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Leseprobe

 

 

 

 

ROBERT LORY

 

 

DRACULAS BRÜDER

- 13 SHADOWS, Band 48 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DRACULAS BRÜDER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

 

Das Buch

In Manhattan bricht ein Mann sterbend zusammen. Ein Schwarm mordgieriger Vampir-Fledermäuse hat ihn angefallen und zerfleischt. In der 50. Straße wiederholt sich das Drama. Diesmal schlägt der geflügelte Tod mehrmals zu...

Ein furchtbares Verhängnis schwebt über New York. Eine Bestie in Menschengestalt hat Fledermäuse zum Töten abgerichtet und erpresst die Millionenstadt. Es gibt keinen Ausweg. Denn der Unbekannte hat neue Mordanschläge angekündigt, wenn seine Forderungen nicht erfüllt werden...

 

DRACULAS BRÜDER von Robert Lory (= Lyle Kenyon Engel) wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1974 als VAMPIR-HORROR-TASCHENBUCH Nr. 13 veröffentlicht.

DRACULAS BRÜDER erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  DRACULAS BRÜDER

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Der Abend war kühler als sonst um diese Zeit und brachte einen Vorgeschmack vom Winter mit sich, dessen Winde bald durch die Betonschluchten Manhattans fegen würden. Wolkenlos und kalt, hatte die Wettervorhersage um sieben gelautet, und als Zeliazko Stoykitscheff gegen neun durch die Vorhalle des Gebäudes der UN-Vollversammlung eilte, dachte er, dass die Meteorologen ausnahmsweise einmal recht gehabt hätten. Stoykitscheff, ein mittelgroßer Einunddreißigjähriger mit schütterem Haar, sah wenig eindrucksvoll aus, als er unter der riesigen Zeusstatue vorbeiging; tatsächlich war er im Vergleich mit den meisten anderen Gestalten, ob aus Stein oder Fleisch, eine eher unauffällige und durchschnittliche Figur. Der Gesandtschaftssekretär der Volksrepublik Bulgarien hatte die höchste Position erreicht, auf die er hoffen durfte, und das wusste er. Er hatte sich schon vor Jahren mit seiner Position im Leben abgefunden. Er war kein brillanter Student gewesen und verdankte seine gegenwärtige Position dem Einfluss seines Vaters, worüber er sich völlig im Klaren war; in der Erkenntnis seiner Mittelmäßigkeit lag seine Größe.

Als er nun zu den Aufzügen ging, waren seine Gedanken denn auch weit von jeglicher Form von Selbstzufriedenheit entfernt. Ganz im Gegenteil. Leider hatte er wieder etwas verpfuscht.

Es war nichts Ernstes, obwohl der Erste Sekretär so getan hatte, als stünde das Fortbestehen der Welt auf dem Spiel, wenn der braune Manilaumschlag, den Stoykitscheff auf dem Tisch im Konferenzraum liegenlassen hatte, nicht sofort herbeigeschafft und ihm übergeben würde.

Stoykitscheff hatte keine Ahnung, was in dem Umschlag war, aber es konnte kaum etwas Weltbewegendes oder auch nur halbwegs Wichtiges sein. Bei der Sitzung, an der er als stummer Beisitzer teilgenommen hatte, war bloß über die Tagesordnung der anstehenden Vollversammlung diskutiert worden. Nein, er wusste, was dahintersteckte: Der Erste Sekretär hatte dieser kurvenreichen Französin, in die er verschossen war, seine Autorität demonstrieren wollen und ihn, Stoykitscheff, zum Opfer seines Imponiergehabes gemacht. Wenn er an irgendeiner Party oder einem Empfang teilnahm, war es Stoykitscheffs gewohntes Problem, dass er der rangniedrigste Teilnehmer war. Und wenn er dann wegen einer Belanglosigkeit getadelt oder zusammengestaucht worden war, pflegte er sich davonzustehlen, um nicht hören zu müssen, wie sein jeweiliger Vorgesetzter dem Gesprächspartner, vor dem er soeben seine Überlegenheit zur Schau gestellt hatte, kopfschüttelnd anvertraute: »Ein Jammer, wirklich. Sie werden mir einfach nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, wer sein Vater ist.«

Eines Tages, sagte sich Stoykitscheff, als er in den Aufzug trat, eines Tages haben diese Erniedrigungen ein Ende. 

Er war noch genau dreizehn Minuten vom Ende seiner Erniedrigungen – und alles anderem – entfernt.

Die Aufzugtür glitt zurück, und Stoykitscheff marschierte durch den breiten Korridor zum Konferenzraum. Bei der Tür angelangt, entdeckte er, dass sie verschlossen war. Natürlich hätte er das wissen sollen; er hatte es auch gewusst, aber wieder vergessen. Er fluchte in sich hinein. Wieder hatte er den Dummkopf gespielt.

Als er sich umwandte, um zum Aufzug zurückzukehren und den Schlüssel zu holen, stieß er fast mit einer kolossalen Schwarzen zusammen, die Putzkübel und Schrubber schwang und dazu strahlte, als stünde sie Modell für eines jener Gemälde des sozialistischen Realismus, die die werkende Arbeiterklasse verherrlichen. Stoykitscheff wich vor dieser überwältigenden Körperlichkeit instinktiv zur Seite aus und war im Begriff, eine amerikanische Entschuldigung zu murmeln, als er die Frau einen Schlüsselbund herausfummeln und vor der Tür des Konferenzraumes haltmachen sah.

»Das ist sehr gut«, sagte er erfreut. »Ich wollte gerade hinein und einen Umschlag holen, den ich liegenlassen hatte. Aber ich habe den Schlüssel vergessen.«

»Kommen Sie mit rein, Mister«, sagte die Matrone gutmütig. »Eigentlich ist es nicht erlaubt, wissen Sie, und wir müssen liegengebliebene Sachen beim Sicherheitsdienst abliefern, aber so genau nehmen wir es nicht.«

Sie öffnete die Tür, und er folgte ihr in den hellerleuchteten Raum. Wie diese Amerikaner Elektrizität verschwenden, dachte er bei sich; fast das ganze Gebäude ist bei Nacht erhellt, und wozu? Ästhetik, vielleicht? Sie wandte sich zu ihm um. »Ich sehe keinen Umschlag.«

»Keinen Umschlag?« Er spähte auf und unter den Konferenztisch und sah, dass die Frau recht hatte. Bis auf eine Anzahl Aschenbecher war der Tisch leer. Offensichtlich hatte der Erste Sekretär den Umschlag selbst eingesteckt – der Dummkopf!

»Tatsächlich«, sagte er lahm. »Dann muss der Erste Sekretär den Umschlag mitgenommen haben.«

»Hübsch, nicht?« Die Putzfrau war zum riesigen Fenster gegangen, von wo man einen weiten Ausblick über den East River und das Häusermeer von Queens und Brooklyn hatte. »Dort ist Belmont Island, und – oh!«

»Ist was?«

»Schauen Sie, schnell! Dort, vor dem Mond. Ein großer Vogelschwarm.«

Er kam zu ihr. »Ja, sehr schön«, sagte er. »Zugvögel auf der Reise nach Süden, würde ich sagen.«

»Ja, aber sie sind spät dran. Und es sieht aus, als ob sie direkt in unsere Richtung kämen!«

Stoykitscheff spähte eine Weile hinaus. »Ja, Sie haben recht«, sagte er dann. »Und der Schwarm fliegt ziemlich tief. Und noch etwas. Ich glaube nicht, dass es Vögel sind.«

Die Putzfrau machte runde Augen. »Keine Vögel?«

»Nein. Sehen Sie genau hin.«

Die Aufforderung war überflüssig, denn der Schwarm kam rasch näher, und die geflügelten Lebewesen waren nun deutlich zu erkennen.

»Fledermäuse!«, kreischte die Frau. »Mindestens tausend!«

»Wohl kaum«, sagte der Bulgare ruhig. Aber die Fledermäuse, die, wie er jetzt sah, größer waren als die Arten, die er kannte, mochten zwischen fünfzig und hundert zählen, als sie in dichter Formation das UN-Gebäude anflogen.

»Guter Gott!«, schrie die Negerin entsetzt. Der Putzkübel fiel um und ergoss seinen Inhalt über den Teppicnboden, als sie ihre zwei Zentner herumschwang und zur Tür eilte. »Bloß raus hier!«

Er musste über ihre hysterische Flucht lächeln, als er hinauspähte. Der fliegende Keil von Riesenfledermäusen war ein Anblick, den er sich nicht entgehen lassen wollte. Aber dann wich er doch ein wenig zurück, denn der Schwarm schien genau das Fenster anzusteuern, hinter dem er stand, und diese rasend schnelle Annäherung hatte etwas Bedrohliches, obwohl sein Verstand ihm sagte, dass die Tiere kurz vor dem Gebäude abschwenken würden.

Augenblicke später zersprang die große Fensterscheibe mit einem Splittern und Bersten, und die kreischenden Kreaturen fielen über ihn her, ehe sein entsetzter Aufschrei erklingen konnte. Sie krallten sich an ihm fest, bissen, schlugen ihn mit ihren lederigen Flügeln. Er hieb wild um sich, mehr angewidert als ängstlich, aber wo er ein Tier herunterschlug, saß gleich darauf ein anderes, und als eine besonders große Fledermaus an ihm aufwärtskroch und plötzlich in seinen Hals biss, begann er zu ahnen, dass er nicht gewinnen würde.

Aber er konnte es versuchen – musste es versuchen!

Er riss das Tier von seinem Hals und schleuderte es angeekelt fort, dann sprang er stolpernd und fluchend zur Tür. Sie war geschlossen – und abgesperrt!

Das hatte noch gefehlt! Das hysterische Frauenzimmer war hinausgerannt und hatte die Tür hinter sich abgeschlossen, ohne an ihn zu denken!

Wütender Schmerz schoss durch seinen Nacken, als ein Biest seine nadelscharfen Zähne unter dem Haaransatz in Stoykitscheffs Hals schlug und zu beißen und zu reißen begann. Andere waren oben auf seinem Kopf, hingen an seinen Händen, an seinen Kleidern, versuchten an sein Gesicht heranzukommen. Mit einem hilflosen Winseln pflückte er den Angreifer aus seinem Nacken, schmetterte ihn auf den Boden und drängte sich mit dem Rücken gegen die Tür, um in dieser etwas günstigeren Position weiterzukämpfen.

Die Biester waren überall. Der ganze Raum war voll davon.

Während er sie abwehrte, so gut er konnte, sah er wieder die größere Fledermaus im Geflatter der anderen. Sie war anders als die übrigen und kreiste jetzt vor ihm, wie wenn sie auf eine passende Gelegenheit wartete. Die beiden Krallen an den Flügelgelenken waren besonders lang und schimmerten wie Stahl, und auf der behaarten Stirn zwischen den heiß funkelnden kleinen Augen war ein seltsames Mal zu setzen, rot und oval wie ein Blutstropfen.

Das war Stoykitscheffs letzte Wahrnehmung, bevor zwei scharfe Spitzen in seine Augäpfel stießen. Er brüllte vor Schmerzen und riss seine Hände hoch, um sie an seine blutenden blinden Augen zu pressen. Sofort, wie auf ein Signal, saßen ihm die Ungeheuer an der Kehle.

Grüne, bonbonrosa und violette Cadillacs, Buicks und Lincolns säumten beide Seiten der Fünfzigsten Straße zwischen der Achten und der Neunten Avenue. Ihre Besitzer waren größtenteils in dem kleinen Lokal an der Nordseite der Straße, über dem in grüner Neonschrift Tommy Little’s zu lesen war. Yancy Goldfist, wie er genannt wurde, hielt sich nicht dort auf. Er war mit einer Freundin draußen in der kalten Nacht.

Seine üppig beringte rechte Hand traf die linke Gesichtshälfte der Freundin mit einer harten Ohrfeige.

Die Freundin, deren Beine unter dem kurzen weißen Minirock eine Gänsehaut hatten und von der Kälte beinahe so prickelten wie ihr Gesicht jetzt, winselte: »Aber Yancy – kaum jemand arbeitet heute Nacht. Der Straßenverkehr ist gleich Null.«

Der elegant gekleidete Schwarze starrte das schwarze Mädchen mit der silbrigen Lockenperücke drohend an. Plötzlich packte er ihr Kinn und riss ihren Kopf zur Straße herum.

»Mach die Augen auf, Mary, und sag mir, was du siehst!«

»Ich sehe nichts, Yancy! Ehrlich. Nichts als die Wagen, das ist alles.«

»Richtig. Die Wagen. Aber sonst nichts. Keiner von meinen Freunden steht mit einem von seinen Mädchen hier draußen. Du siehst auch keins von meinen anderen Mädchen, oder?«

»Nein, nur dich und mich, Yancy.«

»Richtig. Nun, wenn es heute Nacht wirklich so schlecht ist, wie kommt es dann, dass nur wir zwei hier draußen sind? Wie kommt es dann, dass nicht eine ganze Menge Frauen hier draußen steht und all den Männern drinnen vorjammert, es wäre nirgendwo was zu verdienen? Wie kommt es, dass nur du sagst, es sei zu kalt? Was ist los mit dir, Mary?«

Die Tränen bildeten kristallklare Rinnsale unter ihren Augen. Sie schnupfte. »Yancy, Baby, ich fühl mich heute Abend einfach nicht gut. Ich meine, ich bin wirklich krank. Ehrlich, Baby.«

Yancy Goldfist nickte. »Kannst du dir leisten, heute Nacht krank zu sein, Mädchen?«

Sie antwortete nicht. Sie wusste, was er meinte.

»Ich meine«, fuhr er fort, »kannst du dir leisten, jetzt aufzuhören, weil du dich nicht allzu gut fühlst? Ich verstehe dich, Baby, und ich will alles tun, was ich kann, um dich zu schützen. Ich will bestimmt nicht, dass du richtig schwerkrank wirst, weißt du? Wieviel hast du in deiner kleinen Handtasche?«

»Vierzig, Yancy, aber ich kann nicht...«

Diesmal war es seine linke Hand – voller Ringe wie die andere –, die ihr Gesicht traf. »Du antwortest einfach, wenn ich rede, und kein Aber. Kapiert?«

»Ja.«

»Besser, Baby, besser. Ich hau nicht gern zu, aber manchmal muss ich, um dich auf Kurs zu halten. Es macht mir keinen Spaß, eins von meinen Mädchen zu schlagen, das kannst du mir glauben, und am allerwenigsten dich. Ich möchte dich lieben, Baby, das ist, was ich wirklich möchte.«

»Ich... ich möchte das auch, Yancy.«

»Ich weiß, Mary. Tatsächlich hatte ich schon daran gedacht, dass wir vielleicht heute Nacht... ja, klar, du und ich heute Nacht. In Ordnung, Baby? Du bist nicht zu krank dafür?«

Ihr Blick hellte sich auf. »Wo denkst du hin, Yancy? Du weißt, dafür würde ich nie zu krank sein!« Yancys Daumen wischten sanft die Tränenspuren von ihren Wangen. »So ist es richtig. Ich will dir was sagen, Baby. Du gehst jetzt wieder los und siehst zu, dass du auf deine Quote kommst. Für jeden Zehner, den du heute Nacht extra bringst, gibt Yancy dir ein kleines bisschen extra, als Gegenleistung. Okay?«

Sie beantwortete sein aufmunterndes Zwinkern mit unsicherem Lächeln. »Ich werd’s versuchen, Yancy.«

»Ich weiß, dass du das tust, Mary.«

Er sah ihr nach, als sie nach Osten abzog, seufzte und schickte sich an, wieder ins Lokal zu gehen. Der Anblick von Charley Sweet am Eingang brachte ihn zum Stehen.

Charley schmunzelte. »Ein bisschen nervös heute, was?«

»Nicht der Rede wert. Eine aus dem Stall, die nicht laufen wollte, das ist alles. Kein Problem.«

Charley nickte zu dem Mädchen hinüber. »Wenn du sie nicht mehr willst, lass es mich wissen. Okay?«

»Du lässt deine Finger davon, Freund, oder...«

»He, langsam! War nur Spaß, Alter.« Er grinste. »Aber ich muss sagen, dass du ein grausamer Meister bist. Die Dame sagte, sie sei krank, nicht? Die aus meinem Stall kommen mir nicht mehr mit der Tour, nicht seit ich der letzten, die es versuchte, eine ganze Flasche Rizinusöl zu trinken gab. Ich blieb dabei, bis sie fertig war, und nach jedem Schluck gab es eine halbe Aspirin. Sofortheilung garantiert.«

»He, das ist gut«, sagte Yancy beifällig. »Ja, ich muss mir was von dem Zeug besorgen. Moment, was ist das?«

»Was?«

»Schsch! Horch! Das! Dieses Klatschen, oder was es ist.«

Charley lauschte. Nun hörte er es auch. Es wurde deutlicher, und dann klang es, als ob es direkt über ihnen wäre. Er blickte hoch und schrie auf.

Yancy tat es ihm nach. Die beiden Männer begannen wie verrückt herumzuspringen und um sich zu schlagen, als ihre Gestalten unter flatternden und beißenden Kreaturen verschwanden. Sie kämpften sich zur Tür, und Yancy bekam die Klinke zu fassen. »Ich krieg sie nicht auf!«, schrie er.

Als die klemmende Tür unter dem Anprall zweier Schultern aufsprang, kam Tom Little rasch hinter der Theke hervor.

»Was, in drei Teufels Namen, soll das?!«, bellte er. Als er seine Antwort bekam, konnte er es nicht glauben. Und seine Gäste, die zusammen mit dem Barmann plötzlich um ihr Leben kämpfen, glaubten es auch nicht.

Mehrere konnten sich ins Freie und zu ihren Autos retten. Aber Yancy, Charley und Tom Little waren nicht dabei.

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

In seinem Schlafzimmer im Dachgeschoss von Damien Harmons Landsitz an der Küste Long Islands konnte Carmelo Sanchez den Wind durch die Fichten seufzen hören, die das große Haus auf der Landseite umgaben und mit ihren Zweigen die Außenwand berührten.

Sanchez war diese Geräusche und die rhythmischen Schläge der Brandung gewöhnt, also konnten sie nicht der Grund für sein plötzliches Erwachen sein. Er lag im Bett und rührte sich nicht, aber seine Sinne waren hellwach und gespannt. Sogar der kahle Kopf – das einzige, was von seinem athletischen Körper zu sehen war – blieb völlig reglos, und nur die dunklen Augen unter den dichten schwarzen Brauen spähten durch den Raum und suchten nach der Ursache des Geräuschs, das ihn geweckt hatte.

Die schwarze Katze auf dem Teppich begann zu schnurren, bevor er etwas gesehen hatte, und als sich sein Blick auf sie richtete, glaubte er Erheiterung in den blassgrünen Augen zu erkennen. Dann verschwand sie.

»Ich schlage vor, Sie ziehen sich an«, sagte die junge Frau in Schwarz, die nun neben seinem Bett stand. Sie trug einen schwarzen Rollkragenpullover, schwarze Hosen und sogar schwarze Handschuhe, und das milchweiße, ovale Gesicht, das schön zu nennen völlig unzureichend gewesen wäre, war von glattem, rabenschwarzem Haar umrahmt. Schwarz und Weiß und das blasse Grün ihrer Augen, in denen immer noch Heiterkeit schimmerte.

»Fällt mir nicht ein«, sagte Sanchez. »Wozu soll ich mich mitten in der Nacht anziehen?«

Die Frau lächelte. »Es ist ein Besucher da. Aber wenn Sie meinen, können Sie ruhig nackt zu ihm gehen.« Ihre Stimme hatte einen fremdländischen Akzent, und sie sprach langsam und etwas stockend, als ob ihr das Sprechen überhaupt ungewohnt wäre und sie es für eine umständliche und wenig praktische Kommunikationsmethode hielte.

»Warum nicht?«, sagte Sanchez.

Sie lachte leise. »Ich glaube wirklich nicht, dass er Ihr Typ ist, Mr. Sanchez. Und was mich betrifft, so habe ich Ihnen schon früher gesagt, dass ich nicht interessiert bin.«

Das war leider wahr. Sie hatte unmissverständlich klargemacht, dass sie von der körperlichen Anziehungskraft, die er für andere Frauen haben mochte, unberührt blieb. Und wie sollte er eine Frau für sich gewinnen, die erstens nicht gewonnen werden wollte, und zweitens jeden Gedanken in seinem Gehirn lesen konnte?

»Wo ist er?«, fragte Sanchez.

»Unten beim Professor. Ich wurde gebeten, Sie zu wecken.«

»Wie spät ist es?«

»Kurz nach drei.«

Sanchez griff fluchend nach seiner Hose, fuhr hinein und zog ein schwarz und weiß gestreiftes Hemd an, das auf einem Stuhl lag. Pantoffeln vervollständigten seine Kleidung.

»Eine höllische Zeit, andere Leute zu besuchen«, knurrte er, als er die Tür öffnete. »Und Ihre Art, andere Leute zu wecken, passt dazu.«

Sie lachte wieder. »Ich wollte nur Ihre Reaktion testen. Ich war neugierig, das ist alles.«

Komisch, dachte er. Mit ihrer Erfahrung! Mit ihrer jahrtausendelangen Erfahrung sollte sie über diese Art von Neugierde hinweg sein. 

 

Damien Harmon und sein Gast saßen im großen Arbeitszimmer vor dem Kaminfeuer. Frische Scheite waren auf die Glut gelegt worden und erwärmten allmählich wieder den großen Raum, als Sanchez eintrat. Harmon winkte ihn zu einem Stuhl. Dann zeigte er auf einen zweiten. »Bitte, Ktara – ich würde es begrüßen, wenn Sie auch blieben. Unser nächtlicher Besucher hat mir einige interessante Dinge erzählt.«

Die beiden kamen der Aufforderung nach, und Harmon manövrierte seinen Rollstuhl ein wenig zur Seite, um Platz zu machen. Seit er 1938 eine Querschnittlähmung davongetragen hatte, war er an dieses Vehikel gekettet. Ein draufgängerischer junger Mann war er damals gewesen, und das Bleirohr eines New Yorker Gangsters – ein Bleirohr, das auch für die halbrunde Silberplatte in seinem Schädeldach verantwortlich war – war seine Belohnung dafür gewesen, dass er sich als Kriminalpsychologe auf eigene Faust in Ermittlungen eingeschaltet hatte. Darüber hinaus war er seiner Stellung verlustig gegangen, einer Stellung, die er sehr geschätzt hatte, obwohl seine zwei Doktortitel ihn für intellektuell anspruchsvollere Aufgaben qualifizierten und sein ererbtes Vermögen groß genug war, ihm ein luxuriöses Leben ohne eigene Arbeit zu gestatten. Er hatte eine akademische Laufbahn gewählt, sich aber mit fünfzig Jahren zurückgezogen und fortan zwei Gebieten gewidmet, denen sein zuweilen ans Pathologische grenzendes Interesse galt: dem Okkultismus und der Kriminalistik.

Sanchez hatte Gründe, froh zu sein, dass der Professor seine Leidenschaft für die Verbrechensbekämpfung bewahrt hatte. Wäre der alte Mann nicht vor drei Jahren in seinen eigenen Fall eingestiegen, hätte der puertoricanische Expolizist wegen des Besitzes von Heroin wahrscheinlich einige Jahre absitzen müssen. Es war ein abgekartetes Spiel von Rauschgifthändlern gewesen, das den Zweck gehabt hatte, einen unbequemen Ermittler auszuschalten. Aber Sanchez hatte keine Beweise bringen können, war aus dem Polizeidienst gefeuert und vor Gericht gestellt worden, wo er das Glück im Unglück gehabt hatte, dass Harmons Anwälte ihn vor der sicheren Haftstrafe bewahrt und einen Freispruch mit Bewährung erwirkt hatten. Seit damals stand er in Damien Harmons Diensten.

Was die okkultistische Marotte des alten Mannes anging, so war Sanchez darüber nicht sehr glücklieh. Anfangs hatte er sie als harmlose Spinnerei seines Brotgebers abgetan, doch später, als dieser ungewöhnliche Zeitvertreib zu dem gefährlichen Spiel geführt hatte, in dem sie jetzt beide bis über die Ohren steckten...

Sanchez merkte auf. Der dickbäuchige, grauaarige Besucher schien die Gedanken des Puertoricaners auszusprechen.

»...um Vampire zu handeln«, sagte Sanford Proctor.

Damien Harmon blickte schnell zu Sanchez und Ktara herüber und konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen alten Freund. Sanchez wusste nicht viel von Proctor, außer dass Harmon und Proctor sich seit ihrer gemeinsamen Zeit bei der New Yorker Stadtpolizei kannten und dass Proctor, obwohl offiziell im Ruhestand, noch immer mehr oder weniger intensiv für die Kriminalabteilung arbeitete, deren Direktor er zuletzt gewesen war.

»Vampirfledermäuse oder was«, fuhr der Dicke fort. »Zum Töten abgerichtet.« Mit knappen Worten berichtete er von den mörderischen Ereignissen des Vorabends.

»Eine absolut willkürliche Auswahl der Ziele«, bemerkte Harmon. »Ich kann jedenfalls keinen Zusammenhang sehen.«

»Aber es gibt einen, Damien«, sagte Proctor. »Die Opfer waren zufällig, aber die Ziele waren vorher ausgewählt, um die Möglichkeiten der verantwortlichen Person zu demonstrieren. Soviel ist klar.«

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher. Auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters wurde ein Papier gefunden – kein Mensch weiß, wie es dahin gekommen ist –, in dem Zeit und Ort der Angriffe angegeben sind.«

Harmon zog die Brauen hoch. »Das ist was anderes, Sandy. Aber wenn die Überfälle eine Demonstration waren, was bezwecken sie?«

»Geld. Der Meister der Fledermäuse erklärt in seinem Papier, dass wir mehr Zwischenfälle dieser Art erwarten können – mit dem Gebäude und dem Personal der Vereinten Nationen als Hauptziel, wenn wir ihm nicht die Summe von einer Million Dollar bezahlen.«

Harmon räusperte sich. »Ich habe zwei Fragen, Sandy. Erstens, wie soll das Geld bezahlt werden, und wann?«

»Das soll dem Bürgermeister heute telefonisch mitgeteilt werden. Die zweite Frage?«

»Warum ich? Warum bist du heute Nacht zu mir gekommen? Wie kommt es, dass du glaubst, ich könnte helfen?«

Es blieb eine Weile still, dann sagte Proctor bedächtig: »In der jüngsten Vergangenheit warst du zweimal in Affären verwickelt, in denen du meine Unterstützung erbatest. Das eine Mal ging es um diese Bande von Paketräubern und Erpressern hier auf Long Island, deren Opfer du warst. Das andere Mal war es die Sache mit dem Drogenkult und dem Bestattungsunternehmen in San Francisco. In beiden Fällen gab es Gerüchte über Vampire oder Vampirfledermäuse. Ich verlange keine Erklärung von dir, was diese Dinge betrifft, Damien, und ich habe nicht die Absicht, meinen Einfluss zu gebrauchen, um deinen Aktivitäten nachzuspüren. Ich erbitte nur deine Hilfe.«

Harmon nickte nachdenklich. »Dieses Papier, von dem du gesprochen hast, Sandy, interessiert mich. Hast du es bei dir?«

»Nein. Die Leute im Laboratorium arbeiten daran.«

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Lyle Kenyon Engel/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Pixabay.
Cover: Christian Dörge/Pixabay/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Walter Brumm (OT: Dracula's Brothers).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 04.09.2020
ISBN: 978-3-7487-5621-7

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