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Leseprobe

 

 

 

 

ROBERT LORY

 

 

DRACULAS OPFER

- 13 SHADOWS, Band 50 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DRACULAS OPFER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

 

Das Buch

Das Mädchen war Mitte Zwanzig. Es hatte einen Körper von makelloser Schönheit. Aber das war es nicht, was die junge Tote von den übrigen Leichnamen im Raum unterschied: Ihr Gesicht war zu einer grauenvollen Fratze verzerrt, und um ihren Hals hatte jemand einen Hanfstrick fest zugezogen.

Wie gebannt blickte Derek Williams auf das tote Mädchen im Sarg. Grauen schüttelte ihn. Und plötzlich warnte ihn eine innere Stimme: Geh' fort von hier - schnell!  

Aber es war bereits zu spät...

 

DRACULAS OPFER von Robert Lory (= Lyle Kenyon Engel) wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1974 als VAMPIR-HORROR-TASCHENBUCH Nr. 9 veröffentlicht.

DRACULAS OPFER erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  DRACULAS OPFER

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Bei Tag erfreut das Auf und Ab der Straßen San Franciscos mit seinen ständig wechselnden Ausblicken den Einheimischen wie den Fremden. Es ist eine moderne Stadt, gleichwohl hat sie die bei modernen Städten seltene Eigenschaft, jene Art von Geborgenheit und Heimatliebe zu erwecken, mit der die Alten ihre überschaubaren Gemeinden betrachten. Die Heimatliebe eines Bürgers von San Francisco gleicht derjenigen des bodenständigen Kleinstädters. Während dieser aber an seiner Gemeinde auszusetzen hat, dass es an kulturellen Veranstaltungen fehle und auch sonst nichts los sei, sagen die Bewohner San Franciscos nichts dergleichen. Sie haben alles – wenigstens nach ihrer Meinung.

Doch sollte man einen Aspekt nicht unterschlagen, von dem sogar mancher Einheimische zugibt, dass er eine zuweilen ziemlich unangenehme Eigenheit seiner Stadt ist: den Nebel.

Fast den ganzen Sommer über verursachen kalte Aufquellwasser, die von wärmerer Luft überstrichen werden, entlang der kalifornischen Küste ungewöhnlich dichte und dauerhafte Nebelfelder, die schon manchem Schiff zum Verhängnis geworden sind. Sie greifen relativ selten aufs Festland über, aber die Statistik weiß zu berichten, dass San Francisco während des Sommerhalbjahrs durchschnittlich fünfundzwanzig Tage – und Nächte – unter dichtem Nebel liegt.

In solchen Nächten, wenn die Atmosphäre von nasskalten Schwaden erfüllt ist, dass man Wasser zu atmen glaubt und die klamme Kälte einem bis ins Knochenmark zu dringen scheint, wenn selbst das Licht der Straßenlaternen in der wattigen Dichte nicht von einer zu der anderen reicht, dann regt sich auch im Herzen des kühnsten Mannes, der durch verlassene Straßen nach Haus geht oder sich in einem fremden Teil der Stadt findet, ein Gefühl von Unbehagen. Ein Gefühl, als lauere etwas Unheimliches und Drohendes in den Straßen; ein Gefühl, dass man gut daran tue, schneller zu seinem Ziel zu gehen – wenn man es finden kann. Und schließlich ein Gefühl von Erleichterung und Dankbarkeit zu allen guten Geistern, die einen sicher zu seinem Ziel gebracht haben, und man ist wieder in der hellen, anheimelnden Wohnung, umgeben von Angehörigen oder vertrauten Freunden. Denn wenn dieser dichte Nebel sich von der See hereinwälzt, hat selbst der phantasieloseste Geist Mühe, sich von der Vorstellung freizumachen, dass der weißgraue Moloch alles verzehre, was ihm in den Weg kommt.

 

Derek Williams war sich bewusst, dass seine Zeit knapp wurde. Nervös blickte er auf die Uhr. Viertel nach neun. Er überlegte, ob er noch ein Bier bestellen solle. Er hatte sein erstes noch nicht ausgetrunken. Nicht, dass er kein Bier mochte. Er trank sehr gern Bier. Es war nur, dass er über die Art und Weise beunruhigt war, wie der dicke chinesische Wirt ihn angesehen hatte, als er in die Imbissstube gekommen war und sich an die schmale Theke gesetzt hatte. Als ob er vielleicht gedacht hätte, dass dieser Junge nicht alt genug sei, um in der Öffentlichkeit Bier zu trinken. Er hatte nichts gesagt, aber seine Blicke waren beredt genug, und Derek Williams ärgerte sich. Es war schlimm, mit einem Milchgesicht herumlaufen zu müssen, dass alle Leute einen für jemandes vierzehnjährigen Bruder hielten. Aber er ließ sich nichts anmerken. Er hatte hier etwas zu erledigen, und da war es keine gute Idee, unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Sollte er nun ein zweites Bier bestellen, oder sollte er nicht? Der fette Wirt hatte ihn immer wieder angesehen, seit er das erste Bier gebracht hatte. Derek ärgerte sich noch mehr. So eine einfache Sache, diese kleine Aufgabe, die er zu bewältigen hatte, und er war im Begriff, sie zu verpfuschen! Nun, wenn er sie verpfuschte, dann sollte es nicht daran liegen, dass er den Versuch unterlassen hatte. Er leerte sein Glas.

»He – noch ein Bier.«

Der Wirt nickte und drehte sich um, das Bier in ein frisches Glas zu zapfen. Diese Gelegenheit benützte Derek, um zwei Dollar auf die Theke zu legen, einen dreieckigen Gegenstand herunterzunehmen und in seine Tasche zu stopfen. Dann rannte er zur Tür hinaus. Er hörte erst auf zu rennen, als er um die nächste Ecke und zwei Blocks weiter war. Schnaufend machte er halt und zog den dreieckigen Gegenstand aus seiner Tasche. Er war aus Keramik, mit irgendeiner Art von Glasur oder was – Derek war es herzlich gleichgültig. Hauptsache, er hatte das Ding.

Unter einer Straßenlaterne, deren Licht im Nebel versickerte und kaum den Boden erreichte, betrachtete er das Beutestück mit der roten Aufschrift, die auf allen drei Seiten verkündete, dass das Restaurant Ho Wai da und da zu finden und unter der und der Telefonnummer zu erreichen war, und dass das Lokal Chinesische Küche für Feinschmecker zu bieten hatte. Es war Derek entgangen, dass der fette Wirt neben seiner Imbissstube noch ein Restaurant hatte, und er bedauerte, dass er ihm die zwei Dollar hingelegt hatte. Die Oberseite des dreieckigen Gegenstands war natürlich hohl, wie es sich für einen Aschenbecher gehörte. Derek Williams blickte wieder auf seine Uhr, während er den Aschenbecher einsteckte. Neun Uhr fünfundzwanzig. Vielleicht würde die Zeit noch reichen. Aber nur, wenn er sich beeilte. Er dachte daran, ein Taxi zu nehmen, aber die Straße schien von Fahrzeugen leer; tatsächlich war er das einzige Lebewesen, so weit er im Nebel sehen konnte. Aber er wusste, wie er zu gehen hatte, um in die Gegend zu kommen, die er im Sinn hatte. Außerdem mochte er zu Fuß eher entdecken, was er suchte. Er war nicht an irgendein bestimmtes Haus gebunden.

Als er durch die trübe erhellten Straßen trabte, zog er den Reißverschluss seiner Jacke hoch, um die feuchte Kälte abzuwehren. Die Jacke war aus Lederimitation, und darunter trug er einen Rollkragenpullover. Die Kombination hätte mehr als hinreichend sein sollen, um die Kühle einer normalen Septembernacht abzuwehren, aber dies war keine normale Septembernacht. Sie war nasskalt und neblig und unangenehm, obwohl sie kaum angefangen hatte, und was er zu tun hatte, war geeignet, ihr den düsteren Aspekt des Unheimlichen zu verleihen.

Er trabte durch die Kearney Street, bog links ab und erreichte nach einem Block die Montgomery Street. Sehr komisch. Noch immer hatte er niemanden gesehen – keine Autos, keine Leute. Unheimlich. Er schüttelte den Gedanken ab und folgte der Montgomery Street in südlicher Richtung.

Die vier Blocks zwischen California und Market Street waren von ganzen zwei Passanten bevölkert, die auf Derek Williams beide nicht sehr ermutigend wirkten. Einer war ein Betrunkener, der sich an einer grauen Hauswand aufrecht hielt. Die andere war eine unförmige Alte, die bewegungslos in der Mitte des Gehsteigs stand und sich auf ihren Stock stützte. Sie starrte ihn an, als er näherkam und vorbeiging. Noch einen halben Block weiter fühlte er ihre Augen auf sich ruhen, als wollten sie Löcher in seinen Rücken brennen.

Blödsinnig. Albern. Doch er fühlte es. Er hatte nicht den Mut, sich umzusehen und ein für alle Mal zu klären, ob es nur seine Einbildung war, oder ob sie ihm wirklich nachstarrte.

Er bog nach links in die Market Street ein. Um das Etablissement zu erreichen, das er kannte, war seine Route ziemlich umwegig, aber es gab immer die Möglichkeit, dass er nicht so weit zu gehen brauchte und ein anderes Haus finden würde, das für seine Zwecke genauso geeignet wäre.

Nach zwei weiteren Blocks war er außer Atem und musste langsam gehen. Das war auch sehr seltsam, denn er war nicht etwa gerannt. Außerdem war er nicht nur kein Raucher, sondern hatte sogar ein paar Jahre lang Leichtathletik getrieben. Das College ließ ihm nicht viel Zeit für Sport, aber allabendlich machte er eine Viertelstunde lang Freiübungen, um einigermaßen in Form zu bleiben. Wahrscheinlich waren es die Kälte und der hohe Wassergehalt der nebligen Luft, die seiner Lunge zu schaffen machten.

Es war mittlerweile neun Uhr fünfzig. Verdammt spät. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, dann würden sie den Laden zumachen und er konnte sehen, wie er zu seinen Sachen kam. Ein jäher Gedanke erschreckte ihn, und seine Hand fuhr instinktiv zur Jackentasche. Dann seufzte er erleichtert. Der Aschenbecher war noch da. Wäre er ihm aus der Tasche gefallen, vorhin, als er so gelaufen war...

Aber er war noch da. Derek grabbelte in zwei anderen Taschen. In einer war ein Taschenbuch mit dem Titel Das Lied Satans. Gut. In einer anderen ruhte ein Salzstreuer. Gut. Nein, nicht gut. Seine Finger fühlten, dass die Kappe sich gelockert hatte und etwas von dem Salz lose in seiner Tasche war. Verschüttetes Salz bedeutete Unglück. Es sei denn – ja, man musste etwas davon über seine linke Schulter werfen. Oder war es die rechte? Welche?

Weil er nichts riskieren wollte, warf er vorsichtshalber Salzkörner über beide Schultern. Neun Uhr fünfzig. Noch ein Ding musste er besorgen, dann würde die Liste vollständig sein.

Einen Augenblick später sah er es. Aus der nächsten Seitenstraße rechts glommen in roter Neonschrift die unverkennbaren Worte durch den Nebel:

 

YORGE – BESTATTUNGEN AUFBAHRUNGEN

 

Derek Williams blieb stehen. Er hatte nicht vor, die Aufbahrungsräume zu besuchen, aber wahrscheinlich würde er hier finden, was er suchte. Er beschloss, einen Versuch zu machen.

Es war eine unglückliche Entscheidung für Derek Williams, aber das konnte er nicht wissen.

Er schlug seinen Jackenkragen herunter, um sein Aussehen annehmbarer zu machen. Aus dem gleichen Grund kämmte er sein Haar und wischte sich das Gesicht mit dem Taschentuch. Nun wollen wir uns die Toten ansehen, dachte er, und bei dem Gedanken überlief ihn ein Schauer. Das lag natürlich an der nasskalten Nacht.

Er überquerte die Straße, sah Licht im Inneren des Bestattungsinstituts und ging kurzentschlossen hinein.

Ein weicher roter Auslegeteppich, gedämpfte Beleuchtung, der überwältigende Duft von Blumen und leise Orgelmusik – das waren seine ersten Sinneseindrücke. Nachdem er den kleinen Vorraum durchschritten hatte, befand er sich in einem Korridor, von dem mehrere Räume abgingen, die statt Türen Samtvorhänge hatten und mit Schildern markiert waren. Die Schilder bestanden aus durchsichtigem Plexiglas und hatten einen Schlitz an der Seite, in den eine Karte mit dem kunstvoll verschnörkelten Namen des jeweiligen Verblichenen geschoben werden konnte, der hinter dem Vorhang in Plüsch und Satin ruhte.

»Darf ich Ihnen behilflich sein, junger Herr?«

Derek hatte nicht bemerkt, dass er schon am hinteren Ende des Durchgangs war, als er die Stimme hörte. Es war eine Stimme, die ihrer Umgebung völlig angepasst schien, und als er sich zur Seite wandte, sah er, dass auch der Sprecher in seine Welt passte.

Er war über einen Meter achtzig groß und dabei so hager, wie man es von einem Beerdigungsunternehmer erwartet. Dünn und knochig waren auch die langen Finger seiner Hände, die er vor sich verschränkt hatte, zweifellos in dem Bestreben, eine andächtige, dem Gebet zugeneigte Grundhaltung zu suggerieren. Aus seinem mageren Gesicht ragte eine lange krumme Nase, deren Spitze die Ebene des dünnlippigen Mundes fast erreichte. Unter farblos-spärlichem Haar und ebensolchen Brauen lagen glanzlose Augen tief in ihren Höhlen. Hätte er nicht vor ihm gestanden und so unübersehbar auf eine Antwort auf seine Frage gewartet, hätte Derek Williams ihn für einen Leichnam gehalten.

»Ich fragte, ob ich Ihnen behilflich sein kann«, sagte der Mann.

»Äh, ja. Es ist Mr. Tracey.« Mr. Traceys Name stand auf dem Schild neben dem vorletzten Eingang links.

»Ah. Sind Sie ein Verwandter oder ein Freund der Familie?«

»Ich bin, äh, ich war mit Mr. Tracey befreundet, dem Verstorbenen.«

»Ausgezeichnet. Würden Sie bitte mit mir kommen? Die Familie ist gerade um ihren lieben Toten versammelt.«

Damit drehte er um und schritt auf den Vorhang neben dem Schild zu. Er zog den Vorhang zurück, schenkte Derek ein wohlwollendes Lächeln und machte eine leichte Verbeugung in die Richtung des offenen Sargs, der inmitten von Blumenarrangements und brennenden Kerzen an der Rückwand des kleinen Raumes stand. Derek hatte keine Wahl. Er trat ein und ging auf den verstorbenen Mr. Tracey zu.

Natürlich hatte er die drei Frauen und das pickelgesichtige, halbwüchsige Mädchen gesehen, die rechts neben dem Sarg an der Wand standen. Nun kam die größte und dickste dieser Frauen ihm entgegen, ein weinerliches Lächeln im Gesicht.

»Wie nett, dass Sie gekommen sind. Ich glaube nicht, dass ich Sie kenne, aber Frank hatte viele junge Freunde. Kennen Sie Miriam? Vielleicht sind Sie ein Schulkamerad von ihr?«

»Ich, ah, ich dachte, dass ich kommen sollte. Ich kannte Mr. Tracey nicht so sehr gut, nur ein wenig, und ich glaube nicht, dass ich anderen Mitgliedern der Familie schon einmal begegnet bin.«

»Ja, Frank hatte immer viele junge Freunde.«

»Das glaube ich gern, Madam.«

»Sie werden ihn nicht wiedererkennen, wenn Sie ihn sehen. Es sind all diese Dinge, die sie mit ihm gemacht haben. Sie werden ihn nicht wiedererkennen. All dieses... dieses Zeug. Was sie machen, damit er wie lebendig aussieht. Es macht ihn wie zehn Jahre jünger. Ich muss sagen, sogar ich erkannte ihn kaum. Sie werden ihn wahrscheinlich überhaupt nicht erkennen.«

»Ich dachte nur, dass ich kommen sollte.«

»Ja.«

Mit einer Anstrengung zwang sie ihm ein weiteres Lächeln auf und schlurfte zu den anderen zurück. Als er an den Sarg trat, fühlte er alle vier Augenpaare auf sich. Er biss die Zähne zusammen. Wenn er gewusst hätte, was dieser Abend bringen würde, hätte er die ganze Sache sausen lassen. Lieber Himmel!

Frank Tracey schien Anfang Fünfzig gewesen zu sein, als der Tod ihn erteilt hatte. Obwohl seine Augen geschlossen waren, legte das leichte Lächeln, zu dem der Leichenpräparator seine Lippen geformt hatte, die Vermutung nahe, dass er froh sei, aus dieser Welt zu sein. Wenn Mrs. Tracey ihn so geliebt hatte wie sie jetzt seinen Tod betrauerte, dann konnte Derek Williams verstehen, warum der alte Frank lächelte.

Nachdem er eine Minute neben dem Toten ausgeharrt hatte, wandte er sich vom Sarg ab und zum Eingang. Der lange dürre Mann stand noch dort, die Finger ineinander, und verbeugte sich leicht.

Die Sache würde nicht einfach sein. Ganz und gar nicht.

Er wandte sich wieder dem Sarg zu und neigte den Kopf. Das gab ihm wenigstens Zeit zum Nachdenken. Zeit. Er blickte unauffällig auf seine Uhr. Fünf nach zehn.

Nach einer angemessenen Weile trat er einen halben Schritt zurück und betrachtete den Sarg und das Arrangement ringsum.

Zwei große Bodenvasen standen rechts und links vom Kopfende. Anders als die Kränze und Blumengebinde, die den Sarg umgaben, gehörten diese Vasen mit ihren weißen Chrysanthemen offenbar zur bezahlten Ausstattung. Über dem Kopfende war ein Wandregal, auf dem ein silbernes Kruzifix stand, flankiert von zwei silbernen Leuchtern, die je eine brennende weiße Kerze trugen.

Erst jetzt kam ihm der Gedanke, dass solche Kerzen nicht leicht zu bekommen waren. Es waren keine gewöhnlichen Haushaltskerzen, denn sie waren viel länger. Wo könnte er um diese Zeit solche Kerzen kaufen? Kaufen? Nein, das wäre nicht richtig. Und dies war schließlich nicht der einzige Ort, wo man Kerzen wie diese finden konnte. In jeder Kirche, zum Beispiel, gab es jede Menge...

»Einfach nicht wiederzuerkennen, nicht wahr?«

Derek Williams war so erschrocken, dass er fast aufgeschrien hätte. Sie stand rechts neben ihm, und sie war nicht allein. Sie hatte die anderen Aasgeier mitgebracht.

Aasgeier, das war das richtige Wort. So sahen sie alle aus, selbst das junge Mädchen. Ohne Zweifel hatten sie sich all die Jahre an Mr. Frank Tracey genährt, und nun, da er sich nicht mehr darum kümmern konnte, was sie sagten oder dachten, hielten ihre glitzernden Augen schon nach jemand anderem Ausschau, und außer ihm war keiner im Raum.

Er versuchte, die Gedanken abzuschütteln und die vier Gesichter um ihn als normale, gewöhnliche Alltagsgesichter zu sehen, aber er konnte es nicht.

»Dies ist meine Mutter, Mrs. Harkes, und meine Schwester, Gladys Harkes, und dies ist natürlich Miriam. Sie sagt, sie kenne Sie nicht von der Schule.«

»Nein, wir kennen uns nicht«, sagte er. Mit Erleichterung sah er, dass der Eingang leer war. »Ich muss jetzt gehen«, fügte er hastig hinzu.

Er würde sich die Kerze eben aus einer Kirche holen, wenn er eine finden konnte.

Als er aufatmend aus dem Raum trat, fand er etwas anderes.

Der Korridor war leer.

Vielleicht in einem der anderen Abteile...

Aber eine kurze Inspektion zeigte, dass in drei Räumen Besucher waren, während drei weitere leer und stockdunkel vor ihm lagen. Vielleicht in einem von diesen...

Er fürchtete sich, in einen der schwarzen Räume zu gehen. Dann schlüpfte er mit pochendem Herzen in den nächstbesten und verbarg sich in den weiten Falten des zurückgezogenen Vorhangs. Gerade noch rechtzeitig, denn gegenüber von seinem Versteck, auf der anderen Seite des Korridors, hatte sich eine Tür langsam geöffnet, und nun waren mindestens zwei Leute im Korridor, obwohl nur einer von ihnen sprach. Es war die weiche, dumpfe Stimme des langen, ausgemergelten Bestattungsunternehmers. Die Person, zu der er sprach, ließ außer einem tiefen Grunzen nichts hören.

Schritte näherten sich seinem Versteck. Es gab ein kaum hörbares Klicken, und zwei Leuchtstoffröhren an der Decke flackerten auf, badeten den Raum in helles Licht. Jemand ging an seinem Versteck vorbei in den Raum. Der Schritt war ungleichmäßig und schleifend, wie wenn der Betreffende ein Bein nachzöge. Derek begriff, dass er in den Falten des Vorhangs ziemlich sicher war, solange er sich nicht bewegte, aber plötzlich wurde er von Neugierde überwältigt und verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein, schob vorsichtig seinen Kopf zur Seite und spähte hinter dem Vorhang hervor.

Er sah zwei Dinge zugleich. Beim Anblick des ersten verwünschte er sich wegen seines Zögerns. Auf einem Wandregal an der Rückwand standen zwei Leuchter mit gebrauchten Kerzen. Darunter, neben dem leeren Katafalk, befanden sich vier weitere Kerzen auf hohen Leuchtern. Er dachte, dass es ein leichtes sein müsse, eine von diesen Kerzen zu nehmen und zu verschwinden, sobald der Mann, der sich jetzt dort hinten zu schaffen machte, wieder gegangen wäre. Aber diese Hoffnung wurde zunichte, als die gebrauchten Kerzen eine nach der anderen von den Leuchtern gepflückt wurden und in einem kleinen Sack verschwanden, der in der Hand des zweiten Dinges war, das Derek Williams sah.

In seinen Gedanken hatte er das Wort Mann gebraucht, aber das war nicht ganz passend. Von hinten sah die hünenhafte, bucklige Gestalt zwar entschieden männlich, aber mehr wie ein deformierter Affe aus. Vornübergebeugt wie er war, konnte man nicht gut schätzen, wie groß er aufgerichtet und mit geradem Rücken gewesen wäre, aber die Länge der Arme gab einen Hinweis, weil die Fingerspitzen fast den Teppichbelag erreichten. Derek Williams konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, auch nicht viel vom Kopf, der bis auf eine wirre schwarze Haarmähne zwischen den mächtigsten Schultern vergraben war, die er je gesehen hatte. Während der Bucklige die Kerzen einsammelte, ließ er ab und zu ein leises Grunzen oder Knurren hören. Schließlich begann er sich schwerfällig umzudrehen, und Derek zog seinen Kopf zurück und verharrte reglos hinter dem Vorhang.

Das Schlurfen der Füße näherte sich dem Durchgang, und der junge Mann hielt seinen Atem an. Als die Geräusche direkt neben ihm in der Türöffnung waren, brachen sie plötzlich ab. Der Riese war stehengeblieben. Auf einmal kam ein Grunzen, das beinahe fragend klang.

Derek Williams fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach und über seine Stirn rann. Salzige Tropfen sickerten durch die Brauen und brannten in seinen Augen. In seinen Ohren hämmerte das Blut, und hinter dem Vorhangstoff ging der raue Atem des anderen. Endlos.

Spürt der Kerl, dass ich hier bin?

Dann ein innerer Seufzer der Erleichterung, als das Licht gelöscht wurde. Zwei weitere lange Sekunden, und die schleppenden, schlurfenden Schritte entfernten sich im Korridor.

Derek Williams rührte sich nicht. Er hörte, wie die Tür gegenüber geöffnet und wieder geschlossen wurde. Gleich darauf wiederholten sich die Türgeräusche. Neues Geschlurfe, dann andere Schritte und die Stimme des händeringenden Skeletts. Beide entfernten sich durch den Korridor. Derek Williams’ Herz krampfte sich zusammen. Er wusste, dass er seine Chance bekommen hatte.

Der Raum gegenüber musste Werkstatt und Lagerraum von all dem Zubehör sein, das für die Aufbahrungen und Dekorationen benötigt wurde. Es war so gut wie sicher, dass er dort zu seiner Kerze kommen würde. Die Schwierigkeit lag darin, ungesehen hinein- und wieder herauszukommen. Ein Problem war auch, dass er keine Ahnung hatte, ob die zwei seltsamen Typen das ganze Personal des Etablissements darstellten, oder ob es noch jemand gab – vielleicht in diesem Arbeitsraum gegenüber.

Ausflüchte, sagte er sich. Die Umgebung und die Atmosphäre hier machten ihn nervös, das war alles.

Er spähte hinter dem Vorhang in den Korridor hinaus. Leer! Rasch brachte er die paar Meter zur geschlossenen Tür hinter sich, öffnete sie leise, schlüpfte durch und schloss sie behutsam hinter sich.

Zuerst konnte er in der Dunkelheit nichts sehen, aber als seine Augen sich angepasst hatten, sah er sich in einem schmalen kleinen Vorraum oder Durchgang mit Regalen auf beiden Seiten. Auf der anderen Seite eines schäbigen, durchscheinenden Vorhangs, der diese Passage von dem Raum jenseits trennte, war irgendwo eine schwache Lichtquelle, die alle Gegenstände im Durchgang in einen matten graubraunen Schein tauchte, diffus und unwirklich.

Rasch untersuchte er die Regale. Sie enthielten nur Werkzeug und viele Flaschen, Krüge und Schalen, einige davon leer, andere halb oder ganz mit verschiedenen übel aussehenden Flüssigkeiten gefüllt. Keine Kerzen. Er musste weiter suchen.

Etwas an dem Vorhang erfüllte ihn mit Widerwillen, und er mochte das unsaubere Gewebe nicht anfassen, so schob er es mit dem Unterarm zur Seite und trat in den Raum. Dieser war überraschend groß. Arbeitstische und Werkbänke mit mehr Werkzeugen, Flaschen und einigen elektrischen Geräten standen an den Wänden. An der Rückwand sah er, was er suchte. Links von der einzigen Lichtquelle – einer zerkratzten und verbogen aussehenden Arbeitslampe über einem Tisch – lag der Sack, den der Bucklige getragen hatte, und im Regal darüber war ein säuberlich geschichteter

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Lyle Kenyon Engel/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Walter Brumm (OT: The Hand Of Dracula).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 08.09.2020
ISBN: 978-3-7487-5680-4

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