DAN MORGAN
EXPERIMENT
UNTER DER KUPPEL
- Galaxis Science Fiction, Band 32 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
EXPERIMENT UNTER DER KUPPEL
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Das Buch
Die vier lebenden Toten hatten noch eine gewisse Wahl in Bezug auf die Todesart: sie konnten bleiben, wo sie waren, bis sie schließlich an Hunger und Durst zugrunde gingen – oder hinausgehen. Im Freien würden ihre Körper in etwas weniger als zehn Minuten eine tödliche Dosis an Radioaktivität aufnehmen, aber das Sterben würde länger dauern, sehr viel länger. Mit Hilfe der Schutzanzüge gegen radioaktive Strahlen hätten sie vielleicht lange genug überleben können, um eine andere Zufluchtsstätte zu finden. Bisher schien jedoch keinem bewusst geworden zu sein, dass diese Anzüge jetzt unter den schwelenden Trümmern des Hauptvorratsraums lagen. Stattdessen standen sie da, blickten dank der Macht der Gewohnheit zu ihm als Anführer auf und erwarteten, dass er irgendeine Wunderlösung fände.
Der Roman Experiment unter der Kuppel des britischen Schriftstellers Dan Morgan (geboren am 24. Dezember 1925 in Holbeach, Lincolnshire; gestorben am 4. November 2011) erschien erstmals im Jahr 1971; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1980.
Experiment unter der Kuppel erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
EXPERIMENT UNTER DER KUPPEL
Erstes Kapitel
Fünf erschöpfte Menschen blieben schließlich im Bunker zurück. Vier standen Gerry Clyne gegenüber; ihre Kleidung überzogen mit Ruß- und Schmutzkrusten, die letzten Funken Panik verloschen langsam in ihren Augen. Er blickte sie an, verdrängte bewusst die ungebetenen, hartnäckigen Gedanken an den Schmutz. Später konnte man sich damit befassen, aber jetzt – den beißenden Rauchgestank noch in der Nase – musste ans Überleben gedacht werden.
Zusammen hatten sie es fertiggebracht, das Feuer endlich zu löschen, aber es war ein nichtiger Sieg. Die Nahrungsmittel für zwölf Monate waren vernichtet, die Wohnräume vollkommen ausgebrannt, und die obere Etage, in der sie jetzt standen, hatte nur auf Kosten fast des gesamten wertvollen Vorrats an unverseuchtem Wasser gerettet werden können.
Die vier lebenden Toten hatten noch eine gewisse Wahl in Bezug auf die Todesart: sie konnten bleiben, wo sie waren, bis sie schließlich an Hunger und Durst zugrunde gingen – oder hinausgehen. Im Freien würden ihre Körper in etwas weniger als zehn Minuten eine tödliche Dosis an Radioaktivität aufnehmen, aber das Sterben würde länger dauern, sehr viel länger. Mit Hilfe der Schutzanzüge gegen radioaktive Strahlen hätten sie vielleicht lange genug überleben können, um eine andere Zufluchtsstätte zu finden. Bisher schien jedoch keinem bewusst geworden zu sein, dass diese Anzüge jetzt unter den schwelenden Trümmern des Hauptvorratsraums lagen. Stattdessen standen sie da, blickten dank der Macht der Gewohnheit zu ihm als Anführer auf und erwarteten, dass er irgendeine Wunderlösung fände.
Jetzt, da die betäubende Wirkung des Adrenalins nachzulassen begann, schmerzten die Verbrennungen auf den Armen und im Gesicht mit jeder Sekunde stärker. Er hätte sich diese Schmerzen ersparen können, die von seinem Spurt durch die Flammen zu Kays Zimmer herrührten, doch hätte er es sich niemals verziehen, nicht wenigstens einen Versuch unternommen zu haben zur Rettung jener Frau, die ihn eine neue Erkenntnis über die Ausmaße der Liebe gelehrt hatte. Hinzu kam, dass er eigenhändig vorher am Abend die Injektion vorgenommen hatte, die sie von den würgenden Angstgefühlen eines erneuten asthmatisch-klaustrophobischen Anfalls befreite eben jene Droge, die sie im Koma ans Bett fesselte, während die erbarmungslosen Flammen ihren Körper zerstörten.
Als Palance ihn weckte, war es bereits zu spät gewesen. Falls man in der allgemeinen Panik nach der Entdeckung des Feuers überhaupt an Kay gedacht hatte, so hatten die anderen angenommen, sie sei in seinen Privatgemächern im oberen Stockwerk in Sicherheit. Als er ihr Zimmer erreichte, war dieses bereits ein Inferno, und sie... Sein Verstand schreckte vor der grauenhaften Erinnerung zurück.
Dieses gekrümmte, verkohlte Ding war nicht mehr Kay. Er hatte sich umgedreht und es den Flammen überlassen, ihre jetzt barmherzige Zerstörungspflicht zu vollenden.
Es brachte wenig Befriedigung, die Schuld für ihren Tod Palance und Mitchell in die Schuhe zu schieben. Natürlich hätte sich das Feuer nicht so schnell ausbreiten können, ehe es entdeckt wurde, wenn die beiden ihre Aufgabe erfüllt hätten; aber sie würden für ihre Nachlässigkeit mit dem Leben bezahlen.
Er nicht. Mit oder ohne Kay zweifelte er nicht daran, dass er weiterleben musste. Die anderen existierten ja nur noch auf Grund seiner weisen Voraussicht. Ohne seinen Schutz wären sie schon vor einem Monat gestorben, zusammen mit den übrigen neunundneunzig Prozent der Bevölkerung.
Der Bunker hatte Gerry Clyne mehrere Millionen gekostet, aber er hatte nicht um den Preis geschachert. Geld und Macht waren nutzlos ohne Leben, und der Bunker war notwendig zum Überleben. Er war von Garfield Burton entworfen worden, dem besten Architekten, den Gerry aufzutreiben vermochte. Ein ungeheuer stabiles Gebilde aus Beton und Stahl, eingebettet unter dem Sandsteinhügel; ein perfektes Lebenserhaltungssystem, das seine Insassen vor jeder – naturbedingten oder von Menschen ausgelösten – Katastrophe schützen konnte. Als der teuflische Regen der ICBBs niederzuprasseln begann, hatte er den beabsichtigten Zweck erfüllt und Clyne zusammen mit seinen Gefährten gegen Explosion, Hitze sowie Strahlung – von außen – geschützt.
Im Innern hatte sich Burtons Urteilsvermögen, entweder wegen seines großen Vertrauens auf die Unbezwinglichkeit des Außenbaus oder aufgrund eines wunden Punkts, als weniger gut erwiesen. Bis auf zwei kleine Feuerlöscher mit Kohlentetrachlorid, einen für jede Bunkeretage, schien er die Möglichkeit eines intern ausgelösten Brandes bei seinen Berechnungen übersehen zu haben. Die Feuerlöscher hatten sich als fast nutzlos erwiesen, während die Flammen über leicht entzündliches Plastik und Holz der Zimmer im unteren Stockwerk rasten; außerdem beschworen die toxischen Rauchgase, die beim Gebrauch der Feuerlöscher entstanden, in den beschränkten Räumlichkeiten eine zusätzliche Gefahr herauf.
Aber es war jetzt sinnlos, an Burton zu denken, der wahrscheinlich während jener ersten schrecklichen Stunden des Atomkriegs ums Leben gekommen war. An der Oberfläche rund um den Bunker hatte es seit mehr als zwei Wochen kein Lebenszeichen gegeben, und es waren fast drei Wochen verstrichen, seit die ferngesteuerten Maschinengewehre am Eingang von jemandem ausgelöst worden waren, der vor die ständig lauernden Peilstrahlen geraten war. Die einzigen Überlebenden konnten jetzt nur solche sein, die sich in tiefe Bunker zurückgezogen hatten; sowie solche – abgesehen von der unwahrscheinlichen Möglichkeit eines direkten Treffers –, die sich bereits vor Beginn der Massenvernichtung in der Kuppelstadt aufhielten.
»Was machen wir jetzt, G.C.?« Buzz Mitchell brach das Schweigen. Vor einem Monat war er ein flott gekleideter Mann gewesen, aufgeweckt, respektvoll ohne Unterwürfigkeit: einer der besten Leibwächter. Jetzt trug er bloß schmierige leichte Shorts sowie ein schmutziges T-Shirt, der Wanst quoll über den Gürtel: ein ungewaschener, griesgrämiger Dreckfink.
Elbert Inman hingegen trug noch immer eine peinlich saubere Jacke, Kragen mit Krawatte und die achteckige Brille ohne Fassung auf der blassen, dünnen Nase; den Arm hatte er schützend um Clare Inmans knochige Schultern gelegt. »Ich sehe keinen Grund zur übermäßigen Panik«, bemerkte er; seine Stimme beinhaltete selbst jetzt die ihm eigene affektierte Sicherheit seines Berufsstandes. »Wir werden natürlich mehr Nahrung und Wasser benötigen. Aber solange das Hauptkraftwerk noch funktioniert, sehe ich keinen Grund, warum wir es hier nicht bis in alle Ewigkeit aushalten sollten.«
Ich sehe keinen Grund..., überdachte Gerry ironisch die mit Scheuklappen versehene Schwülstigkeit der wiederholten Phrase. Das war typisch für Inman, den eifrigen Vertreter der hiesigen Handelskammer, Pfeiler der Kirche und großtuerischen sozialen Wohltäter. Inman und seine rot angemalte Frau mit dem Pferdegebiss, die sich fast die Beine ausgerissen hatten, um das Angebot eines Platzes im Bunker anzunehmen – trotz ihrer heimlichen Abneigung gegen ihn, gegen seine schamlose Freude am selbst geschaffenen Reichtum und sein Verhältnis mit Kay, deren erster Mann ein Angehöriger ihrer eigenen blutleeren Sippe gewesen war. Gerry hatte das Angebot keineswegs gemacht, weil es ihn nach ihrer Gesellschaft gelüstet hätte. Sie entsprachen bei weitem nicht seiner Vorstellung von einem unterhaltsamen Paar. Doch ihr Haus lag in der Nachbarschaft, und es hatte die Möglichkeit bestanden, dass Inmans medizinische Kenntnisse sich als nützlich erweisen könnten.
»Sie glauben wohl, der Supermarkt wäre noch geöffnet, Doc?« Palance stand etwas abseits der drei anderen; seine geringschätzigen schwarzen Augen beobachteten Inman. Inman war trotz seiner ganzen Schwülstigkeit in dieser Situation unwichtig, und Buzz Mitchells Verstand umnebelte die Trägheit sowie das regelmäßige Quantum von dem Alkoholvorrat, den er in den Bunker hatte schmuggeln können. Wahrscheinlich stellte keiner von beiden für Gerrys Überlebensplan eine ernsthafte Bedrohung dar. Palance war ein anderes Kapitel: ein grausamer, in der Gosse groß gewordener Killer von schlankem Wuchs und romanischer Schönheit; sein Scharfsinn sowie seine Rücksichtslosigkeit waren bisher von Nutzen gewesen, konnten jetzt jedoch eine gewisse Gefahr bedeuten.
Inman presste die dünnen Lippen zusammen. »Es liegt auf der Hand, dass beträchtliche Vorräte an unbeschädigten Konserven und getrockneten Lebensmitteln in der Gegend vorhanden sein müssen.«
»Ein leckeres Gericht aus radioaktiven Bohnen gefällig?«, spottete Palance.
»Wir besitzen Geigerzähler«, sagte Inman. »Es sollte leicht herauszufinden sein, welche Lebensmittel unverseucht geblieben sind. Und was das Wasser anbelangt, so muss es eine Anzahl unterirdischer Brunnen in der Gegend geben.«
»Klingt gut, Doc. Ich hoffe nur, dass es wirklich so leicht wird.« Palance wandte den Kopf und blickte Clyne offen an. »Was meinen Sie, G.C.?«
Gerry wich den harten, dunklen Augen nicht aus und fragte sich insgeheim, wieviel Palance wusste oder erraten hatte. Natürlich hätte er es vorgezogen, die Richtung, die die Unterhaltung in diesem Augenblick nahm, zu meiden.
»Morgen werden wir die Lage viel besser überblicken können«, lenkte er ein. »Sobald die Sonne aufgeht, sehe ich mich im unmittelbar umliegenden Gebiet um. In der Zwischenzeit hielte ich es für gut, wenn wir ein wenig zu schlafen versuchten.« Er wandte sich an Mitchell: »Buzz, es dürften noch einige Decken und Wollstoffe im Behelfslager liegen für diejenigen, die welche wollen. Geh und sieh nach, ja?«
»Sie meinen, wir sollten alle hier schlafen?«, fragte Inman und blickte sich im Kontrollraum um.
»Entweder hier oder im Generatorenraum, und ich glaube nicht, dass dort jemand ein Auge zutun könnte«, erklärte Clyne. »Später ist es vielleicht möglich, einen Teil des unteren Stockwerks wieder bewohnbar zu machen.«
»Mir selbst macht es ja nichts aus, verstehen Sie«, versicherte Inman. »Aber schließlich, Clare... Könnte sie vielleicht zeitweilig Ihr Zimmer benutzen?«
»Nein«, lehnte Gerry rundweg ab.
Palance deutete den Vorschlag absichtlich anders. »Ich wusste nicht, dass in Ihren Adern Eskimoblut fließt, Doc«, meinte er grinsend. »Aber wenn dem so ist, dann vergessen Sie nicht, dass ich seit achtundzwanzig Tagen unberührt bin.«
Inmans Mundwinkel zuckten, während er Palance einen hasserfüllten Blick zuwarf. Er verstärkte den Griff um die mageren Schultern seiner Frau und führte sie quer durch den Raum zur anderen Seite, während der Leibwächter über seinen eigenen rohen Scherz feixte.
Gerry erkannte, dass dies erst der Anfang war. Palance würde immer unverschämter werden, nur um zu probieren, wie weit er gehen konnte; er würde die Lage Schritt für Schritt beurteilen und sich schließlich um die Herrschaft bemühen. Aber bis es soweit war... »Geh und sieh nach, was Buzz macht, ja?«, bat Gerry. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und steuerte auf die Tür zu seinen Privaträumen zu.
Seine Unterkunft unterschied sich kaum von den jetzt zerstörten Räumlichkeiten im unteren Stockwerk. Die Wände waren in einem blassen Eierschalenton getüncht, und es gab die gleiche Dusche und die gleichen sanitären Anlagen. Der Hauptunterschied lag im kombinierten Schlaf- und Wohnzimmer, das größer angelegt worden war, um einen Schreibtisch mit Sessel sowie den großen grauen Metallschrank, der in einer Ecke stand, aufnehmen zu können.
Gerry zog sich aus und duschte, wobei er etliche zusätzliche Liter des wertvollen Wassers in einer Fülle vergeudete, die Inman schockiert hätte. Er trocknete sich sorgfältig mit dem Handtuch ab und tupfte lindernde Salbe auf seine Verbrennungen. Nachdem er saubere Hosen und ein kurzärmeliges Hemd angelegt hatte, fühlte er sich beträchtlich wohler und vollkommen wach. Jetzt, da Kay tot war, konnte über seinen nächsten Schritt kein Zweifel bestehen. Gerry verspürte eine zunehmende Ungeduld, aufzubrechen, doch besann er sich darauf, dass in drei Stunden bereits die Sonne aufgehen und die Reise bei Tageslicht weniger gefährlich sein würde. Er legte sich aufs Bett und zwang sich, zu entspannen.
Gerry lag etwa eine halbe Stunde so da, als er – leise, aber unverkennbar – das Geräusch hörte. Er stützte sich auf einen Ellbogen und beobachtete, wie die Türklinke langsam niedergedrückt wurde.
»Komm rein, Palance«, sagte er ruhig.
Palance schloss die Tür hinter sich. In der Rechten hielt er eine kleine Automatik, eine Waffe für Frauen, doch leicht zu verstecken und tödlich. Die Mündung war auf Gerry gerichtet. »Sie haben mich erwartet?«
»Wen sonst«, fragte Gerry ruhig. »Schlafen die anderen?«
Palance nickte. »Ja. Jetzt können wir beide uns vielleicht vernünftig, wirklich vernünftig, darüber unterhalten, was als nächstes geschieht.«
»Sicher, warum nicht?«, meinte Gerry. Er deutete auf die Pistole. »Aber zum Reden brauchst du das Ding nicht.«
»Nennen wir es eine Sicherheitsmaßnahme.« Palance lehnte sich scheinbar vollkommen ungezwungen mit dem Rücken gegen die Tür. Aber Gerry hatte den Mann zu oft im Einsatz gesehen, um zu glauben, dass diese Stellung Entspannung andeutete. Im Gegensatz zu Mitchell hatte Palance während seines Aufenthalts im Bunker seine berufsbedingte Wachsamkeit nicht verloren. Er war noch immer eine rücksichtslose Killermaschine, die jede Sekunde ihr zerstörerisches Werk beginnen konnte. Gerry wusste ganz genau, dass er vorsichtig sein musste, wenn er nicht den nervösen Zeigefinger des anderen in Bewegung setzen wollte.
»In Ordnung, wenn du dich damit besser fühlst«, lenkte er ein. »Wie lautet deine Ansicht darüber, was als nächstes geschieht?«
Palances grausamer Mund verzerrte sich zu einem Grinsen. »Wissen Sie, was man von Ihnen behauptet, G.C.? Man munkelt, dass Sie aus einer Jauchegrube von Rosenduft umgeben auftauchen würden, zusammen mit einer neuen Idee für Rasierwasser, die Ihnen eine Million einbringt.«
»Unwahrscheinlich, aber ich verstehe den Sinn. Also?«
»Ich hab Sie jetzt fast drei Jahre lang beobachtet«, erklärte Palance, »lang genug, um zu verstehen, dass derlei witzige Einfälle nur einen Teil der Geschichte wiedergeben. Das Wichtigste ist, dass Sie nicht zu denen gehören, die sich von den Geschehnissen einfach überrollen lassen.«
»Lenker meines Schicksals und Herr meiner Seele?« Gerry grinste leicht. »Keiner ist das.«
»Vielleicht nicht, aber Sie wissen, was ich meine«, erwiderte Palance. »Ich habe Sie noch nie verlieren sehen, ohne dass Sie nicht bereits den nächsten Schritt in jeder Einzelheit ausgearbeitet gehabt hätten.«
»Möglicherweise ist es dir so vorgekommen. Manchmal folge ich nur meinem Riecher und meiner Zuversicht.«
»In Ordnung. Also denken Sie unterwegs und passen sich an, während Sie weitergehen, aber Sie lassen keinen Gesichtspunkt außer Acht.«
Langsam und vorsichtig – immerzu auf der Hut vor der drohenden Pistole – senkte Gerry die Beine über den Bettrand und blieb sitzen.
»Du scheinst mich ja richtiggehend studiert zu haben, Palance. Also, ich lasse keinen Gesichtspunkt außer Acht. Was hat das mit der gegenwärtigen Lage zu tun?«
»Einiges, denk ich«, versicherte Palance. »Zum Beispiel das, was Sie vorsichtshalber nicht erwähnt haben – dass, wenn jemand ins Freie gehen will, um Lebensmittel und Wasser zu besorgen, er einen Schutzanzug brauchen wird.«
»Ich dachte, das wäre zu selbstverständlich, um zur Sprache gebracht werden zu müssen.«
»Allerdings wissen nur wir beide, dass die Schutzanzüge im Hauptlagerraum im unteren Stockwerk aufbewahrt wurden; das bedeutet, dass sie – selbst wenn wir sie in all dem Plunder finden würden – mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu gebrauchen sind.«
»Du hast tatsächlich nachgedacht, nicht wahr, Palance? Und, hast du eine Lösung gefunden?«
»Vielleicht. Wie ich schon sagte. Sie gehören nicht zu der Sorte Mensch, die sich von den Geschehnissen einfach überrollen lässt – Sie haben immer einen Ersatzplan.«
»Ich konnte schwerlich den Brand mit einkalkulieren.«
»Vielleicht nicht«, gab Palance zu. »Aber Sie müssen sich irgendeinen Fluchtplan zurechtgelegt haben, nur für den Fall, dass sich der Bunker nicht bewährt.«
»Fluchtweg – wohin? Du weißt genauso gut wie ich, dass es nichts gibt, wohin man gehen könnte. Es gibt andere Bunker in der Gegend – der alte Van Der Groot drüben auf dem Hillcrest hat sich einen doppelt so großen gebaut, aber er nimmt keine Gäste auf, so viel steht fest. Seine Leibwächter würden einem das Lebenslicht auspusten, ehe man mehr als vierhundert Meter in die Nähe kommt.«
»So wie wir bei den armen zerlumpten Kerlen vor drei Wochen?«, meinte Palance. »Ironie, oder? Die ganze verdammte Welt ist zur Hölle gefahren, und man kann sich bloß ein Loch graben und es gegen alle Eindringlinge verteidigen, wie ein Graubär.«
»Oder eine Ratte. So ist die Welt – ist sie immer gewesen. Das weißt du doch, Palance.«
»Nun gut. Also hatten Sie die Absicht, weiter zu gehen. So viel war mir bereits klar. Vielleicht sogar bis zur Kuppelstadt? Mit den etwa sechzig Quadratkilometern hätten die doch wohl noch für ein paar zusätzliche Leute Platz, oder?«
Also wusste Palance über die Kuppelstadt Bescheid. Gerry begegnete dem ruhigen, tückischen Blick der dunklen Augen und wusste, dass sein Leben von den nächsten paar Minuten abhing. »Möglich«, gab er zu, »immer vorausgesetzt, dass sie nicht einen Volltreffer abbekommen haben, als die Atomgeschosse umherschwirrten.«
»Das halte ich für unwahrscheinlich – und Sie auch. Ein paar hundert Kilometer im Niemandsland und auf keiner Karte eingezeichnet...«
»Du machst wohl Witze«, erwiderte Gerry. »Die andere Seite besitzt dort oben Satelliten, die das Kleingedruckte auf einer Dollarnote zu lesen vermögen. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sie nichts wissen von der Existenz einer geodätischen Kuppel, die ein so großes Gebiet überzieht?«
»Nicht, wenn man rundum eine Anzahl TriDi-Projektoren angebracht hat, die sie einfach wie Teil der großen Wüste erscheinen lassen. Apparate, die lange vor Beginn irgendwelcher Bauarbeiten aufgestellt wurden, eine perfekte Tarnung. Machen wir uns doch gegenseitig nichts vor, G.C. – wir wissen beide, dass die Monarch Engineering, Ihre eigene Firma, einen Hundert-Millionen-Vertrag abgeschlossen hat, um einen Teil der Bauten auszuführen.«
»Du bist sehr gut informiert für einen...«
»Einen angeheuerten Schläger?«, grinste Palance. »Verwechseln Sie mich nicht mit Mitchell, G.C. Ich trag die meisten meiner Muskeln im Kopf, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich mach es mir zur Pflicht, Bescheid zu wissen, darauf zu achten, was um mich herum vorgeht. Zum Beispiel haben Sie, bevor Sie hier reinkamen, das zweisitzige Sportflugzeug überprüft, das sie in dem armierten Bunker auf der anderen Seite des Hügels verstaut haben. Obwohl die Zeit knapp war und die erste ICBM bloß noch ein paar Minuten entfernt sein konnte. Vermutlich hatten Sie niemals die Absicht, länger als unbedingt nötig hier unten zu bleiben. Das war nur ein vorübergehendes Fluchtloch, bis die Bomben zu fallen aufgehört hatten und die schlimmste Strahlung vorbei war.«
»Woraus schließt du das?«, erkundigte sich Gerry neugierig.
»Weil das hier mit nur fünf anderen Menschen ein zu winziges Königreich für einen Mann wie Sie ist, G.C. Das bloße Überleben mag im Moment genügen, aber Sie wussten, dass es nicht lange dauern würde, bis die alte Machtgier Sie wieder packen und Sie ungeduldig nach etwas Ausschau halten lassen würde, was Sie organisieren, übernehmen könnten.«
»Und dann?«
»Offensichtlich – hatten Sie vor, von hier in die Kuppelstadt zu gehen, dem einzigen Ort auf dem ganzen verdammten Kontinent – vielleicht auf der ganzen Welt – mit genügend Menschen und Mitteln, Ihre Kräfte zu beschäftigen. In meinen Augen hat der Brand an Ihren Plänen nicht viel geändert, außer dass Sie Ihren Abflug jetzt vorverlegen.«
»Interessant«, meinte Gerry. »Aber hast du vergessen, was du zuvor sagtest? Ohne Schutzanzug kann niemand hier raus und überleben.«
»Nein, G.C. Ich hab’s nicht vergessen, und Sie auch nicht. Unten im Hauptlagerraum lagen vier Anzüge. Ich hab sie vor zwei Tagen mit eigenen Augen gesehen. Vier – aber Sie haben sich keinen Deut drum geschert, obwohl Sie wussten, dass sie kaputt sind.«
»Wie kannst du das mit Sicherheit wissen? Vielleicht wollte ich die anderen nur nicht in Panik versetzen.«
»Und vielleicht haben Sie vor, hier rumzuhocken und auf den Tod zu warten?« Palance lachte rau. »Nein, G.C. – Sie nicht. Sie geben nicht so leicht auf. Sie haben Ihren Fluchtweg geplant, und das Feuer spielte dabei keine Rolle, oder?«
Spielte keine Rolle, dachte Gerry. Mein Gott, wie wenig du weißt. Aber freilich läge ein solcher Zustand gänzlich außerhalb des Erfahrungsbereichs von Palance – wie bei ihm auch, bis ihm Kay über den Weg lief und sein Leben umkrempelte. Es hatte Frauen gegeben; viele davon waren jetzt vergessen, andere noch schattenhaft in Erinnerung, aber zu keiner hatte er eine solche Beziehung gehabt wie zu Kay. Früher – sei’s durch ihre Schuld oder seine eigene – blieb immer ein Teil seines Ichs unbeteiligt. Nur bei Kay verlor er seine Selbstsucht, wurde Liebe mehr als nur ein vorübergehendes sinnliches Vergnügen. Und jetzt war Kay tot. Und weil sie tot war...
»Vier Anzüge, aber sechs Menschen. Sie würden kein solches Detail übergehen, G.C. – Sie nicht«, behauptete Palance überzeugt.
Gerry zuckte die Achseln. »In Ordnung, Palance, also hast du’s erraten. Ich wollte warten, bis die Strahlung draußen noch um einige Grad gesunken ist, dann wären wir...«
»Sie und Kay?«
»Wer sonst?«
Die nervöse Spannung war ein wenig von Palance gewichen, während er auf den großen grauen Metallschrank deutete. »Und die Anzüge sind da drin?«
Gerry nickte. »Du willst, dass ich statt Kay dich mitnehme – nicht wahr?«
»Wenn Sie’s nicht vorziehen, dass ich Sie umlege und allein fliege«, erwiderte Palance.
»Vorausgesetzt, du kennst die Kombination vom Bunkerschloss und weißt, wo die Flugzeugschlüssel zu finden sind«, erwiderte Gerry.
Palance zeigte kurz die Zähne. »Schön, G.C., also sind Sie noch im Vorteil. Warum sich Sorgen machen? In meinen Augen spricht nichts gegen unsere Zusammenarbeit. Wir können einander nur nützlich sein. Wenn Sie in die Kuppelstadt kommen, sehen Sie die Dinge vielleicht in einem anderen Licht. Wenn Sie eine Übernahme planen, können Sie sicher einen Mann gebrauchen, der Ihre Methoden kennt – einen Mann, dem Sie trauen dürfen...«
»Stimmt.« Gerry genoss den grotesken Humor an der Tatsache, dass Palance so sprechen konnte, während er ihn gleichzeitig mit vorgehaltener Pistole in Schach hielt. »Aber was geschieht mit Mitchell und den anderen?«
Palance grinste triumphierend. »Hören Sie auf, G.C., Sie brechen mir das Herz.« Er blickte auf den Schrank. »Ein Glück für uns beide, dass Sie große Frauen bevorzugen. Dieser Anzug dürfte mir passen. Haben Sie die Schlüssel?«
»Hier bitte«, sagte Gerry ruhig. Er stand auf und steckte die Hand in die Hosentasche. »Hör mal, wenn wir zusammenarbeiten, hältst du’s dann nicht an der Zeit, die Pistole wegzulegen. Sie macht mich nervös.«
»Sie – nervös? Das ist ein Witz«, antwortete Palance. »Wissen Sie was, G.C.? Ich hätte das Ding ungern benutzt. In gewisser Weise erinnern Sie mich an mich selbst.« Er legte die Pistole auf den Schreibtisch und nahm den Schlüssel aus Gerrys ausgestreckter Hand. »Wissen Sie, meiner Meinung nach verstehen wir uns deshalb besser. Wir sind beide skrupellose Kerle, aber wir können Zusammenarbeiten. Wenn wir in die Kuppelstadt kommen...« Palance plauderte jetzt fast unbefangen, während er auf den Schrank zuging, sonnte sich in seinem Sieg. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn.
Die Tür begann gerade aufzuschwingen, als ihm Gerry rasch zweimal hintereinander in den Hinterkopf schoss. Die Wucht der Geschosse schleuderte Palance gegen den Schrank, wodurch sich die Tür schloss. Dann sackte sein Körper langsam zu Boden, und die Tür schwang abermals auf.
Im Innern hing der einzige, dunkelgraue Schutzanzug gegen Radioaktivität starr am Haken wie der Balg eines anthropomorphen Monsters. Auf dem Boden lag ein Helm mit getöntem Sichtglas, daneben ein Luftfilterapparat und der Sauerstoffvorrat.
Gerry blickte auf die Leiche von Palance. Der Mann hätte ihn sicher getötet, wenn er geahnt hätte, dass im Schrank nur ein Schutzanzug hing. Der zweite befand sich jetzt unter den verkohlten Trümmern in Kays Wohnung. Palance, der sich für so viel klüger hielt, hatte nicht bedacht, welche Wirkung die Einengung in einem Schutzanzug auf jemand mit Kays asthmatisch-klaustrophobischen Symptomen ausgeübt hätte.
Sie hatte es versucht. Gott wusste, dass sie es bei einem Dutzend Trockenübungen versucht hatte, die sie beide allein in Kays Zimmer unternahmen. Und jedes Mal musste Gerry in weniger als einer Minute den Helm entfernen und ihr blau angelaufenes Gesicht freilegen, während Kay in einem erneuten Anfall nach Atem rang.
Mit unglaublichem Mut bestand sie darauf, wenigstens einen Versuch pro Tag zu machen. Kay behauptete, dass ihr widerspenstiger Verstand letztlich doch dazu gezwungen werde, die Beengtheit innerhalb des Anzugs zu akzeptieren. Gerry musste sie immer wieder leiden sehen; dabei war ihm die hoffnungslose Lage klar, und er verheimlichte absichtlich seine zunehmende Überzeugung, dass ihre geplante gemeinsame Flucht jetzt unmöglich sei; denn er wusste genau, dass Kay, wenn sie zur gleichen Schlussfolgerung kam, darauf bestehen würde, er solle allein gehen. Gerry war entschlossen, sie nicht zu verlassen, und begründete es sich selbst gegenüber damit, dass innerhalb von etwa sechs Monaten die Radioaktivität im Freien genügend gesunken wäre, um den Bunker ohne Schutzanzüge verlassen zu können.
Jetzt, da Kay tot war, durfte er zugeben, dass diese Argumente Selbstbetrug gewesen waren. Praktische Hinweise zeigten, dass die Vorräte innerhalb des Bunkers längst aufgebraucht sein würden, bevor die Strahlung in der unmittelbaren Umgebung bis zu einem unschädlichen Grad herabgegangen wäre. Sonstwo mochte es anders sein, aber um dorthin zu gelangen, hätte Kay für einige Zeit einen Schutzanzug tragen müssen. Wäre kein Brand ausgebrochen, hätten sie fünfzehn Monate überleben können, sogar länger – wenn es ihm gelungen wäre, draußen Beute zu machen. Aber schließlich hätte es unter diesen Umständen nur einen denkbaren Ausgang gegeben. Selbst dann, sie wären wenigstens beisammen gewesen, jetzt...
Ein Klopfen an der Tür unterbrach seinen Gedankengang. Gerry schloss den Schrank und drehte den Schlüssel um, bevor er rief: »Herein!«
Der Neuankömmling war Buzz Mitchell; seine rotgeränderten und trüben Augen wanderten von Gerry zu der zusammengebrochenen Leiche von Palance.
»Alles in Ordnung, G.C.?«
Gerry erkannte, dass er noch immer Palances Pistole in der Hand hielt. »Sicher, mir geht es gut. Dein Kumpel da setzte sich plötzlich Flausen in den Kopf und bedrohte mich mit diesem Ding.«
Mitchell brummte: »Scheißkerl – hab ihm nie getraut. Hab immer gemeint, er würde sich eines Tages selbst überlisten.«
Gerry steckte die Pistole in die Hosentasche. Diesmal war Mitchells Dummheit von Vorteil; er schien sich mit der Sachlage ohne eine Frage abgefunden zu haben. »Hat Inman die Schüsse gehört?«
»Ich glaube nicht. Er führte vor einer Weile seine alte Schachtel in den Generatorenraum.«
»Gut!«, sagte Gerry. »In diesem Fall könntest du mir helfen, den Unrat da in die Schleusenkammer zu verfrachten. Ich kann ihn mitnehmen, wenn ich draußen hamstern gehe.«
»Sicher, G.C., ganz wie Sie wünschen«, erwiderte Mitchell.
Am folgenden Morgen sahen Inman, seine Frau und Mitchell zufrieden zu, während Gerry im Schutzanzug die Innentür der Schleusenkammer hinter sich schloss; er beruhigte sein Gewissen, indem er sich einredete, dass er ihnen nichts schuldig sei. Schließlich hatten sie eine größere Chance als die meisten Menschen, die zurzeit noch lebten.
Obwohl es Anfang Juni war, zwitscherten keine Vögel in den Zweigen der Bäume mit ihren welken und braunen Blättern. Innerhalb von zehn Minuten befand er sich an Bord des Flugzeugs und schwebte westwärts über eine leblose Landschaft, die die widernatürliche Stille eines falschen, von Menschenhand heraufbeschworenen Herbstes gefangen hielt.
Zweites Kapitel
»In Ordnung, ich habe genug gesehen.« Moule wandte den Blick von der verlassenen Landschaft, die sich langsam auf dem Enzephalogramm-Schirm ausbreitete.
Michael Davidson drosselte die Lautstärke. Der hochaufgeschossene Mann mit dem sich lichtenden blonden Haar und den knochigen Zügen, die eigens dafür hätten ersonnen sein können, Bedenken zu registrieren, blickte den vierschrötigen Aufsichtsleiter an. Eine nervöse Spannung zerrte an ihm. »Billigen Sie das Programm?«
Moule brummte: »Vermutlich, aber ich muss schon sagen, dass Sie für einen der lautstärksten Vertreter unter den Gegnern der Gewaltanwendung ein beachtliches Talent besitzen, unnötig grässliche Phantasien zu entwickeln.«
»Ich machte nur Gebrauch von Clynes natürlichen Charakteranlagen«, erwiderte Davidson mit einer sorgfältig dosierten Spur Entrüstung.
»Ich nehme an, dass er ohne größeren Zwischenfall in die Kuppelstadt gelangt?«, fragte Moule leise. Er war ein hässlicher Mann unbestimmbaren Alters, dessen runder Kahlkopf zwischen breiten Schultern festsaß, sodass man keinen Hals erkennen konnte. Seine Gestalt erweckte den Eindruck, als wäre sie unter außerordentlichem Zeitdruck geschaffen worden. Diese Wirkung wurde durch die Arme und Beine mit ihrer grobschlächtigen, massiven Struktur noch verstärkt. Nur die Augen mit ihrem ungewöhnlich blassen Gelbbraun milderten die allgemeine Derbheit. Zeitweilig waren sie sanft, fast weiblich in ihrer Ausdruckskraft. »Das Programm wird seinen Zweck ganz gut erfüllen«, meinte er. »Aber das bedeutet nicht, dass ich darüber glücklich bin. Warum zum Beispiel haben Sie Laura Frayne für die Rolle als Clynes Geliebte genommen?«
»Man muss nehmen, was man bekommen kann«, verteidigte sich Davidson. »Solche Methoden sind allgemein üblich.«
»Trotzdem stört mich in diesem Fall etwas. Speziell die Brandszene scheint mir darauf hinzuweisen, dass Sie gefährliche Zwangsvorstellungen entwickeln.«
»Sie war ein unbedingt notwendiger Bestandteil des dramatischen Rahmens«, protestierte Davidson. »Wenn ein Programmierer danach beurteilt wird...«
»Schon gut, Michael. Zweifellos sind Sie fähig, eine stichhaltige Begründung für die ganze Sache zu geben«, lenkte Moule ein. »Nur eine Frage – wieviel Zeit haben Sie mit der Erinnungsphantasie des Verhältnisses zwischen Clyne und Kay aufgewandt?«
»Als Teil der Charakterstudie musste sie ausführlich untersucht werden.«
»Möglich – aber ich glaube nicht, dass es nötig war, so tief in speziell sexuelle Erfahrungsgebiete einzudringen«, erwiderte Moule.
»Da bin ich anderer Meinung. Übermäßige Sexualität gehört zum Syndrom bei einem rührigen Paranoiker wie Clyne. Ich musste die fraglichen Gebiete erforschen, wenn ich die dramatischen Bedürfnisse der Versuchsperson verstehen wollte.«
»Eine Aufgabe, der Sie offensichtlich mit ansehnlicher Hingabe nachgekommen sind«, spottete Moule. »Nun, vermutlich hat es niemandem geschadet, vorausgesetzt, Clyne kommt nicht tatsächlich mit Laura Frayne in Kontakt. Sollte das der Fall sein, könnte es – soweit es ihn betrifft – eine unnötig spannungsgeladene Situation heraufbeschwören, und für Laura wäre es peinlich.«
»Möglich, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich, nicht wahr?«
»Hoffentlich«, sagte Moule nachdenklich. »Übrigens, wann ist Ihre nächste Psychenuntersuchung fällig?«
»Ungefähr in einem Monat«, antwortete Davidson. »Warum, wollen Sie vielleicht andeuten...?«
»Ich will gar nichts andeuten«, erwiderte Moule ruhig. »Die Arbeit eines Programmierers ist sehr anspruchsvoll und bringt große Verantwortung mit sich. Diese Untersuchungen dienen Ihrem eigenen Schutz.«
Davidson beobachtete zurückhaltend, wie der Aufsichtsleiter gewichtig quer durchs Zimmer zu dem Ruhebett ging, auf dem die Versuchsperson lag. Die obere Kopfhälfte bedeckte die schimmernde Silberschale der Programmierungsanlage. Clyne hatte die Augen geschlossen, und
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Dan Morgan/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Walter Popp/Christian Dörge.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Gudrun Faltermeier (OT: Inside).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2020
ISBN: 978-3-7487-6499-1
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