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Leseprobe

 

 

 

 

ERROL LECALE

 

 

DER LEICHENFRESSER

- 13 SHADOWS, Band 47 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER LEICHENFRESSER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

 

Das Buch

Castledoom, das Felsennest der MacGlennies, birgt ein dunkles Geheimnis in seinen düsteren Mauern: Einer der Burgherren führte im 16. Jahrhundert eine blutige Schreckensherrschaft; er raubte und mordete, bis die Angehörigen seiner Opfer ihn lebendig einmauerten.

Jahrhunderte später öffnet man bei Renovierungsarbeiten das Verlies des Unholds und setzt damit einen Ghul in Freiheit. Bald hören die Dorfbewohner in der Nähe der Burg grässliche Schreie: Die Bestie hat ihr erstes Opfer zerfleischt...

 

DER LEICHENFRESSER von Errol Lecale (= Wilfred Glassford McNeilly) wurde in Deutschland erstmals im Juni 1975 als VAMPIR-HORROR-ROMAN Nr. 23 veröffentlicht (unter dem Titel SOHN DER FINSTERNIS).

DER LEICHENFRESSER erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  DER LEICHENFRESSER

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Die düstergrauen Steine der Burg hoben sich kaum von dem zerklüfteten Felsen ab, auf dem sie stand. Uneinnehmbar sah Castledoom aus. Und sie war es auch, wie die Angriffe von Generationen kriegerischer Clansleute bewiesen hatten.

Das Gras auf der Ebene unterhalb des Felsens wuchs dicht und saftig – weil es mit dem Blut der Männer gedüngt war, die vergebens gegen die Mauern angerannt waren. So zumindest behaupteten die Bewohner von Glenballoch voll Stolz. Und jene, die dieses Blut vergossen hatten, waren die Männer des Clans MacGlennie, die diesen Teil von Morar viele Jahrhunderte erfolgreich verteidigten und selbst gegen andere Clans gezogen und mit ihrem Raub und ihrer Kriegsbeute in den Schutz der trutzigen Castledoom zurückgekehrt waren.

Keinem hatten diese Raubzüge größeren Spaß gemacht als Rory MacGlennie, dem Oberhaupt des Clans im sechzehnten Jahrhundert. Selbst seinen eigenen Leuten flößte der rothaarige Riese Furcht und Schrecken ein. Weniger seiner Brutalität und seiner Tollheit im Kampf wegen, sondern mehr aufgrund der Dinge, die die Leute über ihn tuschelten.

Rory MacGlennie hatte seine Seele dem Teufel verkauft.

Nicht einer der MacGlennies zweifelte daran. Es gab kaum einen seiner Kampfgefährten, der nicht selbst erlebt hatte, wie der sicherste Schwerthieb ihm nichts anzuhaben vermochte, wie die Pfeile geradewegs auf ihn zupfiffen und ihn dann doch verfehlten, weil sie im letzten Moment ihre Richtung änderten. Und wie genau er immer über alles Bescheid wusste, selbst über bevorstehende Ereignisse!

Natürlich profitierte der Clan unter seinem Ruf, denn die Angst vor ihm schwächte seine Feinde und lähmte ihre Angriffslust. Allein seine Anwesenheit während einer Schlacht wog fünfzig Claymores, die zweischneidigen Breitschwerter der Clankämpfer auf.

Aber das alles brachte ihm keine Beliebtheit im Tal von Glenballoch, denn die immer neuen Geschichten über ihn, von denen eine grauenhafter war als die andere, schienen seinen Pakt mit dem Teufel nur noch mehr zu bestätigen.

 

Die MacGlennies waren von einem ihrer Raubzüge heimgekehrt und feierten ihren Triumph in der großen Halle von Castledoom. Immer wieder wurden die Hornbecher mit dem feurigen Usquebaugh nachgefüllt. Nur Rory MacGlennie schlürfte seinen aus einem Silberkelch, den er, wie man munkelte, unter anderem aus einer Kirche geholt hatte.

Er war wahrhaftig eine furchterregende Gestalt mit seinen fast zwei Metern, den bis zur Schulter hängenden roten Haarzotteln und dem nicht weniger struppigen Vollbart. In ständiger Herausforderung starrten die fahlgrünen Augen unter den buschigen Brauen um sich.

Doch nicht weniger Grauen als er flößte sein Begleiter ein, ein Rabe, der auf seiner Schulter kauerte, und der nach den kahlen Stellen auf Schädel und Brust bereits ein hohes Alter erreicht haben musste.

»Nun, Clootie, erzähl mir, was hat sich so zugetragen während der Abwesenheit des Herrn?«

Ein kalter Schauder lief den anderen über den Rücken, als sie sahen, wie der Vogel näher ans Ohr des Lairds, des Oberhaupts aller MacGlennies, rückte und hineinzuflüstern schien. Clootie, der Rabe, war vor etwa fünfzehn Jahren plötzlich auf der Brustwehr der Burg aufgetaucht. Einer seiner Flügel war verletzt gewesen, und er vermochte auch jetzt nur mühsam und nicht weit zu fliegen. Erstaunlicherweise fand der junge MacGlennie Gefallen an dem Tier und pflegte es gesund, anstatt die scheinbar hilflose Kreatur umzubringen, wie es normalerweise seine Art war. Seither war der Vogel sein ständiger Begleiter in Castledoom.

Nie nahm Rory ihn auf seine Raubzüge mit. Mit seinem lahmen Flügel wäre er den behenden Plünderern nur zur Last gefallen. In der Burg munkelte man jedoch, dass der Laird ihn aus einem anderen Grund zu Hause ließ. Hier raunte man, er sei der teuflische Vertraute des Oberhaupts, und man war überzeugt, dass der Rabe nur deshalb zurückblieb, um für seinen Herrn Augen und Ohren offenzuhalten. Nicht dass es in Castledoom an anderen Spitzeln mangelte.

»Aha! So ist das also – so ist das!« Eine finstere Entschlossenheit verhärtete die bärtigen Züge noch mehr, und die blassen Augen glänzten rachsüchtig.

»Holt die Herrin!«, befahl MacGlennie, und sofort entfernten sich eilende Schritte. »Eigenartig genug, dass die liebende Gattin ihrem Ehemann bei seiner Rückkehr nicht in die Arme eilt, um so mehr, da er ihr die Schätze der Macphersons zu Füßen legen will«, murmelte er vor sich hin.

»Die Lady fühlt sich nicht wohl. Sie verließ während Eurer Abwesenheit kaum ihr Schlafgemach«, erklärte ungefragt einer der Clansleute.

»So hörte ich es.« MacGlennie kraulte den Raben am Hals. »Aye. So hörte ich es.«

Am unteren Ende der Tafel kaute Duncan Og MacGlennie an den Nägeln und wurde blass. Er war keine zwanzig, ein noch bartloser Jüngling mit langen goldenen Locken, ein Vetter des Lairds. Er besuchte die neue Universität in Glasgow, aber selbst die aufgeklärte Schulbildung hatte nicht vermocht, seine tiefverwurzelte abergläubische Furcht vor Rory zu verwischen.

Zögernd betrat Fiona MacGlennie die Halle. Ihr von langem seidigschwarzem Haar umrahmtes Gesicht war bleich. Eine schlanke Schönheit war sie, die geborene Maclean von Mull. Rory hatte sie zu seiner zweiten Frau gemacht, als seine erste im Kindbett gestorben war. Durch die Heirat gedachte er die Macleans im Kampf gegen die Campbells von Argyll an sich zu binden. Es kam jedoch nie zu dieser Auseinandersetzung.

»Gott hat meinen Herrn wohlbehalten nach Hause geleitet«, begrüßte sie ihn mit gesenktem Blick.

»Vielleicht war es auch der Teufel, der mich beschützt hat.« Rory erhob sich von seinem geschnitzten Sessel mit der hohen Rückenlehne – die anderen saßen auf einfachen Bänken. In seiner gewaltigen Größe blickte er auf die zurückschreckende Frau herab.

»Hat der siegreiche Laird keinen Kuss verdient?«, fragte er drohend. Er beugte sich zu ihr hinab und hob mit besitzergreifenden Fingern ihr Kinn zu sich empor. Er spürte die instinktive Abscheu, die sie empfand, während sie vergeblich versuchte, ihr Gesicht zur Seite zu drehen. Aber gewaltsam presste er seine Lippen auf ihre, die kalt und gefühllos blieben. Also bestand sein Verdacht zu Recht.

»Wenig Wärme liegt in deiner Begrüßung«, sagte er mit leiser, doch schneidender Stimme.

»Es... es ist nicht schicklich – vor all den Leuten. Allein in unserem eigenen Gemach...«

»Aye. In unserem eigenen Gemach. Unserem eigenen Schlaf gemach... Doch es sind mehr als wir zwei, die es benutzen, wie ich gehört habe.«

Der Rabe auf seiner Schulter krächzte, seine Perlaugen glitzerten erwartungsvoll.

Plötzlich schob der Laird sie zur Seite und starrte auf die Gesellschaft.

»Hinaus!«, brüllte er. »Hinaus – ihr alle. Alle, außer dir, Duncan Og. Mit dir habe ich noch zu reden... Fergus, auch du bleibst. Und Angus... Und jetzt hinaus, sage ich.«

Die Halle leerte sich schnell, nur MacGlennies blindergebene Gefolgsleute, der einäugige Fergus und Angus, der fast so groß wie Rory selbst war, blieben zurück.

»Komm her, Duncan Og!« Es klang nicht wie eine Einladung. Mit weichen Knien schleppte sich der Jüngling zum Kopfende der Tafel, wo sein furchterregender Vetter auf ihn wartete.

Grausam funkelten MacGlennies Augen, als er von seiner beeindruckenden Höhe auf den Scholaren herabstarrte.

»Du warst also in der Kemenate meines Weibes«, knurrte er.

Duncan Og zitterte am ganzen Leib. Er wagte nicht, sich auszudenken, was nun kommen würde. Aber es musste etwas Furchtbares sein, und er wusste, dass er seine Eltern nie Wiedersehen würde.

»Nein, mein Lord, nein!«, schrie Fiona. »Er besuchte mich nur, um mir vorzulesen, während ich krank darniederlag. Es gab nichts zwischen uns, nichts.«

»Wenn du glaubst, mich mit diesen Worten besänftigen zu können, meine Teure, so täuschst du dich. Er war in deiner Kemenate, das genügt. Kein Mann würde sich diese Beleidigung gefallen lassen.«

Fionas Busen hob und senkte sich heftig. Sie hatte keine Hoffnung, aber trotzdem musste sie versuchen, den Jüngling zu retten.

»Ich schwöre Euch, bei allem, was mir heilig...«

»Schweig, Weib!«, donnerte der Laird und setzte den Silberkelch an die Lippen. Er füllte seinen Mund mit dem brennenden Whiskey und spuckte ihn ihr ins Gesicht. Während sie vor Schock noch wie erstarrt dastand, riss er den Skean Dubh aus der Scheide. Die Klinge gleißte rot im Schein des flackernden Feuers.

Die Angst lähmte Duncan Og.

»Du wagtest es, dich meinem Weib zu nähern!«, brüllte MacGlennie. »Dich an ihrem weißen Leib zu ergötzen! Nun, du wirst deine Augen noch einmal daran weiden können!«

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Diese barbarische Geschichte aus langvergangenen Zeiten klang unwirklich und unpassend in der viktorianischen Eleganz des Salons in Eli Podgrams Londoner Herrschaftshaus. Aber Eli widmete ihr seine ganze Aufmerksamkeit und saß mit gebeugtem Kopf da, wodurch das merkwürdige weiße Kreuz, das sich durch sein Haar zog, noch deutlicher zu sehen war. Es war ein Zeichen, das seinen Ursprung einer nicht weniger schrecklichen Nacht verdankte, als jener in der großen Halle von Castledoom.

»Wie man es sich bei uns im Gien erzählt«, fuhr Ewan MacGlennie mit leichtem Hochlandakzent fort, »zwang mein Vorfahr seine Frau, sich vor Duncan Og, der von Fergus und Angus festgehalten wurde, ihrer gesamten Kleidung zu entledigen. Man sagt, sie sei eine sehr schöne Frau gewesen, und nach der Portraitskizze, die es von ihr gibt, dürfte das auch stimmen. Außerdem war sie überaus schamhaft und sittsam, wie überhaupt die Ladys des Hochlands zu jener Zeit. Der Schock, so berichtet man, verwirrte ihren Geist. Sie brach in ein hysterisches Gelächter aus, bis Rory ihr ins Gesicht schlug und sie auf dem Steinboden zusammenbrach.

Danach wandte er sich an Duncan Og. Sieh sie dir gut an, Duncan Og, knurrte er. Denn nie wieder werden deine Augen das Weib eines anderen schauen. 

Man erzählt sich, dass Duncan Og daraufhin zu schreien begann, aber ich glaube eher, dass er durch den Schock viel zu gelähmt war, um auch nur einen Laut herauszubringen. Er war schließlich kein Kämpfer, sondern Scholar und bisher noch keiner Brutalität ausgesetzt gewesen.

Der Laird hob sein Messer, den Skean-Dubh, und blendete den Jüngling.

Meines Erachtens hat Duncan Og erst dann geschrien. Aber man sagt, er habe nur ausgerufen: Die Dunkelheit, oh, diese Dunkelheit. Sie hat sich auf mich herabgesenkt.«

Rory schüttelte sich vor Lachen, und der Rabe krächzte laut und schrill und hüpfte auf der Schulter seines Herrn hin und her.

Bringt ihn zum Tor!, befahl Laird danach. Stoß ihn hinaus, auf dass er ziellos umherirre und zutiefst leide. Die Menschen sollen wissen, dass MacGlennies Eigentum nicht für andere da ist, weder seine Herden noch seine Burg noch sein Weib.«

Eli musterte den anderen unauffällig. Ewan MacGlennie war ein hochgewachsener, gutaussehender Mann von ungefähr dreißig. Er fragte sich, was der Besucher mit dieser alten Sage bezweckte und was er von ihm, dem Spezialisten, erwartete. Aber er unterbrach ihn nicht.

»Die Frau auf dem Boden hatte die schreckliche Szene mit angesehen. Sie war vor Grauen wie gelähmt – nicht nur, weil sie wusste, dass sie die nächste sein würde.

Plötzlich erklang ihre Stimme in unnatürlich hohem, fast leierndem Tonfall:

Oh, Rory MacGlennie, Laird von Glenballoch, Herr von Castledoom. Auch Euer ist die Dunkelheit, auch Euer sind die Augen, die nicht sehen. Ich erschaue, wie Ihr Euch in Euren Qualen windet, nicht für Stunden, nicht für Tage, nicht für Jahre, nein für alle Ewigkeit. Ich sehe Euch in diesem Leben und dem nächsten – und alles ist dunkel. Nichts, kein Lichtschimmer, kein Erbarmen, keine Hoffnung. Es ist mir gegeben, es zu schauen und zu wissen, dass es keine Gnade für Euch gibt, ehe Euer Leib nicht gevierteilt und jedes der vier Stücke bei Nacht in einer anderen Pfarrgemeinde verscharrt ist. Ich verfluche Euch, Rory MacGlennie. Ich verfluche Euch! 

Sie verstummte, als er ihr ins Gesicht schlug. Dann stürzte er sich auf die hilflose Gestalt und stieß ihr den spitzen Dolch in den Leib.

Fergus und Angus hatten inzwischen den Scholaren durch das Tor gestoßen, in der Hoffnung, schon der Abstieg auf dem steilen Pfad möge ihm den Tod bringen. Sollte er es jedoch bis zum Tal schaffen, gab es immer noch den See mit seinem tiefen, eisigen Wasser, und die Flüsse und zerklüfteten Felsen. Er würde nicht so lange leben, dass er verhungern müsste.

Sie hörten die letzten Worte von Fionas Fluch und sahen, wie ihr Herr sich auf sie stürzte. Es berührte sie nicht sonderlich, sie hatten ihn schon Schlimmeres tun sehen. Der Fluch dagegen war etwas anderes, denn sie glaubten an die Macht des Fluches, um so mehr, wenn er von einer Sterbenden ausgestoßen wurde.

Ich hoffe, ich schockiere Sie nicht allzu sehr mit dieser Geschichte, Professor Podgram. Meine Vorfahren waren primitive Barbaren.«

»Das dürfte wohl für die Vorfahren aller Menschen zutreffen, wenn man weit genug zurückgeht«, beruhigte ihn Eli.

»Ich erzähle Ihnen nur deshalb alles so ausführlich, damit Sie den Hintergrund meines Anliegens voll verstehen.«

»Gerade das ist von größter Wichtigkeit. Ich nehme an, dass die Vergeltung nicht lange auf sich warten ließ.«

»So ist es. Rory MacGlennie hatte die Kräfte oder den Mut oder vielleicht auch nur das Glück Duncan Ogs unterschätzt. Der Scholar überlebte. Weiß Gott wie! Vielleicht half ihm ein mitleidiger Bauer, oder ein Fischerkahn nahm ihn an Bord. Jedenfalls erreichte er schon nach wenigen Tagen Mull und suchte die Macleans auf. Natürlich beschloss man sofort, Rache zu nehmen. Die Frage war nur, wie. Ein Angriff auf Castledoom wäre zwecklos. Nur List konnte zum Ziel führen.

Sind wir nicht die Verbündeten MacGlennies?, sagte Magnus Maclean, das Oberhaupt der Tobermory Macleans. Was ist da natürlicher, als dass wir unseren guten Freund Rory besuchen und uns nach dem Befinden unserer Verwandten Fiona erkundigen? Er kann nicht wissen, dass wir von dem Vorgefallenen erfahren haben. Er wird in unserer Ankunft nichts weiter als einen Freundschaftsbesuch sehen. 

Und wie sollen wir, kaum ein Dutzend – mehr gestattet er nicht innerhalb seiner Tore – mit ihm fertigwerden?, fragte einer der Macleans skeptisch.

Mit List. Wir bringen ihm ein Fass unseres selbstgebrauten Usquebaugh als Geschenk. Und es soll mehr als nur Whiskey enthalten. Die MacGlennies werden tief schlafen, dann ist Rory uns ausgeliefert. 

Und so wurde der Plan auch durchgeführt. Rory hieß seine angeheirateten Verwandten willkommen und bedauerte, dass Fiona sie nicht begrüßen könne, da sie wegen Fieber das Bett hüten müsse. Während die Macleans sich unauffällig zurückhielten, tranken die MacGlennies reichlich von dem mitgebrachten Whiskey.

Bald gab es, von den Besuchern abgesehen, nur noch schnarchende Schläfer in der großen Halle. Als Rory wieder zu sich kam, fand er sich auf seinem hohen geschnitzten Sessel festgebunden.

Verrat!, brüllte er.

Gerechtigkeit, berichtigte eine bekannte Stimme. Seht Euch um, Rory MacGlennie. Wisst Ihr, wo Ihr Euch befindet? 

Der Laird erkannte die kleine Zelle am Ende der Reihe von Verliesen. Sie wurde kaum benutzt, und nur selten verirrte sich jemand hierher. Er hörte das Scharren und Klirren von Werkzeugen, das Keuchen von schwer arbeitenden Männern. Im Schein der Fackeln auf dem Gang sah er schaudernd, dass sich bereits eine Lage schwerer Steine in der Türöffnung hob.

Er wurde lebenden Leibes eingemauert.

So umfängt die Dunkelheit nun Euch, Rory MacGlennie. Und sie wird noch grauenvoller sein als meine, denke ich. 

Duncan Og! Ich hätte dir die Kehle durchschneiden sollen, als ich noch Gelegenheit dazu hatte. Maßlose Wut klang aus MacGlennies Stimme, doch keine Furcht.

Ich wartete vor der Burg, bis ihr alle in Schlaf verfielt. Ich wollte Eucn einmal noch hören, Rory MacGlennie. Ein einziges Mal... Hier habe ich auch etwas für Euch. 

Als die flinken Macleans die Arbeit fast geschafft hatten und nur noch ein Stein fehlte, schob Duncan Og den Arm durch die Lücke. Flügel flatterten. Der Rabe ließ sich auf der Schulter seines Herrn nieder und knabberte zärtlich an dessen Ohr. Dann wurde auch der letzte Stein festgemauert. Das neue Wandstück unterschied sich nur in der Farbe ein wenig vom Rest der dicken Mauern, und auch dies war lediglich im direkten Schein mehrerer Fackeln erkennbar. Bald würde die Zeit darüber hinwischen, und niemand würde sich auch nur erinnern, dass es hier jemals eine Zelle gegeben hatte. Um jedoch doppelt sicherzugehen, verschlossen die Macleans auch noch die äußere Gangtür zu den Verliesen und nahmen den Schlüssel mit.

Niemand sollte Rory MacGlennie finden!«

  Drittes Kapitel

 

 

»Sehr interessant, diese Geschichte«, sagte Eli Podgram. »Ich nehme an, es gibt einen Zusammenhang zwischen ihr und Ihrem Besuch bei mir.«

»Selbstverständlich, Sir. Selbstverständlich. Nie hätte ich sonst gewagt, Ihre kostbare Zeit damit in Anspruch zu nehmen.« Die leichte Verlegenheit zauberte einen Hauch von Farbe auf das Gesicht des jungen Schotten.

Eli ließ sich nicht anmerken, dass ihn das angenehm berührte. Es gab also auch in diesen degenerierten Zeiten noch Menschen, die erröten konnten.

»Dann erläuteren Sie mir Ihr Anliegen. Meine Zeit ist kostbar. Viele Menschen bedürfen der Hilfe des Spezialisten«, sagte er ernst und fuhr sich durch das Haar mit dem weißen Kennzeichen.

MacGlennie zögerte noch ein wenig verlegen, dann wagte er es endlich. »Sir. Sie sind doch der berühmte Experte in Angelegenheiten, die über das Normale hinausgehen.«

»So ist es. Ich bin der Spezialist. Ich glaube nicht, dass es jemandem mit einem größeren Wissen über die Schattenwelt gibt, über jenen Bereich, wo das Reale sich mit dem Unrealen trifft, wo das Physische Hand in Hand mit dem Psychischen geht.«

Einen Augenblick verloren sich seine Gedanken in der Zeit, als er selbst in die Schattenwelt getrieben worden war. Wenn man ihn hier in seinem luxuriösen Domizil am Russell Square sah, konnte sich kaum jemand vorstellen, dass er einmal ein Vampir gewesen war, dass er danach gedürstet hatte, Menschenblut aus warmen Kehlen zu trinken.

Und doch war es die schreckliche Wahrheit.

Elis Großvater von väterlicher Seite war Graf im rumänischen Transsylvanien gewesen. Da sein Vater jedoch nicht als Erstgeborener das Licht der Welt erblickt hatte, ging der Titel nicht auf ihn über. Nicht dass Eli darauf Wert gelegt hätte. Er hatte nicht viel übrig für den Adel, genausowenig wie für den Umgang mit den oberen Zehntausend, ob nun in London oder New York (dort gehörten ihm größere Besitztümer) oder sonst einer Hauptstadt Europas (wo er überall zumindest eine Villa besaß).

Sein Vater hatte sich reich verheiratet mit der einzigen Tochter der Bostoner Cabots, einer Familie, von der man sagte: »Die Lowells sprechen nur mit den Cabots und die Cabots nur mit dem lieben Gott.«

Eli hatte sich immer den kleinen Leuten verbunden gefühlt, besonders seit sein Interesse für die Schattenwelt erwacht war. Das einfache Volk tat Geister, Spuk, Werwölfe, Dämonen und Vampire nicht als abergläubischen Unsinn ab. Es war der Wahrheit näher. Es wusste Bescheid. Im Gegensatz zu den Salons der sogenannten besseren Gesellschaft, wo Okkultismus entweder ein Thema war, über das man gelangweilt und von oben herab lächelte, oder mit dem man sich die Zeit vertrieb, weil es modisch war, nicht weil man daran glaubte.

 

Eli entsann sich seines letzten Besuchs auf der Burg in Transsylvanien, die er geerbt hatte. Er erinnerte sich an die unterwürfigen Bauern, die nicht viel mehr als Leibeigene waren. Er erinnerte sich, wie sie des Nachts die Türen verriegelten und die Fensterläden verschlossen. Er erinnerte sich an seine Geringschätzung, als sie ihn untertänig darauf aufmerksam gemacht hatten, dass ein Vampir in dem herrlichen Tal mit den uralten Wäldern sein Unwesen trieb.

Natürlich hatte er alle Warnungen, nachts nicht aus dem Haus zu gehen, ignoriert. Und als er gar noch Knoblauch und Arnika unter dem Kragenumschlag seines Mantels gefunden hatte, die ihn gegen die finsteren Geschöpfe schützen sollten, hatte er sie im Zorn über die abergläubischen Dienstboten weggeworfen und sich geärgert, dass er den Mantel verbrennen musste, weil sich der penetrante Gestank nicht mehr vertreiben ließ.

Er war damals, das sah er natürlich jetzt ein, ein sehr von sich eingenommener, sicher nicht gerade angenehmer junger Mann gewesen. Allen Warnungen zum Trotz war er nachts durch den Wald marschiert, auf einem Pfad, der in der Finsternis kaum noch zu erkennen war. Plötzlich tauchte eine dunkle Gestalt vor ihm auf und versperrte ihm den Weg. Entrüstet hatte er es sich verbeten, aber der Fremde hatte nur gelacht und die Arme – vielleicht waren es aber auch Flügel gewesen – fest um ihn geschlungen und ihn zu Boden geworfen. Er presste sich auf ihn, und ein beängstigender

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Wilfred Glassford McNeilly/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Pixabay.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Lore Strassl (OT: Castledoom). Mit freundlicher Genehmigung der Edition Bärenklau/Literatur-Agentur Jörg Marten Munsonius.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2020
ISBN: 978-3-7487-5615-6

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