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Leseprobe

 

 

 

 

Carter Brown

 

 

Der Vampir

 

Vier Romane in einem Band

 

 

 

 

Apex Crime, Band 144

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

1. DER VAMPIR (So What Killed The Vampire?) 

2. ATTENTAT AUF GEORGIA (The Blonde) 

3. DIE TIGERIN (The Tigress) 

4. DIE SEXKLINIK (The Sex Clinic) 

 

 

Das Buch

Der Fernsehautor Larry Baker wird mit seinem Team in ein altes Schloss in England verschlagen, um dort einen Grusel-Film zu drehen...

 

Am Vorabend eines sensationellen TV-Interviews wird auf einen Star, der mit Enthüllungen aus der Filmwelt Hollywoods gedroht hat, ein Bomben-Attentat verübt...

 

Sie war ein faszinierender Rotschopf mit blauen Augen, einer atemberaubenden Figur, einem unberechenbaren Temperament und mehr als den üblichen Erfahrungen in Sachen Liebe. Ausgerechnet ihr musste Al Wheeler begegnen, als er zu klären versuchte, weshalb sich auf einem Friedhof die Leiche eines jungen Mädchens befand, die auf gar keinen Fall dorthin gehörte, obwohl sie ordnungsgemäß in einem Sarg lag...

 

Paul Baker war Beischläfer von Beruf. Als Angestellter einer abgelegenen Sexklinik gab er Nachhilfestunden in Liebe, die sich nur die reichsten der neurotischen Patientinnen leisten konnten.

Doch eines Tages ist Baker verschwunden - und mit ihm ein Satz Krankengeschichten...

 

Der Band Der Vampir von Carter Brown (eigentlich Allan Geoffrey Yates; * 1. August 1923 in London; † 5. Mai 1985 in Sydney) enthält zwei Romane um den Polizei-Lieutenant Al Wheeler (Die Tigerin und Attentat auf Georgia) sowie die Romane Der Vampir und Die Sexklinik.

Der Apex-Verlag veröffentlicht die legendären Kriminal-Romane von Carter Brown als durchgesehene Neuausgaben in seiner Reihe APEX CRIME.

  1. DER VAMPIR (So What Killed The Vampire?)

 

 

 

 

Erstes Kapitel

 

 

Die Nacht lag lauernd über der kümmerlichen Landschaft wie ein riesiger Raubvogel. Die Burg bildete eine finstere Silhouette gegen den von Blitzen durchzuckten Hintergrund des dunkelbewölkten Himmels. Nur ein schwaches Licht schien von dem obersten Dachfenster herab, wo Lady Cynthia ihre einsame, schreckensvolle Nachtwache hielt. Bei näherer Betrachtung entpuppte sich Lady Cynthia als eine ausgeblichene Blondine in einem halb durchsichtigen weißen Gewand, das gerade nicht ganz den Anblick ihres Körpers von den Schultern bis zu den Füßen enthüllte, was ihren plumpen Brüsten entschieden zum Vorteil gereichte. Der schwache Laut flatternder Flügel war zu hören, und Lady Cynthia fuhr heftig zusammen und schien dann vom offenen Fenster förmlich angezogen zu werden, während aus ihren von Mascara umgebenen Augen das schiere Entsetzen funkelte. Als das Geräusch lauter winde, krumpften sich ihre Hände um ihre Brust (die linke), und sie rollte hilflos die Augen. Der Schatten einer gigantischen Fledermaus lauerte draußen vor dem Fenster, und dann löschte ein blendender Blitz für ein paar Sekunden alle Einzelheiten aus; und als man wieder etwas sehen konnte, war die Fledermaus verschwunden. Stattdessen stand ein dunkelhaariger Mann mit bleichem Gesicht in einem langen schwarzen Umhang da.

»Du!«, keuchte Lady Cynthia und wich drei Schritte zurück.

»Meine Geliebte!«, sagte der Mann mit tiefer, hohl klingender Stimme. »Selbst aus dem Grab habe ich deinen Ruf gehört. Komm!« Er trat einen Schritt auf sie zu, die Arme weit ausgebreitet. »Noch eine letzte Umarmung, und wir werden für alle Zeiten vereint sein!«

»Nein, nein!« Ihre Augen rollten, während sie zu schwanken begann. »Lieber möchte ich sterben!«

»Komm!« Er rollte seinerseits die Augen und lächelte, wobei er ein einmaliges Wolfsgebiss entblößte. »Einmal und noch einmal werde ich deinen Hals küssen und...«

Sie drehte sich, um wegzulaufen, aber seine Klaue hatte sich bereits in ihre Schulter gekrallt. Mit dem Mut der Verzweiflung brachte sie noch einen weiteren Schritt zuwege, und es gab einen plötzlichen reißenden Laut, als sich das weiße Gewand von ihrem Körper trennte. Der Vampir sah verwirrt drein, während er dastand, das zerrissene Kleidungsstück in den Klauen, während Lady Cynthia zweimal stolperte, dann ihr Gleichgewicht wiedererlangte und im Glanz ihres trägerlosen Büstenhalters und eines gestreiften Strumpfbandhöschens dastand.

»Du verdammter Lustmolch«, sagte sie verbittert. »Du bist imstande und vergewaltigst ein Mädchen noch vor der Kamera.« Ihre rechte Hand ballte sich zur Faust und holte aus, aber der Film brach ab, bevor ich die Möglichkeit hatte, zu sehen, ob sie auch traf.

Boris Slivka schaltete den Projektor ab und knipste die Lichter des kleinen Vorführungsraums an.

»Sehen Sie, Towarischtsch?« Seine Stimme klang noch trauriger als zuvor. »Was haben wir uns da aufgeladen?«

»Sagen Sie mir eins«, brachte ich mit erstickter Stimme hervor. »Slivka und Baker - das Produzenten-Autoren- Team, das große Komödienteam des Fernsehens! Wie, zum Teufel, kommen wir dazu, unsere Finger in eine Gruselserie zu stecken?«

»Ich will es Ihnen erklären«, brummte Boris. »Wir hatten doch diese großartige Idee mit den wilden Komödienserien. Nicht? In den Fernsehstationen wurden sechs Episoden gesendet, und Trendex hat die Beliebtheit der Sendung in Dezimalwerten ausrechnen müssen. Nicht wahr? Sagen Sie mir, Towarischtsch, was das für den Auftraggeber bedeutet?«

»Okay, es ist ihm also in die Glieder gefahren«, knurrte ich. »Aber ich begreife nach wie vor nicht...«

»Ich werde Ihnen noch etwas sagen«, beharrte er. »In unserer Branche bedeutet das, dass die Namen Slivka und Baker in den Dreck gezogen werden. Dreck?« Er lachte humorlos. »In der Mülltonne landen wir! Drei Monate lang blickten die Leute in andere Richtung, wenn sie uns kommen sahen. Und dann fand unsere furchtlose Agentin Selma Bruton diesen Carlton, der für den internationalen Verleih eine Gruselserie drehen will, und er hat sogar das Geld dazu. Mehr noch, er braucht ein Produzenten-Autoren-Team; und er hat kein Wort darüber gehört, was uns in der letzten Saison zugestoßen ist.«

»Wer hat dieses hysterische Machwerk verbrochen, das wir eben gesehen haben?«, fragte ich.

»Das frühere Produzenten-Autoren-Team, das für ihn gearbeitet hat, Larry.« Boris grinste bedächtig. »Deshalb arbeiten sie auch nicht mehr für ihn.«

»Das kann man sich vorstellen«, pflichtete ich bei. »Was ist mit Lady Cynthia und diesem Dracula-Darsteller? Sind sie ebenfalls Plusquamperfekt - wie ich hoffe?«

»Lady Cynthia, ja.« Er seufzte leicht. »Der Dracula-Darsteller ist noch mit von der Partie. Er heißt Nigel Carlton. - Brauche ich noch mehr zu sagen?«

»Bitte nicht«, flehte ich. »Lassen Sie es mich selber herauskriegen. Der Bursche, der das Geld aufbringt, heißt Robert Carlton. Und infolge eines dieser gespenstischen Zufälle heißt der beste zur Verfügung stehende Vampirdarsteller Nigel Carlton. Sein Sohn?«

»Sein Bruder.« Der gewohnte geduldige Bernhardiner-Ausdruck trat in Boris’ Augen. »Das gehört zu den Realitäten des Lebens. Dieser Dracula-Typ spielt in jeder einzelnen Episode mit.«

»Hat dieser Schwinger getroffen?«

»Haargenau mitten ins Wolfsgebiss.« Boris’ Gesicht hellte sich bei dem Gedanken auf. »Deshalb ist Lady Cynthia auch nicht mehr bei uns.«

»Also haben wir Nigel Carlton und den Auftritt eines Vampirs in jeder Episode am Hals?« Ich zündete mir eine Zigarette an und brütete ein paar Sekunden lang vor mich hin. »Was also weiter?«

Boris warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir haben jetzt in einer Stunde eine Besprechung mit Robert Carlton - in der Wardour Street.«

»Wo, zum Teufel, ist denn das?«

»Ich habe ganz vergessen Sie sind das erste Mal in London, Larry?«

»Ja.«

»Sie ist als die Straße bekannt, deren beide Seiten gleich finster sind. Die Behausung der Leute, welche die englische Filmindustrie beherrschen. Carlton hat dort ein Büro.«

»Hoffentlich erwartet er kein Dépose und die ersten fünf Drehbücher oder so was?«

»Wer weiß, was er erwartet.« Er schauderte leicht. »Alles, was ich weiß, ist, dass Carlton ein sehr enthusiastischer Mensch zu sein scheint. Vielleicht hat er eine neue Lady Cynthia gefunden?«

»Hoffentlich unterscheidet sie sich von der alten.« Diesmal war ich an der Reihe zu schaudern. »Ich könnte im Augenblick nicht noch einmal ein gestreiftes Strumpfbandhöschen ertragen.«

Wir stiegen in eine dieser viereckigen Räderkisten, welche die Engländer als Taxi benutzen, um von dem alten Studio in die Wardour Street zu gelangen. Es war Mitte Juni, mein zweiter Tag in England, und bis jetzt hatte es, seit ich den Flughafen verlassen hatte, noch nicht aufgehört zu regnen. Boris war seit einer Woche hier und begann bereits mit Phrasen wie »einfach phantastisch« und »tausend Dank!« um sich zu werfen, und zwar in einer Weise, die er liebevoll für englischen Akzent hielt, jedoch in seinem gewohnten russischen Amerikanisch herauskam, nur noch gutturaler als sonst.

Das Büro des Carlton Enterprises Limited lag im zweiten Stock eines schäbigen Gebäudes, das selbst im hellen Sonnenlicht finster ausgesehen hätte. Ich war zum ersten Mal dort und nicht gerade beeindruckt. Aber schließlich waren wir, wie Boris betonte, als wir die Treppe emporstiegen (man war noch nicht dazu gekommen, einen Aufzug einzubauen), nicht in der Situation, kritisch zu sein, solange die Schecks, die Carlton uns hatte zukommen lassen, gedeckt waren, und dies war bis jetzt der Fall gewesen.

Es gab eine gelblich aussehende, flachbrüstige Sekretärin, deren Brille diese verkehrt geformten Gläser hatte und die an chronischem Stirnhöhlenkatarrh zu leiden schien. Sie passte ausgezeichnet zum Rest der Vorzimmerausstattung: trübes Braun und an der Decke abblätternder Verputz. Sie bat uns zu warten - dem Ton ihrer Stimme nach war bereits das Jüngste Gericht im Gang und verschwand dann im Büro. Als sie zurückkehrte, war jemand bei ihr, der an ihr vorüberstürzte und mit breitem strahlendem Lächeln auf uns zustrebte.

»Hallo, Slivka!« Der Jemand bewegte Boris’ Hand heftig auf und ab wie einen Pumpenschwengel, als ob dieser erst gestern der russischen Revolution entkommen sei. »Ah!« Er ließ Boris’ Hand los und begann, die meine zu schwenken. »Das ist die andere Hälfte des Duos, wie? Der Drehbuchautor, wie? Entzückt, Sie kennenzulernen, mein Lieber! Willkommen an Bord - wie man im Senior Service sagt.«

Ich starrte mit offenem Mund Boris an, und er räusperte sich nervös. »Das ist Robert Carlton, Larry, unser - äh - Arbeitgeber.«

»Entzückt!« Robert Carlton ließ zögernd meine mitgenommene Hand los. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie anfeuernd das ist - einen erstklassigen amerikanischen Produzenten und einen ebenso erstklassigen Drehbuchautor auf unserer Seite zu haben. Das gibt uns das Selbstvertrauen, das wir brauchen, um in die Arena zu steigen!«

Ich warf ihm einen erneuten Blick zu, um sicher zu sein, dass es ihn wirklich gab. Er stand da und strahlte mich an, als stellte ich die Lösung für das Problem des englischen Sommers dar oder dergleichen. Ein Bursche von Mitte Vierzig, schätzte ich, mit einer halben Glatze, die von drei sorgfältig über den Skalp gekämmten Strähnen schwarzen Haars bedeckt war. Seine Augen waren von lebhaftem Blau und in permanenter Bewegung, als wichen sie fortgesetzt etwas Unangenehmem aus. Er trug einen Zweireiher mit riesigen Aufschlägen und breiten vertikalen Streifen, ein blaues Hemd mit einem anknöpfbaren weißen Kragen und mit etwas, was ich für eine Regimentskrawatte hielt. Ein Paar Stiefel - das Wildleder an den Zehen vorn abgestoßen - vervollkommneten den modischen Alptraum.

»Nun«, sagte er jovial, »dann gehen wir wohl besser hinein - die anderen warten schon.«

»Die anderen?«, fragte Boris vorsichtig.

»Der Rest des Teams.« Er entblößte wieder seine Zähne, und sie sahen ausreichend weiß, stark und scharf aus, um mit einem Biss Boris’ Halsschlagader herauszureißen. »Sie und Baker vervollständigen den Film, Slivka. Die Hauptpersonen. Verstehen Sie?«

»Hauptpersonen?«, sagte Boris noch vorsichtiger.

»Kommen Sie mit, mein Lieber!« Robert Carlton legte den Arm um Boris’ Schultern und schob ihn mit Macht auf die Tür des Büros zu. »Ich werde sie Ihnen gleich vorstellen. überhaupt«, seine Stimme senkte sich auf eine vertrauliche Lautstärke, »ich habe ein paar erfreuliche Überraschungen für Sie in petto, glaube ich.« Sein anderer Arm legte sich um meine Schultern und zog mich erbarmungslos vorwärts. »Und auch für Sie, mein lieber alter Schreiberling.«

Das Büro war in demselben trübseligen Braun gehalten und mit einem von Zigarettenbrandflecken übersäten Schreibtisch und Stuhl, einer entweder wegen Überbeanspruchung oder Nichtbenutzung durchsackenden Couch und vier formlosen Sesseln, die strikt im Stil Absteigequartier gehalten waren, ausgestattet. Drei Leute waren bereits hier untergebracht. Den Dracula-Typ erkannte ich sofort aus dem Filmstreifen, den ich kurz zuvor mit Boris angesehen hatte. In Wirklichkeit sah er nicht viel anders aus. Ein großer dünner Bursche mit glänzendem schwarzem, straff zurückgekämmtem Haar und einem leichenhaften Gesicht. Einen Augenblick lang befürchtete ich, er könne, als sein Bruder ihn vorstellte, lächeln und dabei ein Wolfsgebiss entblößen. Der zweite Mann war um Dreißig herum und makellos im bewährten englischen Landstil gekleidet: Tweedanzug und karierte Weste. Auf eine vage Weise sah er gut aus, mit braunen Faunsaugen, langem, braunem Haar und einem kleinen braunen Schnurrbart, der aussah, als sei er hinterher auf die glattrasierte Oberlippe gesteckt worden. Er hieß Hugh Wykes-Jones, und Wykes wurde Wieks ausgesprochen, was das Ganze etwas erleichterte.

Die dritte Anwesende saß auf der müde aussehenden Couch, die bezaubernden Beine sorglos übereinandergeschlagen, wobei gerundete Knie und eine interessante Strecke schön geschwungenen inneren Oberschenkels sichtbar wurden. Sie war der Typ des blonden Gamins, ihr glattes Haar war in langen Fransen, die eben die Brauen bedeckten, in die Stirn gekämmt und fiel rechts und links ihres Gesichts auf die Schultern herab. Ihre Augen waren tiefblau und lebenserfahren; sie hatte eine kurze Stupsnase; ihr Mund war breit, die Unterlippe auf eine beherrscht sinnliche Weise geschürzt. Sie trug ein blaugepunktetes Kleid aus Schweizer Baumwolle, mit einem weißen Organdykragen, der vorn zu einer weiten Kurve ausholte, die die tiefe Kluft zwischen ihren hohen, vollgerundeten Brüsten erkennen ließ. Ihre Strümpfe bestanden aus gerippter Baumwolle und ihre Schuhe aus rohem Ziegen- und Lackleder. Wo das Herz ist, ist man zu Hause, sagt man; und ich wusste sofort, dass ich zu Hause war.

»Und das ist Penny Potter.« Robert Carlton strahlte uns an. »Penny ist die große Hoffnung ihrer Generation, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie entzückt ich bin, mir ihre Dienste für die Serie gesichert zu haben!«

Der breite Mund teilte sich und entblößte weiße, regelmäßige kleine Zähne. »Hallo!«, sagte sie, und ihre Stimme befand sich auf halber Höhe zwischen einem Seufzer und einem heiseren Schnurren.

»Nun...« Robert Carlton ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf seinen Stuhl. »Nun, da wir uns alle kennen, darf ich Ihnen wohl die wundervolle Nachricht überbringen.« Er machte eine kurze Pause, um den dramatischen Effekt zu verstärken. »Hugh hier hat sich freundlicherweise bereit erklärt, uns seine Familienheimstätte für die Dauer der Drehzeit der Serien zur Verfügung zu stellen. Ist das nicht wundervoll?«

»Wohnt er in einem Fernsehstudio?«, fragte Boris höflich.

»Oh, nein!« Wykes-Jones brach in ein nervöses, schrilles Kichern aus. »Das ist glänzend, nicht wahr?«

»Bitte, Hugh.« Robert Carlton hob die Hand und lächelte wohlwollend. »Sie müssen unseren - äh - amerikanischen Vettern gegenüber tolerant sein. Ich werde es erklären.«

Er wandte sich Boris und mir zu und betrachtete uns mit sorgsamer Konzentration.

»Sehen Sie, was mir bei diesen wundervollen Gruselserien immer Kopfzerbrechen gemacht hat, ist die Frage der Außenaufnahmen. Ich meine, wir können es uns kaum leisten, diese Außenaufnahmen auf dem Balkan zu machen - mit echter transsilvanischer Atmosphäre und so weiter - und England ist ein solch verdammt kleines Land, wenn man es sich recht überlegt. Nicht wahr? Die Innenaufnahmen können in jedem Atelier gemacht werden, aber die Außenaufnahmen waren eben das große Problem. Schließlich handelt es sich ja um eine Horrorfilmreihe: Das Blut des Vampirs. Aber Hughs Ahnenbesitztum ist genau das, was wir brauchen.«

»Wollen Sie damit sagen, dass seine Ahnen Vampire waren?«, fragte ich verdutzt.

Penny Potter brach in ein leises boshaftes Lachen aus. »Sie saugten allerdings das Blut aus den Adern der Bauern, aber nicht so, wie Sie meinen.«

Robert Carlton warf ihr einen missbilligenden Blick zu und hüstelte dann. »Darling Penny hat einen solch entzückenden Sinn für Humor«, murmelte er. »Nein, Hughs Ahnenbesitz ist ein altes Schloss an der Sussex-Küste. Es strotzt förmlich vor passender Atmosphäre. Im dreizehnten Jahrhundert gebaut, hat es seinen eigenen Burggraben, eine Turmraine und was sonst noch dazu gehört. Das Schönste ist, dass das Schloss zudem auf acht Hektar eigenen Grandes stellt. Also können wir arbeiten, ohne befürchten zu müssen, gestört zu werden.«

»Das klingt großartig«, sagte Boris vorsichtig. »Aber ist es nicht ein bisschen voreilig, von Außenaufnahmen zu sprechen, bevor wir überhaupt die Grundlagen der Story festgelegt und ein paar aufnahmefertige Szenen haben?«

»Sie haben völlig recht, mein lieber Slivka«, sagte Robert Carlton und strahlte anerkennend. »Aber meine Idee ist folgende: Wenn die Hauptpersonen der Serie einen vorläufigen Überblick gewinnen würden und eine Woche lang in Hughs Heim - als meine Gäste natürlich - verbringen würden, könnten alle die dortige Atmosphäre ein wenig in sich aufnehmen. Was meinen Sie? Ihr Kollege«, nun war ich an der Reihe, mit dem strahlenden Lächeln bedacht zu werden, »kann die Umrisse der Story entwerfen, den tatsächlichen Hintergrund vor sich. Unsere Stars können sich mit der Atmosphäre vertraut machen. Ein Projekt, das sich lohnt. Stimmen Sie mir da nicht zu?«

»Völlig«, verkündete Nigel mit seiner hohl klingenden Stimme. »Atmosphäre ist alles für den Schauspieler.«

Penny Potter fixierte Wykes-Jones mit einem kalten, nachdenklichen Blick. »Ich habe früher schon gelegentlich in einigen dieser schönen altertümlichen Überbleibsel gehaust«, sagte sie in eisigem Ton. »Wie steht es mit der Installation?«

»Oh, die entspricht völlig dem üblichen Standard«, sagte er schnell. »Wir werden Sie alle im Ostflügel unterbringen, der ist letztes Jahr restauriert worden. Er ist ganz modern, mit Badezimmern und allem, was man braucht.«

»Zentralheizung?« bohrte sie weiter.

»Mein liebes Mädchen!« Robert Carlton lachte kurz auf. »Wir haben Sommer.«

»Englischen Sommer«, sagte sie scharf. »Zentralheizung?«

»Nicht gerade«, stammelte Wykes-Jones. »Aber der alte Farthingale kann Ihnen immer ein Feuer machen, wenn es Ihnen kalt ist.«

»Hoffentlich, sonst fahre ich sofort nach London zurück.« Sie wechselte die übereinandergeschlagenen Beine mit einer flinken, achtlosen Bewegung; und ich stellte beiläufig fest, dass sie einen feuerroten Strumpfhalter trug.

»Nun, dann ist alles geregelt«, sagte Robert Carlton vergnügt. »Nun zu den Transportarrangements.«

»Da ist nur noch eins, was Sie erwähnen sollten, Robert«, sagte Hugh Wykes-Jones mit glasigem Lächeln. »Die näheren Umstände der Vermietung.«

»Ach ja!« Robert Carlton nickte heftig. »Das wird aber niemanden stören, nicht wahr?« Er verteilte sein strahlendes Lächeln unparteiisch im ganzen Zimmer. »Es ist einfach so, dass Hughs Schwester und Onkel ebenfalls im Schloss wohnen. Aber sie werden uns nicht im Weg sein, und wir ihnen nicht, und so...«

»Meine Schwester«, Wykes-Jones’ Gesicht war von der Farbe einer hellgeratenen roten Rübe. »Imogen ist wirklich ein reizendes Mädchen, aber sie hat - nun ja - festgefügte Ansichten über alles. Sie hält nichts von Fernsehen und - äh - den meisten modernen Dingen. Wissen Sie? Ich meine, sie ist eine absolut charmante Person, aber das beste wird sein, wenn Sie vor ihr nicht über Ihre Arbeit reden, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Er schluckte mühsam, und sein Adamsapfel hüpfte gequält auf und ab. »Der liebe alte Onkel Silas ist nicht mehr ganz auf dem laufenden, aber er ist wirklich ein entzückender alter Bursche. Natürlich ist er ein bisschen exzentrisch, aber das beste wird sein, ihn einfach zu ignorieren, glaube ich.«

»Sie meinen, er ist meschugge?«, sagte Penny Potter.

»Oh, keineswegs!« Er blickte bei dem Gedanken ausgesprochen verletzt drein. »Es ist nur so, dass er nicht mehr vom Grundstück weggekommen ist, seit er aus dem Krieg neunzehnhundertneunzehn heimgekehrt ist - und dass er keine rechte Verbindung mehr mit der Außenwelt gehabt hat.«

»Ich bin ganz sicher, dass dies kein Problem sein wird.« Robert Carlton rieb sich munter die Hände, als ob diese Vorstellung damit gleichzeitig aus dem Bereich des Möglichen gerieben würde. »Wir sind alle viel zu sehr damit beschäftigt, die Atmosphäre in uns aufzunehmen und die Serie in Gang zu bringen. Nicht wahr? Also kehren wir zur Frage des Transports zurück. Wie steht es mit dir, Nigel?«

Der Dracula überlegte schweigend zehn Sekunden lang und sagte dann bedächtig: »Ich werde, glaube ich, allein hinausfahren.« Er überlegte weitere fünf Sekunden und nickte dann: »Ja, die Einsamkeit der Reise wird mir überaus willkommen sein. Ein Schauspieler muss mit sich selber Verbindung aufnehmen - mit seiner Kunst. - Verstehst du?«

»Oh, durchaus, durchaus!« Robert Carlton nickte feierlieh. »Nun, ich dachte, ich könnte vielleicht Slivka und Baker mitnehmen?«

»Boris wird sich gern mitnehmen lassen«, sagte ich schnell, den Ausdruck betroffenen Vorwurfs auf dem Bernhardiner-Gesicht neben mir ignorierend. »Aber ich habe mir soeben einen Leihwagen besorgt«, log ich fließend, »und würde gern selber fahren.« Ich blickte hoffnungsvoll auf den blonden Traum, der mir gegenüber auf der durchhängenden Couch saß. »Vielleicht könnte ich Sie dorthin mitnehmen, Miss Potter?«

»Ich vertraue niemals einem anderen Fahrer so weit, dass ich mich von ihm mitnehmen lasse«, sagte sie mit entschiedener Stimme, »und schon gar nicht einem verrückten Amerikaner, der sowieso auf der falschen Straßenseite fährt.«

»Ja?«, sagte ich mit schwacher Stimme.

Ihre tiefblauen Augen betrachteten mich eingehend von oben bis unten, und dann wurde mit dem Resultat irgendein in ihrem Kopf eingebauter Computer gefüttert. »Ich habe nichts dagegen, Sie meinerseits mitzunehmen - wenn Sie für das Benzin, das Mittagessen, und was sonst noch anfällt, aufkommen.«

»Großartig!«, sagte ich schnell. »Abgemacht!«

»Wo wohnen Sie?«

»Im Londoner Hilton«, sagte ich, ohne nachzudenken.

»Das freut mich.« Sie lächelte liebenswürdig. »Wenn Sie im Kairoer Hilton wohnten, wäre das für mich ein ziemlicher Umweg gewesen. Nicht wahr?« Wieder wechselte sie die übereinandergeschlagenen Beine - erneutes Aufblitzen der weißen gerippten Baumwollstrümpfe, der cremefarbenen Oberschenkel und des feuerroten Strumpfhalters -, während sie einen Augenblick lang überlegte.

»Trader Vies um halb ein Uhr«, verkündete sie. »Wir essen dort zu Mittag - es ist ein Jammer, ein gutes Hotel auszulassen und nur draußen im Wagen auf Sie zu warten. Nicht wahr?«

»Ich muss Sie warnen, Baker«, sagte Robert Carlton lachend. »Es würde Sie billiger kommen, einen Rolls-Royce einschließlich Chauffeur zu mieten, der Sie hinfährt, als sich von Penny hinbringen zu lassen. Selbst Millionäre werden blass, wann immer sie sich anbietet, ihnen einen Gefallen zu tun - sie wissen, wieviel das kosten wird.«

»Nun ja«, die Blonde zuckte leicht die Schultern, »man muss als Mädchen für sich sorgen, wenn man bedenkt, was das Leben heutzutage kostet. Nicht? Und schließlich - wozu sind Männer da?«

Angesichts einer ganzen Woche mit Penny Potter unter demselben Dach vor mir kam ich zu dem Schluss, dass ich eine Menge Zeit hatte, um ihr auf diese naive Frage eine zufriedenstellende Antwort zu geben.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Das kleine todbringende Projektil, das sich als Sportwagen getarnt hatte, war blutrot lackiert; und ich fragte mich, ob es sich dabei um den Einfall des Herstellers gehandelt habe oder ob es konstant in das Blut unglücklicher Fußgänger getaucht worden war, die zufällig des Weges kamen. Wir schossen mit selbstmörderischer Schnelligkeit eine schmale gewundene Landstraße entlang, verfehlten um knapp fünf Zentimeter einen uns in einer unübersichtlichen Kurve entgegenkommenden Laster und kamen mit kreischenden Bremsen vor einem niedrigen weißen Gebäude zum Halten.

»Ah!« Penny blickte mich mit beglücktem Lächeln an. »Wir haben Glück, Larry - eine Kneipe!«

Ich fühlte mich im Augenblick ebenso erschöpft wie meine Brieftasche. Das Mittagessen im Hotel hatte mich ein kleines Vermögen gekostet, und die gesamte Reise war nichts als eine fortgesetzte Reihe von Haltepunkten gewesen - wegen Benzin, wegen Drinks, wegen einer verrückten antiken Maske, an der sie Gefallen gefunden hatte, wegen allem und jedem, das Geld kostete - und zwar meins. Bei einer Kneipe in Pennys Sinn handelte es sich um ein Hotel voller Bars kreuz und quer; und auf der britischen Insel befindet sich alle hundert Meter eins davon.

»Hören Sie, Penny«, sagte ich mit stiller Verzweiflung. »Es ist bereits neun Uhr abends, und wir haben mehr Gläser intus, als ich noch zählen kann. Warum fahren wir nicht...?«

»Es ist Ihnen wohl klar«, sagte sie schmollend, »dass wir uns verirrt haben, nicht wahr?«

»Nein, keineswegs.«

»Wie sollen wir also den Weg finden, wenn wir hier nicht fragen?«

»Okay.«

Ich überlegte, dass ich, wenn ich bereits verloren hatte, ebenso gut ein guter Verlierer sein konnte.

Wir stiegen aus und gingen in die niedrige Bar. Der Bursche hinter der Theke und die beiden Einheimischen, die vor ihr saßen und tranken, nahmen sich die Zeit, Penny mit weit aufgerissenem Mund anzustarren. Ich konnte es ihnen nicht verdenken - Penny in Autofahreraufmachung war sehenswert. Ihr blondes Haar umgab verwirrt und windzerzaust ihre Schultern, und sie trug eine altertümliche lederne Autobrille über den Augen. Ihre Kleidung war noch interessanter: ein schwarzes Jersey-Oberteil mit einem tiefen Ausschnitt, der noch mehr von der zwischen Rundungen eingebetteten Kluft erkennen ließ als das Kleid vom Tag zuvor, und dazu eine schwarz-weiß gestreifte Hose, die so eng anlag, dass sie meiner Ansicht nach schlechterdings nichts darunter tragen konnte.

Ich bestellte, gewitzt durch lange Erfahrung, einen doppelten Scotch für Penny und einen einfachen für mich. Ich hatte aufgehört, zwanzig Kilometer außerhalb der Stadtgrenze Londons um Eis zu bitten, denn ab dort schien Tiefkühlung offensichtlich unbekannt. Der Bursche hinter der Theke bediente uns, die Augen nach wie vor herausquellend auf Pennys Busenausschnitt geheftet, und sein Schnauzbart kräuselte sich an den Enden ein wenig nach oben.

»Nun...« Die Blonde hob das Glas. »Auf unsere glückliche Ankunft!«

»Wieso!«, brummte ich mürrisch.

»Weil wir beinahe da sein müssen.« Sie blickte auf den Schnauzbart. »Wie weit ist es noch bis zum Meer?«

»Um sieben Kilometer rum«, sagte er mit einem Akzent, der, um imitiert zu werden, eines Peter Seilers bedurft hätte.

»Sehen Sie!« Penny blickte mich selbstzufrieden an. »Es muss doch irgendwo zwischen hier und dem Meer liegen. Nicht wahr?«

»Keine Ahnung«, knurrte ich. »Vielleicht liegt es auf irgendeiner Insel?«

Sie blickte mich ein paar Sekunden lang mit hocherhobener Stupsnase an, wandte sich dann ab und ließ dem Schnauzbart ein hinreißendes Lächeln zukommen. »Ich bin vom richtigen Weg abgekommen«, vertraute sie ihm an.

»Ah!« Er nickte bedächtig. »Das sieht man sofort. Sie sind eine von den Londoner roten Nutten, das sind Sie doch wohl?«

»Ich meine, ich habe mich verirrt«, sagte sie mit zusammengepressten Zähnen. »Begreifen Sie das nicht, Sie vertrottelter Bauerntrampel!«

»Sagen Sie ihm den Namen des Ortes, zu dem wir fahren wollen«, flehte ich sie an. »Sonst müssen wir die ganze Nacht hier verbringen!«

»Nein, auf keinen Fall!« Der Schnauzbart zitterte. »Ich gebe meine Zimmer keinen...«

»Mir fällt der Name dieses verdammten Schlosses nicht mehr ein.« Penny starrte mich finster und verbittert an, als sei es meine Schuld, dann konzentrierte sie sich wieder auf den Schnauzbart. »Es muss hier ganz in der Nähe sein. Es gehört Leuten, die Wykes-Jones heißen.«

Der Schnauzbart zitterte heftig, und die schmutzig-braunen Augen fielen beinahe heraus. Dann blickte er auf die beiden anderen Gäste vor der Theke und sagte mit schwankender Stimme: »Habt ihr das gehört?«

»Hm.«

Mit einem angstvollen Schimmer in den scheuen Augen wichen sie schnell zurück, und einer von ihnen kreuzte die Finger und wies damit in einer Art Stechbewegung auf uns.

»Das muss eine Klapsmühle sein«, fauchte ich. »Wir wollen hier verduften, solange ich noch winzige Reste meines Verstands übrig habe.«

»Sie kennen offensichtlich das Ding, wo wir hinwollen«, sagte Penny. Sie wies mit dem Zeigefinger direkt auf die Brust des Wirtes, und er zuckte zurück, als handle es sich um eine Pistole. »Wie heißt das Schloss, und wo liegt es?«

»Es heißt Fearsome Grange.« Er schauderte. »Sie müssen die Straße draußen drei Kilometer weit entlangfahren und dann rechts abbiegen, und dann finden Sie’s gleich.« Seine Augen rollten. »Sie können’s gar nicht verfehlen, so wie es sich gegen den Himmel abhebt.«

»Gut.« Penny trank ihr Glas aus. »Dann noch einen zum Abschied.«

»Besser nicht.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Sie wollen doch wohl dort sein, bevor’s dunkel wird!«

»Hm«, stimmten die beiden anderen Hanswurste inbrünstig zu.

»Warum?«, fragte ich.

»Die Leute hier mm wissen, dass es nicht gesund ist, wenn man sich nach der Dunkelheit dort in der Nähe herumtreibt.« Seine Augen begannen erneut zu rollen. »In der Nacht passieren dort allerhand Dinge.«

»Was für Dinge?«, knurrte Penny.

»Das mag ich nicht sagen, aber so was wie unnatürliche Dinge.«

»Ach, kommen Sie schon!« Sie warf ungeduldig den blonden Kopf zurück. »Das ist bloß ein bisschen Lokalkolorit für die Touristen, nicht wahr?«

»Davon verstehe ich nichts«, sagte er einfach. »Aber nach Dunkelheit brächten mich keine zehn Pferde auf drei Kilometer Umkreis in die Nähe des Schlosses.«

»Hm«, verkündete der Chor erneut.

»Sie haben recht, Larry«, sagte Penny resigniert. »Wir wollen gehen, bevor wir beide den Verstand verlieren.«

Draußen begann die lange englische Abenddämmerung dunkler zu werden, und eine kühle Brise ließ mich schaudern, als ich neben Penny wieder in den Wagen stieg.

»Drei Kilometer diese Straße entlang und dann links einbiegen«, sagte sie und brach plötzlich in schallendes Gelächter aus. »Sie können’s gar nicht verfehlen, so wie es sich gegen den Himmel abhebt!«

»Fearsome Grange?«, murmelte ich. »Was soll denn das für ein Name sein?«

»Wahrscheinlich hatte der erste Wykes-Jones einen gewissen Sinn für Humor.« Sie ließ heftig den Motor an. »Bei einem solchen Namen braucht man das auch.«

Das blutrote Projektil raste die Straße entlang, was eine Herde Hühner veranlasste, in einer Art Federwolke auseinanderzustieben. Ich schloss die Augen und hielt mich fest. Ich öffnete sie erst wieder, als der Wagen die Fahrt verlangsamte, um in einen schmalen, an beiden Seiten von Bäumen flankierten Fahrweg einzubiegen. Penny schaltete die Scheinwerfer an, und sie bohrten zwei lange dünne Lichtstreifen in die Dunkelheit vor uns. Der Fahrweg wand und drehte sich aufwärts, bis der oberste Punkt eines Hügels erreicht war und Penny plötzlich anhielt.

»Um Himmels willen!«, sagte sie heiser. »Er hat keinen Spaß gemacht. Nicht wahr?«

Vor uns senkte sich das Land in einer Reihe von Abhängen bis zum Meer hinab, das etwa in drei Kilometer Entfernung dalag. Etwa auf der Hälfte der Strecke erhob sich ein weiterer Hügel; und das, was oben auf ihm thronte, war mit Sicherheit Fearsome Grange. Seine finsteren Türme und Spitzen bildeten eine düstere Silhouette wie aus dem Vorspann eines Gruselfilms, der alle anderen Gruselfilme in den Schatten stellte.

»Da, wie es sich gegen den Himmel abhebt«, murmelte Penny heiser. »Was ist denn das daneben?«

Sie wies auf eine monolithische Turmspitze, die allein in einiger Entfernung vom Hauptgebäude stand, wobei ihre abbröckelnden Zinnen einen besonders trostlosen Anblick boten.

»Die Turmruine vermutlich«, sagte ich. »Robert Carlton behauptete, es gäbe dort alles, einschließlich eines Burggrabens. Nicht?«

»Ich dachte, Horrorfilme fürs Fernsehen zu drehen wäre ein gewaltiger Spaß«, sagte sie zweifelnd. »Aber jetzt bin ich dessen nicht mehr so sicher.«

»Hat Dracula hier geschlafen?«, sagte ich mit gepresster Stimme.

Eine Eule schrie irgendwo unmittelbar über unseren Köpfen. Penny gab eine Art Wimmerlaut von sich, und dann wurde ich in meinen Sitz zurückgeschleudert, als der Wagen davonschoss, als ob ihm ein Zehntonner von hinten einen Stoß versetzt hätte. Etwa eine Minute später nahm der Fahrweg vor einem offenen, schief in den Angeln hängenden Eisentor, das in dem harschen Licht der Scheinwerfer fast verlegen wirkte, ein abruptes Ende. Penny fuhr hindurch auf die mit Unkraut übersäte Zufahrt, die um einen Teich herumführte - mit stehendem Wasser, wie mir meine Nase mitteilte -, dann wieder gerade wurde, um direkt auf das Schloss zuzuführen. Eine alte Holzbrücke führte über den Burggraben hinweg - welcher ebenfalls über stehendes Wasser verfügte, wie mir meine Nase mitteilte und danach kamen wir an der Turmruine vorbei. Ich versuchte krampfhaft, sie zu übersehen, indem ich nach der anderen Richtung blickte, aber ich konnte das verdammte Ding förmlich spüren. Schließlich hielt der Wagen in einem offenen Hof, um den herum an drei Seiten die Mauern des Schlosses emporragten, und Penny stellte den Motor ab. Die Stille schien uns wie ein permanenter Angstschrei zu umgeben.

Penny schauderte plötzlich in der kühlen nächtlichen Brise und sah mich dann an. »Was sollen wir jetzt tun? Hallo, Wirtschaft! rufen, oder was sonst?«

»Dort drüben ist Licht.« Ich wies auf eine mit Eisen beschlagene Tür, die in dem Teil des Schlosses, der wie sein Hauptflügel aussah, eingelassen war. »Vielleicht sollten wir klopfen?«

»Na, jedenfalls ist alles besser, als hier draußen sitzen zu bleiben. Was war denn das?«

Ich lauschte einen Augenblick lang angestrengt, hörte einen schwachen zwitschernden Laut und erkannte dann den schwarzen flatternden Schatten, der über die Wagenhaube weghuschte.

»Nur eine ganz kleinwinzige Fledermaus«, sagte ich.

»Fledermaus?« Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus, umschlang mit beiden Armen fest den Kopf und sank als eine Art verknoteter Ball auf dem Fahrersitz zusammen.

»Kein Grund zur Unruhe«, sagte ich. »Es ist nur eine ganz winzige.«

»Sie geraten einem ins Haar«, stöhnte sie. »Wenn sie mir zu nahe kommt, sterbe ich!«

Ich sah noch einmal flüchtig den flatternden Schatten, dann verschwand er in Richtung der Turmruine. Es bedurfte einer Menge Überredungskunst, bis Penny sich schließlich wieder aufrichtete und die Arme vom Kopf löste. »Lassen Sie uns bloß dieses Tor dort aufbrechen!« wimmerte sie. »Wenn ich hier noch länger bleibe, schnappe ich glatt über!«

Wir stiegen aus und rannten zu dem mit Eisen beschlagenen Tor hinüber. Unter dem trübe herabfallenden Licht konnte ich einen eisernen Türklopfer entdecken - geformt wie ein Totenschädel den ich anhob und dann fallen ließ. Es klang, wie wenn irgendein alter Ritter soeben in voller Rüstung die Treppe hinabgefallen wäre.

»Wenn Nigel Carlton in einem langen schwarzen Umhang die Tür öffnet, steige ich sofort wieder in den Wagen und halte nicht eher an, bis ich London erreicht habe«, sagte Penny ungestüm.

»Hab’ doch gewusst, sie war eine von diesen Londoner roten Nutten«, sagte ich.

Die Tür öffnete sich mit einer Art knarrendem Stöhnen, und ein großes dünnes, leichenhaft aussehendes Individuum stand im Türrahmen. Das Gesicht des Mannes war fleischig und gelblich, sein Schädel kahl; und ich kam zu dem Schluss, dass er wahrscheinlich unsertwegen gestern exhumiert worden war.

»Guten Abend«, sagte er mit schicksalsträchtigem Flüsterton. »Ich bin Farthingale - der Butler.«

»Sie hätten mich glatt reinlegen können«, sagte Penny mit erstickter Stimme.

»Ich heiße Baker«, sagte ich schnell, »und das hier ist Miss Potter.«

»Ah ja, Sir.« Er neigte sein Haupt um volle zwei Zentimeter. »Sie werden erwartet. Bitte treten Sie ein.«

Die Tür knarrte noch etwas mehr, als er sie weiter öffnete; und dann traten wir in eine riesige, von einer Galerie umgebene Diele. Sie war groß genug, um fünfzig Vampire beherbergen zu können, einschließlich ihrer jeweiligen Särge. Eine breite Eichentreppe führte in einem Bogen zu der oberhalb verlaufenden Galerie; und an ihrem Fuß stand eine Rüstung Wache, eine ausgewachsene Streitaxt im eisernen Handschuh. Als gemütlich konnte man es kaum bezeichnen.

»Ich werde Miss Imogen mitteilen, dass Sie gekommen sind.« Farthingale ging mit steifen Schritten auf eine der Türen in der Diele zu und verschwand.

»Halten Sie das Ganze für einen Riesenwitz?«, flüsterte ich.

»Für einen Spaß, meinen Sie?«, flüsterte Penny zurück. »Nichts als ein großer Trick von Robert Carlton, nur um uns hereinzulegen.«

»Klar!«, sagte ich, nun ein wenig lauter, da ich meine Stimme wieder etwas besser beherrschte. »Das Ganze ist nur ein Gag und...«

Penny gab einen unterdrückten Schrei von sich und umklammerte meinen Arm. »Hören Sie!«

Ich lauschte, hörte einen leisen Zischlaut und wandte zögernd den Kopf. Auf uns kam eine statuarische dunkelhaarige Frau zu, in einem knöchellangen Seidengewand, welches das Rascheln verursachte. Ihr schwarzes Haar bauschte sich von der Mitte ihres Kopfes in zwei Ellipsen bis über die Ohren und fiel dann glatt zu beiden Seiten ihres ovalen Gesichts herab; ihre Haut war weiß und durchscheinend, ihre Nase gerade und aristokratisch, ihr Mund voll, aber gestrafft, und ihre Augen groß, dunkel und glänzend. Das Seidengewand war staubgrau, hatte lange Ärmel und eine dünne Bronzekette als Gürtel. Wenn es sittsam sein sollte, so erreichte es in der Wirkung eher das Gegenteil, denn die Seide war dünn und umgab mit liebevoller Schmiegsamkeit die stolze Fülle ihrer Brüste, betonte die schmale Taille und umfloss die üppige Rundung ihrer Hüften. Bei jedem Schritt, den sie weiter auf uns zutrat, zeichneten sich unter dem dünnen Stoff mit verblüffender Genauigkeit die volle Länge ihrer schlanken Beine und die Rundheit ihrer Oberschenkel ab. Ich spürte, wie Penny neben mir in weiblich-katzenhafter Reaktion erstarrte. Dann blieb die dunkelhaarige Frau plötzlich ein paar Schritte von uns entfernt stehen, und ihre Augen weiteten sich plötzlich, während sie mir ins Gesicht starrte.

»Der Bastard?«, flüsterte sie.

»Wie?« Ich glotzte sie an.

Sie schloss für ein paar Sekunden die Augen, blieb steif stehen und öffnete sie dann wieder. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Entschuldigung«, sagte sie mit voller, tiefer Stimme. »Mein Geist ist ein wenig umhergewandert - ich habe an etwas anderes gedacht. Verzeihen Sie mir bitte?«

»Selbstverständlich«, murmelte ich.

»Ich bin Imogen«, verkündete sie. Ihr Mund verzog sich leicht in den Winkeln nach unten, als ich mich und Penny Potter vorstellte. »Noch mehr Fernsehleute?« In ihrer Stimme lag ein leicht spöttischer Unterton. »Die anderen sind im Salon. Bitte, kommen Sie mit.«

Sie drehte sich um, und wir folgten ihr gehorsam durch die Diele in den Salon, der mit der Heiterkeit des Empfangsraums eines Begräbnisinstituts ausgestattet war, vorwiegend in Braun und Schwarz gehalten. Drei Kronleuchter unternahmen den hoffnungslosen Versuch, genügend Licht zu spenden, aber sie schafften es nicht einmal halbwegs, die Düsterkeit zu vertreiben oder die dunklen Schatten in den Ecken zu erreichen. Ich spähte eine Weile umher und entdeckte schließlich Boris’ schimmernde Glatze, Robert Carltons entschlossenes Lächeln und die Dracula- Züge seines Bruders, des Schauspielers.

»Ah!« Robert Carlton strahlte uns an. »Endlich sind Sie angekommen!«

Penny sank in den nächsten Sessel und zündete sich eine Zigarette an. Ich ging zu Boris und setzte mich neben ihn auf die unbequeme Couch, während sich die statuarische Dunkelhaarige auf einer Art Thronsessel am anderen Ende des Raums niederließ.

»Haben Sie große Mühe gehabt, das Schloss zu finden?«, fragte Robert Carlton.

»Fearsome Grange«, sagte Penny mit gepresster Stimme. »Was ist denn das eigentlich für ein Name?«

»Ich bin noch nie auf den Gedanken gekommen, Hugh danach zu fragen«, sagte er. »Und er wird erst irgendwann morgen spät hierherkommen.« Er blickte erwartungsvoll auf die im Halbdunkel sitzende dunkelhaarige Frau, deren staubgraues Gewand mit den Schatten verschmolz. »Vielleicht kann uns Imogen aufklären?«

»Es ist eine lange Geschichte«, sagte sie ruhig. »Ursprünglich hieß das Schloss Wykes Keep, aber nachdem der Schwarze Ritter seinen Fluch ausgesprochen hatte, begannen die Bauern, es Fearsome Grange zu nennen.«

»Nein, so was!« Robert Carlton war völlig begeistert. »Das klingt nach einer prima Geschichte. Der Fluch des Schwarzen Ritters!«

»Es geht in die Zeit der Kreuzzüge zurück«, sagte sie. »Einer unserer Vorfahren stand im Ruf, der Bastard des Königs zu sein, und er war unter dem Namen Sir Alaric der Bastard bekannt. Er zog mit auf die Kreuzzüge, und es geht die Sage, dass er auf dem Heimweg zusammen mit einem Deutschen, genannt der Schwarze Ritter, reiste. Wie Sie wahrscheinlich wissen, kämpfte etwa die Hälfte der Kreuzritter wirklich für die Erhaltung des Christentums, und die andere kämpfte lediglich zu ihrer eigenen Bereicherung. Der Schwarze Ritter hatte erfolgreich einen Sarazenen-Palast geplündert, und der Laderaum seines Schiffes war mit Schätzen vollgestopft. Als das Schiff Malta verlassen hatte, erschlugen Sir Alaric und seine Leute den Schwarzen Ritter und dessen Gefolge, requirierten den Schatz und brachten ihn mit nach Hause. Aber der Schwarze Ritter hatte, bevor er starb, Sir Alaric und seine Nachkommen mit einem Fluch belegt.«

»Was für einen Fluch?«, fragte Penny.

Imogen schwieg ein paar Sekunden lang, und ich hatte das Gefühl, als stutze sie innerlich die Geschichte etwas zurecht. »Nun, grundlegend besagte der Fluch, dass Alaric nicht lange genug leben würde, um in den wirklichen Genuss seiner unrechtmäßig erworbenen Beute zu kommen.

Er würde eines elenden Todes sterben, und der Fluch würde den erstgeborenen Sohn jeder Generation betreffen, und der Schatz würde verloren und doch nicht verloren sein - bis der Bastard wiederkäme.«

»Das klingt sehr russisch«, sagte Boris mit zutiefst nachdenklicher Stimme. »Ich meine, es ergibt keinen Sinn.«

»In gewisser Weise doch«, sagte Imogen leise. »Seit Generationen ist der erstgeborene Sohn eines frühen und jeweils nicht natürlichen Todes gestorben - bis das Geschlecht vor etwa siebzig Jahren ausstarb. In der damaligen Generation gab es keinen Sohn, und die Tochter heiratete einen reichen Kaufmann mit dem Namen Jones, und so kam der Doppelname Wykes-Jones zustande.«

»Der Fluch ist jetzt also erloschen?«, sagte Nigel Carlton mit seiner hohlen Grabesstimme. »Das freut mich zu hören.«

»Onkel Silas glaubt das nicht. Mit den Jahren ist diese Vorstellung bei ihm zur Besessenheit geworden.« Sie lächelte leicht. »Sie dürfen sich nicht an ihm stören, wenn Sie ihn hier im Schloss zu Gesicht bekommen. Der arme alte Mann ist völlig harmlos.«

»Wie ist der Bastard denn umgekommen?«, fragte ich neugierig.

»Es wird berichtet, dass ihn der Fluch verfolgte und dass er überzeugt gewesen sei, der Schwarze Ritter würde zusammen mit seinem Gefolge aus dem nassen Grab aufstehen und kommen, um ihm den Schatz abzufordern. Alaric wurde von dieser Vorstellung so besessen, dass er den Wachtturm baute und Tag und Nacht dort oben eine Wache aufstellte, die beobachten musste, ob das Schiff des Schwarzen Ritters am Horizont erschiene. Dann vergrub er den Schatz irgendwo - oder versteckte ihn um ihn in Sicherheit zu haben.« Sie lachte leise. »Er muss seine Sache ausgezeichnet gemacht haben, denn er ist seit dieser Zeit nie mehr aufgetaucht.«

»Aber wie ist er gestorben?«, beharrte ich.

»Eines Nachts war er der Überzeugung, das Schiff des Schwarzen Ritters sei bereits ganz nahe; und so bestand er darauf, selbst auf dem Turm Wache zu halten. Am Morgen fand man seine Leiche am Fuß des Turmes; und es wird berichtet, dass der Ausdruck des Entsetzens in seinen weitgeöffneten Augen selbst das stärkste Herz erbeben ließ. Er wurde dort, wo er gefunden wurde, begraben, denn die Leute waren damals überzeugt, dass der Schwarze Ritter mit dem Teufel im Runde stünde und es sei der Satan selber gewesen, der Alaric den Tod gebracht hatte; und so weigerte man sich, seine Leiche in geweihter Erde zu begraben.«

»Was für eine reizende Gute-Nacht-Geschichte!« Penny schauderte. »Ich werde heute Nacht kein Auge zutun.«

»Es ist wirklich eine faszinierende Sage«, bemerkte Robert Carlton. »Und wenn wir schon vom Schlafen reden, wollen wir uns nicht vielleicht einmal etwas früher zurückziehen? Ich würde mir gern morgen früh die Umrisse der Story ausdenken und ein paar Ideen für die Außenaufnahmen einfallen lassen.«

»Natürlich.« Imogen stand auf und zog an einer neben ihrem Stuhl angebrachten Klingelschnur. »Farthingale wird Ihnen Ihre Zimmer zeigen.«

Ein paar Sekunden später erschien der Butler auf der Türschwelle; und Imogen wies ihn an, den Gästen die Zimmer zu zeigen. Robert und Nigel Carlton folgten ihm hinaus, Penny hielt sich dicht hinter ihnen, und Boris und ich bildeten die Nachhut. Wir waren eben an der Tür angelangt, als Imogen sagte:

»Mr. Baker - ob ich wohl noch ein Wort mit Ihnen sprechen dürfte?«

»Aber gern.« Ich kehrte zu ihr zurück.

Sie wartete, bis Boris verschwunden war, und kam dann durch das Zimmer in ihrem raschelnden staubgrauen Gewand rasch auf mich zu. »Ich möchte Ihnen gern etwas zeigen.«

»Großartig!«, sagte ich verdutzt.

Ich folgte ihr hinaus in die Diele, wo ich Boris gerade noch oben an der Treppe verschwinden sah. Imogen ging auf eine Tür zu, die im hinteren Teil der Diele hinter der Treppe lag, und öffnete sie. Dahinter lag ein langer, trübe beleuchteter Korridor, und je weiter ich ihn hinabging, desto mehr begannen die kurzen Härchen in meinem Nacken sich zu sträuben. Der Gang endete an einer dicken Eichentür, die heftig knarrte, als Imogen sie öffnete. Sie blieb einen Augenblick lang stehen und sah mich mit höflichem Gesichtsausdruck an. »Haben Sie ein Streichholz, Mr. Baker?«

Ich kramte in meiner Tasche, fand die Zündhölzer und gab sie ihr. Gleich darauf flammte das Streichholz auf und beleuchtete einen angelaufenen Silberkandelaber, der gleich neben der Tür auf einer altertümlichen Holzkommode stand. Imogen zündete die Kerzen an und winkte mir zu, einzutreten. Der Raum wirkte wie eine Art Verlies, war etwa dreieinhalb Meter im Quadrat, hatte Steinwände und keine Fenster. An der Wand hing ein Bild, und in dem matten Licht konnte ich gerade noch erkennen, dass es sich um einen Mann in einer Rüstung handelte.

»Nach Alarics Tod«, sagte Imogen leise, »verbannte sein ältester Sohn es aus der Hauptgalerie und hängte es hier auf. Er veranlasste auch den örtlichen Barden, den Fluch auf eine Holztafel einzugravieren - was vermutlich erklärt, warum das in Reimform geschehen ist. Die Tafel wurde ebenfalls hier an der Wand angebracht. Dieser Raum ist also in gewisser Weise ein Altar mit umgekehrten Vorzeichen. Niemand hat durch die Jahrhunderte hindurch hier etwas verändert.«

Sie trat näher an die Wand und hielt den Kandelaber so hoch, damit ich die Inschrift auf der Holztafel lesen konnte.

 

Der Schwarze Ritter bittere Rache nahm,

auf heimlichen Flügeln der Tod herankam,

den Geist der Erstgeborenen zu verwirren

und sie dann in den frühen Tod zu führen.

Verloren der Schatz - und doch nicht verloren,

Widersinn für die als Weise erkoren.

So bliebe es wohl bis zum Ende der Zeit,

kehrt’ nicht zurück der Bastard in ander'm Kleid.

 

Ich räusperte mich nervös, als ich fertig gelesen hatte, und warf einen Seitenblick auf Imogen. Ihre Augen glänzten warm im Kerzenlicht in einer Art gespannter Erwartung. Dann hob sie langsam den Kandelaber etwas höher, so dass das Licht direkt auf das Porträt fiel. Ich starrte es eine ganze Weile an, schloss meine Augen für eine noch etwas längere Zeitspanne, öffnete sie dann zögernd wieder und betrachtete es erneut. Entweder hatte ich soeben meinen Verstand verloren oder ein bärtiger Larry Baker starrte mich dort seinerseits an.

»Es ist eine verblüffende Ähnlichkeit«, murmelte Imogen mit tiefer kehliger Stimme. »Ich habe es sofort bemerkt, als wir uns in der Diele begegneten.«

»Ja?«, krächzte ich. »Nun ja, vermutlich ist das einfach ein Zufall. Nicht?«

Sie brach in ein leises spöttisches Lachen aus. »Das bezweifle ich außerordentlich, Mr. Baker. Weit eher ein Werkzeug des Schicksals.«

»Wie bitte?«

Ihre dunklen Augen glühten in einem seltsamen Licht. »Kehrt’ nicht der Bastard zurück in ander'm Kleid...«, zitierte sie mit gefühlvoller Stimme.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Imogen sagte am Fuß der geschwungenen Treppe gute Nacht. Ich drückte mich an der Ritterrüstung vorbei und sprang in Windeseile die Stufen empor. Oben bog ich links in einen breiten Korridor ein, der an einer Reihe geschlossener Türen vorbeiführte - ich schaffte es sogar, meinen Phantasievorstellungen, was sich dahinter wohl abspielen mochte, Einhalt zu gebieten - und gelangte zu einer Wand, an der sich der Korridor T-förmig teilte. Imogen hatte mir eine detaillierte Beschreibung gegeben, wie ich in mein Zimmer im Ostflügel käme; und hier - daran erinnerte ich mich deutlich - musste ich mich nach links wenden, was ich auch tat. Und in diesem Augenblick begannen die Scherereien; etwa sechs Meter weiter unten endete der neue Korridor in sechs Stufen, die zu einem breiten Treppenabsatz führten, und dort blieben mir mehrere Möglichkeiten. Ich konnte von dort aus entweder einen schmalen, matt beleuchteten Gang entlanggehen oder eine Treppe nach oben steigen oder eine abwärts führende Treppe benutzen. Das Ärgerliche war, dass ich mich nicht daran erinnerte, ob Imogen dieses Detail überhaupt erwähnt hatte. Ich stand auf dem Absatz und versuchte, zu einem Entschluss zu gelangen, als irgendwo in der Nähe ein leises »Pst!« mich fast an die Decke fahren ließ.

Ein kleiner alter Mann war aus dem Nichts aufgetaucht und stand auf der nach oben führenden Treppe. Er sah aus wie ein alternder Cherub mit beginnender Glatze, gestreiftem Pyjama unter einem Samtmorgenrock und das Neueste an Hausschuhen mit Quasten. Ich blinzelte heftig und wartete darauf, dass er verschwinden würde.

»Pst!« Er winkte mit einem dicken Zeigefinger. »Hier, her, Bastard!«

»Selbst Bastard!«, erwiderte ich mit typischer Baker'scher Brillanz.

Er ließ mir ein widerwärtig zahnloses Lächeln zukommen und winkte weiter. In diesem Augenblick erinnerte ich mich mit einem inneren Seufzer der Erleichterung daran, dass die Wykes-Jones einen verrückten Onkel in petto hatten und dass es sich hier offensichtlich um ihn handelte.

»Onkel Silas?«, erkundigte ich mich.

Er nickte und sagte erneut »Pst!«, während mir sein Finger weiter wie wahnsinnig winkte.

»Wissen Sie den Weg zum Ostflügel?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Du wirst ganz sicher bei mir sein, Bastard«, flüsterte er. »Komm!«

»Okay«, sagte ich zweifelnd. »Für meinen Nachtschlaf tue ich alles, aber hören Sie auf, mich als Bastard zu bezeichnen. Ja? Für einen Burschen wie mich, der seinen Vater erst mit seinem zwanzigsten Lebensjahr kennengelernt hat, ist das eine Art Beleidigung.«

Aber er war bereits die Treppe emporgestiegen, und so folgte ich ihm schnell, denn selbst ein verrückter Onkel war noch besser als überhaupt niemand. Als wir oben angelangt waren, nahm ich an, dass wir uns im zweiten Stock befanden, aber wie, zum Kuckuck, es dort aussah, konnte ich nicht erkennen, denn es herrschte komplette Dunkelheit.

»He!«, sagte ich nervös. »Wie wäre es, wenn wir ein bisschen Licht machten?«

»Pst!«

»Oh! - Schieben Sie doch Ihre verdammten Zähne in den Mund!«, zischte ich zurück.

Ein Streichholz flammte auf, und dann sah ich, dass er irgendwo eine Kerze ergattert hatte, die er nun mit zitternden Fingern anzündete.

»Hören Sie zu«, knurrte ich. »Dieser Hugh Wykes-Jones hat gesagt, dass der Ostflügel über jeden modernen Komfort, über Badezimmer und alles Übrige verfüge, also behaupten Sie nicht, hier gäbe es keine Elektrizität, weil...«

»Komm!«, flüsterte er, und der verdammte dicke Zeigefinger winkte erneut.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihm einen langen Korridor entlang zu folgen, wobei meine Füße Staub aufwirbelten und ich am äußeren Radius des Kerzenlichts Spinnweben hängen sehen konnte. Für einen Mann seines Alters bewegte sich Onkel Silas wirklich recht schnell; und ich musste mich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Der Korridor bog zweimal im rechten Winkel ab, und danach dachte ich, der Teufel solle das Ganze holen, und packte den Alten an der Schulter.

»Moment mal«, brummte ich. »Wohin gehen wir eigentlich?«

Er drehte den Kopf zurück und blickte mich an. Seine Augen waren vom blässesten Blau, das ich je gesehen hatte, und der leere Ausdruck in ihnen hatte nichts Ermunterndes. Er legte einen Augenblick lang die Finger auf die Lippen und grinste mich erneut auf seine zahnlose Weise an.

»Keine Sorge, Bastard«, flüsterte er. »Ich bringe dich in Sicherheit.« Seine schweren Lider flatterten auf und ab, und dann blickte er plötzlich wieder vor sich in die Dunkelheit. »Er ist heute Nacht unterwegs«, sagte er einfach.

»Er?« brachte ich erstickt hervor.

»Er jagt hinter dir her«, sagte er in beruhigendem Ton. »Aber er wird dich nicht finden!« Er kicherte, als ob er sich über einen ausgezeichneten Spaß, den nur er begriff, amüsierte. »Heute Nacht wird er hungrig sein.«

»Er?« Ich schluckte mühsam. »Wer oder was - wovon, zum Teufel, reden Sie überhaupt?«

»Komm!« Er löste sanft meine Hand von seiner Schulter. »Wir müssen uns beeilen.« Und er eilte weiter den Korridor entlang, als ob ihm alle Dämonen der Hölle auf den Fersen säßen. Ich blieb angesichts der Möglichkeit, dass dem wirklich so wäre, ebenfalls nicht stehen und hielt mich dicht hinter ihm, hauptsächlich weil er die Kerze hatte und weil mir der Gedanke, allein im Dunklen zurückzubleiben, ein schlimmeres Schicksal erschien, als bei Trendex mit einer Sendung unter dem Beliebtheitsgrad Null zu rangieren. Schließlich blieb er stehen, öffnete eine Tür und winkte mir dann, ihm in das Zimmer dahinter zu folgen. In dem flackernden Kerzenlicht konnte ich erkennen, dass es sich um einen kleinen, mit Spinnweben überzogenen Raum handelte; und in Anbetracht der dicken Staubschicht auf dem altertümlichen Bett mit den vier Pfosten musste der letzte Schläfer hier einer dieser rundköpfigen Kavaliere oder so was gewesen sein.

»Soll das ein Gag sein?«, sagte ich heiser. »Ich habe schon viel von der englischen Gastfreundschaft gehört, aber das ist lächerlich! Wenn Sie sich einen Augenblick lang einbilden, dass ich den Rest der Nacht hier zubringe...«

In diesem Augenblick gingen mir die Worte aus, denn während ich geredet hatte, war Onkel Silas zur nächsten Wand hinübergehüpft, hatte an einem Backstein in ihrer Mitte herumgefummelt, und nun hatte sich ein ganzer Teil der Wand geöffnet und ein mit tiefster Dunkelheit ausgefülltes Rechteck enthüllt, ausreichend groß, um mindestens zwei Leichen zu verbergen.

»Was, zum...?«, begann ich mit erstickter Stimme.

»Schnell!« Er winkte mir, in das schwarze Loch von Fearsome Grange zu treten. »Ich werde es hinter dir schließen, und dann wirst du sicher sein.«

»Hören Sie zu - Sie verrückter Wykes-Jones!«, fauchte ich. »Wenn Sie sich einbilden, ich werde in dieses Mauseloch kriechen, sind Sie noch viel irrer, als ich gedacht habe!«

Von irgendwo draußen auf dem abgelegenen Korridor drang ein tiefer pfeifender Laut herein. Meine Kehle presste sich zusammen, und ich fühlte, wie mein Rückgrat erstarrte, während ich hörte, wie das gespenstische, unmenschliche Pfeifen langsam erstarb.

»Er kommt!« Der Alte kreischte wie eine Striptease-Tänzerin, die in der Arktis ohne ihren G-String ertappt worden ist. »Ich habe ihn nicht so bald erwartet. Schnell, Bastard, schnell, bevor es zu spät ist!«

Noch bevor mir klar wurde, was ich tat, hatte ich mich automatisch dem Druck seiner Hand gefügt und war in das klaffende schwarze Loch getreten. Im nächsten Augenblick schlug der offene Teil der Wand hinter mir zu, und ich blieb in völliger Finsternis zurück. Ich hätte geschrien, aber mein Hals war nach wie vor wie zugeschnürt; und der einzige Laut kam von meinen Knien her - sie schlugen in einer Art verrücktem Rock-and-Roll-Rhythmus gegeneinander.

Nach etwas, das mir wie eine Lebensspanne erschien - wahrscheinlich waren es zwei Minuten -, während der ich hoffnungslos gegen die massive Backsteinwand gestoßen hatte, schaffte ich es, mich so weit zu beruhigen, dass das Stadium nackten Entsetzens dem zitternder Panik wich. Logische Überlegungen machten mir klar, dass ich nicht mehr in das Zimmer an der anderen Seite der Wand gelangen würde, sofern Onkel Silas nicht plötzlich seinen Sinn änderte, was ich bezweifelte, selbst wenn ihn dieser pfeifende Gottseibeiuns nicht ohnehin schon geholt hatte. Hier bist du also, Larry Baker, sagte ich mir beruhigend, sicher vor dem pfeifenden Gespenst, fest in der Wand eingeschlossen. In diesem Augenblick wünschte ich mir, ich hätte noch nie etwas von meinem Lieblingsautor Edgar Allan Poe gehört.

Nach einiger Zeit lehnte ich mit dem Rücken gegen die Wand und streckte vorsichtig die Arme vor mir aus. Meine Hände stießen gegen eine andere massive Wand. Dann streckte ich die Arme seitlich aus, und meine Linke traf auf eine weitere verdammte massive Wand, aber meine Rechte stieß nur in Luft. Ich wandte mich nach rechts, legte die Hand gegen die Wand und streckte die Linke gerade vor mich aus. Dann begann ich langsam zu gehen. Nachdem ich ein halbes Dutzend Schritte gemacht hatte, verspürte ich den erregenden Reiz wissenschaftlicher Entdeckerfreude, als mir klar wurde, dass ich mich in einem Geheimgang befinden musste. Das war ein verdammter Gedanke und veranlasste mich, zwei Schritte auszulassen, da mir der Gedanke kam, es könne sich eine Falltür unter meinen Füßen befinden.

Ich schlurfte weiter wie ein Blinder und spürte vage, dass der Gang in einer Kurve abwärts führte. Ich hielt mir selber den Daumen, dass ich nicht schließlich in einem Burggraben mit stehendem Wasser landen würde. Nach einer Weile gelangte ich eindeutig an eine rechtwinklige Ecke, bog vorsichtig ein und sah zwei dünne, diagonal von oben herabfallende Lichtstrahlen. Als ich näher trat, sah ich, dass die beiden Lichtstreifen aus kleinen Löchern in der Außenmauer drangen, die ungefähr in Augenhöhe lagen. Licht bedeutete für einen armen elenden, in einer Wand eingeschlossenen Bastard Hoffnung, und so hielt ich die Augen an die Löcher und spähte erwartungsvoll hindurch.

Ich sah ein Zimmer - ein Schlafzimmer -, das behaglich eingerichtet und tatsächlich mit elektrischem Licht erhellt war. Der Bettüberzug war abgenommen worden und auf dem kleinen Nachttisch standen eine Flasche Scotch und ein Glas. Es war beinahe zu viel für mich, und ich brach fast in Tränen aus, aber dann geschah das Unglaubliche - etwas, das meine Gedanken sofort von der Whiskyflasche ablenkte. Aus etwas, das ich für ein Badezimmer hielt, trat Penny Potter und schlenderte zum Tisch hinüber. Sie goss sich ein Glas ein, nippte mit Kennermiene daran, gähnte und stellte das Glas wieder hin. Nach einem atemberaubenden Augenblick der Ungewissheit zog sie das schwarze Jersey-Oberteil über den Kopf und warf es achtlos auf einen Stuhl. Zwei Sekunden später leistete ihm die schwarz-weiß gestreifte Hose Gesellschaft, so dass Penny in einem tief ausgeschnittenen weißen Satinbüstenhalter und dazu passendem Höschen zurückblieb.

Sie setzte sich vor den Spiegel des Toilettentisches und begann, heftig ihr langes blondes Haar zu bürsten. Ich hatte das beste Gewissen der Welt. - Konnte ich etwas dafür, dass ich dazu verdammt war, den eingemauerten Voyeur zu spielen? Und so bereitete ich mich auf das kommende Schauspiel vor. Nachdem Penny ihr Haar gebürstet hatte, stand sie wieder auf, hakte ihren Büstenhalter auf und warf ihn auf den Stuhl. Dann gähnte sie und streckte genussvoll die Arme über den Kopf, und der Anblick ihrer vollen, nach oben' geschwungenen Brüste ließ mich erneut erbeben, aber diesmal aus anderen Gründen. Ein paar Sekunden faszinierender Unsicherheit, während sie mir den Rücken zukehrte, dann beugte sie sich nach vorn und zog ihr Höschen bis zu den Knöcheln hinab. Der Anblick ihres gerundeten Hinterteils war beinahe zu viel; aber als sie mit einer wunderbar wippenden Bewegung durch das Zimmer ging, da war es zu viel - mehr als ein eingemauertes Mannsbild aus Fleisch und Blut ertragen konnte.

Es musste einen Weg hinaus geben, dachte ich. Wenn ich schon in das Zimmer hineinsehen konnte, gab es vielleicht auch eine Möglichkeit, hineinzukommen. Vielleicht war es auch hier wie bei der Wand, die Onkel Silas geöffnet hatte, indem er an einem Backstein in ihrer Mitte herumgefummelt hatte. Aber als ich vor mir herumtastete, schien alles glatt zu sein, und in diesem Augenblick schnappte ich einfach über. Zum Teufel damit! dachte ich wütend. Ich werde die Wand einschlagen. Ich presste meinen Rücken an die gegenüberliegende Wand, schob eine Schulter vor und warf mich gegen die Barriere, die sich zwischen mir und der schönen nackten Penny Potter befand. Als ich meine Schulter gegen die Wand stemmte, machte ich mich auf einen Widerstand gefasst, aber es gab gar keinen - die Wand löste sich einfach auf. Ich fuhr geradewegs durch sie hindurch und kam in Pennys Schlafzimmer an wie ein riesiger Nachtmar aus einem utopischen Roman und landete der Länge nach auf dem Bett.

Penny starrte mich mit weitgeöffnetem Mund an und stieß dann einen markerschütternden Schrei aus. Ich blieb atemlos liegen und versuchte, ihr beruhigend zuzulächeln. Das war offensichtlich ein Fehler, denn es klappte in keiner Weise. Ihre Schreie verdoppelten ihre Lautstärke, während sie schnell zurückwich und versuchte, mit zwei Händen zu bedecken, wofür sie drei gebraucht hätte; und im nächsten Augenblick platzte eine ganze Kompanie völlig überflüssiger Leute ins Zimmer. Penny starrte sie wild an, brach in hysterische Tränen aus und haute ab, als ob heute Nacht ihre Chance bestünde, die olympische Goldmedaille im Hundertmeterlauf zu gewinnen. Ihre Kleider unterwegs vom Stuhl reißend, verschwand sie im Badezimmer.

Ich schaffte es schließlich, etwas Luft in meine Lunge zu zwingen, und richtete mich mühsam auf. Robert Carlton, Imogen und mein verräterischer Freund Boris Slivka standen eng beisammen und beobachteten mich mit gütigen Gesichtern. Nach einer Weile hatte ich es satt, meinerseits zurückzustarren, und richtete den Blick stattdessen auf die Wand, die sich in ihre Bestandteile aufgelöst hatte. Die zerfetzten Reste eines Ölgemäldes hingen über dem Loch, durch das ich meinen lautstarken Einzug gehalten hatte. Ein Geheimgang - Löcher in den Augen eines Porträts, das an der Wand hing, so dass der Bewohner oder die Bewohnerin des Zimmers beobachtet werden konnte? Ich schloss fest die Augen in schierer Enttäuschung - konnte es noch etwas Abgedroscheneres geben?

»Es tut mir leid, Towarischtsch«, sagte Boris mit mitfühlender Stimme. »Ich erfuhr erst davon, als es zu spät war.«

Ich starrte ihn unheildrohend an und ließ dann denselben Blick zu Imogen hinübergleiten. »All dieser Quatsch über den Bastard, der im anderen Gewand zurückkehrt«, sagte ich. »Haben Sie das erfunden, nur um mich reinzulegen?«

»Nein.« Sie lächelte mitleidig. »Die Sage und der Vers auf der Holztafel stimmen - sie sind seit Hunderten von Jahren in der Familie. Erst als Robert von dem Ganzen hörte, bekam er den Einfall, einen Studiomaler zu beauftragen, nach einem Foto ein Porträt von Ihnen herzustellen und nur den Bart hinzuzufügen.«

Robert Carlton strahlte mich beglückt an. »Es tut mir schrecklich leid, mein lieber alter Autor, wenn der Spaß ein bisschen zu weit gegangen ist. Sehen Sie, als wir das Schloss für die Außenaufnahmen aussuchten, dachte ich, es wäre vielleicht ein wundervolles Stimulans für Ihre Phantasie, wenn wir Ihnen dieses kleine Schauspiel vorführten, sobald Sie ankämen.«

»Als Förderer von Fernsehsendungen haben Sie Ihren Beruf verfehlt«, knurrte ich. »Sie hätten Obertorturenmeister in einer mittelalterlichen Folterkammer werden sollen.«

»Na, nun hören Sie mal!« Seine Augen fuhren wie verrückt hin und her. »So erschreckend war es doch nun auch wieder nicht. Oder?«

In diesem Augenblick fehlten mir einfach die Worte; ich saß da, während mein Mund lautlos zuckte, und das Klicken der sich öffnenden Badezimmertür war deutlich hörbar. Nicht die höllischste Wut ist der vergleichbar, die eine Frau erfasst, wenn sie nackt ertappt wird, ohne es in diesem Augenblick zu erwarten. Ein völlig angezogener blonder Racheengel schritt mit zusammengepressten Lippen entschlossen durch das Zimmer und verpasste mir mit dem Handrücken eine Ohrfeige. Der dadurch verursachte explosionsartige Knall war lauter als eine Granate und schmerzte sogar noch mehr, schien mir, während ich in einer Art purpurner Betäubung sitzen blieb.

»Sie dreckiger kleiner Schlüssellochgucker«, sagte Penny mit belegter Stimme. »Einfach hier hereinzuplatzen, während ich - während ich...« Der Mangel an Worten wurde durch physische Aktivität wettgemacht, und sie schlug mir mit dem Handrücken auf die bisher noch unbeschädigte Wange.

»Es war nicht Larrys Schuld«, sagte Boris irgendwo außerhalb meiner nun doppelseitigen purpurnen Betäubung. »Es war eine Art Spaß und alles Mr. Carltons Idee.«

»Ja?« Penny überlegte schnell und legte in Null Komma nichts die kurze Strecke zwischen ihr und Robert Carlton zurück. »Na gut«, knurrte sie, »Ihre witzigen Einfälle sollen nicht ohne Anerkennung bleiben.« Ein weiterer explosionsartiger Laut folgte, als ihr Handrücken mit seiner Wange kollidierte. Bei ihm klang das erfreulich.

»Hören Sie!« Carlton wich zurück, bis er gegen die Wand prallte. »Ich meine nun - beherrschen Sie sich, Miss Potter!«

»Ich mich beherrschen?« Pennys Gesicht verzog sich zu einer so grausamen Grimasse, dass Carlton an der Wand niederkauerte. »Können Sie sich vielleicht vorstellen, wie mir zumute war - wie ich dastand, bereit ins Bett zu gehen, nichts am Leib - und da kommt Larry ins Zimmer geschossen und fällt mit einem Krach aufs Bett, und dann kommt auch noch ihr alle...« Es war zu viel für ihre Gefühle, und sie bedurften offensichtlich eines Ventils. Zum Glück war eins bei der Hand - die heile Seite von Carltons Gesicht und der zweite explosionsartige Knall war sogar noch lauter als der erste.

»Bitte, Miss Potter«, sagte Imogen schnurrend wie eine Katze. »Beherrschen Sie sich! Bei den Kleidern, die Sie tragen«, ihre Stimme war samtweich, »hätte ich eher angenommen, Sie hätten Ihre Rolle als lebender Akt genossen.«

»Oh - das meinen Sie, ja?« Penny bleckte in einer Art atavistischen Lächelns die Zähne. »Na, dann will ich Ihnen mal was sagen, Sie verblichene Schönheit von anno achtzehnhundertneunzig! Wenn ich Ihre Figur hätte, dann würde ich...«

»He!« Boris warf sich verzweifelt zwischen die beiden

Damen. »Ladys, bitte! Wollen wir uns nicht alle einmal beruhigen? Schließlich ist der ganze alberne Streich jetzt zu Ende!«

Die beiden standen da, starrten einander ein paar Sekunden lang finster an und beruhigten sich dann allmählich.

»So ist es besser«, sagte Boris beglückt. »Ich nehme an, Mr. Carlton ist durch Miss Potters Argumente beeindruckt, was den zweifelhaften Wert seines Streichs anbetrifft, und so können wir alle wieder ins Bett gehen und...«

»Was ist mit dem Gemälde passiert?«, fragte Imogen plötzlich.

»Durch es hindurch habe ich das Zimmer hier betreten«, sagte ich verbittert. »Wie, zum Kuckuck, sollte ich Ihrer Ansicht nach sonst aus diesem verdammten Geheimgang herauskommen?«

Ihre Augen weiteten sich langsam. »Geheimgang? Hier gibt es keinen Geheimgang.«

»Na, nun hören Sie mal!«, äffte ich Carltons englischen Akzent nach. »Lassen wir doch diesen Quatsch beiseite!«

Sie starrte ein paar Sekunden lang in das klaffende Loch, und ihre Augen wurden immer größer. »Nein«, sagte sie mit verkrampfter Stimme. »Im Ernst - ich habe nie geahnt, dass es hier einen geheimen Gang gibt.«

»Na klar«, sagte ich müde. »Und Sie wussten auch nicht einmal, dass Onkel Silas auf mich gewartet hat, um mir diese ganze verdammte Suppe einzubrocken, und dass draußen im Flur jemand war, der im richtigen Augenblick einen Pfiff von sich gab, um mich zu ermutigen. Nein?«

Robert Carlton richtete sich auf und stieß sich von der Wand ab, während eine Hand nach wie vor sachte über den hässlichen roten Fleck auf seiner Wange strich. »Hören Sie zu, alter Freund«, sagte er schwerfällig, »ich gebe ja zu, dass der Spaß ein bisschen zu weit gegangen ist, also seien Sie ein guter Junge und lassen Sie die Sache nun auf sich beruhen. Ja? Genug ist genug«, er zuckte zusammen und blickte finster zu Penny hinüber, »oder vielmehr beinahe zu viel, könnte man vielleicht sagen. Also lassen wir die ganze Angelegenheit fallen. Ja?«

»Mr. Baker?« Imogen starrte mich an, als ob plötzlich Hörner aus meiner Stirn sprossten, »Sie haben Onkel Silas gesehen?«

»Klar!« Ich nickte. »Auf dem Treppenabsatz, von dem aus man nach drei Seiten gehen kann.«

»Wie sah er aus?«

»Wollen Sie behaupten, Sie wüssten das nicht?«

»Bitte!« Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Sagen Sie mir, wie er ausgesehen hat.«

»Ein kleiner dicker, kahlköpfiger Bursche, der vergessen hatte, sein Gebiss in den Mund zu stecken«, knurrte ich. »Und?«

»Aber Onkel Silas ist ein großer dünner Mann«, sagte sie langsam. »Und er hat praktisch noch alle seine Zähne.«

»Okay.« Ich zuckte die Schultern. »Dann habe ich ihn eben durch einen Zerrspiegel gesehen. - Okay?«

»Nigel muss die Sache ein bisschen übertrieben haben«, warf Robert Carlton ein. »Ich meine, indem er unseren guten alten Schreiberling hier so erschreckt hat, dass er in Pennys Zimmer gestürzt kam und«, seine Stimme schwankte, »dieses Gemälde dort an der Wand zerrissen hat...«

»Zum letzten Mal!«, schrie ich. »Onkel Silas - die kleine dicke, kahlköpfige und zahnlose Ausgabe - hat mich durch einen Trick in diesen geheimen Gang hineingelotst; und der einzige Weg zurück in die Welt der Lebenden war durch dieses verdammte Ölbild. Und was Ihr Dracula- Bruder angestellt hat, weiß ich nicht - denn ich habe ihn gar nicht gesehen!«

»Aber natürlich haben Sie ihn gesehen, alter Junge!«, sagte Carlton mit beruhigender Stimme, wobei er jedes Wort langsam und deutlich aussprach, als erwarte er, dass die Männer in den weißen Kitteln jeden Augenblick auftauchen und mich in eine Zwangsjacke stecken würden.

»Sie gingen in Ihr Zimmer, und dann sprang dieser Vampir aus dem Kleiderschrank und...«

»Sie haben den Rest Ihres ohnehin winzigen Verstandes eingebüßt«, sagte ich kalt. »Ich werde doch wohl noch wissen, wo ich gewesen bin - das ist für Zeit und Ewigkeit in mein Gedächtnis eingraviert! Ich habe den alten Burschen - den, welchen ich für Onkel Silas hielt - auf dem Treppenabsatz getroffen, und er führte mich in den zweiten Stock hinauf und anschließend in ein Zimmer, das aussah, als ob es seit Wikingers Zeiten nicht mehr benutzt worden sei. Dann brummelte er etwas vor sich hin, er wolle mich vor ihm in Sicherheit bringen, und öffnete einen Teil der Wand. Ich wollte keineswegs hineingehen; aber dann drang von außen dieser grässliche Pfeiflaut herein, und bevor ich wusste, was geschehen war, war ich in diesem Geheimgang eingeschlossen«, ich wies auf das Loch in der Wand, »und hier bin ich wieder herausgekommen. In der Leinwand befanden sich zwei Schlitze, vermutlich da, wo die Augen waren. Ich spähte hindurch, sah Penny, die hier drinnen - äh - beschäftigt war, und platzte herein - oder heraus, wie man die Sache ansieht.«

Die anderen vier starrten einander eine ganze Weile an, dann räusperte sich Boris leise. »Er ist nüchtern«, bemerkte er. »Außerdem gibt es zweifellos hinter dem Ölbild eine Art Gang.«

Imogen holte tief Luft, was die staubgraue Seide erheblich anhob. »Ein - Pfeiflaut, haben Sie gesagt?«

»Ganz recht.« Ich schauderte. »Es klang, als wenn sich sämtliche Grabgespenster aufgemacht hätten, um Larry Baker einzufangen.«

Sie biss sich sachte auf die Unterlippe und schüttelte mit nachdenklichen Augen den Kopf, als ob ihr eben etwas eingefallen sei, das zu akzeptieren sie sich innerlich weigerte.

»Nun«, sagte Robert Carlton schwerfällig, »wenn das, was Sie erzählt haben, wahr ist, dann muss der arme alte Nigel nach wie vor in Ihrem Kleiderschrank warten.«

»Ich werde mir einen Eimer Wasser besorgen und es dann herausfinden«, sagte ich grimmig.

»Vielleicht sollten wir alle gemeinsam gehen und die Sache erklären«, schlug er vor. »Der arme alte Nigel wird nach all dieser Zeit wahrscheinlich ziemlich geladen sein.«

Er ging voraus aus Pennys Zimmer, und wir anderen folgten den Korridor entlang und hinüber zur nächsten Tür rechts, die Robert Carlton öffnete. Das Zimmer lag im Dunklen, und nach ein paar Sekunden flammte das Licht auf. Wir traten hintereinander ein und sahen zu, wie Robert Carlton zum Kleiderschrank ging.

»Es tut mir verdammt leid, Nigel, alter Junge«, sagte er mit leicht verschüchterter Stimme, während er die Tür öffnete, »aber leider ging der Schuss nach hinten los und Baker...« Er hielt inne und starrte in den augenscheinlich leeren Schrank. »Na, so was! Nigel ist gar nicht hier.«

»Wahrscheinlich hatte er das Warten satt und ist wieder ins Bett gegangen«, knurrte Boris. »Damit ist er der Vernünftigste von uns allen. Wie war’s, wenn wir alle dasselbe täten?«

»Eine ausgezeichnete Idee.« Robert Carlton nickte. »Aber ich glaube, ich muss Nigel trotzdem erst alles erklären. Jedenfalls...«, das strahlende Lächeln kehrte in sein Gesicht zurück, »Ihnen allen eine gute Nacht!«

Wieder verschwanden alle der Reihe nach aus dem Zimmer, mit Ausnahme von Boris, der behutsam die Tür hinter ihnen schloss und mich dann mit seinen traurigen Bernhardineraugen ansah.

»Wie ich vorhin schon sagte, Towarischtsch, erfuhr ich erst, dass dieser Kretin Carlton den Streich arrangiert hatte, als es zu spät war, ihn zu verhindern.«

»Schon gut.« Ich zuckte die Schultern. »Jedenfalls ist mir von jemand anderem ein Streich gespielt worden - sofern es sich überhaupt um einen gehandelt hat.«

»Ein kleiner alter Mann, den Sie für Onkel Silas hielten und von dem die dunkeläugige Imogen behauptet, er sei es nicht? Ein Geheimgang und ein Gemälde mit Schlitzen dort, wo die Augen sein sollten?« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Das ist zweitklassiger Horrorfilm von anno 1935, mein Freund. Aber für einen simplen Streich zu kompliziert. Also muss es sich um eine Realität handeln.«

»Na fein«, knurrte ich. »Das ist ein hübscher aufheiternder Einfall für eine Gute-Nacht-Geschichte.«

»Was war das für ein Geschwafel darüber, dass Ihr Bild gefälscht, aber dass der Vers echt sei?«

Ich erzählte ihm, wie Imogen mich in den kleinen Raum irgendwo im hinteren Teil des Schlosses geführt, mir das falsche Bild des Bastards gezeigt und dann den Vers aufgesagt hatte, der mit der Zeile endete, dass der Bastard im anderen Kleid wiederkehre.

»Darf ich also vorstellen - der neue Bastard«, knurrte ich.

»Mir scheinen Sie immer noch der alte Bastard zu sein, Larry Baker«, sagte er vergnügt.

»Oh, ihr Russen seid so schlau«, sagte ich und lächelte einfältig. »Warum gehen Sie nicht nach Sibirien zurück, wohin Sie gehören?«

»Die Sache gefällt mir nicht.« Boris schüttelte bedächtig den Kopf, einen Ausdruck von Schicksalsträchtigkeit auf dem Gesicht. »Das mit dem Vampir war ein Spaß, aber alles Übrige ist keiner. Und die ganze Atmosphäre in diesem Schloss ist gruselig - sogar vor meinem Fenster sausen irgendwelche Dinge herum.«

»Fledermäuse«, sagte ich. »Sie hausen wahrscheinlich in der Turmruine.«

»Da ist noch was, was mir nicht gefällt - diese Turmruine - und die Geschichte von dem Fluch und dem Originalbastard, der vom Turm herabgestürzt ist und...«

Ein höfliches Klopfen an der Tür veranlasste Boris, einen halben Meter hoch in die Luft zu fahren. Die Tür öffnete sich, und Robert Carlton erschien, einen besorgten Ausdruck auf dem Gesicht.

»So was.« Er schob sich weiter ins Zimmer. »Ich störe hoffentlich nicht?«

»Wir sitzen bloß da und erzählen uns Gespenstergeschichten«, sagte ich. »Also kommen Sie herein und amüsieren Sie sich auch.«

»Hm«, sagte er, während er vollends eintrat. »Es dreht sich um Nigel.«

»Möchte er vielleicht seinen Streich noch einmal ausführen, um dahinterzukommen, warum er das erste Mal nicht geklappt hat?«, fauchte ich.

»Er ist nicht in seinem Zimmer.« Robert Carlton zögerte. »Offen gestanden mache ich mir Sorgen. Sein Bett ist unberührt - es sieht so aus, als ob er gar nicht in sein Zimmer zurückgekehrt sei.«

»Vielleicht macht er einen kurzen Rundflug um das Schloss«, sagte ich. »Probiert seine Flügel aus - ein kleines Training in der Abendbrise. Wer weiß, auf welche unvermuteten Halsschlagadern er dabei trifft?«

»Bitte!« Carltons Augen rollten verzweifelt. »Ich mache mir Sorgen um Nigel. Ich meine, er war nicht, wie erwartet, in Ihrem Kleiderschrank und...«

»Warum suchen wir ihn nicht einfach?«, sagte ich. »Vielleicht hat er sich inzwischen wieder materialisiert und kann die Tür nicht mehr öffnen?«

Ich ging zur Kleiderkammer hinüber, öffnete die Tür und trat hinein. Sie war unwahrscheinlich groß, wahrscheinlich dafür eingebaut, um zwei Dutzend Ersatzgefolgsleute zu beherbergen, oder dergleichen, aber in jedem Fall war sie leer.

»Okay?« Ich blickte auf Carlton.

»Vermutlich.« Er spähte in die leere Kammer, als erwartete er, sein Bruder käme jede Sekunde aus der Holztäfelung hervorgesprungen. »Ich weiß, das klingt lächerlich.« Er räusperte sich vorsichtig. »Aber nach Ihrem Erlebnis mit dem Geheimgang, Baker: Würden Sie es nicht für möglich halten...?«

»Na klar«, sagte ich angewidert. »Boris hat recht, wir kennen unsere zweitklassigen Horrorfilme von anno fünfunddreißig ausgezeichnet! Sie glauben vielleicht, die Hinterwand der Kleiderkammer hängt in Angeln, wie? Und wenn man gegen die eine Seite presst, schwingt die ganze verdammte Wand herum und Sie befinden sich auf ihrer anderen Seite. Ja?« Ich legte die eine Handfläche gegen die Wand, nahe einer der Ecken, grinste Carlton an. »So zum Beispiel!«, sagte ich spöttisch - und drückte.

Die ganze verdammte Wand schwang nach innen! Ich fiel geradewegs in das klaffende schwarze Loch dahinter und kam auf Händen und Knien auf schmerzliche Weise zum Stillstand. Einen Augenblick lang begriff ich nicht, was passiert war, aber der deutliche Knall der hinter mir zuschlagenden Wand klärte das Problem in Windeseile. Ich öffnete den Mund, um Zetermordio zu schreien, aber bevor ich noch einen Laut herausbringen konnte, ertönte ein unheilvolles Klicken irgendwo innerhalb der Wand selbst. Irgendwie schaffte ich es, auf die Füße zu gelangen, und stieß mit beiden Händen kräftig zu, da ich das instinktive Empfinden hatte, das Klicken sei von irgendwelcher Bedeutung gewesen. Etwa fünf Minuten später konnte ich die Bedeutung in ihrer ganzen Tragweite erkennen; der Mechanismus, der für die drehbare Wand verantwortlich war, hatte sich verklemmt, und so befand ich mich genau da, wo ich mich zuvor schon befunden hatte - eingeschlossen in dieser verdammten Wand.

 

 

 

Viertes Kapitel

 

 

Man hätte sagen können, es habe keinen Sinn, wegen einer sich nicht drehenden Wand zu kreischen, aber ich hätte mir im Augenblick trotzdem die Lunge aus dem Leib geschrien, wenn ich sicher gewesen wäre, dass das nicht irgendetwas vielleicht zu Nachforschungen veranlasst hätte - wie zum Beispiel einen gewissen Pfeiflaut oder gar noch Schlimmeres. Das heißt, wenn es noch etwas Schlimmeres gab als diesen pfeifenden Laut, woran ich zweifelte. Ein eingemauerter Veteran zu sein hatte insofern seine Vorteile, als ich bereits wusste, was zu tun war: den Rücken gegen die Wand und die Arme nach beiden Seiten ausgestreckt. Zwei Sekunden später wusste ich, dass ich mich in einem weiteren Geheimgang befand, was nicht eben eine Überraschung darstellte, aber dieser hier schien nach zwei Seiten zu führen, so dass ich die Wahl des Weges hatte.

Ich beschloss, mich nach rechts zu wenden, denn links verstieß gegen meine politischen Überzeugungen - sollte ich vielleicht die Konsequenzen eines guten Trendex-Resultats mit jedermann teilen? Nachdem ich etwa fünfzig Schritte gegangen war, entdeckte ich, dass dieser Gang über einen ganz neuen Trick verfügte - über eine Treppe. Ich fand das auf die harte Tour heraus, indem ich die oberste Stufe verfehlte und den Rest bis zu ihrem Ende hinabpurzelte. Eine Weile lang blieb ich einfach sitzen, bis ich sicher sein konnte, nicht tot zu sein, hievte dann die Masse blauer Flecken, die Larry Baker darstellten, hoch und tappte erschöpft weiter.

Der Fortschritt verlangsamte sich danach, da ich mich mit vor meinem Gesicht ausgestreckter Hand Schritt um Schritt versicherte, dass sich noch fester Grund unter meinen Füßen befand. Ich ging nur weiter, weil mir sonst nichts zu tun übrigblieb. Die Oberfläche der Wand neben mir wurde zunehmend feuchter, je weiter ich mich vortastete; und nach einer Weile vermied ich, sie zu berühren, denn das Gefühl feuchten Moders unter den Fingern gab hier in der Finsternis zu allerlei Phantasievorstellungen Anlass. Mein Kopf schlug gegen etwas Hartes, das wehtat, und meine tastenden Finger lösten das Rätsel - es war die Decke. Das verschaffte mir ein paar großartige Sekunden, in denen mein Herz praktisch zu schlagen aufhörte. Vielleicht hätte ich mich von vornherein nach links wenden sollen, dachte ich trübselig, aber nun war es zu spät, meine politischen Anschauungen zu verleugnen. Also drang ich entschlossen weiter vor, bis ich schließlich auf allen vieren weiterkroch und damit rechnete, jeden Augenblick mich Napoleons Maxime von der auf dem Bauch marschierenden Armee unterwerfen zu müssen. Etwa eine Minute später war es genau das, was ich tat.

Ein paar Meter weiter vom hob sich die Decke wieder an, jedenfalls ausreichend, um auf allen vieren weiterkriechen zu können, und nach ein paar weiteren Metern sah ich in einiger Entfernung ein trübes Licht, das mich zu einer Art Vierbeiner-Trott inspirierte, wie ein treuer alter Hund, der soeben den Postboten gesichtet hat. Knapp sieben Meter von dem Lichtviereck entfernt war der Schein so hell, dass ich einen abzweigenden Nebengang erkennen konnte, der aufwärts führte. Aber dort war es dunkel, und so ignorierte ich ihn und hielt mich an das Lichtquadrat. Als ich nahe herangekommen war, stellte ich fest, dass das, was ich für eine Sinnestäuschung gehalten hatte - nämlich die schwarzen vertikalen Stangen -, durchaus Realität war. Die viereckige Öffnung war durch eine Reihe senkrecht verlaufender Eisenstäbe, die im Abstand von etwa zehn Zentimetern fest in den Stein eingelassen waren, aufs wirkungsvollste versperrt. Meine Chancen, mich durch sie hindurchzuwinden, waren nicht größer als die, bei der nächsten Wahl Miss Universum zu werden.

Ich kroch die beiden letzten Meter bis zu den Eisenstangen und starrte sehnsüchtig durch sie hindurch, wobei ich ein schweigendes Gelübde ablegte, dass der Zoo in Bronx in Zukunft auf Larry Bakers Gönnerschaft zu verzichten habe und selbst sehen sollte, wie er ohne sie zurechtkam. Ein weiterer Blick, und ich war beinahe froh, dass zwischen mir und dem, was sich auf der anderen Seite befand, Eisenstangen waren.

Die viereckige Öffnung musste auf der anderen Seite hoch in der Wand angebracht sein, so dass ich in eine Art Keller hinabblickte. Mir gegenüber führten in den Stein gehauene Stufen aufwärts, vermutlich zum Erdgeschoss des Schlosses. Die anderen Wände waren nass und tropften von schleimigem Wasser, das über grünen Moder und weißen Schimmelbelag rieselte. - Wer, zum Teufel, hätte daraufhin jemals wieder Pilze gegessen? Aber der eigentliche Clou war das Mittelstück: eine altertümliche riesige hölzerne Truhe stand auf dem Steinboden, und auf ihrem geschlossenen Deckel lag ausgestreckt ein Vampir. Er lag da, die Augen geschlossen, und nicht eins der glänzenden schwarzen Haare auf seinem Kopf war in Unordnung. Sein kalkweißes Gesicht schien zu einer starren Form verkrampft zu sein, und selbst die aus seinem Mund hervorragenden Wolfszähne strahlten eine gewisse Niedergeschlagenheit aus. Es war Nigel Carlton, das wusste ich, aber nicht einmal das hatte etwas Beruhigendes. Vielleicht hatte er meine Kleiderkammer satt gehabt und war hier heruntergekommen, um seinen Nachtschlaf zu halten? Ich versuchte mühsam, mich selber davon zu überzeugen, dass dies der Sachverhalt war; aber ich wusste, dass nicht einmal ein Nigel Carlton sich einen solchen Ort aussuchen würde, um eines geruhsamen Nachtschlafs zu pflegen. Der Löwenkäfig im Zirkus wäre dem vorzuziehen gewesen.

Ich starrte ungefähr eine halbe Minute lang auf ihn hinab und hörte dann ein leise schlurfendes Geräusch, das so ziemlich die Hälfte meiner Nervenenden durchsägte. Ein Paar Hosenbeine kam auf den Steinstufen in Sicht, und dann folgte der Rest der großen leichenähnlichen Gestalt. Ein Blick auf den kahlen Schädel und das gelbliche fleischige Gesicht reichte aus, um das Gespenst als den Butler zu erkennen - Farthingale. Dadurch wurde mir nicht wohler. Ich beobachtete ihn mit makabrer Faszination, als er langsam zu dem schlafenden Vampir hinüberschritt, vor ihm stehenblieb und ein paar Sekunden lang auf ihn hinabblickte.

Dann - während mein Haar weiß wurde schob er die Hände unter Nigel Carltons Körper und schubste ihn gelassen vom Truhendeckel hinab. Der Körper des Vampirs schlug mit einem hässlich knirschenden Laut auf dem Boden auf, rollte ein Stück weit und blieb schließlich auf dem Rücken liegen. Wenn mich das schockierte, so war Nigel Carlton jedenfalls keineswegs schockiert. Er machte sich noch nicht einmal die Mühe, die Augen zu öffnen oder seine Wolfszähne in Ordnung zu bringen, die sich bei seinem Fall verbogen hatten. Sein kalkweißes Gesicht war noch immer von derselben Starre, und kein Muskel hatte gezuckt. Niemand konnte eine solche Behandlung schlafend überstehen, überlegte ich, es sei denn, er sei tot - und damit riss der Rest meiner Nervenenden.

Farthingale schlug den Deckel der Truhe auf, blickte hinein und grinste auf den mir unbekannten Inhalt hinab. Das war zu viel für mich. Ich nahm an, dass er vermutlich drei weitere Leichen in der verdammten Truhe liegen hatte, und ich wollte nichts als fort. Also wich ich vorsichtig von der vergitterten Öffnung zurück, bis ich die Abzweigung des Tunnels erreichte, und begann dann, diese emporzukriechen, wobei ich mir überlegte, dass in diesem Fall Dunkelheit besser war als Licht. Der Gang führte zunehmend steiler nach oben, und die Decke über meinem Kopf wurde immer höher, bis ich schließlich wieder stehen konnte. Ich fühlte mich schon beinahe glücklich, als meine Hand gegen eine Wand unmittelbar vor mir stieß. Ich nahm beide Hände zu Hilfe und stellte gleich darauf fest, dass ich in einer Sackgasse gelandet war. Ein Held kann vieles ertragen, aber für einen überzeugten Feigling wie mich war das Ganze einfach zu viel. Irgendwo aus den Tiefen meines bebenden Magens stieg ein langgezogenes animalisches Geheul auf, und ich begann in einer Art ohnmächtiger Verzweiflung mit beiden Fäusten gegen die Wand zu hämmern. Ich hätte es besser wissen müssen; im nächsten Augenblick schwang die ganze verdammte V/and nach innen, und ich fiel geradewegs in den dahinter liegenden beleuchteten Raum.

Während ich, restlos aus dem Gleichgewicht gebracht, durch das Zimmer taumelte, hörte ich, wie die Drehwand hinter mir zuschlug, und dann prallte ich gegen etwas Weiches und Nachgiebiges, das mich davor bewahrte, auf den Boden zu stürzen. Was immer es war, das meinen Fall hemmte, es gab einen verblüfften keuchenden Laut von sich und gab noch mehr nach sehr viel mehr sogar -, bis es der Länge nach auf das Bett fiel, ich darüber hinweg.

Meine Augen brachten es fertig, wieder klar zu sehen, und eine Sekunde lang glaubte ich in einen Spiegel zu sehen, nur dass die Augen, die mich ihrerseits anstarrten, dunkel und wütend waren, während meine blau und, wie ich vermutete, in dieser Sekunde starr vor Schrecken sein mussten. Langsam nahm ich die Einzelheiten des Gesichtes, das so nahe dem meinen war, in mich auf: das glänzende schwarze Haar, das vom Scheitel aus wie zwei Fledermausflügel das ovale Gesicht umrahmte, die gerade aristokratische Nase und der volle Mund, der sich zunehmend grimmiger verzog. Ich war das jedenfalls nicht, und so wie sich das Ganze anfühlte, konnte es sich bei dem, was da unter mir lag, auch um keinen Spiegel handeln.

Mit höchster Anstrengung rollte ich hinab und bis zum Rand des Bettes, stützte mich dann auf einen Ellbogen und sah gründlicher hin. Den Kopf kannte ich bereits, mit dem Rest verhielt es sich anders: volle cremeweiße Brüste, ein kurzes Höschen aus schwarzer Spitze, das sich um die gerundeten Hüften schmiegte, lange schlanke und doch runde Schenkel, Knie mit den Grübchen und wohlgeformte Waden und Knöchel. Die Zehennägel waren silbern lackiert, stellte ich nebenbei fest; und dann wurde mir klar, dass die Situation einiger erklärender Worte bedurfte.

»Hallo, äh - Imogen!« Der Schatten eines geisterhaften Lächelns umzuckte kurz meine Lippen.

»Sie Lustmolch!« Sie setzte sich mühsam auf und holte aus. Ich entging dem Schlag, indem ich mich duckte, was sie ihrerseits jedoch aus dem Gleichgewicht brachte, und sie landete schließlich mit dem Kopf in meinem Schoß.

»Ich kann alles erklären«, sagte ich verzweifelt. »Nicht, dass Sie es glauben werden, aber...«

»Ich möchte aufstehen!«, zischte sie.

Ich beugte mich hinab, in der Absicht, meine Hände unter ihre Schulter zu schieben, und im selben Augenblick fuhr ihr Oberkörper von selbst in die Höhe. Also trafen wir uns auf halbem Wege, zumindest ihr Busen und mein Gesicht. Einen kurzen himmlischen Augenblick lang war mein Gesicht tief da verborgen, wo sonst allenfalls ein Ausschnitt zu beginnen pflegte. Dann packte sie mich an beiden Ohren und riss mir nahezu den Kopf von den Schultern.

»Sie Sexverbrecher!«, fauchte sie. »Dafür werden Sie den Rest Ihrer Tage im Gefängnis verbringen!«

»Das war reiner Zufall«, stöhnte ich. »Ich...«

»Helfen Sie mir auf!«

Ich legte beide Hände fest um ihre Taille und zog sie in eine sitzende Stellung empor, aber damit war sie nicht zufrieden, sie musste auch noch die Füße auf den Boden setzen und aufstehen. Ich versuchte ihr dadurch, dass ich mit den Händen schob, behilflich zu sein; und ich kann heute noch nicht begreifen, wie sich meine Daumen in das Gummiband ihres Höschens verhaken konnten. Sie stand auf. Meine Hände folgten ihr ein Stück weit, bis sie völlig ausgestreckt waren; dann musste etwas nachgeben, und das Gummiband war von den drei Möglichkeiten die schwächste. Meine Hände glitten über ihre Hüften hinab, und sie blieb stehen, während das Höschen ihre Oberschenkel umgab und ihre wohlgerundete Sitzfläche vor unterdrücktem Zorn zitterte. Ich löste hastig meine Daumen aus dem Gummiband, überlegte, ob ich ihr das Höschen wieder hochziehen sollte, und kam noch hastiger zu dem Entschluss, dies nicht zu tun, denn mm war ich schon zweimal als Triebverbrecher bezeichnet worden.

Imogen zerrte das Höschen dorthin, wohin es gehörte, und schritt in einer Art Parademarsch durch das Zimmer. Sie nahm einen Morgenrode, der über einem Stuhl lag, und zog ihn an. Dann drehte sie sich zu mir um. Ihre Wangen waren hellrot, und ihre Augen funkelten in schierer Mordlust.

»Sprechen Sie es nicht aus!«, bat ich. »Das war ebenfalls ein reiner Zufall, aber ich erwarte nicht, dass Sie es mir glauben! Jedenfalls sind Sie selber schuld, wenn Sie in einer solch verrückten Bude wie dieser hier wohnen - voller Geheimgänge und Wände, die sich drehen, wenn man sich dagegen lehnt; und ich hatte ohnehin schon die Schnauze voll. Einen irren Onkel Silas, der nicht Ihr Onkel Silas ist, kann ich gelegentlich einmal vertragen, aber ein toter Vampir und ein Butler, der aussieht, als sei er vor drei Jähen einbalsamiert worden, ist einfach zu viel! So wie ich die Sache ansehe, müssen Sie Bestandteil des längsten und übelsten Alptraums sein, den ich je in meinem Leben hatte. Also machen Sie jetzt den Mund auf und schreien Sie - mir ist es egal. Ich schnippe einfach mit den Fingern, und Sie werden verschwinden.« Ich fletschte die Zähne. »Denken Sie mal darüber nach, wo Sie sich wohl befinden werden, wenn ich aufwache!«

Sie atmete langsam auf und starrte mich eine Weile lang intensiv mit geöffnetem Mund an. »Ist Geisteskrankheit in Ihrer Familie erblich?«, fragte sie schließlich.

»Seien Sie bloß still«, knurrte ich. »Wenn hier jemand irre ist, dann sind Sie es. Sie und dieser Onkel Silas und Ihr mörderischer Butler! Ihr seid alle restlos übergeschnappt, ihr stammt ja von einem anderen Planeten!«

»Was soll all das Geschwätz über Farthingale und einen toten Vampir?«

»Wollen Sie behaupten, Sie wissen das nicht?«

»Bitte erzählen Sie es mir, Mr. Baker.« Sie holte tief Luft und lächelte beinahe. »Ich muss gestehen, ich war so verdutzt, als Sie einfach aus dem Nichts in mein Zimmer geflogen kamen, und dann ereignete sich kurz zuvor dieser andere - Zufall? - Ich kam gar nicht zum Überlegen. Aber nun ist mir klar, dass Sie von jenseits der Wand hergekommen sein müssen; und deshalb muss es dort einen geheimen Zugang geben, von dessen Existenz ich keine Ahnung hatte. Und es ist nur recht und billig, anzunehmen, dass, wenn dieser Teil Ihrer Geschichte stimmt, auch alles übrige wahr ist.«

Also erzählte ich ihr gegen meine bessere Überzeugung, wie ich durch Zufall die sich drehende Kleiderkammerwand in meinem eigenen Zimmer entdeckt hatte, und berichtete auch von den darauffolgenden Ereignissen, bis ich zu der in ihr Zimmer führenden drehbaren Wand gekommen war. Als ich schließlich geendet hatte, quollen ihr fast die Augen aus dem Kopf; und ich konnte es ihr nicht verdenken. Wenn jemand mir diese Geschichte erzählt hätte, so wären mir die Augen schon von Anfang an aus dem Kopf gequollen und ich hätte schon lange, bevor der andere am Ende angelangt gewesen wäre, nach einem großen Schmetterlingsnetz Ausschau gehalten.

»Ich kann es nicht glauben«, sagte sie mit leiser Stimme. »Nigel Carlton tot, sagen Sie? Seine Leiche lag auf einer Holztruhe irgendwo in einem Keller unter dem Schloss, und Farthingale kam eine Treppe herab und schubste den Toten einfach herunter, nur weil er in die Truhe hineinsehen wollte?«

»Es mag verrückt klingen«, sagte ich. »Aber so war es.«

Sie ging mit entschlossenem Schritt auf die geheimnisvolle Wand zu und betrachtete sie verwundert, als erwartete sie, dort jede Sekunde einen Film in Technicolor mit allem Drum und Dran auftauchen zu sehen.

»Sie haben gegen die eine Seite der Wand gestoßen, und das Ding hat sich gedreht?«, fragte sie.

»Ich bin jetzt gar nicht mehr so sicher«, brummte ich. »Vielleicht bin ich einfach durch die Wand hindurchgegangen?«

Ich sah zu, wie sie die Handflächen gegen die eine Seite der Wand legte und ein paar Sekunden lang fest dagegen presste. Nichts geschah. Sie versuchte es erneut, drückte mit den Händen gegen die andere Seite der Wand, und nach wie vor änderte sich nichts.

»Die eine Wand, gegen die mich der Bursche, der nicht Ihr Onkel Silas ist, gestoßen hat, verklemmte sich, nachdem ich auf der anderen Seite angelangt war«, sagte ich. »Vielleicht hat sich diese hier auch verklemmt?«

»Was für ein Jammer!« Sie hörte auf zu drücken und lehnte sich dagegen. »Nun ja, wenn wir die Geheimgänge nicht erforschen können, werden wir vermutlich versuchen müssen, den Keller zu finden.«

»Sie können nah diesem Keller suchen«, sagte ich. »Ich würde in diesem verrückten Schloss hier noch nicht einmal nach einem Zündholz suchen! Ich bleibe hier, bis die Morgensonne durch das Fenster fällt, und dann verschwinde ich mit einem Satz in Penny Potters Wagen und halte nicht eher an, als bis ich in diesem Hotel in London angelangt bin, in dem, wie ich weiß, alles für meine Sicherheit getan wird.«

»Seien Sie nicht albern!«, fuhr sie mich an. »Erstens einmal werde ich nicht zulassen, dass Sie den Rest der Nacht in meinem Zimmer zubringen. Und wenn Ihre Geschichte stimmt, so ist es Ihre Pflicht, herauszufinden, ob Nigel Carlton lebt oder tot ist!«

»Nach diesem Keller zu suchen liegt außerhalb meiner Pflichten!« Ich schauderte bei dem Gedanken. »Rufen Sie die Marineinfanterie, wenn Sie wollen, mir soll’s recht sein. Rufen Sie Scotland Yard und die Beefeaters dazu. Nur lassen Sie mich aus dem Spiel!«

»Sie geben also zu, ein Feigling zu sein, Mr. Baker?«, sagte sie verächtlich.

»Jederzeit«, bestätigte ich. »Und im Augenblick ganz besonders.«

»Ich weiß, was ich tue!« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Wie dumm von mir, nicht gleich auf den Gedanken gekommen zu sein. Ich werde Farthingale rufen und die Wahrheit aus ihm herausbekommen.«

»Das ist wohl nicht Ihr Ernst!«, sagte ich mit erstickter Stimme. »Keine zehn Pferde bringen mich näher als fünfzehn Meter an diesen Kriecher heran; und überhaupt, was glauben Sie, wird er Ihnen sagen?« Ich senkte meine Stimme zu dem schicksalsträchtigen Flüsterton, mit dem der Butler zu sprechen pflegte. »Ja, Madam«, sagte ich und grinste sie teuflisch an, »es ist alles wahr. Am Tag bin ich ein Mensch, in der Nacht ein Ungeheuer. Wenn Madam meine Privatkollektion an Leichen zu betrachten wünscht, die ich in einer alten Holztruhe aufbewahre, so würde ich Madam bitten, mir in meinen Privatkeller zu folgen. Ich gebe Madam den guten Rat, unterwegs nach meinem Vetter Ausschau zu halten - den mit den zwei Köpfen.«

Imogen lachte leise. »Ich bin froh, dass Sie Ihren Sinn für Humor nicht eingebüßt haben, Mr. Baker. Stört es Sie, wenn ich Sie bitte, den Kopf abzuwenden, während ich mich anziehe?«

»Es stört mich«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Aber es bleibt mir wohl nichts anderes übrig.«

Die nächsten paar Sekunden lang lauschte ich einem Rascheln, das mir den Kopf schwirren ließ; und dann teilte sie mir mit, ich könne nun wieder herschauen. Also sah ich her und stellte fest, dass sie einen schwarzen Pullover, schwarze Hosen und flache Schuhe angezogen hatte.

»Haben Sie nicht etwas vergessen?«, fragte ich kalt. »Wo ist Ihre Pistole mit den Todesstrahlen?«

»Ich halte das nicht für sehr komisch«, sagte sie scharf. »Wenn ich Ihren muffigen Keller suchen will, ist es nur logisch, dass ich mich vernünftig anziehe. Kommen Sie, Mr. Baker, wir werden Farthingale ausfindig machen.«

»Nennen Sie mich Larry«, sagte ich trübselig. »Unser Zusammentreffen hier war doch recht

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Carter Brown/Apex-Verlag/Successor of Carter Brown.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Rosemarie und Georg Kahn-Ackermann, Ute Schuhmann und Christian Dörge.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2020
ISBN: 978-3-7487-6447-2

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