf gezeichnete Nase. Die wässrigen Augen des alten Mannes traten aus ihren Höhlen - ihr Ausdruck eine Mischung aus Schmerz und höchster Verwunderung. Er rang nach Luft, dann sank er auf den nassen Boden.

Der Mörder öffnete die Tür der großen Buick-Limousine und zerrte den alten Mann hinein, legte ihn quer über die Vordersitze, riss ihm den Wollschal vom Hals und drückte diesen mit aller Gewalt gegen das rosige Gesicht des Arztes. Einen Augenblick lang zuckten die Beine des alten Mannes. Der Schal raubte ihm die Luft.

Als er sicher sein konnte, dass Dr. Barnes tot war, hievte der Mörder den leblosen Körper mit großer Anstrengung hoch und ließ ihn dann langsam und vorsichtig auf den Boden im Fond des Wagens sinken. Dann stellte er die Tasche des Arztes neben sich auf den Vordersitz, setzte sich mit geschmeidigen Bewegungen hinter das Lenkrad und fuhr davon, durch die dunklen Straßen der Ortschaft.

Als er die Bay Street erreicht hatte, stieg der Mörder aus und lauschte lange Zeit, sah sich gebückt nach allen Seiten um. Sein schweißnasses Gesicht berührte fast den Gehsteig. Er versicherte sich, dass kein Wagen in der Nähe war, dann zerrte er den Leichnam des Arztes aus dem Wagen und legte ihn auf die Fahrbahn. Er fuhr mit dem Buick ein Stück zurück, legte den ersten Gang ein und drückte das Gaspedal durch.

Der schwere Wagen kam ein wenig ins Schlingern, als er den Toten überrollte.

Der Mörder hielt an, schaltete die Zündung ab, stieg aus und ging zurück. Dann stand er vor seinem Opfer, starrte in das verzerrte Gesicht des Toten. Er bückte sich und hob einen kleinen Stein auf. Der Buick stand in Richtung auf einen großen Alleebaum neben der Straße. Der Mörder beugte sich hinein in den Wagen und klemmte den Stein unter das Gaspedal, das er zuvor bis zum Anschlag durchgedrückt hatte. Dann stand er vor dem Wagen, langte durch die offene Tür hinein, schaltete die Zündung ein und betätigte den Anlasser und sprang zurück, als der Buick einen Satz nach vorn machte, die Straße überquerte und gegen den Baum prallte. Der dichte Regen dämpfte das Geräusch des Aufpralls.

Hinter einem Gebüsch in der Nähe versteckt, wartete der Mörder, bis er sich davon überzeugt hatte, dass niemand von dem Krach geweckt und herbeigerufen worden war, dann rannte er hinüber zu dem Autowrack. Er nahm den Kieselstein wieder heraus und prüfte danach sorgfältig die Vorder- und Hintersitze. Der Wollschal des Arztes lag auf dem Boden unter dem seltsam nach unten gebogenen Lenkrad. Den Schal um die rechte Hand gewickelt, öffnete der Mörder die Tasche des Arztes und entnahm ihr eine kleine Taschenlampe, leuchtete damit die Reifen des Wagens ab. Weder Kleidungsfetzen noch Spuren vom Körper des Arztes waren daran hängengeblieben. Der Mörder rieb mit dem Schal an einem roten Fleck an der Felge, bis er merkte, dass es rote Farbe war.

Er ließ die Taschenlampe wieder in die Medikamententasche fallen, dann ging er nach Hause, wobei er sich möglichst in den Schatten der Bäume und Büsche entlang der Straße drückte. Als er den Zaun seines Grundstücks erreicht hatte, merkte er, dass er noch immer den Schal in der Hand hatte, ließ ihn stöhnend vor Ekel und Entsetzen fallen und rannte hinein ins Haus.

Wenige Minuten später kam der Mörder noch einmal heraus, holte den Schal und ging hinein in das behagliche, warme Haus.

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Meine Ferien begannen genauso, wie ich mir das vorgestellt hatte - mit einer Fülle von unerfreulichen Ereignissen.

Der Platz vor dem Bahnhof von Hampton stand voll mit sonntäglich gewaschenen und polierten Autos, und die Menschen ringsumher waren so nackt, wie es die Polizei eben noch erlaubt. Noch nie in meinem Leben habe ich so viele enganliegende Shorts und prallgefüllte, knappe Büstenhalter gesehen. Die Jungen stellten ihre schmalen Hüften und die ebenso schmalen Brüste zur Schau, während die Älteren ohne jedes Schamgefühl mit der gleichen, spärlichen Bekleidung herumliefen und die schlappgewordenen Bäuche einzogen, dass ihnen fast die Luft wegblieb. Ich stieg aus dem Zug, meinen schäbigen Koffer in der einen Hand und Matty in seinem Körbchen in der anderen. Kein Wunder, dass ich auffiel: Schließlich war ich der einzige weit und breit, der noch keinerlei Sonnenbräune aufzuweisen hatte. Außerdem trug ich eine Krawatte und ein weißes Hemd, ganz zu schweigen von meinem alten, blauen Seidenanzug. Die Leute starrten mich an, als sei ich aus dem Panoptikum entsprungen.

Ich schwitzte und war schlechter Laune. Eigentlich wollte ich von Anfang an nicht hierherfahren, und die dreistündige Reise mit der Long-Island-Bahn war auch kein reines Vergnügen gewesen. Matty ging es nicht viel besser; schließlich musste er die ganze Zeit über in seinem Körbchen eingesperrt verbringen. Während der Fahrt hatte er dauernd miaut und geheult. Als ich meinen Finger in den Korb steckte, um Matty zu beruhigen, zeigte er seine wahren Gefühle und biss herzhaft hinein. Ich schnipste mit dem Finger gegen seinen Bauch, und er gab ein zischendes Geräusch von sich, wie eine Schlange. Danach hatte für eine Weile Ruhe geherrscht.

Während ich mich umschaute und schon bedauerte, dass ich Danny nicht gebeten hatte, mich abzuholen, strich ein kleiner, fetter Mann in ausgebleichten Jeans, hohen Stiefeln, einem unbeschreiblichen Sporthemd und einem altertümlichen Strohhut um mich herum und machte sich an meinem Koffer zu schaffen. Als ich ihn daraufhin mit Nachdruck zu mir herzog, fragte der Mann: »He, Mister, wollen Sie ein Taxi?«

Ich nickte und folgte ihm zu einem uralten Dodge. Ich setzte mich auf den Vordersitz neben den Fahrer, Mattys Körbchen auf dem Schoß. Im Inneren des Autos war es heiß wie in einer Sauna. Der Fahrer ließ den Wagen an, wobei er vergaß, den Gang herauszunehmen, so dass wir einen Satz nach vorn machten. Dann fragte er: »Und wohin soll es gehen, Mister?«

»Nach End Harbor.«

»Das passt prima. Dort bin ich zu Hause. Schöner Sommer, was? Kostet einen Dollar. Machen Sie einen Besuch?«

»Kennen Sie das Haus, wo die Lunds wohnen, an der Beach Road?«

»Und ob ich das kenne. Nette Leute, die Lunds. Sind Sie mit ihnen befreundet?«

»Ich hoffe. Dan Lund ist mein Sohn.«

Ein freundliches Lächeln huschte über sein wettergegerbtes Gesicht, während er in eine größere Landstraße einbog. Der Dodge fuhr so dicht am Straßenrand, dass es holperte. »Ihr Danny muss ein glücklicher Mensch sein. Bessie ist eine wundervolle Frau. Auf den ersten Blick wusste ich, dass sie eine Griechin ist, ich bin auch Grieche. Sie ist keine von den kühlen Schönen, wie man sie...«

Ich hatte keine Zeit, länger über seinen komischen Akzent nachzudenken, sondern brüllte: »He, passen Sie doch auf! Sie kommen von der Straße ab.«

Er riss das Lenkrad zu heftig herum. Der Wagen kam ins Schleudern und brauchte eine Weile, bis er sich wieder gefangen hatte. Matty fauchte indigniert. Der Witzbold von Fahrer streckte mir seine Hand vors Gesicht und sagte: »Ich bin Jerry Sparelous - ein Freund Ihrer Schwiegertochter. Werden Sie länger in Harbor bleiben?«

»Eine Woche«, erwiderte ich und schüttelte ihm schnell die Hand, damit er sie möglichst bald wieder zum Steuern freihatte. »Danach fahre ich noch für eine Woche zu meiner Tochter ins Gebirge.« Matty schien zu seufzen. Oder war ich das gewesen?

Ich hatte einen Monat frei, und Dan bestand darauf, dass ich die erste Woche meines Urlaubs bei ihm verbrachte. In der zweiten war dann Signe dran, mit ihrer Schar lärmender Kinder. Danach hoffte ich, mich zu Hause in meiner Wohnung in New York richtig erholen zu können, in der Unterhose vor dem Ventilator zu sitzen, gemütlich bei einer Flasche Bier Boxkämpfe im Fernsehen anzuschauen und meine strapazierten Nerven zu beruhigen.

»End Harbor ist ein schönes Fleckchen Erde - ich wohne schon seit fünfundvierzig Jahren hier«, sagte dieser Jerry und brachte den Wagen wieder einmal ins Schlingern. »Was sind Sie von Beruf, Mr. Lund?«

»Ich bin Polizeibeamter. Passen Sie auf, Mr. - äh - Jerry - Sie kommen schon wieder von der Straße ab.«

»Keine Angst«, sagte er und riss den Wagen wieder herum. »Ich habe seit zwanzig Jahren keinen einzigen Unfall gebaut. Ja, Bessie hat mir von Ihnen erzählt. Sie möchte, dass Sie in Pension gehen. So wie ich. Sehen Sie, ich habe vor ein paar Jahren mein Geschäft und ein paar Grundstücke verkauft. Ich hätte genügend Geld, dass ich es mir bequem machen könnte. Und die Leute fragen mich, warum ich immer noch mit dem Taxi in der Gegend herumkutschiere. Die denken wohl, ein Mann mit vierundsechzig ist zu nichts mehr gut als zum Sterben.«

Wir bogen in eine Kurve und steuerten direkt auf das Gebüsch auf der anderen Straßenseite zu. Ich drückte instinktiv meinen rechten Fuß gegen ein nicht vorhandenes Bremspedal, dann schaffte Jerry die Kurve und gelangte wieder auf die rechte Seite. Ich sagte ein wenig verzweifelt: »Vielleicht sollten Sie sich eine Brille machen lassen.«

»Ich habe zwei - zu Hause. War es heiß in New York?«

»Ziemlich.«

»Große Stadt. Alles passiert in Eile. Eine einzige Hetze. Ich war seit zweiunddreißig Jahren nicht mehr dort. Warum lassen sich die Leute nicht Zeit zum Leben?«

Ich gab ihm keine Antwort. Aber ich konnte ihn nicht verstehen. Nur drei Stunden entfernt von dort, wo wirklich was los ist - und er hat es nie der Mühe wert gefunden, hinzufahren! Mich könnten keine zehn Pferde für immer aus New York wegschleifen.

Wir fuhren eine Weile schweigend dahin; nur von Zeit zu Zeit musste ich ihm sagen, dass er im Begriff war, wieder einmal von der Straße abzukommen. Es wurde allmählich dämmrig, und wir fuhren durch einsame, bewaldete Gegenden. Als wir endlich End Harbor erreichten, kamen wir an einer Gruppe von neuen Häusern im Ranchstil vorbei. Mit quietschenden Reifen bog Jerry in eine breite Straße ein, die an einem Teich von der Größe des Eisstadions im Central Park entlangging. »Da drin schwimmen schöne, fette Brassen«, sagte Jerry, »die beißen schon, wenn man den blanken Haken hineinhängt. Angeln Sie gern?«

»Wie man’s nimmt.«

»Ich auch. Komisch - Sie sehen gar nicht wie ein Polizist aus - Sie sind viel zu mager. Ich wollte, ich wäre auch ein bisschen magerer. Aber ich werde jeden Tag fetter. Zuviel Bier, das ist es. Der Doktor macht mir die Hölle heiß. Aber was macht das schon, ob ich fett bin oder nicht? Für die Mädchen komme ich doch nicht mehr in Frage. Wie alt sind Sie, Mr. Lund?«

»Achtundfünfzig.«

»Ihre Frau ist auch schon tot. Bessie hat es mir erzählt. Mein Gott, als meine Helen starb, bin ich fast verrückt geworden. Das war vor acht Jahren. Ich habe drei Jungen. Zwei von ihnen haben eine Autowerkstatt in Chicago, der dritte ist Klempner in Los Angeles. Die haben es nicht lange hier in Harbor ausgehalten.« Er zuckte mit den Schultern und wedelte dazu mit beiden Händen. »Jeder muss sein Leben so einrichten, wie es ihm gefällt.«

Der Dodge rumpelte über das einzige Schlagloch weit und breit, und Matty jaulte vernehmlich.

Jerry wandte sich mir zu und schaute lächelnd auf das Körbchen. »Sie haben eine Katze, ich habe einen Hund - das heißt, wenn er gelegentlich vom Streunen zurückkommt. Komisch, was, wie wir uns alle in späteren Jahren Tiere zulegen.«

»Ich habe schon seit jeher Katzen.«

»Jetzt dürfen wir uns nicht länger unterhalten, Mr. Lund. Ich muss die Straße überqueren, die nach Montauk führt, und dort rasen alle mit ihren Autos, als wollten sie so schnell wie möglich in den Himmel kommen.«

Er brachte den Wagen mit einem Ruck zum Stehen und lugte nach beiden Seiten auf die Querstraße hinaus. Die Autos fuhren hier fast alle mit mindestens hundert Sachen vorbei. Ein Radartrupp hätte die Steuern von ganz End Harbor mühelos in ein paar Wochen kassieren können. Jerry sah sich nach einer Lücke im dichten Fahrzeugstrom um. Dazu quasselte er ununterbrochen von den Tagen, als End Harbor noch ein Walfänger-Hafen war, und dass an den meisten der älteren Häuser noch heute die Einschläge zu sehen seien, die aus dem Jahr 1776 stammten, als die Engländer den Ort von der See aus beschossen hätten.

Unerwartet stieg er auf das Gaspedal, und der Wagen setzte mit einem Ruck über die Querstraße hinweg. Es riss mir den Kopf in den Nacken und gleich danach fast gegen die Windschutzscheibe, als er, drüben angekommen, hart abbremste. Jerry fragte mich, ob mir nicht wohl sei, und ich beruhigte ihn, obwohl ich scheußliche Kopfschmerzen hatte. Dann fragte ich vorsichtig: »Wie weit ist es noch?«

»Nur noch ein Stück diese Straße entlang.« Jerry steuerte den Wagen einigermaßen sicher an einer Reihe von ebenerdigen Bungalows entlang. Ich schnupperte und stellte fest, dass die Luft nach Salz roch. Dann blieb der Wagen stehen, und Jerry erklärte stolz: »Wir sind da, Mr. Lund.«

Ich wollte schon sagen, dass ich nicht mehr damit gerechnet hatte, heil hier anzukommen, doch dann gab ich ihm ohne weiteren Kommentar einen Dollar. Im selben Augenblick öffnete sich die Tür des Hauses, vor dem wir standen, und Andy brüllte: »Opa ist da!«

Ich zuckte immer noch zusammen, wenn mich jemand Opa nennt.

Andy sprang auf mich zu und umarmte mich so stürmisch, dass ich fast zu Boden gegangen wäre. Er war ziemlich groß für sein Alter, aber den Babyspeck hatte er noch nicht überwunden. Als Danny, mein Sohn, zehn Jahre alt war, hatte sich seine Muskulatur schon gut herausgebildet, und auch jetzt, wie er so in Shorts die paar Treppen herunterkam, sah er muskulös und gut gebaut aus. Vielleicht hatte Andy das weiche Fleisch von Bessie geerbt, dachte ich. Sie war nicht gerade fett, aber ihr Körper war weich und sinnlich - eine Sinnlichkeit, die durch die cremefarbene Haut, das dunkle Haar und die funkelnden Augen noch unterstrichen wurde. Manchmal dachte ich, sie sei vielleicht zu sinnlich für einen Mann wie Danny - ach was, für jeden Mann auf dieser Erde.

Dann schwirrten sie alle um mich herum, schüttelten mir die Hand und redeten gleichzeitig auf mich ein. Matty heulte und wollte aus seinem Körbchen heraus, und Bessie unterhielt sich lautstark mit Jerry, dem Fahrer - auf Griechisch. Das Geschrei verstärkte noch meine Kopfschmerzen. Irgendwie kamen wir dann alle miteinander hinein in das Häuschen, und ich stellte mein Gepäck in das Zimmer, das ich mit Andy teilen sollte. Ich wollte ein heißes Bad nehmen, aber Andy führte mir seine neue Angelrolle vor, die er sich gekauft hatte, und Matty jaulte zum Steinerweichen. Ich öffnete das Körbchen, und der Kater kam heraus und begab sich auf eine Inspektionsreise durch das ganze Haus. Ich bat Bessie um einen leeren Karton und füllte ihn danach mit zerknülltem Zeitungspapier. Sie sagte: »Ach, dafür wolltest du es. Sag, kann das Biest sein Geschäft nicht draußen verrichten?«

»Matty hält nichts davon, ins Freie zu gehen. Ich frage mich, ob er jemals das Haus verlassen wird. Wahrscheinlich erkältet er sich nur dabei. Ich kümmere mich schon um die Schachtel. Lass ihn nur eine Weile in Frieden, damit er sich an die neue Umgebung gewöhnen kann. Ist vor dem Abendessen noch genug Zeit, dass ich ein heißes Bad nehmen kann?«

Danny kicherte albern. »Ein Bad? Wir haben nur eine Dusche. Bess, geht es noch, dass wir schnell zum Schwimmen fahren?«

»Wenn ihr euch beeilt.« Sie stach mir mit ihrem rechten Zeigefinger ins Gesicht. »Extra für dich habe ich Reispilaff gemacht, und den Weinpudding, den du so gern magst.«

»Also gut, fahren wir zum Schwimmen«, sagte Danny. Als ich zögerte, gab er mir einen Puff und sagte: »Schau mir diesen komischen Norweger an, hat Angst vor dem Wasser!«

»Ja, Opa«, erklärte der Junge ernst, »du weißt doch: Wir haben das Blut von Leif Erikson in unseren Adern. Das hast du mir selbst oft gesagt.«

»Hab’ ich das gesagt? Aber ich wette, Leif Erikson ist nie ins Wasser gesprungen, wenn er es vermeiden konnte. Na schön, ich ziehe mich um.«

Als ich wieder aus meinem Zimmer kam, machten sie alle spöttische Bemerkungen über meine weiße Haut. Dann schenkte ich Andy das Spielzeugboot zum Selbstbasteln, das ich ihm mitgebracht hatte. Anschließend fuhr uns Danny in seinem neuen Ford hinaus an den Strand. Es war nicht weit, nur zwei Häuserblocks.

Das Wasser war ruhig, und es herrschte Ebbe. Ich plätscherte in dem verdammt kalten Element herum, und während mir der Junge seine Tauchkünste vorführte, stieß ich mich mit der großen Zehe an einem Stein. Dann standen wir auf dem Sandstreifen und frottierten uns ab, wobei Danny mir behilflich war. Als erstes machte er eine dumme Bemerkung über meine uralte, wollene Badehose mit dem weißen Gürtel und fragte, warum ich mir nicht eine neue besorgt hatte. Dann, auf der Fahrt zurück zum Haus, berichtete er: »Dad, ich werde höchstwahrscheinlich im nächsten Monat zum Leiter der Buchhaltung befördert. Das bedeutet, dass ich wesentlich mehr Gehalt bekomme, und... Ja, also, wenn du dich pensionieren lässt, kann ich dir ohne weiteres fünfzig, sechzig Dollar im Monat abgeben.«

»Wer redet von Pensionierung? Ich bin gern auf dem Revier, jetzt, wo man mich in den Innendienst befördert hat.«

»Okay«, sagte Dan. »Es war ja nur ein Vorschlag.«

Ais wir das Häuschen erreicht hatten, begrüßte mich Bessie mit einer Umarmung und fragte: »Matt - fühlst du dich jetzt frischer?«

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte ich und gab ihr einen Klaps. Dann ging ich rasch in mein Zimmer, um mich wieder anzuziehen und mir einen Schluck gegen etwaige Erkältungen zu genehmigen. Der Kater saß auf meinem Bett und schaute mich an, als wollte er fragen, was wir hier zu suchen hätten. Andy kam herein, zog sich einen Pullover an und versuchte mit dem Kater zu spielen. Matty erhob sich auf die Hinterbeine und fauchte ihn an. Ich sagte dem Jungen: »Lass ihn in Frieden, der hat jetzt Hunger.«

Dann rief uns Bessie zum Essen.          

Der Reispilaff bestand aus einer großen Schüssel voll dampfendem, scharf gewürztem Reis mit Leberstückchen und anderem Fleisch. Er sah aus wie eine umgedrehte Torte. Ich wollte mich nicht allzu sehr vollfressen, aber beim Weinpudding konnte ich dann doch nicht nein sagen, und zuletzt war ich kaum mehr fähig, mich vom Tisch zu erheben. Mühsam ging ich die paar Schritte hinüber zur Couch, setzte mich wieder und zündete mir eine Pfeife an. Die Nacht konnte heiter werden, mit dem vollgestopften Wanst. Andy und Dan spülten das Geschirr, während Matty neben der Küchentür saß und hinausstarrte in die ländliche Nacht.

Andy ging nicht ins Bett, ohne mich vorher ermahnt zu haben: »Du musst auch bald Schlafengehen, Opa. Morgen brechen wir früh zum Fischen auf.«

Bessie brachte eine Flasche irischen Whisky, und dann saßen wir da und tranken, und sie und Dan besprachen den neuesten Klatsch aus der Nachbarschaft. Als sich Matty neben mich auf die Couch kuschelte, diskutierten wir darüber, ob Katzen reinlicher seien als Menschen oder nicht. Der Druck in meinem Magen ließ allmählich nach.

Dan gähnte und erklärte: »Ich gehe jetzt besser schlafen. Morgen früh muss ich mit dem Siebenuhrzug zur Arbeit fahren.«

»Ich auch. Ich muss meinem Gatten Gesellschaft leisten, wenn ich ihn nur am Wochenende zu Gesicht kriege«, sagte Bessie. Sie rieb sich die Knie. »Mein Fuß tut weh - bestimmt bekommen wir Regen.«

»Dad, du brauchst morgen früh nicht mit uns aufzustehen«, meinte Dan. »Wir sehen uns am Freitagabend wieder - und ich hoffe, du bist dann bronzebraun und erholt.«

Vorausgesetzt, ich habe bis dahin noch keinen Nervenzusammenbruch erlitten, fügte ich in Gedanken hinzu.

Die beiden gingen kurz ins Bad und verschwanden hernach im Schlafzimmer. Ich hörte noch ein bisschen Radio und blätterte in der Lokalzeitung. Zu Hause hätte ich mir eine Wanne heißes Wasser einlaufen lassen und ein Buch gelesen. Ich hörte, wie Dan und Bessie hinter der Tür flüsterten und lachten. Schließlich, es war gegen zehn, begann es draußen zu regnen, und ich ging zu Bett. Matty folgte mir auf den Fersen.

Das Bett war weich und mollig, aber ich fand keine Ruhe, Schließlich stand ich wieder auf, trank noch einen Schluck Kognak, saß eine Weile auf der Toilette und blätterte in einer albernen Frauenzeitschrift, die fast nur aus Reklame bestand, dann schlurfte ich hinüber in die Küche und machte mir eine Tasse Tee.

Als ich endlich wieder in meinem Bett lag, fand auch Matty den richtigen Platz - auf meinem rechten Fuß -, und ich wartete mit geschlossenen Augen darauf, dass ich einschlafen konnte. Es wurde kalt, und ich kroch tiefer unter die Decke. Ich hasste den Sommer: Das ganze Jahr über war alles viel einfacher. Ich traf mich einmal in der Woche mit Danny und Signe zum Essen, und danach fuhr ich mit der U-Bahn nach Hause in meine gemütliche Wohnung. Dort gab es weder zu weiche Betten noch Mücken noch - oder wurde ich allmählich ein bisschen schrullig?

Endlich fiel ich in einen tiefen Schlaf. Das nächste, was mir bewusst wurde, war Andy, der mich kräftig schüttelte. Der Junge rief fröhlich: »Sechs Uhr. Ich denke, wir wollen zum Fischen fahren?«

»Verdammt noch mal, kannst du mir nicht ein paar Stunden lang meine Ruhe lassen?«, fuhr ich ihn an.

Er zuckte regelrecht zurück. »Aber Dad und Mammy sind schon auf, und ich - ich dachte, du fährst mit ihnen zum Bahnhof. Danach können wir zum Fischen fahren.«

Der verschüchterte Blick, mit dem er mich ansah, beschämte mich. Ich streckte mich und tätschelte seine Schultern. »Du hast ja recht. Wenn ich aufwache, bin ich immer erst ein bisschen grantig. Sag mal, «junger Mann, dein Knochengerüst scheint ja schon ziemlich ausgewachsen zu sein. Höchste Zeit, dass du ein bisschen Muskeln ansetzt. Vielleicht sollte ich dir zu Weihnachten Hanteln schenken. Ein bisschen rudern könnte dir auch nicht schaden.«

Der Junge lief hinaus, und ich blieb noch ein paar Minuten im Bett. Ich fühlte mich immer noch ein wenig benommen und müde. Schließlich stand ich auf; ein heißes Bad würde mir guttun. Matty fauchte protestierend, als ich ihm den Fuß unter dem Körper wegzog.

Dan und Bessie waren in der Küche zugange - Bessie in einem Morgenmantel, Dan in der Unterhose. Ich winkte den beiden zu und ging in Richtung auf das Badezimmer. Dan fragte: »Was machst du denn schon so früh, Dad? Willst du schnell hinunterfahren zum Meer?«

»Komm mir bloß nicht mit deinem verdammten Meer«, sagte ich und schloss die Badetür hinter mir. Ich fluchte, weil ich vergessen hatte, dass es ja gar keine Badewanne gab. Dann nahm ich eine recht heiße Dusche, die mich endgültig munter machte, und als ich mich anzog, fühlte ich mich allmählich besser.

Dan trug jetzt einen hellbraunen Sommeranzug und ein dazu passendes Hemd nebst Krawatte. Es gab ein fürstliches Frühstück. Andy redete ununterbrochen vom Fischen, und Bessie erinnerte Dan noch einmal an die Dinge, die er

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Leonard S. zinberg/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Fried Holm (OT: Shakedow For Murder).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 15.12.2020
ISBN: 978-3-7487-6843-2

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