ADRIAN DOYLE
&
TIMOTHY STAHL
BLUTVOLK, Band 36:
Die Reise nach Uruk
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Die Autoren
Was bisher geschah...
DIE REISE NACH URUK
Vorschau auf BLUTVOLK, Band 37: BETH
von ADRIAN DOYLE und TIMOTHY STAHL
Glossar
Das Buch
Uruk – hier lag einst die Wiege der Menschheit, und hier entschied sich auch ihr Schicksal, als Lilith Eden durch den Zeitkorridor zurück zum Garten Eden reiste. Nun ist Uruk erneut das Ziel der Halbvampirin. Sie hofft herauszufinden, was damals wirklich geschah und welche Rolle sie dabei spielte.
Doch nicht sie allein hat sich auf den Weg gemacht. Auch Anum, neuer Herrscher und Rachegott der Vampire, ist unterwegs zu diesem Kreuzweg der Zeiten. Und aus der Vergangenheit nähert sich eine weitere Reisende: Beth MacKinsey, die unsterbliche »Diebin der Zeit«.
Was wird geschehen, wenn sich die Wege der drei Mächtigen treffen?
BLUTVOLK – die Vampir-Horror-Serie von Adrian Doyle und Timothy Stahl: jetzt exklusiv als E-Books im Apex-Verlag.
Die Autoren
Manfred Weinland, Jahrgang 1960.
Adrian Doyle ist das Pseudonym des deutschen Schriftstellers, Übersetzers und Lektors Manfred Weinland.
Weinland veröffentlichte seit 1977 rund 300 Titel in den Genres Horror, Science Fiction, Fantasy, Krimi und anderen. Seine diesbezügliche Laufbahn begann er bereits im Alter von 14 Jahren mit Veröffentlichungen in diversen Fanzines. Seine erste semi-professionelle Veröffentlichung war eine SF-Story in der von Perry-Rhodan-Autor William Voltz herausgegebenen Anthologie Das zweite Ich.
Über die Roman-Agentur Grasmück fing er Ende der 1970er Jahre an, bei verschiedenen Heftroman-Reihen und -Serien der Verlage Zauberkreis, Bastei und Pabel-Moewig mitzuwirken. Neben Romanen für Perry-Rhodan-Taschenbuch und Jerry Cotton schrieb er u. a. für Gespenster-Krimi, Damona King, Vampir-Horror-Roman, Dämonen-Land, Dino-Land, Mitternachts-Roman, Irrlicht, Professor Zamorra, Maddrax, Mission Mars und 2012.
Für den Bastei-Verlag hat er außerdem zwei umfangreiche Serien entwickelt, diese als Exposé-Autor betreut und über weite Strecken auch allein verfasst: Bad Earth und Vampira.
Weinland arbeitet außerdem als Übersetzer und Lektor, u. a. für diverse deutschsprachige Romane zu Star Wars sowie für Roman-Adaptionen von Computerspielen.
Aktuell schreibt er – neben Maddrax – auch an der bei Bastei-Lübbe erscheinenden Serie Professor Zamorra mit.
Timothy Stahl, Jahrgang 1964.
Timothy Stahl ist ein deutschsprachiger Schriftsteller und Übersetzer. Geboren in den USA, wuchs er in Deutschland auf, wo er hauptberuflich als Redakteur für Tageszeitungen sowie als Chefredakteur eines Wochenmagazins und einer Szene-Zeitschrift für junge Leser tätig war.
In den 1980ern erfolgten seine ersten Veröffentlichungen im semi-professionellen Bereich, thematisch alle im fantastischen Genre angesiedelt, das es ihm bis heute sehr angetan hat. 1990 erschien seine erste professionelle – sprich: bezahlte - Arbeit in der Reihe Gaslicht. Es folgten in den weiteren Jahren viele Romane für Heftserien und -reihen, darunter Jerry Cotton, Trucker-King, Mitternachts-Roman, Perry Rhodan, Maddrax, Horror-Factory, Jack Slade, Cotton Reloaded, Professor Zamorra, John Sinclair u. a.
Besonders gern blickt er zurück auf die Mitarbeit an der legendären Serie Vampira, die später im Hardcover-Format unter dem Titel Das Volk der Nacht fortgesetzt wurde, und seine eigene sechsbändige Mystery-Serie Wölfe, mit der er 2003 zu den Gewinnern im crossmedialen Autorenwettbewerb des Bastei-Verlags gehörte.
In die Vereinigten Staaten kehrte er 1999 zurück, seitdem ist das Schreiben von Spannungsromanen sein Hauptberuf; außerdem ist er in vielen Bereichen ein gefragter Übersetzer. Mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt er in Las Vegas, Nevada.
Was bisher geschah...
Bei der Flucht aus den Gefilden der Hölle – eine Dimension, die einst durch den Fall des Engels Luzifer entstand – werden die Persönlichkeiten von Lilith Eden und ihrem ärgsten Feind Landru gelöscht; sie wissen nicht einmal mehr, dass sie Vampire sind!
Doch Gabriel, eine Inkarnation Satans, schließt mit Landru einen Pakt und gibt ihm die Erinnerung zurück. Landru redet Lilith nun ein, sich auch an ihre Identität zu erinnern: In Mayab, einer von Kelchmagie abgeschirmten Stadt in Mittelamerika lägen ihre gemeinsamen Wurzeln. Doch etwas in Lilith wehrt sich gegen die dort von ihr verlangten Grausamkeiten, und so zieht sie sich gleichermaßen den Zorn Landrus, den Unmut der hiesigen Vampirherrscher... und die Sympathien der Maya zu.
Als Landru erfährt, dass im Dunklen Dom ein neuer Kelchhüter erwacht sein soll, bricht er zum Ararat auf. Schließlich war er einst selbst einer jener, die mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire verbreiteten. Doch der Hüter, Anum, hat den Dom bereits verlassen. Aus der EWIGEN CHRONIK, der Geschichtsschreibung des Bösen, erfuhr er von Landrus Machtgelüsten und Versagen. Nun will er das Schicksal seines Volkes in die eigenen Hände nehmen. Landru erringt das Buch, kann aber selbst nicht darin lesen – eine Fähigkeit, die Lilith jedoch besitzt.
In Mayab spitzt sich die Situation zu. Liliths Einsatz für die Bevölkerung ermutigt die Widerstandsbewegung, einen Schlag gegen die Tyrannen zu führen. Landrus Rückkehr beendet die Rebellion. Dann zwingt er Lilith, ihm aus der EWIGEN CHRONIK vorzulesen. Doch seine Frage nach dem Wirken des Satans endet im Fiasko: Plötzlich beginnt Lilith, von einer fremden Macht beseelt, das Buch zu zerstören! Und das ist nicht alles! Die magische Barriere um Mayab zieht sich zusammen!
Landru und Nona fliehen; Lilith bleibt mit der CHRONIK zurück. Nun kann sie zwar darin lesen und ihre Herkunft erfahren, doch was nutzt es ihr im Angesicht des Todes? Da taucht Gabriel auf und bietet auch Lilith einen Pakt an. Sie hat keine Wahl, will sie überleben. So sichert sich Satan auch ihre Loyalität. Und Gabriel weiß, wie er Lilith vollends auf die Seite des Bösen ziehen kann: Er bringt sie mit Hidden Moon zusammen! Mit dem Arapaho-Indianer, der dank seines Seelentieres das Böse überwand, verbindet Lilith ein seltsames Schicksal: Seit sie seinen Adler tötete, absorbiert nun sie das Böse aus Hidden Moon. Doch die lange Trennung der beiden ließ die dunkle Macht in dem Indianer wuchern – und nun erhält Lilith eine Überdosis!
Auch die Werwölfin Nona, die von Landru getrennt wurde, ist Bestandteil in Gabriels großem Plan. Er lässt sie eine vergessene Erinnerung durchleben: 1635 traf sie in Perpignan auf eine Loge des Satans, die tote Kinder aus Gräbern raubte und zu Dienern machte. Noch weiß sie nicht um die Bedeutung dieses Vorfalls, ahnt jedoch, dass sie damit den Schlüssel zur Herkunft der Werwölfe in Händen hält. Lilith befreit sie aus ihren Träumen.
DIE REISE NACH URUK
Italien, Kloster Monte Cargano
2. September 1704
»Wirst du nun wagen, was du all die Zeit hinausgeschoben hast?« fragte der alte Mann mit brüchiger Stimme. Er hatte ein Leben lang die Sonne geliebt, aber an diesem Tag, in seiner schwersten Stunde, hatte der Mittagshimmel kein Einsehen mit ihm. Und die Macht zu wünschen war ihm abhandengekommen wie seine Lebenskraft.
Die Frau am Sterbebett, die nicht mit Tobias Stifter alt geworden war, obwohl sie einander seit einem Menschenleben kannten, hielt seine schwieligen Hände umschlossen. So als könnte sie ihrem Mann den schweren Weg dadurch erleichtern. Und sie wirkte außerordentlich gefasst, als sie nickte. »Ja, das werde ich. Ich muss...«
Nach einer Pause, in der die blassblauen Augen von Elisabeth Stifter sich verdunkelten, brach es doch noch unbeherrscht und tränenerstickt aus der Frau hervor, die – anders als ihr Mann – die ewige Jugend für sich gepachtet zu haben schien: »Du dummer, starrköpfiger Kerl! Soweit hätte es nicht kommen müssen! Warum hast du dir nicht helfen lassen? Ich weiß, dass ich etwas für dich hätte tun können – und du... du weißt es auch!« Unbewusst quetschte sie seine Hände, um, als er aufstöhnte, erschrocken den Griff wieder zu lockern.
»Warum...?« Kaum noch zu verstehen war seine Stimme, als er ihr die Antwort gab, die er ihr hundert Mal gegeben hatte. »Weil du anderen... hättest nehmen müssen, was du mir... schenken wolltest – und das ... hätte ich nicht... ertragen...«
Nein, dachte die Frau mit der fast durchscheinend hellen Haut, das hättest du nicht, ich kenne dich. Deshalb warst du ja ein so besonderer Mann...
Sie waren grundverschieden. Er durch und durch moralisch denkend, und sie das genaue Gegenteil.
Aber aus Liebe – aus Liebe zu diesem Mann – hatte Elisabeth Stifter, die in einer fernen Zukunft als Beth MacKinsey gelebt hatte und mit diesem Namen gestorben war, stets den Fluch im Zaum zu halten versucht, mit dem sie beladen war. Niemand außer ihr selbst wusste, welche Qualen ihr durch die Geißelung ihrer Gier abverlangt worden waren.
Tobias hustete, rang um Atem, krallte nun seinerseits seine Finger schmerzhaft in die Hände seiner Frau, als er versuchte, sich an ihr hochzuziehen, und stieß hervor: »Ich wünsche... dir alles... Glück bei deinem... Wagnis!«
Nach diesen Worten sank er in sich zusammen. Seine Muskeln erschlafften, sein lodernder Blick brach.
Letzte Worte... Elisabeth Stifter merkte kaum, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie beugte sich auf dem lehnenlosen Stuhl, auf dem sie saß, vor und legte ihre Wangen auf die noch warme Brust des Toten. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, den eigenen rasenden Herzschlag auf den ermatteten Muskel in Tobias' Brust zu übertragen... aus irgendeinem Körper in diesem Kloster Lebenszeit abzuziehen und in das angehaltene Uhrwerk zu leiten...
Sie verzichtete darauf, weil es genau das gewesen wäre, was er ihr immer verboten hatte. Mehr als einen geringen Aufschub hätte sie in diesem Stadium ohnehin nicht mehr erwirken können. Und dafür war der Preis – sein Zorn – zu hoch.
Elisabeth Stifter schloss die Augen. Ihre Erinnerung wanderte noch einmal das lange Wegstück zurück, das der Tote und sie gemeinsam gegangen waren. Nur einmal hatten Abschiedsworte sie vergleichbar wie die von Tobias aufgewühlt. Siebzig, nein, einundsiebzig Jahre war das her, als im Frankenreich nahe der deutschen Grenze eine Frau, die Elisabeth unbekannt erschienen war, ihr etwas zugeraunt hatte, was sie seither nie mehr losgelassen hatte.
Eine Entschuldigung? Eine Entschuldigung für den gewaltsamen Tod, den Elisabeth in ferner Zukunft gestorben war, als sie noch Beth MacKinsey geheißen hatte?
Verzeih Uruk!
»Ich wünsche dir alles Glück bei deinem Wagnis!« hatte Tobias gesagt.
Er hatte gewusst, wovon er redete. Denn er war dabei gewesen, als Elisabeth Stifter vor dem Tunnel gestanden hatte, durch den sie hatte schreiten wollen, um wieder Beth MacKinsey zu werden. Damals, im selben Jahr, als der gehörnte Zyklop, das flüchtige, wandelbare TIER, das die Hölle entsandt hatte, vom Orden der Illuminaten in London zur Strecke gebracht worden war: 1666. Das Jahr, in dem Elisabeth ihrem Mann versprochen hatte, seinen Weg bis zum Ende mitzugehen – mochte er auch noch so bitter werden –, bevor sie ihren Weg zurück in eine ungewisse Zukunft dereinst einmal wagen wollte...
»Er ist sicher angekommen. Ich habe ihn geleitet, bis er die richtige Pforte passierte«, sagte eine unerschütterliche Stimme, als die knabenhaft schlanke Frau, deren blondes Haar bis auf die kleinen, unter einem schlichten Kleid verborgenen Brüste fiel, aus der Tür der Unterkunft auf den Klostergang hinaustrat. »Das wollte ich dich nur wissen lassen...«
Elisabeth Stifter hielt inne.
Die Aura des Mannes, der vor der Tür auf sie gewartet hatte, war ihr unangenehm. Sie kannte ihn, seit sie Tobias kannte. Aber die Nähe dieses Wesens, das – mochte das Auge es auch noch so bereitwillig glauben – kein Mensch war, sondern ein gestaltgewordener Engel, legte sich immer noch wie ein bleiernes Gewicht auf ihre Schultern.
»Salvat...«
Das Wesen, dessen Schwert die Inkarnation Luzifers über der Pestgrube zu London durchbohrt und ausgelöscht hatte, lächelte milde.
»Was willst du?« Elisabeth zog ihren Kopf zwischen die Schultern, als würde das Lächeln sie zum Frieren bringen.
»Mit dir reden.«
»Jetzt? Er hat gerade die Augen zugemacht...«
»Ich weiß. Deshalb will ich ja mit dir reden.«
»Worüber?« Ihre Haltung war pure Abwehr. Pure... Abneigung.
Tobias war tot. Sie musste sich nicht mehr verstellen. Sie musste das, was in ihr pochte und rumorte, nicht länger ganz und gar verleugnen.
»Warum bist du so feindselig?«
»Bin ich das?«
»Ja.«
»Und das wundert dich?«
»Sagen wir, es macht mich traurig.«
»O ja, ich verstehe!« Elisabeth kniff die Lippen zusammen. Sie schloss kurz die Augen und rief sich in Erinnerung, dass Salvat keine nachweisbare Schuld daran traf, was sie den anderen Bewohnern des Klosters ankreidete. Er hatte nie ein Wort darüber verloren, sie nie in einer Weise angeblickt, als unterstellte er ihr ein Verbrechen. Wahrscheinlich geschah es vollkommen unbewusst, dass sich ihre Frustration ausgerechnet an ihm festbiss.
»Wir sollten nicht hier auf dem Gang darüber reden«, sagte er. »Gehen wir an einen Ort, wo uns niemand stört.«
Die Ablehnung des Angebots lag Elisabeth auf der Zunge. Warum sie letztlich doch einwilligte und Salvat zögerlich folgte, hätte sie selbst nicht zu sagen vermocht. Vielleicht war Tobias' Bild noch zu gegenwärtig in ihr. Und die Gefühle, die sie in den Minuten stiller Andacht neben seinem Leichnam durchlebt hatte.
Salvat führte sie in Bereiche des Monte Cargano, die sie noch nie betreten hatte.
Er führte sie in die Tiefen des Berges, auf denen das Kloster erbaut war.
Elisabeth kannte das Labyrinth vom Hörensagen. Tobias hatte darüber gesprochen. Das Zentrum des Systems unterirdischer Gänge war geheimnisumwoben. Selbst die Illuminaten, die es aufsuchten, weil Salvat es ihnen befahl, schienen sich über den letztendlichen Sinn ihres Aufenthalts, der sich manchmal über Tage erstreckte, ehe sie von einer anderen Gruppe abgelöst wurden, im Unklaren zu sein.
Umso erstaunter war Elisabeth, als sie feststellte, dass Salvat sie geradewegs in die Innere Halle führte, wie das Zentrum im Berg auch genannt wurde.
»Warum tust du das?« fragte sie.
»Was?«
»Mir zeigen, was sonst nur Angehörigen deines Ordens vorbehalten ist.«
»Du bist eine Angehörige meines Ordens«, sagte Salvat ruhig. »Es ist nur schade, dass du selbst das nicht akzeptieren willst.«
»Ich bin keine von euch!« widersprach Elisabeth heftig. »Ich bin gelitten, nicht willkommen – und auch dieses Dulden wird sich sehr schnell ändern, wenn sich die Kunde von Tobias' Tod verbreitet...«
»Du hast keinen Grund, so verbittert zu sein.« Salvat blieb in der Mitte eines einzigartigen Raumes stehen. Einer Höhle, deren grandiose Atmosphäre schon von dem Wissen geprägt wurde, dass sie nicht natürlich entstanden war, sondern dem Berg mit unbekannten Mitteln abgetrotzt wurde. Keine Menschenhand hatte das granitene Gewölbe erschaffen. Andere, abseitige Kräfte waren am Werk gewesen.
Das zweite prägende Element für die fast greifbare Spannung, die über diesem Ort lag, war das Tor. Das eherne Tor, über dessen Bedeutung auch Tobias in manchem Gespräch gerätselt hatte – vielleicht wusste nur Salvat, was dahinterlag. Und warum es nie im Beisein eines Illuminaten geöffnet wurde...
Wird es überhaupt je geöffnet?
Unwillkürlich blitzte die Frage in Elisabeth auf, während ihr Blick über das Gebilde wanderte, dessen Ausstrahlung ihr absurderweise willkommener schien als Salvats Nähe. Dieses nicht in Worte zu fassende Charisma erinnerte sie an die eigenen Untiefen. An das Unauslotbare, das in ihr gierte, seit sie sich vor 86 Jahren außerhalb der Prager Stadtmauern wiedergefunden hatte – als erinnerungsloses Wrack... als Monstrum, das jedem den Tod einbrachte, der sich in seine Nähe wagte...
»Ich dachte«, sagte Elisabeth, »wir wollten an einem ungestörten Ort sprechen...«
Im Hintergrund der Halle standen Mitglieder des Ordens. Ihre Gesichter lagen im Schatten von Kapuzen. Sie rührten sich nicht vom Fleck, wirkten, als wären sie in einem völlig in sich gekehrten Zustand erstarrt.
»Hier sind wir ungestört«, sagte Salvat, der ihren Blick bemerkte. »Die Wächter schenken uns keine Beachtung. Ihre Aufmerksamkeit ist auf etwas anderes gerichtet.«
»Wächter?«
Salvat trug einen Umhang, der aus ähnlichem Stoff gefertigt schien wie die Kutten der Illuminaten. Ein einziges Mal, in der Heiliggeistkirche zu Heidelberg, hatte Elisabeth ihn entblößt, ohne jedes Kleidungsstück gesehen – ein unvergessliches Erlebnis. Denn im Zusammenprall mit dem personifizierten Bösen hatte Salvat einen Teil seiner menschlichen Maske fallen lassen. Dabei war etwas zum Vorschein gekommen, das entfernt an Flügel erinnerte. Flügel, die sich als fürchterliche Waffe entpuppt hatten!
Was in der Heiliggeistkirche aus seinen Schulterblättern hervorgesprossen und die Schwerkraft um Salvat herum verändert hatte, waren keine gefiederten Schwingen wie auf den Gemälden begnadeter Maler gewesen, sondern hatte eher Ähnlichkeit mit einem Geflecht aus zuckenden, ineinander verschlungenen Schlangenleibern besessen. Elisabeth erinnerte sich nur mit äußerstem Widerwillen daran. Es entrückte ihr Salvat noch mehr.
»Ich habe mir Gedanken über dich gemacht«, sagte Salvat, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Über deine Zukunft hier im Kloster.«
Die Frau an seiner Seite verkrampfte sichtbar. »Das hättest du dir sparen können.«
»Warum?«
»Weil ich keine Zukunft im Monte Cargano habe. Sobald Tobias' letzter Wunsch erfüllt ist, werde ich das Kloster verlassen und es niemals wieder betreten!«
Ihr Tonfall verriet, dass sie keine spontane Eingebung zum Ausdruck brachte, sondern ein wohlüberlegtes festes Vorhaben. Salvat schüttelte dennoch den Kopf. Er lebte schon so lange unter Menschen, dass er sich ihre Körpersprache und Mimik zu eigen gemacht hatte, und nur manchmal schimmerte durch seine Gesten noch eine Fremdheit hindurch, die Uneingeweihte verstört zurückgelassen hätte.
»Ich wäre froh, wenn du deinen Entschluss, so unumstößlich er auch klingt, noch einmal überdenken würdest.«
»Warum sollte ich das?«
»Weil ich eine Aufgabe für dich hätte – und keinen wüsste, der sie besser erfüllen könnte.«
Eine Weile studierte Elisabeth wortlos die Züge des Engels.
»Danke«, lehnte sie schließlich ab. »Ich gehe.«
»Nenn mir den Grund.«
Elisabeth schürzte die Lippen.
»Der Hauptgrund«, sagte sie, »ist das Misstrauen, das man mir entgegenbringt – immer entgegengebracht hat.«
»Genauer«, drängte Salvat.
Elisabeth gab sich einen Ruck. »Niemand sagt es mir ins Gesicht«, fuhr sie fort, »aber ich lese es in jedem Gesicht: Sie sehen mich an und denken: 'Ihre Jugend, ihre nie welkende Haut stiehlt sie von uns – von einem jeden, der im Kloster lebt, in ganz kleinen, unauffälligen Dosen. – Wäre sie nicht da, könnten wir Wochen, Monate, vielleicht Jahre länger leben!'...«
»Das, glaubst du, denken sie?«
»Ich bin mir sicher.«
»Und? Bestiehlst du sie?«
Elisabeth senkte den Blick. »Ich weiß es nicht. Wenn die Jahrzehnte auch nicht zählbar Furchen in mein Antlitz
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Adrian Doyle/Timothy Stahl/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 11.12.2020
ISBN: 978-3-7487-6809-8
Alle Rechte vorbehalten