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Leseprobe

 

 

 

 

SARA WOODS

 

 

Das Haus zum sanften Mord

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 156

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS HAUS ZUM SANFTEN MORD 

Teil 1: Sitzungspause zu Weihnachten 1972 

Teil 2: Sitzungsperiode Januar 1972 

Epilog: Donnerstag, 20. Januar 

 

 

Das Buch

In einem privaten Pflegeheim für Senioren sterben nacheinander mehrere sehr vermögende Gäste unter verdächtigen Umständen. Man ruft den Londoner Star-Anwalt Antony Maitland, der nicht verhindern kann, dass noch eine weitere Patientin stirbt. Aus dem Gerücht um das Pflegeheim droht ein offener Skandal zu werden...

 

Sara Woods (eigtl. Lana Hutton Bowen-Judd, * 7. März 1922 Bradford, Yorkshire, England; † 5. November 1985 Toronto, Ontario, Kanada) war eine britische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Das Haus zum sanften Mord erschien erstmals im Jahr 1980; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1981.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DAS HAUS ZUM SANFTEN MORD

 

 

 

 

 

 

 

»Sie sprachen ihr Gebet und bleiben zum Tod.«

-Heinrich V., 

4. Akt, 2. Szene

 

 

 

 

 

  Teil 1: Sitzungspause zu Weihnachten 1972

 

 

 

 

Dienstag, 4. Januar

 

 

 

1

 

 

»Muss dich was fragen«, sagte Vera, Lady Harding. Sie hatte eine eigene, knappe Sprechweise, aber niemand von ihren Zuhörern, bestehend aus ihrer engsten Familie, nahm ihr das übel.

»Na, du weißt ja, Vera«, sagte Antony Maitland sofort, »wenn ich irgendetwas für dich tun kann...« Erst später wurde ihm klar, dass er nicht nur entgegenkommend, sondern auch sehr unvorsichtig gewesen war.

»Ich hoffe, du weißt, worauf du dich da einlässt«, sagte Sir Nicholas Harding nachsichtig. Es war unbestreitbar, dass er in den Monaten seit seiner Heirat beträchtlich milder geworden war, aber zumindest sein Neffe gedachte nicht im Geringsten, dieser so offensichtlichen Liebenswürdigkeit zu trauen. Antony war sich nicht sicher, ob diese plötzliche Bitte Veras für seinen Onkel ebenso überraschend kam wie für ihn.

Einen Augenblick später erhielt er die Antwort.

»Es ist der Name Chedcombe gefallen«, sagte Sir Nicholas in unbestreitbar provozierender Absicht.

»Den Ort hasse ich«, sagte Antony kompromisslos. Jenny, seine Frau, verlor etwas von ihrem friedlich-heiteren Aussehen und warf einen besorgten Blick zu Vera hinüber, aber Vera konzentrierte sich auf ihr Problem und merkte nichts davon.

»Hauptsächlich meinetwegen, nicht?«, sagte sie. Ihr knapper Tonfall konnte kaum zur Überredung dienen, die aber offenkundig in ihrer Absicht lag. »Wenn du darüber nachdenkst...«

»Warum sollte ich?«, fragte Antony.

»Es ist ja nicht so«, sagte Vera, die ihre eigene Methode hatte, mit Widerspenstigkeit fertig zu werden, »als hätte ich dir ein klares Problem vorzutragen. Nur eine Menge Klatsch.« Durch ihre Eheschließung mit Sir Nicholas vor gut fünf Monaten war sie seine angeheiratete Tante geworden, aber es fiel beiden schwer, das im Gedächtnis zu behalten.

»Klar doch«, sagte Antony und sah, wie sein Onkel die Augen schloss. »Ich meine, das ist das eine, worauf man sich in Chedcombe verlassen kann, nicht wahr? Auf den Klatsch.«

»Ich weiß, du hast oft genug erklärt, dass du nie wieder hinwillst«, sagte Vera hastig. »Aber das ist etwas - eine recht scheußliche Geschichte, eigentlich. Wenn du mich nur anhören würdest, Antony.«

»Ich sagte doch, was immer ich für dich tun kann, nicht?« Das klang schon etwas bedauernd, aber dann fügte Antony heiterer hinzu: »Ein Versprechen, das einem abgeluchst wird, ist eigentlich kein echtes... findest du nicht?«

»Das entscheide, wenn du gehört hast, was ich zu sagen habe«, erklärte Vera störrisch. Jenny schaute sich rasch in der Runde um, aber als sie feststellte, dass sowohl ihr Mann als auch ihre Gäste mit Kaffee und Kognak versorgt waren, blieb nichts anderes übrig, als sich zurückzulehnen, die Hände zu falten und zuzuhören.

Maitland, der sich stets in Bewegung setzen musste, wenn ihn irgendetwas beschäftigte, stand auf und brachte das Kaminfeuer mit einem Fußtritt wieder zum Lodern. Er blieb auf dem Kaminvorleger stehen und blickte auf Vera hinunter. Sein Gesicht hatte nun einen ernsten Ausdruck angenommen.

»Fang an«, sagte er, aber ohne jede Spur der Lebhaftigkeit, mit der er auf ihre Bitte ursprünglich eingegangen war.

»Freundin von mir«, sagte Vera. »Mary Dudley. Sie macht sich Sorgen.«

»Ist das die ganze Geschichte?«, fragte Antony nach einer Pause. »Denn wenn das so ist...«

Vera warf ihm einen eher hilflosen Blick zu. Als sie im Gerichtsbezirk West Midland noch selbst als Anwältin aufgetreten war, hatte sie Worte genug finden können, um die Interessen ihrer Klienten zu vertreten, aber ihre ganze Beredsamkeit schien sich verflüchtigt zu haben. Sir Nicholas sagte mit Gelassenheit in die sich ausbreitende Stille hinein: »Wir sollten dir lieber klarmachen, dass Miss Dudley die Oberschwester im Hotel Zur stillen Ruhe ist, Antony.«

»Oh, Gott!«, sagte Antony, der nicht oft dazu neigte, seinen Schöpfer anzurufen. »Wozu, beim Teufel, braucht ein Hotel eine Oberschwester?«

»Weil es in Wahrheit ein Altersheim ist.«

»Warum geht man dann nicht her und gibt das offen zu?«

»Ein sehr teures, exklusives Haus«, erläuterte Sir Nicholas, der die zu berichtende Geschichte insgeheim zu genießen schien. »Angeschlossen ist ein Pflegeheim. Du solltest das genauer erklären, Vera.«

»Sie haben auch ein paar Dauerpatienten«, fuhr Vera fort, »aber in erster Linie dient es dazu, die anderen Gäste aufzunehmen, wenn sie krank werden. Das kommt ziemlich oft vor, wie man sich denken kann.«

»Ist diese - diese Freundin von dir ausgebildete Krankenschwester?«

»Du lieber Himmel, ja, wie das andere Personal auch. Außerdem gibt es einen Arzt im Hause. Die Patienten werden wirklich sehr gut versorgt.«

»Und der Hotelbereich?«

»Hat sein eigenes Personal, und zwar ein sehr gutes, wie Mary immer gesagt hat. Ich glaube, du kannst davon ausgehen, dass sie damit recht hat. Sie war immer schon eine Perfektionistin.«

»Das ist alles schön und gut. Wo ist der Haken?«

Wieder zögerte Vera und sah ihren Mann an, als wolle sie bei ihm Hilfe suchen. Das war etwas Neues, dachte Antony, wenn sie von ihrer Unabhängigkeit im Denken ein wenig nachließ. Vera war für eine Frau sehr groß und ziemlich stark, aber jetzt eleganter als in den Tagen ihrer ersten Bekanntschaft. Sie bevorzugte nach wie vor sackartige Kleider, die nun aber gut geschnitten waren, und außerdem lernte sie allmählich, welche Farben zu ihr passten. Aber an der eigentlichen Vera, deren dichtes, ergrauendes Haar den Haarnadeln stets zu entkommen versuchte, hatte sich nichts Grundlegendes geändert, dachte Antony, und es war ein angenehmer Gedanke.

Sir Nicholas war entschlossen, sich der Lage gewachsen zu zeigen.

»Der Haken ist - der Tod!«, sagte er mit einem Anflug von Theatralik, den weder Antony noch Jenny je in seiner Stimme schon gehört zu haben sich erinnern konnte. »Um genau zu sein, drei Todesfälle.«

»Unter den Dauerpatienten?«

»Nein, das ist der Haken. Hotelgäste, die erkrankten und in den Pflegeheim-Flügel verlegt wurden.«

»Wie viele Tote, sagst du?«

»Drei innerhalb von sechs Monaten. Das ist eigentlich alles, was du darüber wissen musst, mein Lieber, weil du begreifen wirst, dass in einem Ort wie Chedcombe...«

»Das ist mir völlig klar.« Maitlands Stimme klang so grimmig wie vorher Veras Ton. »Aber es gibt andere Dinge, die ich wissen möchte, wenn du erlaubst. Zum Beispiel, wie alt waren diese drei alten Leute?«

Vera hatte die Antwort parat.

»Die erste Person war neunundachtzig«, sagte sie. »Die zweite erst sechsundsiebzig und die dritte, glaube ich, knapp über achtzig.«

»War es dann wirklich so verwunderlich...?«

»Genau das habe ich auch gesagt«, warf Sir Nicholas erfreut ein.

»Der Arzt war nicht der Meinung. Er hatte sie von Zeit zu Zeit alle drei behandelt und zögerte nicht, die Totenscheine auszustellen. Nach dem zweiten Todesfall begann aber das Gerede, und Mary sagt, es hätte solche Ausmaße angenommen, dass sie sich kaum noch auf die Straße traut. Die Läden...«

»Ja, ich entsinne mich«, sagte Antony und lächelte sie freundlich an. »Als wir das erste Mal zusammenarbeiteten, missbilligte man in den Geschäften - übrigens auch sonst überall, soviel ich spürte -, dass du einen Außenstehenden mitgebracht hattest, und es wurde schwer für dich, bedient zu werden. Aber sicherlich ist ein Haus wie dieses - dieses Hotel...?«

»Mary hat Schwierigkeiten beim privaten Einkauf«, erklärte Vera, »und ein paar von den Schwestern ergeht es ähnlich. Aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste, sondern die Atmosphäre... du kennst Chedcombe, Antony!«

»Ja, nur zu gut. Die Frage ist«, fügte er hinzu, während er von Vera zu Sir Nicholas blickte und dann von der Seite her Jenny ansah, auf deren Mitgefühl er sich verlassen zu können glaubte, »die Frage ist, was soll ich dagegen unternehmen können?«

»Die neue Sitzungsperiode beginnt erst in einigen Tagen«, sagte Vera ganz ernsthaft, »und Nicholas teilt mir mit, dass die Verhandlung deines ersten Falls in diesem Jahr verschoben worden ist.«

»Mein Klient liegt im Krankenhaus«, bestätigte Maitland. »Aber es gibt andere Fälle, mit denen ich mich beschäftigen könnte, weißt du.«

»Aber nichts wirklich Dringendes. Ein paar Tage...«, sagte Vera lockend. »Du gibst mir doch recht, Jenny, ja?«

»Vielleicht«, erwiderte Jenny vorsichtig. »Aber im Ernst, Vera, ich begreife auch nicht, was Antony da tun soll. Wird denn behauptet, alle diese Menschen seien ermordet worden?«

»Das wird in der Stadt geredet.«

»Glaubst du das?«

»Jedenfalls bin ich sicher, dass Mary...«

Antony beeilte sich dazwischenzugehen. Er hatte manchmal das Gefühl, dass ein Ausdruck wie so etwas würden sie nicht tun ein Nagel zu seinem Sarg war. Das von Vera zu hören, die als Rechtsanwältin und Strafverteidigerin es besser wissen sollte, verblüffte ihn ein wenig.

»Du verlangst, ich solle beweisen, dass sie eines natürlichen Todes gestorben sind«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass das so ganz meines Amtes ist, nicht wahr?«

»Verlange, dass du die Wahrheit ermittelst«, verbesserte Vera. »Ich kann nicht wissen, ob das zusammenfällt.«

Sir Nicholas war offenkundig der Meinung, wieder eingreifen zu müssen. Er und sein Neffe waren hochgewachsene Männer, aber der Ältere war viel massiger gebaut und sah nach den konventionellen Maßstäben besser aus - so sehr sogar, dass er in Zeitungsberichten oft als stattlich und gutaussehend beschrieben wurde, was ihn maßlos ärgerte. Er hatte blonde Haare - so blond, dass man nicht erkennen konnte, wieviel Grau schon darunter war - und eine unbewusst herrische Art. Im Augenblick machte er sich Gedanken über die Seelenruhe seiner Frau.

»Die Assisen - das Krongericht - tagen noch nicht«, betonte er. »Es gibt keinen Grund, weshalb du Jenny nicht mitnehmen und ein paar Tage ausspannen solltest.«

»Zu dieser Jahreszeit?«

»Ich habe schon erlebt, dass du bei wesentlich unwirtlicherem Wetter in der Wildnis von Yorkshire Urlaub gemacht hast«, gab sein Onkel ohne Mitgefühl zurück. »Das Hotel - wie heißt es gleich? - das George ist warm und behaglich. Ich wüsste nicht, warum dir die Abwechslung nicht guttun sollte.«

»Aber es wird keine Abwechslung sein«, wandte Antony ein. »Wenn du glaubst, es macht mir Vergnügen, Fragen zu stellen...«

»Für eine gute Sache«, erklärte Sir Nicholas feierlich. »Miss Dudleys Gemütsruhe mag dir nichts bedeuten, aber Vera liegt sie am Herzen.«

»In Chedcombe mag man mich so wenig wie umgekehrt. Ich würde völlig privat auftreten müssen, alles andere würde die Sache nur verschlimmern. Und selbst so...«

»Möchte der Meinung sein können, dass wir getan haben, was wir konnten«, sagte Vera knapper denn je, als sie einen Sieg zu wittern begann. »Ich traue diesem Arzt nämlich nicht so ganz, weißt du«, fügte sie hastig hinzu.

»Hast du einen Grund dafür, so etwas zu sagen, oder ist das nur weibliche Intuition?«

»Keine Spur!« Die Unterstellung brachte Vera ein wenig aus der Fassung. Dann lachte sie kurz auf, was eine Eigenheit von ihr war. »Nicht, dass ich den Grund genau angeben könnte«, räumte sie ein. »Aber du kannst sehen, warum ich glaube, dass - es ist eben etwas, was du gut kannst, Antony, und ich gar nicht.«

Antony kehrte zu seinem Sessel zurück und griff nach seinem Kognakschwenker. Sein Kaffee war kalt geworden und würde wohl immer noch dastehen, wenn später abgeräumt wurde.

»Was hältst du von ein, zwei Tagen auf dem Land, Liebes?«, fragte er Jenny und lächelte sie an.

Sie wusste so gut wie er, dass das die Kapitulation war, etwas, woran sie von Anfang an nicht gezweifelt hatte.

»Ich glaube nicht, dass es für dich sehr vergnüglich sein wird, aber ich habe bestimmt etwas davon«, gab sie zurück.

»Dann je früher, desto besser.« Er hatte seinen Kognak geschlürft und sich vielleicht dadurch ermannt. »Wann kannst du reisefertig sein?«

»Jederzeit.«

»Also gut, dann fahren wir morgen«, erklärte er und wusste, während er das sagte, nicht, wie sehr er diese Worte später bereuen sollte.

Sir Nicholas wechselte mit seiner Frau einen Blick und wandte sich seinem Neffen zu.

»Wenn du es einrichten könntest, in deinen Entschlüssen ein bisschen weniger unvermittelt zu sein, Antony«, sagte er.

»Das wolltet ihr doch, nicht?« Das Humorvolle an der Situation ging ihm plötzlich auf, und er begann zu lachen. »Ich hatte von Anfang an keine Chance, wenn ihr beide euch zusammentut«, sagte er. »Es wird euch aber hoffentlich klar sein, dass ich noch viele Fragen beantwortet haben will, bevor wir fahren.«

 

 

 

2

 

 

Die Maitlands bewohnten schon seit vielen Jahren die beiden oberen Stockwerke von Sir Nicholas Hardings Haus, Kempenfeldt Square Nr. 5. Seltsamerweise war die ganze Nordseite des Platzes, wo auch Nr. 5 stand, in Privathand verblieben, obwohl die Häuser an den anderen drei Seiten inzwischen fast ausschließlich gewerblichen Zwecken dienstbar gemacht worden waren. Anfangs hatte die Teilung des Hauses eine rein vorübergehende sein sollen - wegen des akuten Wohnungsmangels -, und der Umbau war nicht so drastisch vorgenommen worden, dass jeder Teil des Hauses für sich abgeschlossen gewesen wäre. Im Lauf der Jahre hatten sie alle das Wort zeitweilig« vergessen, so, als sei es aus ihrem Wortschatz gestrichen worden; die Einrichtung war eine praktische, meistens auch eine sehr angenehme, und selbst wenn sie es nicht war - das heißt, bei den Gelegenheiten, wenn Sir Nicholas’ unberechenbares Temperament Probleme hervorrief -, pflegte Antony zu behaupten, dass es seine Vorteile habe, Kämpfe auf eigenem Boden auszufechten. Außerdem gehörte er zur Kanzlei seines Onkels im Inner Temple; es mochte keine gute Idee sein, das berufliche Dasein mit in das private hinüberzuschleppen, aber es gab Zeiten, zu denen sie das beide als zweckdienlich empfanden. Zu Beginn der Herbstsitzung, als Sir Nicholas und seine Braut von ihren Flitterwochen zurückgekehrt waren, hatte es Belastungen gegeben, auf welche hin Antonys Bedenken, das Haus weiterhin mitzubenutzen, die ganze Vereinbarung beinahe über den Haufen geworfen hätten, aber auf die eine oder andere Weise waren diese Bedenken inzwischen behoben, und Veras Anwesenheit war nun für sie alle etwas sehr Angenehmes.

An den Dienstagabenden speiste Sir Nicholas nach alter Tradition bei den Maitlands. Vera hatte diesen Brauch mit Freude übernommen. Ihren Donnerkeil hatte sie nun bei einer dieser Gelegenheiten nach dem Essen geschleudert.

»Ich hätte nicht überraschter sein können, wenn sie mich ins Bein gebissen hätte«, sagte Antony zu Jenny, als die beiden gegangen waren. »Sie gehört sonst nicht zu den Leuten, die Forderungen stellen.«

»Sie hat dich seinerzeit in mindestens vier Fälle hineingezogen«, betonte Jenny. Als sie merkte, dass er sich unterhalten wollte, hatte sie sich wieder behaglich in ihrer Lieblingsecke auf dem Sofa zusammengerollt. »Das nenne ich nicht: keine Forderungen stellen.«

»Aber das war in beruflicher Beziehung, nicht etwas wie das jetzt.«

»Sehr viel schlimmer«, meinte Jenny. »Wenigstens sehe ich nicht, wo hier eine Gefahr lauern könnte«, fügte sie zweifelnd hinzu.

»Ich auch nicht. Aber siehst du, Schatz, ich habe nicht die Spur einer Ausrede für die Ermittlungen, die ich anstellen soll, und kein medizinisches Wissen, um entscheiden zu können, was wahr ist und was nicht.«

»Der Arzt...«

»Glaubst du, dass er mir helfen wird? Er hat für alle diese Leute Totenscheine unterschrieben, weißt du. Für ihn sind das natürliche Todesfälle.«

»Ja, mit offenen Armen wird er dich wohl nicht willkommen heißen«, meinte Jenny nachdenklich. »Aber Vera ist ein so feiner Mensch, Antony, und Onkel Nick wollte auch, dass du fährst.«

»Ja, und ich hoffe nur, dass ihm das einfällt, wenn es Schwierigkeiten geben sollte«, sagte Antony, auf einmal wieder belustigt. »Aber verlassen würde ich mich nicht darauf.«

 

 

 

 

Mittwoch, 5. Januar

 

 

 

1

 

 

Jenny hielt ihr Wort: Sie erreichten am nächsten Vormittag den Zehn-Uhr-Zug eine Viertelstunde vor Abfahrt und waren rechtzeitig zum Mittagessen in ihrem Hotel. Da Jenny dabei war, hätten sie das Auto nehmen können, aber die Straßen waren zu vereist. Chedcombe tut sich auf sein malerisches Äußeres etwas zugute und heimst den Lohn für die dadurch bedingte Unbehaglichkeit während der Sommermonate ein, in denen es von Besuchern wimmelt. An diesem Januartag jedoch, einige Tage, bevor die Mitglieder der Anwaltstische eintreffen sollten, schienen sie im Hotel praktisch die einzigen Gäste zu sein. Der Geschäftsführer selbst kam heraus, um sie zu begrüßen, als sie sich eintrugen; zu Antonys Erleichterung ein neuer Mann. Maitland hatte sich stets für vollkommen unschuldig erklärt, was die eher schauderhaften Ereignisse nach seinem ersten Besuch im George anging, aber der damalige Direktor hatte sich seiner Meinung nicht angeschlossen, und es sprach wenig dafür, dass er im Lauf der dazwischenliegenden Jahre vergeben oder vergessen hatte.

Sie gingen also hinauf, packten aus, wobei sie sich Zeit ließen, und gingen in den Speisesaal hinunter. Hier erwies sich der Eindruck, das Hotel sei leer, als falsch. An einem Fenstertisch saß eine Gruppe von Geschäftsleuten, und im Saal waren mehrere Tische mit jeweils drei oder vier älteren Frauen zu sehen. Antony, der keine angenehme Erinnerung an seine beiden bisherigen Besuche in der Stadt hatte, war um Jennys Gegenwart plötzlich sehr froh. Wenn er schon entschlossen war, sich auf etwas einzulassen, von dem jeder halbwegs vernünftige Mensch die Finger gelassen hätte, war es wenigstens ein Trost, abends zu ihr zurückkehren zu können.

Vera hatte ihre Freundin Mary Dudley aus Maitlands Wohnung am Abend vorher angerufen, und sie erwartete ihn gegen drei Uhr in ihrer kleinen Wohnung im Schwesternheim. Das hieß, dass sie in Ruhe essen konnten, bedeutete aber auch, dass Antony Zeit blieb, bei der ganzen Geschichte kalte Füße zu bekommen, etwas, das Jenny durchaus bewusst war.

»Ich glaube, ich komme mit und sehe mir das Haus einmal an«, meinte sie. »Ich kann ja jederzeit zu Fuß zurückgehen.«

»Erst mal sehen, wie weit das ist. Am Stadtrand irgendwo, das ist alles, was ich von Vera in Erfahrung bringen konnte, aber ich weiß wirklich nicht, wie weit es von hier aus ist.«

»Wenn es sehr weit sein sollte, fahre ich mit dem Taxi zurück«, erwiderte Jenny ruhig. »Was glaubst du, ist wirklich geschehen, Antony. Steckt etwas dahinter oder nicht?«

Das war eine Abwechslung für Jenny, die stets behauptete, sie hasse Rätsel. Es war ihm aber schon öfter aufgefallen, dass jede Beteiligung persönlicher Art an seinen Angelegenheiten belebend auf sie wirkte.

»Ich weiß es nicht... Vera weiß es nicht... Onkel Nick weiß es nicht... du verlangst allerhand von mir, Liebes. Ich habe nichts, worauf ich eine Meinung gründen könnte.«

»Wenn du mit Miss Dudley sprichst...«

»Werde ich wohl auch nicht viel klüger sein. Ich weiß auch, dass das ein Fehler von mir ist, Schatz, aber ich habe kein besonderes Mitgefühl für Leute in einem Hotel Zur stillen Ruhe, selbst wenn es sich als Hotel tarnt.«

»Dafür kann Miss Dudley nichts«, gab Jenny zurück.

»Nein, natürlich nicht.« Dann schien seine Stimmung plötzlich umzuschlagen. »Ich bin nicht ganz offen zu dir, Jenny«, sagte er. »Denk an das Alter dieser Menschen. Ich halte das Ganze für Unsinn.«

»Dann kannst du es Vera sagen und...«

»Sag nicht alle werden zufrieden sein. Getratscht wird wohl in den meisten Kleinstädten, Jenny, aber Chedcombe schießt da den Vogel ab, das kann ich dir versichern. Es liegt nahe, dass es noch mehr Todesfälle dort gibt, wo das Durchschnittsalter der Bewohner über achtzig zu liegen scheint, und was wird die Stadt dann sagen?«

Jenny runzelte nachdenklich die Stirn.

»Das Beste wäre vielleicht, wenn sie wirklich ermordet worden sind und du dann beweisen könntest, wer es getan hat«, erklärte sie.

Es klang so ernsthaft, dass er sie anlächeln musste, obwohl er selten so viel Widerwillen gegen eine Aufgabe verspürt hatte wie die, die er an diesem Nachmittag in Angriff nehmen musste.

»Wenn das eine notwendig aus dem anderen hervorgehen würde«, sagte er. »Aber das ist nicht der Fall, wie du weißt, Schatz.«

Als sie aufstanden, um zu gehen, rechnete er halb mit dem gleichen Gewisper, das vor acht Jahren, als er Vera kennengelernt hatte, jeden seiner Schritte verfolgt zu haben schien, aber nichts geschah. Chedcombe hatte ihn vergessen, wie er sich wünschte, den Ort vergessen zu können. Sie traten schweigend in die Halle hinaus.

Das Schwesternheim erwies sich als groß und hässlich und war von seinem Architekten mit allen für die spätviktorianische Zeit typischen Wucherungen ausgestattet worden. Das Hotel auf der anderen Straßenseite war eine andere Sache - ein rechteckiges Backsteingebäude, efeubedeckt, mit sehr viel auf Hochglanz poliertem Messing und ganz ohne jeden Anflug von einem Institut. Ein Anbau war in ebenso gutem, formellem Geschmack errichtet worden. Antony vermutete jedenfalls, dass es sich um eine spätere Erweiterung handelte; der Backstein war nicht so dunkel, woran das auch immer liegen mochte. Er hielt das für den Pflegeheim-Flügel und erfuhr später, dass er richtig vermutet hatte.

Es war ziemlich kalt, aber Jenny hatte sich warm eingemummt und stellte fest, dass es ihr Spaß machen würde, zu Fuß zum Hotel zurückzugehen.

»Dann bin ich möglicherweise schon vor dir da«, sagte Antony. »Diese Freundin von Vera wird mir höchstwahrscheinlich nur einen Floh ins Ohr setzen.«

»Nach ihrem Gespräch gestern Abend ist doch sicher...«, begann Jenny und sah ihn dann schärfer an. »Du hoffst das sogar«, beschuldigte sie ihn.

Das kam der Wahrheit so nah, dass er sie beinahe fröhlich angrinste.

»Ich muss zugeben, dass mir ein solcher Gedanke tatsächlich gekommen ist«, antwortete er. »Aber das heißt wohl, zu viel zu erwarten.«

Sie trennten sich, und er sah ihr nach, als sie die Straße hinunterging. Seltsam, dachte er, als er den kurzen Plattenweg zur Eingangstür betraf und als Kenner des Hässlichen die Hinterglasmalerei in der Tür bewunderte, seltsam, dass er der bevorstehenden Begegnung mit großer Unruhe entgegensah, obwohl Befragungen verschiedenster Unannehmlichkeit mit zu seinem Beruf gehörten, und zwar schon seit langer Zeit. Selbst die wenigen zusätzlichen Einzelheiten, die Vera ihm am vergangenen Abend hatte liefern können, vermochten ihn nicht davon zu überzeugen, dass es überhaupt etwas gab, das man aufklären konnte. Wenn wirklich üble Dinge im Busch waren, verschlimmerte das alles nur noch, weil dann allzu viel dafür sprach, dass Veras Oberschwester bis zum Hals in der Sache steckte. Und das war auch die eigentliche Ursache seines Unbehagens, diagnostizierte er, während er auf den Klingelknopf drückte. Er hatte Vera immer gut leiden können, vom ersten Tag an, als sie hier in diesem Ort zusammen gearbeitet hatten, und jetzt umso mehr, seit sie mit seinem Onkel verheiratet war und er sie besser kannte. Es hieß, das Schicksal herauszufordern, sich in etwas einzumischen, wo sie Gefühl investiert hatte; er war überzeugt davon, dass sein Onkel ihm normalerweise rechtgegeben hätte, aber der vergangene Abend hatte gezeigt, dass er fest auf Veras Seite stand.

Sie hatte ihm erklärt, dass das oberste Stockwerk des Gebäudes in eine Wohnung für Miss Dudley umgebaut worden sei, aber es gab nur einen einzigen Klingelknopf. Er drückte ihn und hoffte auf das Beste. Es dauerte geraume Zeit, bis die Tür von einem kleinen, schmächtigen Mädchen fast zögernd geöffnet wurde; er war sich ihrer Herkunft nicht sofort sicher, aber in ihrer sauberen weißen Tracht wirkte sie besonders dunkelhäutig.

»Miss Dudley erwartet mich«, sagte er zu ihr. »Vielleicht können Sie mir sagen, wie ich zu ihrer Wohnung komme.«

Sie wich vor ihm zurück und brachte es auf irgendeine Weise fertig, dabei anmutig zu wirken. Ihr Lächeln war zugleich schüchtern und freundlich.

»Mr. Maitland«, sagte sie, und, nach einer Pause: »Erinnern Sie sich nicht an mich?«

Er sah sie genauer an.

»Dera«, sagte er. »Dera Mohamad. Sie müssen verzeihen, dass ich Sie nicht sofort erkannt habe, aber ich hatte nicht erwartet, hier jemand aus Arkenshaw zu finden, wissen Sie.«

»Ich habe Ihnen bei unserem Zusammentreffen erzählt, dass ich Krankenschwester werden will«, sagte Dera nur. »Ich bin schon zwei, drei Jahre hier.«

Er erinnerte sich mit unbehaglicher Deutlichkeit an ihre letzte Begegnung. Ihr Bruder war in Maitlands Hotelzimmer gestorben, und obwohl niemals gegen jemand eine Anschuldigung erhoben worden war, hatte er stets die feste Meinung vertreten, es habe sich um ein Verbrechen gehandelt. Schon damals, unter diesen tragischen Umständen, als sie noch keine zwanzig gewesen sein konnte, hatte sie diese rührende Würde ausgestrahlt. Und sie schien sich über das Wiedersehen zu freuen, was erstaunlich war; Antony kam nie auf den Gedanken, sich das Zartgefühl zugute zu halten, das er aufzubringen vermochte, wenn die Situation es verlangte.

»Sie kommen wegen der Todesfälle«, sagte Dera und erstaunte ihn wieder.

»Ich bin gebeten worden...«, sagte Antony hilflos und fühlte sich sofort schuldbewusst.

»Aber es ist gut, sehen Sie das nicht? Sie werden zeigen, dass alles mit natürlichen Dingen zugegangen ist, und dann können wir wieder in Ruhe leben.«

»Ich hoffe« - und das tat er wirklich, von ganzem Herzen - »dass Sie in dieser Beziehung recht haben.« Dann fragte er, da ihm das Gespräch in diesem Augenblick als unerträglich erschien, hastig: »Sind Ihre Familienangehörigen auch hier in Chedcombe?«

»Nein, noch immer in Arkenshaw. Da liegt Jackies Grab, wissen Sie.« (Chakwal Mohamad war der verstorbene Bruder.) »Meine Mutter möchte nicht weit weg davon sein.«

Aus dem Regen in die Traufe, dachte er resigniert. Das war heute wirklich nicht sein Tag. »Nein, das sehe ich ein«, murmelte er. »Dera, wir unterhalten uns noch, aber jetzt erwartet mich Miss Dudley.«

»Ja, das hat sie mir gesagt. Kommen Sie bitte mit, Mr. Maitland, ich zeige Ihnen den Weg.« Sie ging voraus auf dem glattpolierten Linoleum der Diele und stieg die Treppe hinauf. »Viele, viele Stufen«, versicherte sie ihm und lächelte ihn über die Schulter hinweg an. »Ich hoffe, Sie sind gut bei Atem.«

»Meine Frau und ich wohnen viele, viele Stufen hoch«, erwiderte Antony. »Ich bin also im Training.«

Die Wohnung der Oberschwester war vom Haus in keiner Weise abgetrennt; man stieg die letzte Treppe zum früheren Dachboden hinauf und war da. Sie musste schon gelauscht ha- ben - ihre Schritte waren auf den Holzstufen auch laut genug gewesen denn sie waren oben kaum angekommen, als auch schon die Tür aufging.

»Danke, Dera«, sagte die Oberschwester freundlich, und das Mädchen huschte davon wie ein Rekrut, den der Hauptfeldwebel vom Exerzierplatz verscheucht. »Sie müssen Mr. Maitland sein, und ich bin Mary Dudley«, fuhr sie fort. »Kommen Sie doch herein.« Er folgte ihr mit dem unsinnigen Gefühl, in die Höhle des Löwen zu treten. Alberne Einstellung, rügte er sich, noch dazu bei einem erfahrenen Strafverteidiger, der seinem Namen das Q. C. des Kronanwalts anfügen durfte.

Die Einrichtung in ihrem Wohnzimmer entsprach genau dem Haus: Sie war hässlich und überladen, aber bei näherer Bekanntschaft erwies sie sich als überraschend bequem. Miss Dudley bat ihn nicht sofort, sich zu setzen, sondern führte ihn durch das Zimmer dorthin, wo in einem altmodischen Kamin ein Feuer brannte. Hier drehte sie sich um, damit sie ihn in Augenschein nehmen konnte. Sie sah einen großgewachsenen Mann, vielleicht ein wenig schlanker als ihm stand, mit schwarzen, nicht gerade streng gekämmten Haaren und einer legeren Haltung, die ihr ein wenig einstudiert vorkam. Antony hatte es bei seiner Vermutung über ihre Einstellung zu seinem Besuch jedoch ziemlich genau getroffen. Sie war Vera dankbar für ihre Fürsorglichkeit, obwohl selbst dieses Gefühl ein wenig widerstrebend wirkte, aber sie nahm es bitter übel, dass sie Hilfe brauchte. Und diese Verärgerung wirkte sich auch auf den Fremden aus, der hergekommen war, um ihr Fragen zu stellen. So bemerkte sie nicht, was ihr unter anderen Umständen vielleicht nicht entgangen wäre, nämlich den humorvollen Ausdruck seiner Augen, oder auch, dass hier ein Mann stand, dessen Vorstellungskraft und Einfühlungsvermögen für anderer Leute Probleme aller Wahrscheinlichkeit ihm selbst oft schwer zu schaffen machte.

Inzwischen spürte Maitland, obwohl er immer noch zurückhaltend blieb, wie sein Gefühl für das Lächerliche sich in den Vordergrund drängte. Sie entsprach so genau dem, was sie war, eine kleine, streng korsettierte Frau, die wahrscheinlich vergessen hatte, wie man sich ab und zu auch einmal gehenlässt, und vor der ihre Schwestern sich gewiss nicht wenig fürchteten. Ihr dunkles Haar begann wie das von Vera zu ergrauen, aber unter ihrer Flügelhaube war es streng nach hinten gebunden. Das einzige, was nicht dazu passte, waren ihre Schuhe, Pumps mit sehr hohen Absätzen; viel weniger bequem als die flachen Schuhe, wie Dera sie trug, dachte er, aber innerhalb der strengen Schwesternhierarchie wohl ein Rangabzeichen.

»Freundlich von Ihnen, dass Sie mit mir reden«, sagte er und schob die Worte so zögernd hin, wie er es mit einer Schachfigur beim Spiel mit einem Meister getan hätte.

»Im Gegenteil, Mr. Maitland. Die Verpflichtung ist ganz auf meiner Seite.« Das kam steif heraus, und sein Mut sank wieder. »Vera hat mir mitgeteilt, dass Sie bereit wären, sich meinetwegen einige Mühe zu machen.«

»Sie sind also verpflichtet, mir dankbar zu sein«, sagte er und versuchte es mit einem Lächeln. Sie gab keine Antwort darauf, sondern senkte nur den Kopf, gleichsam zustimmend, und er fuhr nach einer Pause fort: »Ich glaube - ich habe das auch Vera erklärt -, es besteht sehr wenig Hoffnung, dass ich etwas für Sie tun kann. Wir reden also besser noch nicht von Dankbarkeit.«

»Nun gut.« Sie ging zu einem Sessel vor dem Kamin und zeigte auf das Gegenstück dazu an der anderen Seite. »Das Ganze ist natürlich lächerlich. Ich hoffe, Vera hat Ihnen das klargemacht.«

»Weshalb gibt es dann ein Problem?«, fragte er rundheraus.

Sie ging nicht direkt darauf ein.

»Vera sagt, Sie wären schon in Chedcombe gewesen«, stellte sie fest.

»Zweimal... geschieht mir ganz recht.«

»Dann wissen Sie vielleicht...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, aber ihr fragender Tonfall vermittelte sehr genau, was sie meinte.

»Ich weiß genug über die Stadt, um die Wirkung von Klatsch zu kennen, sobald er sich einmal richtig festgesetzt hat. Es lag daran, dass sie mich hergeholt hatte... einen Fremden, der sich in ihre Angelegenheiten einmischte... weshalb Veras Haus vor acht Jahren niedergebrannt wurde.«

Ihre Gesichtszüge erschlafften plötzlich auf eine Art, dass man das mit einiger Anstrengung der Phantasie beinahe als ein Lächeln deuten konnte.

»Ich glaube nicht, dass Sie sich da allein die Schuld zumessen müssen, wissen Sie«, erklärte sie.

»Sie haben Vera gut zugehört.« Diesmal ließ er sein Lächeln breiter werden. »Trotzdem dürfen Sie wohl davon ausgehen, dass ich über die Befähigung von Chedcombe, Gift zu verspritzen, ziemlich genau Bescheid weiß.«

»Dann brauche ich in dieser Beziehung nichts zu erklären. Was wollen Sie wissen, Mr. Maitland?«

»Alles«, sagte er schlicht.

»Aber Vera hat Ihnen doch gewiss mitgeteilt...«

»Nicht viel - wenn man es genau nimmt. Sie wusste ohnehin nur, was Sie ihr gesagt haben, und ich bin sicher, dass Sie ihr gegenüber nicht so freimütig gewesen sind, wie Sie es bei mir sein werden.«

»Ich habe nicht versucht, etwas zu verbergen.« Der herrische Ausdruck war wieder da.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte er beschwichtigend. »Aber Sie müssen sich darüber im Klaren sein, wie wichtig es ist, dass ich es von Ihnen höre. Ich kann dann im weiteren Fragen stellen.«

Das gefiel ihr nicht. Er hatte das Gefühl, noch nie mit einer so widerspenstigen Zeugin befasst gewesen zu sein, und fragte sich erneut, wie er sich von Vera in eine solche Lage hatte bringen lassen können. Es war sogar ein Rätsel, warum Miss Dudley sich ihr überhaupt anvertraut hatte, aber da er über die schlichte Behauptung hinaus, sie seien Freundinnen, über ihre Beziehungen zueinander nichts wusste, ließ diese Frage sich nicht beantworten.

»Wo soll ich anfangen?«, fragte sie, seine Gedankengänge unterbrechend, vielleicht auch ein wenig ungeduldig, da sie sich auf Fragen eingestellt hatte und nicht sofort solche kamen.

»Fangen Sie mit dem Hotel Zur stillen Ruhe an.« Aber bevor sie etwas sagen konnte, unterbrach er sich selbst. »Nein, Augenblick, Oberschwester, da ist ein Punkt, der mir Rätsel aufgibt. Was tun Sie hier?«

»Ich bin Oberschwester im Pflegeheim, das dem Hotel angeschlossen ist«, sagte sie steif.

»Schon, aber...« Er war unvorsichtig gewesen und hatte das auch sofort erkannt. Darüber hinweggehen und weiterfragen?

Aber sie nahm ihm die Entscheidung unerwarteterweise ab.

»Bis ich das Pensionsalter erreichte, war ich Oberschwester im Allgemeinen Krankenhaus Northdean«, erklärte sie, und diesmal wirkte ihr Lächeln offen und ganz freundlich. »Ich hätte bleiben können, aber das schien sich kaum zu lohnen... die ganze Verantwortung und alles. Ich wollte aber nicht ganz aufhören zu arbeiten, und als sich hier in Chedcombe eine Möglichkeit bot, bewarb ich mich um die Stelle.«

»Sie sind also noch nicht lange hier?«

Es war nur allzu deutlich, dass sie auf diesen ziemlich einfallsreichen Schmeicheleiversuch nicht hereinfiel.

»Fast genau zwei Jahre«, sagte sie. »Vera und ich sind ziemlich gleich alt, wissen Sie. Ich glaube, sie ist ein paar Monate jünger als ich.«

»Das wäre also geklärt«, sagte Antony munterer. »Schön... wir wollten mit dem Hotel beginnen, nicht?«

»Der Name Zur stillen Ruhe ist keiner, den ich selbst ausgesucht hätte«, sagte Mary Dudley nachdenklich. Er hatte den Eindruck, dass die Bemerkung mehr als alles andere dazu dienen sollte, Zeit zu gewinnen. »Wenn die Stadt das betriebe, würde man es ein Altersheim nennen. So ist es in Privatbesitz. Das Pflegeheim ist natürlich zugelassen. Das Hotel nimmt keine Gäste unter dem Pensionierungsalter auf, doch die meisten Bewohner sind sehr viel älter. Die Kosten... tja, ich kann Ihnen eine Preisliste beschaffen, wenn Sie es wirklich genau wissen wollen, aber ich kann Ihnen versichern, dass es teuer kommt. Das Hotel wird ganz unabhängig vom Pflegeheim betrieben, obwohl wir deshalb eigentlich da sind - ein zusätzlicher Anreiz für die alten Leute, im Notfall auf ärztliche Versorgung zählen zu können.«

»Vera war der Meinung, Sie hätten auch Dauerpatienten.«

»Ja, drei.«

»Wie viele Betten haben Sie?«

»Insgesamt acht. Und während der Wintermonate sind wir meistens voll.«

»Sie nehmen niemand von außerhalb auf?«

»Nein, nur aus dem Hotel.«

»Ihre drei Dauerpatienten... sind das auch zahlende Gäste oder wie der richtige Ausdruck lautet?«

»Oh, ja, gewiss.«

»Aber das Problem lag nicht bei ihnen?«

Er hatte das Gefühl gehabt, dass sie auftaute, aber auf diese Frage hin wurde sie wieder steif.

»Die drei Personen, die gestorben sind, waren allesamt Hotelgäste«, sagte sie.

»Drei alte Menschen, zwei davon über achtzig?«

Das hätte ihr die Sache erleichtern sollen, was aber nicht der Fall war. Sie sagte »Ja«, als gestehe sie ein unbeschreibliches Verbrechen ein.

»Und wegen der Totenscheine

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sara Woods/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Tony Westermayr und Christian Dörge (OT: The Stay For Death).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2020
ISBN: 978-3-7487-6594-3

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