PETER LORENZ
Blinde Passagiere
im Raum 100
KOSMOLOGIEN – SCIENCE FICTION AUS DER DDR, Band 8
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
BLINDE PASSAGIERE IM RAUM 100
I. Herausforderung
II. Die Passagiere von Raum 100
III. An Bord kein Paradies
IV. Philomela
Das Buch
Ein unbekanntes Flugobjekt inmitten der Frühwarnsysteme! Die verantwortlichen Mächte werden sich einig: kein Risiko. Al Hallerström, Reparaturklempner von Funkstationen auf der geostationären Umlaufbahn, bekommt die Chance seines Lebens, denn die Außerirdischen fassen zu ihm Vertrauen.
Deshalb soll eine internationale Mannschaft unter seiner Leitung die Fremden ins All begleiten und ihr Geheimnis ergründen. Doch an Bord der Hirundo beleben sich auf seltsame Weise frühere Lebens- und Konfliktsituationen: Die Ärztin Maria van Eyk-Ritthaler ringt um die Rechte medikamentös geschädigter Kinder, der Biologe Guy Neumann streitet für die Reinhaltung des Flusses Elaat, und der Kommandant Hallerström erfüllt die ausgefallensten Wünsche seiner Katharina Kruschke.
Doch nicht alle sind bereit zur rückhaltlosen Lebensbilanz und zum vertrauensvollen Miteinander.
Wordman, der Spezialist für den Photonenantrieb des Raumschiffes, versteht es mehr und mehr, Schiff und Besatzung in seine Hand zu bekommen.
Muss die Mission der Irdischen scheitern?
Philomela, an Bord geborene Tochter von Maria und Guy, lässt uns hoffen...
Der Roman Blinde Passagiere im Raum 100 des Schriftstellers und Fotografen Peter Lorenz (* 31. März 1944 in Erfurt; † 20. November 2009), erstmals im Jahr 1986 veröffentlicht, erscheint als durchgesehene Neuausgabe im Apex-Verlag in der Reihe Kosmologien – Science Fiction aus der DDR.
BLINDE PASSAGIERE IM RAUM 100
I. Herausforderung
Am frühen Morgen hatte noch eine flache graue Dunstschicht über der Region gelegen, aber jetzt, am Nachmittag, brannte die Sonne von einem tiefblauen Himmel herab, und von Horizont zu Horizont war nicht eine einzige Wolke auszumachen.
Eine knappe Stunde vor dem Anpfiff des Fußballspieles des Jahres war das bereits seit Wochen ausverkaufte Stadion bis auf den letzten Platz besetzt. Die Fußballfans stimmten sich ein. Fahnen wurden geschwungen, blau und weiß gestreift die einen, smaragdgrün mit einem breiten, diagonal verlaufenden gelben Streifen die anderen.
In der Stadt sprach man seit Tagen von nichts anderem als von diesem Spiel. Die Hotelzimmer waren restlos ausgebucht, viele der Zuschauer Hunderte, einige von ihnen tausend und mehr Kilometer weit angereist. Am Rande der Stadtautobahn stauten sich auf eilig eingerichteten Parkplätzen die Busse. Von den Bahnsteigen hatte sich ein Strom lauter und buntgeschmückter Fans beider Mannschaften in die Stadt ergossen, mühsam getrennt von der Polizei, die vorsorglich aus der gesamten Region Verstärkung zusammengezogen hatte.
Das Spiel der Spiele, der Supercup der beiden erfolgreichsten europäischen Clubmannschaften der Saison war angesagt und hatte hunderttausend Menschen in die Stadt und in dieses Stadion gelockt.
Hier machten in dieser Stunde zwischen Süd- und Nordkurve clevere junge Männer in aller File das Geschäft ihres Lebens, denn wer konnte im Angesicht des noch unberührten Rasens schon das Angebot eines Mannschaftswimpels ausschlagen oder eines handsignierten Fußballes oder eines Posters der großen Stürmerstars.
Angeboten wurden sogar Trikots, die noch Rasenspuren vom letzten großen Match aufwiesen, die sich schweißig anfühlten und von der Härte der Kämpfe zeugten, gültige Beweise dafür, wie nahe man seinem Idol gekommen war. Die Preise waren ungeheuerlich, und wehe der Hausfrau, die ein solches Trikot in der Waschmaschine entweihen würde.
Die Reliquien fanden reißend Absatz. Die Stimmung stieg von Minute zu Minute. Da spielte auch der Alkohol seine Rolle, denn büchsenpackweise war das Rier an den Ordnern vorbei auf die Stadionränge gelangt, da übten die Vorsprecher, ihre Fans reihenweise auf Zeichen und Signale einzuschwören, da formierten sich schon Sprechchöre, wurden lauter, geschlossener, gewaltiger, gewalttätiger. Als hinge es nur von ihnen ab, als wäre der Sieg herbeizuschreien, so brüllten sie sich schon die Kehlen heiser, so zeigten sie jetzt bereits Flagge, Süd- gegen Nordkurve, Blauweiß gegen Smaragdgrün, Sieg oder Weltuntergang. Wehe dem, der sich in Kurve und Farbe geirrt hatte, unter Tränen galt es mitzuschreien für den falschen Club, wenn man die heile Haut retten wollte!
Einer hatte sich geirrt und verdiente sich mit diesem Irrtum eine goldene Nase, Laune des Schicksals oder Dummheit, aber Ramiro Ravarez stand mit einem Packen farbenprächtiger Poster der blauweißen Stürmer plötzlich inmitten unübersehbarer Heerscharen smaragdgrüner Fans. Ramiro Ravarez war aus der Provinz gekommen, am heutigen Tag sein Glück zu machen, und hatte die Nord- mit der Südkurve verwechselt.
Es war zu spät, als er seinen Irrtum bemerkte.
»He! Zeig her, was du hast!«, wurde er angeschrien, und ein erstes Plakat wanderte die Reihen empor. Wutentbrannt bemerkte der neue Besitzer die unglaubliche Provokation, hielt das Poster über seinen Kopf und zerriss es demonstrativ in Fetzen.
Das war das Signal, Ramiro Ravarez konnte jeden beliebigen Preis verlangen für den unbezahlbaren Genuss, des Gegners Mannschaft in Stücke zu reißen, jetzt oder spätestens nach dem ersten Foul, dem ersten Strafstoß, dem ersten Gegentor. Kein anderer Verkäufer hatte prallere Taschen, und Ramiro, nicht eben schnell im Begreifen, dankte der Jungfrau Maria mit drei hastig geschlagenen Kreuzen und einem freundlichen Blick zum azurnen Himmel. Für würde einige Zeit brauchen, die Scheine vieler Herren Länder sortiert zu haben und staunend zu begreifen, dass sie viele Wochen sorgenfreien Lebens garantierten, während er nur auf den Unterhalt für die nächsten Tage gehofft hatte. Als die Mannschaften endlich einliefen, hatte Ramiro Ravarez seine Plakate restlos verkauft. Als die Mannschaften endlich einliefen, sprang ein Jubelschrei um das Oval, wurden die Fahnen rhythmischer geschwungen, und waren reichlich dreihunderttausend Büchsen Bier geleert. Die Zahl der Zuschauer potenzierte sich, denn von diesem Augenblick an übertrug der Fernsehsender EMC 14 das Spiel live. Er tat dies für sein Einstrahlungsgebiet Westeuropa, er tat dies gleichzeitig in zwölf Sprachen, und seine Reporter rechneten mit dreihundert Millionen Zuschauern vor den Bildschirmen. Dabei rechnete man natürlich großzügig, aber wer wollte bei so imponierenden Zahlen schon kleinlich sein und um ein paar Millionen streiten. Die Werbebranche höchstens hatte ihre guten Gründe, denn sie musste vertragsgemäß nach der Einschaltquote zahlen. Aber die Werbewirtschaft war noch nie pingelig gewesen, wenn es um die großen Zahlen und die hohen Summen gegangen war.
Nach der Halbzeitpause würde man wohl die Milliardengrenze überschreiten, denn in den zweiten fünfundvierzig Minuten waren die Programmgestalter Osteuropas mit ihrem Gemeinschaftsprogramm dabei, zusätzlich die Nordamerikaner mit drei konkurrierenden Kanälen, die Brasilianer und, als Kuriosum, eine Kabel-TV einer fußballbegeisterten Kleinstadt Neuseelands.
Die zweiundzwanzig Akteure wussten genau, was auf dem Spiel stand und was sie ihren Fans schuldig waren: Sieg oder Untergang, zu allen Zeiten Slogan der Gladiatoren. Nur ging für die Spitzenprofis die Welt nicht mehr wirklich unter, kein Gegner schnitt ihnen die Kehle durch, wenn es die Daumen der Zuschauer forderten, für sie hatte sich der Ausgang des Spiels mathematisiert, drückte sich in Zahlenkombinationen auf dem Konto aus. Aber es ging um Summen, für die sich neunzig Minuten höchsten Einsatzes lohnten. Die hunderttausend Zuschauer im Stadion kamen voll auf ihre Kosten. Seit dem Anpfiff des Spiels wurden die Sprechchöre verstärkt durch Fanfarenstöße und Trommelwirbel, durch das Geschrei von Handsirenen und durch aufsteigende Feuerwerkskörper. Hunderttausend Individuen hatten ihre Identität verloren, waren weder Kraftfahrer, Büroangestellte, Walzwerker, Elektroniker, es blieben zwei miteinander rivalisierende Massenwesen. Nur eines zählte an diesem Nachmittag, Sieg oder Weltuntergang! Die zweiundzwanzig Spieler auf dem Rasen taten alles, um die Leidenschaften ihrer Fans am Siedepunkt zu halten. Der dreiundzwanzigste Mann, der Mann im schwarzen Trikot, brachte sie zum Überkochen. Wer um alles in der Welt hatte dieser Pfeife eine Pfeife in die Hand gedrückt, wer um alles in der Welt war jemals tauber und blinder über den Stadionrasen gestolpert, Regelkunde in einem Schnellkurs, Regelauslegung beim Lotteriebetrieb gelernt, der Mann war eine Pfeife!
Und wenn Ramiro Ravarez hunderttausend Plakate dieses Mannes besessen hätte, er hätte mit einem Schlag aufsteigen können in den exklusiven Klub der Millionäre. Das Bild dieses Schiedsrichters hätte man mit Wonne zerfetzt, aber wer druckt schon Plakate mit dem Konterfei eines Unparteiischen. Der schwarze Mann einigte die verfeindeten Lager der Süd- und Nordkurve auch noch beim Stand von eins zu eins in der achtundzwanzigsten Minute.
Das Urteil über ihn wurde auch in Hamburg geteilt, wo Harald Schicke ein paar Freunde eingeladen hatte zu Bier und Räucheraal, und wo natürlich die Übertragung des Spieles durch die Station EMC 14 eingeschaltet war. Auch in Paris gab es keine andere Meinung über diesen Schiedsrichter, dort sah Pierre Roger den gleichen Kanal. Seine Sympathien galten den Smaragdgrünen, die natürlich viel reifer, abgeklärter, cleverer am Ball waren als die Blauweißen. Darüber hätte er sich mit Carlo Dogliani in Turin heftig gestritten, der die Blauweißen mit klaren Feldvorteilen sah, immer wieder behindert von dieser Pfeife von einem Schiedsrichter.
Einigkeit also von Hamburg bis Turin: ein Bombenspiel, eine Bombenstimmung, der Schiedsrichter eine ungeheure Pfeife! Dieser Meinung waren auch die Reporter von EMC 14. Sie sagten es nicht direkt, nie hätten sie so etwas direkt gesagt, ein solcher Satz wäre geschäftsschädigend gewesen, aber sie deuteten immerhin an, und die fach- und sachkundigen Zuschauer wussten versteckte Andeutungen dieser Art aus Nebensätzen herauszuhören und entsprechend zu würdigen. Alfred Schmidt in Rüsselsheim ebenso wie Henry Hamilton in Edinburgh und Hugo Sanchez in Lissabon. Man war sich einig mit seinem Reporter, man war sich einig mit der ganzen Welt; und was will der Mensch mehr als sich einig fühlen!
Bis zur achtundzwanzigsten Spielminute war die Welt auf Kanal EMC 14 in Ordnung wie selten. Die Aktiven kämpften, als hinge ihr Leben vom Spielausgang ab und nicht nur ihr Kontostand, Smaragdgrün und Blauweiß hatten je ein Tor geschossen, jedwede Wendung war noch möglich, zwischen Sieg und Weltuntergang war für beide Mannschaften noch alles offen, da aber verschwand die Station EMC 14 von den Bildschirmen.
Zuerst kippte die Farbe weg, dann begann das Schwarzweißbild zu rauschen, schlug um zu wenigen Schrägstreifen. Geisterbilder zuckten über die Schirme, dann blieb der Ton weg, die Geräte boten an Stelle des Supercups eintöniges weißes Rauschen. Die hunderttausend Zuschauer im Stadion bemerkten davon nichts, sie waren gefesselt vom Geschehen auf dem grünen Rasen, denn genau in jener achtundzwanzigsten Spielminute war der Rechtsaußen der blauweißen Mannschaft in den Strafraum des Gegners eingedrungen, den Ball am Fuß, und es sah ganz so aus, als habe ein Verteidiger ein Bein stehen gelassen.
Die Zuschauer vor ihren Fernsehgeräten konnten nur noch ahnen, dass der Stürmer fallen würde und der Schiedsrichter einfach pfeifen musste, dann hatte EMC 14 Totalausfall.
Mentalitäten wurden erkennbar, Temperamente brachen sich Bahn. Harald Schicke in Hamburg beruhigte mit hanseatischer Gelassenheit seine Gäste, nahm sich ein Stück Räucheraal von der Holzplatte, leckte das Fett von den Fingern und griff mit behäbiger Bewegung zur Fernbedienung. Dann begann er die restlichen Kanäle durchzuschalten, und davon gab es fast fünfzig. Alle waren auf Sender, vom Börsenkanal bis hin zur Unterhaltungsshow made in Las Vegas. Mindestens ein Stationsbild strahlten sie ab. Lediglich der EMC 11 schwieg.
»Kann man nichts machen!«, sagte Schicke und reichte seinen Gästen Büchsenbier. In diesem Baum hing man ohnehin den Smaragdgrünen an: den Strafstoß, der bei dieser Sorte Schiedsrichter kommen musste, wollte man gar nicht sehen, viel lieber wollte man an ein Fußballwunder glauben können, und lange würde die Senderstörung nicht dauern. Prosit also, auf ein glückliches Ende!
Hugo Sanchez in Lissabon stand zur gleichen Zeit kreidebleich vor den Scherben seines Flachbildschirmes. Als EMC 14 verschwand, war der Anhänger der Blauweißen, der natürlich genau wusste, weshalb die Verantwortlichen gerade in dieser Sekunde unterbrochen hatten, aufgesprungen und hatte seinen Stuhl in den Flachschirm geworfen. Man vergönnte ihm nicht, den Sieg seiner Mannschaft mitzuerleben, finstere Mächte waren im Spiel, vom Schiedsrichter angefangen, der bestimmt nicht gepfiffen hatte, bis hin zu den Fernsehgewaltigen irgendwo in Genf! Ein Rausch war über Sanchez gekommen, aber bald würde seine Frau nach Hause zurückkehren, und vor diesem Augenblick hatte Sanchez angesichts des zersprungenen Flachschirmes erbärmliche Angst. Von alldem erschien der Sender jedoch nicht wieder auf den Bildschirmen, und in der Sendezentrale klingelten die Telefone Sturm.
Hätten sich lediglich die Schickes, Hamiltons, Rogers und Doglianis in der Zentrale von EMC 11 beschwert, wäre das auch schon ein schwerer Schlag für die Station gewesen. Derartige Pannen vergessen die Leute nicht, derartige Pannen führten zu Zuschauerschwund, der sich über viele Wochen hinweg nicht würde ausgleichen lassen. Zusätzlich zu den Zuschauern aber meldeten sich Firmen zu Wort, Werbeagenturen, Chemiekonzerne und Sportschuhproduzenten, ein Gigant aus der Tabakwarenbranche, der während des Spieles dafür bezahlt hatte, dass Millionen Menschen immer wieder lesen mussten, dass es sich lohne, meilenweit zu gehen für eine einzige seiner Zigaretten. Und diese Anrufer verlangten von EMC 14 kategorisch, dass die Station ihrer vertraglichen Pflicht nachzukommen habe, Werbebotschaften unter die Leute zu befördern.
Ansonsten...!
Sponsorenschwund drohte, und das könnte tödlich enden für EMC 14, die von den Werbeeinnahmen abhing wie eine Pflanze vom Licht. Und weil das so war, benötigten die Techniker im Stadion und in den Schaltzentralen keine hundert Sekunden, um eindeutig festzustellen, dass Aufnahme und Übertragung okay waren, dass die Signale ordnungsgemäß digitalisiert das Stadion verließen, dass die Übertragungsstrecke eisern stand, dass es an keiner der vier Relaisstationen auf dem Weg zur Sendezentrale liegen konnte, dass das Signal von dort aus ungestört in den Orbit ging, zum Satelliten, der mit seinen drei Kilowatt Sendeleistung in Westeuropa mit einem nassen Handtuch zu empfangen war, so stark strahlte der ein.
Normalerweise. Aber mit Beginn der achtundzwanzigsten Spielminute tat er dies nicht mehr.
In der einunddreißigsten Spielminute, noch immer wussten Harald Schicke und seine Gäste nicht, ob sich das Fußballwunder zugunsten ihrer Mannschaft ereignet hatte, und auch das Bier und der Aal gingen zu Ende, in dieser Minute sprang Al Hallerström aus seiner Koje und schwebte zum Alarmsender. Al Hallerström war der einzige Mensch der Welt, der die Übertragung vielleicht würde retten können, denn Al Hallerström befand sich in einer Höhe von 36.000 Kilometern über dem Stadion in einer geostationären Umlaufbahn.
»Totalausfall auf Position vier Grad fünfzehn Sekunden West«, meldete der Alarmsender. »Der Sendesatellit der Station EMC 14.«
Al Hallerström hatte in seiner Koje gelegen und geträumt. Er träumte in den letzten Wochen immer häufiger, dass er sich nur fest genug in seine Koje würde einwickeln müssen, und alles würde wieder in Bewegung geraten. Die Erde, die wie ein gefleckter großer Kloß regungslos unter ihm hing, seine Kiste, in der sich längst nichts mehr rührte, in der alles so schrecklich festgefügt war, und in seinem Leben, in dem sich auch schon lange nichts mehr tat.
In den letzten Tagen hatte Al manchmal geträumt, dass ihm unglaubliche Bewegung bevorstand, so viel Bewegung und Veränderung, dass es ihm den Atem nehmen würde. Aber Al wusste auch, solche Träume kamen von der Einsamkeit und der Eintönigkeit der täglichen Routine und hatten nichts zu besagen.
Um die Routine zu unterbrechen, kamen gelegentlich derartige Meldungen bei ihm an: »Totalausfall auf Position vier Grad fünfzehn Sekunden West!«
Al Hallerström verdunkelte die Kabine und betrachtete den Kontrollschirm. Auf der angegebenen Position war eindeutig ein Leuchtpunkt zu erkennen.
»Kann eigentlich nicht sein, Istvan, der EMC 14 sendet!«
»Entschuldige«, antwortete Istvan Farkacs ungehalten, »kann ja durchaus sein, dass du recht hast. Aber dann müssten wir-hier unten die Servicemechaniker in dreihundert Millionen Haushalte schicken. Ist ja auch viel, viel einfacher! Schluss und Ende!«
Al Hallerström kannte seinen Kontrolloffizier Istvan Farkacs seit vielen Jahren. Dies hier war keiner der üblichen Probealarme. »Schon gut, ist ja mein Job!«
Al Hallerström gehörte zu einem Häuflein von Leuten, die hier draußen auf der geostationären Umlaufbahn ihren Dienst taten, monatelang den blauen Heimatplaneten unerreichbar weit unter sich, fern von den Familien und den Freunden und bezahlt, dass jeder einfache Techniker in Europa Lachkrämpfe bekommen hätte. Aber die Organisation, in deren Auftrag Al Hallerström und seine Kollegen ihren Dienst versahen, war eine der zahlreichen Fachgruppen des Weltbundes, und Fachgruppen wie Gesamtorganisation hatten nicht viel mehr zu vergeben als Ruhm und Ehre.
Weil das so war, weil die Arbeit nervenraubend und die Bezahlung miserabel war, hatte jeder der Männer einen, seinen speziellen Grund, der ihn auf die Umlaufbahn getrieben hatte und ihn dort festhielt, allen Veränderungsträumen zum Trotz. Meistens waren die Gründe sehr einfacher Natur, aber sie saßen als tiefe Stacheln im Fleisch und drückten die Seele. Und manchmal saßen sie so tief, dass die Leute sogar wieder von der Umlaufbahn flohen.
Es darf angezweifelt werden, oh sich der Vierzigjährige seines Grundes bewusst war. Aber wenn man in seinem Beisein den Namen Katharina Kruschke erwähnte, verhärteten sich die Gesichtszüge, und der Stachel bohrte sich ein Stück weiter hinein ins Fleisch.
Der Student der Kristallographie Al Hallerström war noch keine zwanzig Jahre alt gewesen, als er mit Katharina Kruschke zusammenstieß. Der Ausdruck ist wörtlich zu nehmen, es passierte in der Mensa, und Hallerström hat das betroffene Hemd niemals wieder völlig sauber bekommen. Tomatensauce widerstand allen Reinigungsversuchen, auch denen der Katharina Kruschke. Sie wurde Hallerströms erste Frau.
All es ergab sich so zwangsläufig, so natürlich, so von innen heraus, Katharina Kruschke war nicht nur Als erste Frau, sie war der erste Mensch, dem sich der Student öffnete. Ganz und gar und ohne Wenn und Aber und bis in jeden Winkel seiner Seele hinein.
Es wurde eine Liebe, für die sich Al Hallerström bedenkenlos die flaut hätte in Streifen schneiden lassen. Es wäre ihm absurd vorgekommen, wenn ihm jemand angedeutet hätte, er würde möglicherweise nicht in gleichem Maße wiedergeliebt.
Sie zogen zusammen, und Al Hallerström erlebte, was er bisher nicht erlebt hatte: Unzufriedenheit, Urvertrauen, Urgeborgenheit. Dieses Zimmer war stets warm, Katharina war immer für ihn da, fand immer zur richtigen Zeit das richtige Wort, die richtige Geste, im rechten Augenblick den rechten Blick der Augen. Wenn diese Zimmertür von innen geschlossen wurde, waren alle Konflikte der Welt ausgesperrt.
Al Hallerström hat bis auf den heutigen Tag nicht begreifen können, weshalb Katharina eines Tages ihre Taschen gepackt und aus jenem gemeinsamen Zimmer ausgezogen war. Was machte er denn falsch? Was trieb sie hinaus? Und wohin?
Katharina Kruschke kannte kein Erbarmen, war maßlos in der Zerstörung, wie sie in der Liebe keine Grenze gekannt hatte: Schwanger sei sie, aber er solle sich nicht zu sicher sein, dass das Kind von ihm sei, das sie zur Welt bringen werde, möglicherweise, und auch dann wolle sie allein leben, auf eigenen Füßen, ohne abhängig zu sein von ihm oder anderen Göttern, zu sich selber wolle sie finden.
Sie fragte nicht, ob und wann Al Hallerström wieder zu sich linden werde.
Tausend junge Leute machten jeden Tag ähnliche Erfahrungen. Den allermeisten von ihnen gelang es, nach einiger Zeit den Stachel aus dem Fleisch zu ziehen und erneut Anfänge zu wagen. Nicht so Al Hallerström. Obwohl ihm Katharina Kruschke weitgehend aus dem Weg ging, suchte er förmlich nach Möglichkeiten, eifersüchtig das Wachstum des Leibesumfanges zu beobachten. Täglich begegnete er ihr, in der Mensa, in den Lesesälen der Universitätsbibliothek, an vielen Orten, die sie früher gemeinsam aufgesucht hatten.
Katharina Kruschke nahm keine Notiz von ihm. Etliche Wochen vor dem Geburtstermin verschwand sie plötzlich für immer aus seinem Gesichtskreis.
Hallerström verkroch sich in seine Arbeit. Er wurde Beststudent seines Semesters, dann Forschungsstudent, zog das Promotionsverfahren unglaublich rasch durch, sein Weg war glatt und klar vorgezeichnet.
Niemand stellte sich die Frage, weshalb ein junger Mensch sieben Tage in der Woche und Tag für Tag zwölf Stunden arbeitete, wie die Welt aussah, in der er lebte und in der nur noch Platz war für zwei Dinge, für Kristalle und für Erinnerungen an Katharina Kruschke.
Die Kristalle wuchsen unter seinen Händen, sie sprachen und wurden verstanden. Von Katharina Kruschke bekam er nie wieder eine Nachricht.
Dann kam, für einen talentierten Kristallographen nicht ungewöhnlich, ein Raumfahrtangebot, und er hatte gehofft, dass Schwerelosigkeit auch ein probates Mittel gegen Schwermut sei. Eine Schwermut, von der man bereits nicht mehr sagen konnte, woher sie rührte, die sich in seinem Charakter breitmachte und sein Wesen zu bestimmen begann. Jedoch die Hoffnung trog, und seine nächste berufliche Etappe war schon die geostationäre Umlaufbahn gewesen. Kristallographie betrieb er nur noch als Hobby mit wissenschaftlichem Anspruch, die Flucht vor dem Phantom Katharina Kruschke hielt ihn auf dieser Umlaufbahn fest.
Trotz aller Routine eine gefährliche Bahn, denn der normalerweise langweilige Job, Ordnung zu halten in einer Entfernung von 36.000 Kilometern über dem Äquator, wo sich die Flugkörper drängten wie Sardinen in ihren Büchsen, dieser Job hatte seine Tücken.
Jederzeit konnte es heißen: »Totalausfall auf Position vier Grad fünfzehn Sekunden West!« Doch konnte Al Hallerström schon fast wieder froh sein, wenn es sich um einen so harmlosen Burschen handelte, um einen Kommunikationssatelliten, den man ohne Gefahr für Leib und Leben ansteuern konnte, dem man mit der flachen Hand einen freundschaftlichen derben Hieb auf die Antenne gab und zu dem man sagt: »Was machst du nur für Schwierigkeiten, alter Junge? Unten sitzen Millionen von Menschen vor dunklen Bildschirmen, weil du deine Bauchschmerzen hast. Lass dir gefälligst in die Eingeweide sehen!«
Meistens waren solche Reparaturen eine Sache von wenigen Minuten, denn der ehemalige Kristallograph kannte sich in den Eingeweideschmerzen von Kommunikationssatelliten inzwischen bestens aus.
Ein Kurzschluss in einer der Stabilisierungsdüsen, ein paar eingedrückte Solarzellen, eine tote Platine im Empfangsbereich, und schon lief wieder alles wie gewohnt.
Für die unten würde natürlich wieder alles viel zu lange gedauert haben, denn inzwischen hatte die zweite Halbzeit des Supercups begonnen, und Hallerström war noch eine ziemliche Strecke vom EMC 14 entfernt.
Harald Schicke hatte sich das östliche Programm in sein Wohnzimmer geholt und fand nur den Kommentar ein bisschen ungewohnt. In Paris kam zwar noch das Bild leidlich gut an, aber die Leute von drüben redeten russisch und vietnamesisch und ungarisch und deutsch und serbokroatisch, aber nicht in seiner, der französischen Sprache. Pierre Roger kam also nur zum Teil auf seine Kosten. Und Al Hallerström, dessen Aufgabe darin bestand, in den Eingeweiden des EMC 14 nach einem Fehler zu suchen, würde gerade mit dem Schlusspfiff die Position vier Grad fünfzehn Sekunden West erreichen. Mehr gab seine Kiste nicht her. Hallerström sah auch keinen Grund, sie bis zur Belastungsgrenze auszufahren, einiger Minuten wegen. Hier oben hatten selbst Supercupspiele einen sehr relativen Stellenwert. Hallerström war schon froh, dass nicht eines jener militärischen Ungetüme streikte, denen man sich nicht so ohne weiteres nähern durfte, die eine hübsche kleine Sprengladung an Bord hatten, die bei Annäherung zünden konnte.
Diese Momente seiner Arbeit hasste Hallerström. Wenn ihm ein solcher Defekt angesagt wurde, dann ließ er sich Zeit, viel Zeit und musste mehrfach gemahnt werden. Istvan Farkacs konnte davon ein Liedchen singen.
Dann wurde Al Hallerström plötzlich ungeheuer dienstlich. Dann fragte er zurück, dann ließ er sich jedes einzelne Wort bestätigen, dann brachte er seinen Kontrolloffizier Istvan Farkacs zur Weißglut. Aber er lebte noch, hatte sich nicht beim Anflug an solch einen Brocken im Funkcode geirrt, wie es vor zwei Jahren einem Kollegen passiert war.
Aber auch diesmal lag etwas in der Luft. Je mehr er sich der Position vier Grad fünfzehn Sekunden West näherte, umso unbehaglicher fühlte sich Al. Denn noch immer sendete EMG 14 mit unverminderter Leistung, wenn man den Messgeräten glauben konnte. Und noch immer war auf der Erde nichts zu empfangen. Das roch nach einer faustdicken Überraschung.
Die Bremsraketen zündeten. Al, bereits wochenlang schwerelos lebend, fühlte sich in seinen Sessel gepresst und kämpfte um Luft. Es war fast so schlimm wie die Landung auf der Erde, und vor diesem Vorgang fürchtete sich Hallerström von Dienstperiode zu Dienstperiode mehr.
Dabei arbeiteten die Bremsdüsen höchstens mit halber Kraft. Wie eine alte, behäbige Tonne schwebte das Fahrzeug ein. Die Position vier Grad fünfzehn Sekunden West war erreicht. Unter ihm schimmerte die Westküste des afrikanischen Kontinents.
»Habe Position erreicht«, meldete Al seinem Kontrolloffizier. »Erbitte Kontrollpeilung!«
»Weshalb soll ich dich anpeilen lassen?«, fragte Istvan zurück. »Wenn du sagst, du hättest die Position erreicht, dann wird es schon stimmen. Ist schließlich kein Kunststück, ein Fahrzeug unserer Forschungs- und Einsatzgruppe der geostationären Umlaufbahn beim Weltbund zu programmieren. Also, was soll die Peilung?«
»Wirst es nicht glauben, aber der EMG 14 ist verschwunden!«
»Verstehe«, antwortete Farkacs gelassen. »Der wird sich hinter einer Wolke versteckt haben! Wann wirst du übrigens abgelöst? In drei Wochen oder in vierzehn Tagen?«
»Lass den Blödsinn, Istvan, wenn ich sage, der EMG 14 ist weg, dann ist er weg! Und das kann doch wohl nur bedeuten, dass meine Position nicht stimmt, oder?«
Al Hallerström hatte es geahnt. Etwas war faul. Und am faulsten war, dass er sich der Versuchung ausgesetzt fühlte, laut und falsch zu singen, jene Lieder, die sie in der Studentenzeit geschmettert hatten, wenn ihnen das Bier bereits in den Ohren stand und sich Melodie und Takt immer irgendwie von selbst ergaben. Al Hallerström konnte sich nicht erinnern, in den letzten Jahren von derartigen Anwandlungen geplagt gewesen zu sein.
Die Rückmeldung der Bodenstation traf ein:
»Also, wie ich vermutet hatte«, sagte Istvan, »du stehst goldrichtig. Wie mit dem Zentimetermaß ausgemessen. Und mit dem Satelliten lass dir etwas einfallen. Die Sendeleitung von EMC 14 wird langsam ungeduldig!«
»Könnt ihr den EMC 14 anpeilen?«
»Wir versuchen es«, antwortete Istvan.
»Na bitte«, stellte Al Hallerström fest, »ein Brocken von reichlich zwanzig Tonnen Masse und einer Solarzellenspannweite von achtzig Metern kann nicht spurlos verschwinden! Ich sehe ihn nicht, ihr versucht eine Peilung, offensichtlich auch nicht mit sehr viel Erfolg!«
Und dann fing er an zu singen. Es musste jetzt raus, das Lied von den alten Germanen, die auf Bärenhäuten lungerten und immer noch eins soffen. Jetzt musste es raus oder nie! Und es interessierte ihn überhaupt nicht, wie Farkacs auf dieses Lied der Lieder reagieren würde, ob er sich in der Genfer Einsatzzentrale totlachen würde oder ob er einem Herzinfarkt nahe war.
Farkacs war ein Feigling. Drückte sich auf der Erde herum, hatte seinen Platz auf der Umlaufbahn verlassen einer dummen Geschichte wegen, Farkacs war fahnenflüchtig, möchte er sich seinetwegen totlachen, dieweil die alten Germanen ihre Weiherschar verwürfelten!
Mehr, mehr, schrie irgendetwas oder irgendwer in Al Hallerström, und der sah ein, dass man sich nicht sperren durfte vor dem Verlangen innerer Stimmen, dass er sich viel zu lange gesperrt hatte. Überhaupt war die Kiste, die gute alte, behäbige Einsatztonne viel zu eng und viel zu klein!
Wenn je ein Erdenwurm Raum und Platz gebraucht hatte, dann er, Al Hallerström, der auch saufen tat, der auf Bärenhäuten lag und der jetzt zu seiner Kombination griff und langsam hineinstieg in das klobige Ding.
»Was ist los?«, schrie Istvan Farkacs, »was zum Teufel ist los mit dir, Al?«
Lass ihn schreien, sagte sich Al lächelnd, lass ihn schreien, sein Arm ist zu kurz, zu kurz ist sein Arm, er hätte nicht desertieren dürfen, dann würde ich ihm vielleicht antworten! Der Helm ist geschlossen, die lästigen Geräusche der Einsatzzentrale ausgesperrt, die Schleuse der alten Tonne ist eng und kahl, aber hinter ihrer Luke wartet die Weite, die Freiheit, ein Glück, das uferlos sein wird, weil sich keine Grenze der Welt 36.000 Kilometer in die Höhe reckt. Der Druck fällt ab, die Luft ist aus der Schleuse entwichen, jetzt kann Al Hallerström endlich die Außenluke aufstoßen!
In dieser Sekunde beendet die unsagbare Pfeife von Schiedsrichter das Spiel der Spiele. Zwei Sieger verlassen den Platz, die Trikots sind getauscht und die Hände geschüttelt, für eine lange Saison ist man am Weltuntergang vorbeigesegelt.
Die Fangruppen, aufgeputscht und mit einem Unentschieden unbefriedigt zurückgelassen, werden per Faust den Endsieg erstreiten. Schließlich ist ein Unentschieden nur ein halber Sieg, ein halber Sieg ist eine halbe Niederlage, für halbe Sachen hat man die lange Reise nicht unternommen. Auf sie also, auf die falschen Farbenträger! So mancher der langen Schals entpuppt sich als eine wirksame Waffe, weil an seinem Ende eine Eisenkugel eingestrickt ist. Gefährlich surren solche Waffen über fremden Köpfen.
Der Blick, den Al Hallerström jetzt hatte, war nicht anders als der aus dem Fahrzeug. Die Farben des blauen Planeten waren vielleicht um eine Spur farbiger, die Schwärze des Raumes um eine Winzigkeit samtiger, aber das lag daran, dass das Fahrzeug der Forschungs- und Einsatzgruppe längere Zeit keine Werft gesehen hatte und Mikrometeoriten die Bullaugen blindschmirgelten.
Und plötzlich verstand Al, wer ihn gerufen hatte, was ihn zum Ausstieg zwang, wieso er gesungen und sich in die Kombination gezwängt hatte. Denn nur reichlich hundert Meter von ihm entfernt bewegte sich ein Gebilde, das in keinem Katalog irdischer Raumflugkörper verzeichnet sein konnte. Eine Kugel mit einem Durchmesser von wenigen Metern tanzte vor seinen Augen, und diese Kugel schien selbst wieder aus einer Unzahl kleinerer Kugeln gebildet zu sein, die ständig durcheinanderquirlten und in denen sich für Bruchteile von Sekunden die tiefstehende Sonne spiegelte.
Es sah aus, als treibe auf der geostationären Umlaufbahn des Planeten Erde, drittnächster Begleiter im System der kleinen gelben Sonne, ein überdimensionaler Atomkern sein Wesen oder Unwesen!
Was immer das sein mochte, eines war Al Hallerström sofort klar: Von Menschenhand war das Gebilde dort nicht hingekommen! Außerdem wurde er das Gefühl nicht los, sehr genau beobachtet zu werden.
Die innere Bewegung des Gebildes verlangsamte sich, die Kügelchen standen still, und eine Stimme sagte:
»Was zögerst du noch, Al Hallerström?«
Und diese Stimme gehörte der Katharina Kruschke, und der Stachel schmerzte furchtbar.
Als Hallerström, nur noch durch die Sicherheitsleine mit der Kiste, mit der Zentrale auf der Erde, mit seiner bisherigen Welt verbunden, auf das Gebilde zu schwebte, machten ihm die Kugeln bereitwillig Platz und nahmen ihn in ihrer Mitte auf. Und dabei fühlte er sich, wie er sich gefühlt hatte, als er vor vielen, vielen Jahren zum ersten Mal in eine Frau geglitten war und ihn weiche Wärme umfing in der Tiefe des anderen, des fremden Geschlechts.
Er schwebte im Gebilde, die Kugeln umschwirrten ihn, ohne ihn zu berühren, und Katharina Kruschke lächelte ihm zu und sagte:
»Endlich, Al, endlich bist du gekommen!«
Katharina Kruschke sah aus, wie sie vor fast zwanzig Jahren ausgesehen hatte. Al Hallerström erkannte auch, dass das Zimmer, in dem er sich befand, seinem Zimmer von vor zwanzig Jahren ähnelte, und er selbst hatte eine Kluft an, wie sie vor zwei Dezennien getragen wurde.
Er war ohne Zweifel in jenen Tag eingetreten, an dem Katharina Kruschke ihren Koffer gepackt und zu ihm gesagt hatte:
»Übrigens bin ich schwanger. Aber ich weiß nicht genau, ob von dir oder von oder von oder von und ob ich es überhaupt bekommen will!«
Sätze, die mit mindestens vier Widerhaken in seinem Heische bohrten und ihm keine Ruhe gaben.
Doch diesmal gab es keinen Koffer, diesmal wurden die Sätze nicht gesprochen, denn Katharina saß und hatte Tee aufgebrüht und berührte seinen Arm und fragte lächelnd:
»Ein schwerer Tag?«
»Nein«, hörte sich Al Hallerström antworten, »eigentlich nein, eigentlich ein ganz normaler Tag, eigentlich sogar ein schöner Tag, wenn ich es mir recht überlege!«
Dann goss ihm Katharina Tee ein und stellte die Sahne griffbereit, und zwei Zuckerstücke verloren sich in der Tasse, und der kleine Raum wurde noch kleiner und noch wärmer, noch enger und noch gemütlicher.
»Wir werden uns nach einem neuen Zimmer umsehen müssen«, sagte Katharina Kruschke nachdenklich und blies gegen den heißen Tee in ihrer Tasse. »Es wird zu eng werden!«
Natürlich wusste Al, worauf sie anspielte, dass sie ihm jetzt sagen würde, sie sei schwanger. Es konnte nicht anders sein. Ihre Pille hatte sie abgesetzt, und Nacht für Nacht war sie förmlich über ihn hergefallen.
Aber Al würde sich hüten müssen, schon jetzt ihre Andeutungen verstehen zu wollen. Das soll man einer Frau nicht nehmen, ihr Geheimnis mit sich herumzutragen, für ein paar Stunden oder ein paar Tage, bis es auf der Zunge unaufhörlich nach vorn dringt und unbedingt heraus muss!
Heißer Tee nach einem schweren Tag, denn in der Antwort war ja immer das Wort eigentlich, und ein enges, behagliches Zimmer waren gute Gelegenheiten, die Zunge der Katharina Kruschke von ihrer Verantwortung für das Geheimnis zu entbinden.
»Mir gefällt es hier aber«, sagte er und legte die Heine demonstrativ auf einen Hocker. Die Spielregeln waren anerkannt, niemals würden beide zufriedener ihren Tee schlürfen.
»Aber wir werden nicht ausreichend Platz haben. Dummer«, sagte sie und löste sich auf.
Und das Zimmer löste sich auf und die alte Tracht, und das Teeglas fiel scheppernd ins Nichts.
Da fühlte Hallerström, dass es keinen Sinn hatte, nach dieser Frau greifen zu wollen, die nicht zu halten war, nicht damals und nicht heute. Aber immerhin, eine der Widerborsten war zerbrochen, und der Stachel lockerte sich im Fleisch, die Seele begann zu vernarben.
Das Gebilde war wieder das Gebilde, und es hatte den Menschen in seiner Mitte eingeschlossen und setzte die Bewegungen seiner Kugeln fort, als wäre nichts geschehen. Al Hallerström hatte das Gefühl, als sei er es, der sich unablässig drehte, und als stünden die Kugeln vor dem Sternenhintergrund still. Das konnte natürlich nach all seinen Erfahrungen nicht stimmen. Niemand konnte es besser wissen als er, der hier draußen zu Hause war.
Ein wunderliches, ein wunderbares Gefühl war es trotzdem, als sich die Sternenbilder ganz langsam zu verschieben begannen und die Erde unter ihm endlich zu schrumpfen schien.
Wieder veränderte sich das Gebilde, und es begann ein Flug durch einen Tunnel. Diese Reise hatte nichts Beängstigendes an sich, denn die Tunnelwände waren spinnwebenfein. Ein feines Netz, das dennoch niemals reißen würde und das unfähig schien, Schaden zuzufügen.
Und so ließ sich Hallerström treiben, die Beine angezogen, die Arme kreuzweise um die Knie geschlungen, den Kopf auf der Brust, ein embryonaler Stern unter vielen erwachsenen Brüdern!
Nach kurzer Zeit kam ihm die gewohnte gelbe Sonne sehr viel kleiner vor, und bei der Durchquerung des Asteroidengürtels schaukelte der Tunnel, als rase ein Schnellzug über die Weichen eines Großstadtbahnhofes.
Aber schon winkte Hallerström dem zerklüfteten Transpluto zu, und noch später kam eine Weile nichts. Zeit genug, sich zu rekeln und sich breitzumachen im Tunnel, obwohl der Begriff Zeit nicht mehr existent schien, denn Zeit war ebenso irdisch wie Schwere und Luft und Lust, und Al Hallerström fühlte sich nicht mehr irdisch.
Die Reise im Tunnel endete abrupt, und sie endete wieder im Gebilde. Der Aufenthalt im Gebilde endete ebenso abrupt. Plötzlich fühlte sich Al von Tausenden kleiner Kugeln geschoben und gestoßen und fand sich außerhalb des Systems der sich immer heftiger bewegenden Teile wieder. Gleichzeitig wurde ihm plötzlich und ernüchternd klar, was alles mit ihm geschehen war.
Mein Gott, Katharina Kruschke, dachte er, eine Affäre von vorvorgestern, längst verjährt und vergessen, gesungen hatte er, Fahnenflucht nannte man das, was er getan hatte, Fahnenflucht, und Istvan Farkacs würde nicht umhinkommen, Meldung zu erstatten!
Wie viele Stunden waren seitdem eigentlich vergangen, was alles hatten sie von der Erde aus unternommen, und vom EMC 11 weit und breit keine Spur! Welcher Teufel hatte ihn geritten, die gute alte Kiste der Forschungs- und Einsatzgruppe der geostationären Umlaufbahn ohne Befehl der Zentrale zu verlassen. Das wird deine letzte Fahrt gewesen sein, Al Hallerström, sagte er sich und zog kräftig an der Sicherheitsleine.
Das Fahrzeug mit dem Emblem des Weltbundes kam ihm klein vor, eng und alt, und das Schleusensystem mutete ihn nahezu vorsintflutlich an. Es war schon wahr, sie erprobten lichtschnelle Antriebssysteme, es gab inzwischen feste Startbasen auf dem Mond, mit allem Komfort für die dort Beschäftigten, aber für die Arbeit in der geostationären Umlaufbahn war nie Geld da, denn für diese Arbeit war die Organisation des Weltbundes zuständig, und diese Organisation war bettelarm. Sie hatte nichts zu bieten außer den ältesten Kisten, den miesesten Arbeitsbedingungen und den niedrigsten Löhnen. Dafür aber einen ethischen Anspruch, für den sich niemand auch nur eine trockene Schrippe leisten konnte.
Nein, dachte Hallerström, während er sich einschleuste, vielleicht gar nicht so schlecht, irgendwo unten gänzlich neu anzufangen. War schließlich nicht wenig, was er an beruflichen Qualifikationen mitbrachte! Eine kleine Universität tief in der Provinz, die alljährlichen Examen als das Höchste an vorstellbarer Aufregung, ansonsten einen uralten Park rund um die ehrwürdige Alma mater und verräucherte Studentenkneipen, in denen man auch als Professor gern gesehen war, wenn mit den Humpen auf den Tisch geschlagen und das Gaudeamus angestimmt wurde. Vielleicht gar nicht so schlecht, nachdenken, Hallerström!
»Melde mich zurück«, sagte er. »Lebe noch!«
»Menschenskind, Hallerström«, schrie Farkacs, »das kannst du doch mit mir nicht machen! Nimm gefälligst Rücksicht auf meine Nerven! Und bitte, exakten Bericht über jede einzelne der fünf Minuten, in denen du verschwunden warst! Sonst kommen wir beide um eine Meldung nicht herum!«
»Wie lange, sagtest du?«
»Schluss jetzt! Für heute reichen mir deine dummen Scherze! Uhren
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Peter Lorenz/Apex-Verlag/Successor of Peter Lorenz.
Bildmaterialien: Christian Dörge/123rf.
Cover: Christian Dörge/123rf/Apex-Graphixx.
Lektorat: Julia Kalugjer.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2020
ISBN: 978-3-7487-6077-1
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