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Leseprobe

 

 

 

 

ADELINE MCELFRESH

 

 

DOCH DIE LIEBE

WAR STÄRKER

- Arztroman-Klassiker, Band 6 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DOCH DIE LIEBE WAR STÄRKER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

 

Das Buch

Für die Menschen in Woodbridge galten Nora Lanning und der junge Arzt Dr. Jack Benton als ein Paar. Nichts schien ihr Glück trüben zu können. Doch es gab auch Neiderinnen und Neider, die sie zu trennen versuchten. Ihnen war jedes Mittel recht - und so entstanden böse Gerüchte. Doch Nora war stark, und ihre Liebe half ihr, das Glück zu finden...

 

Doch die Liebe war stärker erschien erstmals im Jahre 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1990. Der Roman erscheint in der Reihe ARZTROMAN-KLASSIKER aus dem Apex-Verlag, in der klassische Arztromane aus der goldenen Ära dieses Genres als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

  DOCH DIE LIEBE WAR STÄRKER

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Jeff...«

Nora Lannings Lippen waren so weich wie ihre Stimme. Ohne seine Augen zu öffnen, sagte Dr. Benton: »Ich weiß, Liebes. Wir müssen fort.«

»Ich könnte für immer hierbleiben, Jeff, aber ich habe um drei Dienst.«

Mit einem übertriebenen Seufzer sagte er: »Ich nehme an, das ist eine der Strafen dafür, dass ich in eine Krankenschwester verliebt bin, deren freie Tage nicht mit den meinen übereinstimmen.«

Als er die Augen aufschlug, lächelte sie ihr ruhiges Lächeln, das wie immer tief in seinem Innersten eine besondere Saite anschlug.

»Wir haben Glück, dass wir überhaupt einen Tag frei haben«, erinnerte sie ihn.

Jeff faltete seine Arme unter seinem Kopf und betrachtete liegend die Wolke, die faul am Augusthimmel hing. Manchmal hatten sie keine freien Tage und keinen Nachmittagsausgang, zumindest nicht an den Tagen oder Nachmittagen, an denen sie es erwartet hatten. Heute hatte er Glück gehabt. Mit nur zwei Operationen auf dem Morgenplan hatte er seine Visite gerade rechtzeitig beendet, um Nora zum Mittagessen abzuholen und mit ihr aufs Land zu fahren. Da sein Vater in der Praxis in Woodbridge war, brauchte er sich darum auch keine Sorgen zu machen.

Er wandte seinen Kopf, bis er Nora sehen konnte, die an seiner Seite im Gras saß, ihren Blick verloren in die Ferne gerichtet

»Weißt du, Nora«, sagte er langsam, »manchmal mache ich mir Gedanken über uns. Nicht nur über uns beide, sondern auch über Walt Marquis, Doktor Gilbreath, Mistress Clements und die anderen. Jeder von uns könnte ohne die geringsten Schwierigkeiten in ein anderes Krankenhaus wechseln, warum tun wir es nicht?«

»Warum tust du es nicht?«

Er beobachtete die Wolke, die langsam ihre Gestalt veränderte, als habe die gewaltige Hitze, die seit Tagen wie eine dichte Decke über dem Land lag, jetzt auch Einfluss auf den Himmel genommen.

»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht einmal, warum ich überhaupt hierher zurückkam, Nora. Wie kann ich also wissen, warum ich bleibe?«

Die Wolke erinnerte jetzt an ein Gesicht mit Maske. Sie kam ihm genauso überflüssig am blauen Himmel vor wie er sich selbst in den ersten Wochen nach seiner Ankunft in Woodbridge, nachdem er zwanzig Jahre fort gewesen war und kaum mehr als ein paar Worte in dieser Zeit von seinem Vater gehört hatte.

»Ich - ich weiß nicht, Nora«, hörte er sich wiederholen. »Ich glaube, es gefällt mir hier. Ich liebe den Gedanken, gebraucht zu werden.« Er sah sie an. »Ergibt das Sinn?«

Sich zu ihm hinunterbeugend, küsste sie ihn wieder so zärtlich wie zuvor und lehnte dann ihre Wange gegen die seine.

»Es ergibt einen Sinn, Liebster«, flüsterte sie.

Er strich über ihr Haar und schwieg.

Nora war gut für ihn - sie war richtig für ihn gewesen von dem Augenblick, wo sie sich kennengelernt hatten - in der Ambulanz im Cedar-Valley-General-Krankenhaus. Er war gerade mit Händeschrubben fertig gewesen für seine erste Operation und man half ihm in den sterilen Kittel. Er war nicht nervös gewesen - er war seiner Kenntnisse sicher und gut trainiert und diszipliniert. Aber es hatten sich leise Zweifel in ihm geregt, ob es richtig gewesen war, zurückzukommen und in die Praxis seines Vaters einzusteigen. Immerhin erinnerten diese Zweifel ihn daran, dass Cedar-Valley nicht Mayhugh Memorial war, die große Klinik innerhalb des Universitätsbereiches, wo er gelernt, gearbeitet und gelebt hatte. Die Ärzte und Schwestern, mit denen er hier arbeitete, waren nicht die perfekten, einer harten Schule unterzogenen Männer und Frauen, an die er sich in Mayhugh hatte gewöhnen können. Nora hatte dann mit ihren Worten seine Zweifel noch verstärkt. Als sie ihm den gepuderten Handschuh hinhielt, sagte sie mit einem kleinen Lächeln: »Willkommen im Clan, Doktor. Ich glaube, hier wundert sich auch jeder über Sie.«

»So?« Er hatte sie überrascht angesehen. »Ist das so offensichtlich?«

»Natürlich nicht. Ich habe mich nur an Ihre Stelle versetzt.«

Weich sagte er jetzt: »Nora?«

»Ja, Jeff?«

»Habe ich dir schon einmal gesagt, wie sehr ich dich liebe?«

»Oft.«

Er setzte sich auf und Nora kam in seine Arme, als wisse auch sie, wohin sie gehörte. Der Kuss war zunächst zärtlich, aber ihre Lippen, die zuerst weich auf den seinen lagen, zitterten, zögerten und antworteten dann mit einer Leidenschaft, die der seinen entsprach. Stromstöße gingen durch seinen Körper, sein Mund forderte den ihren, und sein Kuss wurde verlangender. Gott, wie ich dich liebe, Nora, dachte er. Liebe dich, liebe dich, liebe dich... Der Refrain war seinem Herzschlag angepasst. Ich will dich, will dich, will dich...

»Nicht, Jeff«, wisperte sie gegen seine Lippen. »Darling, mach nicht alles kaputt.«

Er küsste sie zärtlich auf die Ader, die an ihrem Hals pochte.

»Ich wollte das nicht, Nora.« Seine Stimme stolperte über eine ungewohnte Rauheit in seiner Kehle. »Dich so - so zu küssen, wie ich es eben tat.«

Ein schlanker Finger erhob sich gegen ihn.

»Mach es nicht kaputt, Liebster.«

Sie erhob sich. »Wir sollten uns lieber beeilen, Jeff. Ich muss mich noch umziehen und du weißt, wie Mistress Clements ist, wenn jemand zu spät kommt.«

»Sie ist eine gute Oberschwester.«

»Die beste. Aber man fühlt sich vor ihr wie ein Schulmädchen, wenn sie es so will.«

Als er ihr in seinen Wagen half, fragte sich Jeff, ob auch Nora von ihren Gefühlen so überwältigt worden war wie er und entschied, dass es so sein musste. Warum sonst hatte sie es plötzlich so eilig? Sie hatten noch genug Zeit. Nora besaß die Übung der Schwestern, sich in Windeseile umzuziehen. Das rosa Leinenkleid gegen die Tracht auszutauschen, würde nur ein paar Sekunden in Anspruch nehmen. Und sie wohnte dem Krankenhaus gegenüber.

Er glitt hinter das Steuerrad und startete den Wagen, ohne ein Wort zu sagen. Er hätte sie nicht so küssen sollen, das hatte er noch nie zuvor getan, und Gott wusste, dass es auch dieses Mal nicht seine Absicht gewesen war. Sie hatten den schmalen Feldweg hinter sich gebracht, der zu ihrem Lieblingsplatz auf der Spitze eines Hügels führte und befanden sich bereits auf der Hauptstraße, die nach Cedar-Valley führte, als er noch immer daran dachte. Er war Arzt, sie Krankenschwester. Sie wussten beide, wie schnell Gefühle außer Kontrolle geraten konnten, und heute waren sie nahe daran gewesen. Paß auf, Benton, warnte er sich selbst und fragte sich gleichzeitig, ob Nora sich wohl im Stillen die gleiche Lektion erteilte. Du lieber Gott, er liebte Nora. Er wollte sie heiraten und sie nicht im Wald nehmen wie ein Straßenmädchen.

»Jeff!«

Nora schrie nicht, aber in ihrem scharfen, leisen Ruf steckte eine deutliche Warnung. Er trat instinktiv auf die Bremse und sah im gleichen Moment den Körper, der auf der Straße vor ihnen lag. Der Wagen schlitterte, und unter seinen Rädern spritzten Splitter des Bodenbelages zur Seite. Schließlich kamen sie zum Halten.

»Oh, Jeff...« 

 

Jeff sah, was Nora gesehen hatte, George Andy - er lag auf seinem Rücken und sah schlimm aus. Es war kein Blut zu sehen, also hatte er offensichtlich innere Verletzungen. Dr. Benton kniete neben dem alten Mann, ohne sich dessen bewusst zu werden, wie er aus dem Wagen gekommen war, und suchte nach dem Puls des alten Mannes. Er war schwach, aber beständig.

»Er lebt! Nimm den Wagen und suche ein Telefon!«, rief er Nora zu, die an seiner Seite stand. »Und beeil dich! Um Gottes willen, mach schnell!«

Sie warf ihm seine Bereitschaftstasche zu, die sie aus dem Auto geholt hatte, und rannte los. Eine Minute später sprang der Wagen an, und beim Anfahren spritzte Rollsplitt nach allen Seiten.

Mit vorsichtigen Fingern zwang Jeff die Kinnladen des alten Mannes auseinander. George Andys Zunge war nicht nach hinten gerutscht und blockierte nicht seine Atemwege. Aber bevor er die Knöpfe des fadenscheinigen Hemdes gelöst hatte, wusste Jeff, dass der Brustkorb zerquetscht sein musste, und an zwei oder drei Stellen hatte der Alte offensichtlich Rippen gebrochen, die ihn am Atmen hinderten.

Jeff schluckte die Angst hinunter, die in seiner Kehle aufstieg.

George Andy Pell hatte ihn zum Fischen mitgenommen, ihm Geschichten erzählt und ihm die Dinge beigebracht, für die sein Vater keine Zeit gehabt oder die dieser als unwichtig erachtet hatte. Er hatte ihm gezeigt, dass es noch andere Dinge gab im Leben außer dem Geld und dem Prestige, das ein meisterlich geführtes Skalpell bringen konnte. Er konnte George nicht sterben lassen - er konnte es nicht!

Beeil dich, Nora, beeil dich, bat er innerlich, als er wieder den kaum wahrnehmbaren Puls fühlte. Die gebrochenen Rippen pressten einen Lungenflügel auf den anderen. Dadurch wurde Kohlendioxyd ein- anstatt ausgeatmet, und dem Blut wurde der Sauerstoff entzogen, den es brauchte, um das Herz in Gang zu halten. Das bedeutete Atembeschwerden, und die ersten Anzeichen waren bereits deutlich zu sehen.

»Um Gottes willen, Nora - beeil dich!«, sagte er laut, und seine Stimme klang fremd in seinen Ohren.

Plötzlich fühlte sich Jeff in seine Kindheit zurückversetzt, als George Andy sein Fels gewesen war, zu dem er sich flüchtete, wenn er sich zu Hause unwohl gefühlt hatte. Diese glückliche Zeit hatte nicht lange angedauert. Als er zehn Jahre alt war, nahm ihn seine Mutter mit in eine andere Stadt. Er war nicht überrascht gewesen. Mit der Weisheit des Kindes hatte er schon lange gefühlt, dass die Beziehung zwischen seinen Eltern nicht so war wie bei anderen Vätern und Müttern, die er kannte. Aber Jeff hatte sich gefürchtet. Sein Vater, Dr. David Benton, hatte nie viel Zeit für ihn gehabt, aber jetzt vermisste Jeff ihn. Oder vielleicht vermisste er auch nur den Anblick der blinkenden Instrumente in den Glasschränken, vor denen er so oft gesessen hatte und seinen Träumen nachgab. Was auch immer es gewesen sein mochte - in seinem Leben war eine Leere entstanden, die oft wie ein körperlicher Schmerz gewesen war.

Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn seine Mutter über ihr vergangenes Leben in Woodbridge gesprochen hätte. So jedoch trug er in sich eine Reserviertheit, die während der ganzen Jahre seiner Schul- und Universitätszeit angedauert hatte.

Das Studium war zermürbend für ihn gewesen - er hatte nebenher in einer Autowerkstatt gearbeitet, um sich die hartgekochten Eier und Sardinenbrote leisten zu können, von denen er lebte. Warum war er dann, als er seine Examen erfolgreich bestanden hatte, dem Ruf seines Vaters gefolgt und hatte nicht die Chance wahrgenommen, am Mayhugh-Universitätskrankenhaus eine Karriere zu machen? Ein kleiner Scheck seines Vaters während all dieser Jahre hätte ihm sein Studium leichter machen können und die Entscheidung zur Rückkehr wäre nicht so schwergefallen.

Bei dem Gedanken daran runzelte Dr. Jeffrey Benton die Stirn. Vielleicht hatte er kein Recht, seinen Vater zu kritisieren oder sich über das unerwartete Angebot zu wundem. Seine Mutter hatte seinen Vater so sehr gehasst, dass sie nicht einmal erlauben wollte, dass ihr Sohn Medizin studierte. Auch nach ihrem Tode hatte Jeff nie verbucht, herauszufinden, wie dieser Hass entstanden war. Er hatte seinem Vater eine kurze Notiz zukommen lassen und einen ebenso kurzen und nichtssagenden Brief als Antwort bekommen. Er hatte immer wieder daran gedacht, noch einmal zu schreiben, aber er hatte es nie getan.

Vielleicht war es nicht alles allein seines Vaters Schuld, hatte er sich eingestehen müssen, nachdem er die Einladung erhalten hatte, seine Praxis mit ihm zu teilen. Elizabeth Benton war verletzt und bitter gewesen, und einiges davon hatte auf ihren Sohn abgefärbt.

Woodbridge - auch daran dachte er jetzt - hatte sich nicht verändert. Die Hauptstraße führte immer noch den Berg hinunter und über den Cedar Creek, in dem George Andy und er so oft gefischt hatten. George Andy bewässerte immer noch die Gärten, schnitt die Hecken und brachte im Sommer die Fliegenfenster für die Leute an.

Jeff nahm das Stethoskop ab und gab es auf, dem unruhigen Herzschlag des alten Mannes zu lauschen. Er konnte nichts tun, bis die Ambulanz kam und Sauerstoff brachte.

Er trat einen Schritt zur Seite, damit sein Körper Andys Kopf vor den Sonnenstrahlen schützte, und zum ersten Mal dachte er: Warum keine Schnitte und keine Abschürfungen? Warum nur diese Verletzungen?

Dann hörte er den Wagen, der noch hinter der scharfen Kurve war, aus der er und Nora gekommen waren. Er sprang aus seiner Hockstellung auf und rannte in die Richtung, aus der die Motorgeräusche kamen.

»Langsam!«, schrie er und Winkte aufgeregt. »Langsam, Alt«, rief er noch einmal, als er den Fahrer erkannte.

Alton Ferdinand trat hart auf die Bremsen. Das kleine ausländische Auto schlitterte und hielt schließlich.

»Du lieber Gott, Jeff. Was ist los?«

»Ein Unfall. Nora holt schon Hilfe. Ich versuche zu tun, was ich tun kann.« Jeff fühlte sich, als sei seine eigene Brust eingezwängt. »Ich fürchte, viel ist hier nicht zu tun, Alt.«

Alton Ferdinand sprang aus dem Wagen und ging auf den leblosen Körper zu. Dann blieb er abrupt stehen.

»Mein Gott.«

Er wandte sich halb zu Jeff und blickte dann noch einmal auf die verkrümmte Figur auf der Straße. »Er hat heute Morgen noch für mich gearbeitet, Jeff. Das kann doch nicht wahr sein!«

Jeff sagte nichts. Er beugte sich wieder zu George Andy hinab. Das Gesicht des alten Mannes war aschfahl unter seiner wettergegerbten Haut, aber Jeff wagte nicht, ihn in eine andere Stellung zu legen. Ein Splitter vom Brustbein oder den Rippen konnte seine Lunge in Stücke reißen. Mach schnell, Nora, betete er wieder innerlich und wünschte, er hätte von ihr verlangt, auch das Krankenhaus zu alarmieren. Wenn sie George Andy einmal auf dem Operationstisch hatten und das zerbrochene Brustbein und die Rippen freilegen konnten, war ihm vielleicht noch zu helfen.

»Ich nehme an, derjenige, der ihn erwischt hat, hat ihn nicht rechtzeitig gesehen«, murmelte Alt Ferdinand.

»Das glaube ich auch.«

Alt Ferdinand zögerte und fragte dann: »Wird er - meinst du, er hat eine Chance?«

Seine Stimme hörte sich an, als fühle er sich ebenso wie Jeff, und zum ersten Mal in all den Jahren seit ihrer beider Kindheit fühlte Jeff etwas wie Zuneigung für Alton Ferdinand. Vielleicht war er doch menschlicher als man es hinter seiner Fassade erwartete.

Als Antwort schüttelte Jeff den Kopf.

Die Sonne war stechend heiß, er spürte sie durch sein Sporthemd. Für George Andy hätte sie eine Tortur bedeutet, wenn er bei Bewusstsein gewesen wäre. Wie lange er hier schon lag, wussten nur Gott und derjenige, der ihn angefahren hatte. Er sah zu Ferdinand auf.

»Hast du eine Ahnung, wohin er wollte, Alt?«

Alt Ferdinand schüttelte den Kopf.

»Er ist gegen Mittag bei mir fortgegangen, etwas später als Carolee. Ich nehme an, er wollte nach Hause zum Mittagessen.«

Aber du hast nicht gefragt und hast ihn auch nicht eingeladen, dachte Jeff ärgerlich und sagte: »Es sind doch vier oder fünf Meilen bis Woodbridge.«

»Du kennst doch George Andy. Er ist ein starrköpfiger alter Mann.«

Jeffs Wangenmuskeln versteiften sich. Ja, er kannte George Andy. Er kannte auch Alton Ferdinand und er wusste plötzlich, dass dieser nicht im Geringsten davon berührt war, dass der alte Mann hier lag und vielleicht sterben würde.

»Wenn ich gewusst hätte, dass er diesen Weg geht, hätte ich ihm angeboten, ihn mitzunehmen.«

Jeff bemühte sich, seine Abscheu nicht zu zeigen. Das warme Gefühl für Alt war wieder verschwunden. Selbst wenn Alt George Andy mitgenommen hätte, würde er es auf eine Art und Weise getan haben, als sei der alte Mann ihm unendliche Dankbarkeit schuldig. Er sagte:

»George Andy war gern selbständig.«

Alt zuckte die Achseln.

»Jeff«, sagte er dann langsam, »als ich vor einer halben Stunde hier vorbeikam, da lag er nicht hier.«

»Bist du ihm denn nicht irgendwo begegnet?«, fragte Jeff in scharfem Ton.

»Nein.« 

 

Jeff berührte George Andys unverletztes Gesicht mit sanften Fingern. Keine Abschürfungen. Keine gebrochenen Knochen außer denen in seiner Brust. Er versuchte sich an andere Unfälle zu erinnern, bei denen ein Mensch überfahren worden war, und dachte: Du lieber Gott, er muss doch irgendwelche äußeren Verletzungen haben! In seiner eigenen Brust wuchs ein sonderbares Gefühl des Erstaunens, und er erhob sich.

»Du musst ihn doch irgendwo auf dem Weg getroffen haben, Alt.«

Alton Ferdinand schien auch verwundert zu sein.

»Mein Gott, Jeff!« Alt sprach mit dünner Stimme, die im Angesicht dieser Situation ihre gewohnte Reserviertheit verloren hatte. »Du sagst damit, dass man - dass man ihn hierher brachte!«

Habe ich das gesagt, fragte sich Jeff. Einen langen Augenblick des Schweigens stand er vor George Andy und sagte dann:

»Ich weiß es nicht, Alt. Er hat weder Schnitte noch Abschürfungen. Das beunruhigt mich. Ich...« Er brach ab, als ein Wagen auf sie zukam. »Das ist Nora«, sagte er unnötigerweise.

Sie warteten schweigend.

»Wie geht es ihm?«, rief Nora, während sie den Wagen ausrollen ließ.

»Er lebt noch.«

Sie rannte auf sie zu und ließ sich neben George Andy auf den Knien nieder.

»Ich habe das Krankenhaus angerufen, Jeff«, sagte sie über ihre Schulter hinweg. »Sie machen den Operationssaal fertig. Ich habe auch die Polizei angerufen. Oh, Jeff«, schluchzte sie, »wer kann ihn nur so liegengelassen haben?«

Ein paar Minuten später traf die Ambulanz ein, und bald darauf lag George Andy in dem Wagen, bereit, die mehrere Meilen lange Fahrt ins nächste Krankenhaus anzutreten. Nora saß bereits in Jeffs Wagen.

Jeff wandte sich an Alton Ferdinand.

»Macht es dir etwas aus, zu warten, bis die Polizei kommt?«

»Natürlich nicht.«

»Sag ihnen, ich übernehme die volle Verantwortung für den Abtransport des Verletzten.«

Alt nickte steif, und als Jeff in den Krankenwagen kletterte und sich neben seinen Patienten setzte, dachte er, dass Alt Ferdinand sicherlich wünschte, er hätte sich einen anderen Tag ausgesucht, um aufs Land zu fahren.

»Fertig, Doktor?«, fragte der Fahrer.

»Fahren Sie!«

Einen Augenblick später fuhr der Wagen mit der sanften Geschmeidigkeit an, die Jeff immer mit einem Ambulanzwagen in den Händen eines geübten Fahrers verband.

Die Fahrt war schnell, aber sie schien endlos. Es war wie ein Wunder, dass George Andy durchhielt, aber wie lange konnte er das noch? Sogar mit der Hilfe des Sauerstoffs würden seine Lungen dem Druck der zerbrochenen Rippen nicht mehr lange widerstehen können.

Jeff war immer mehr beunruhigt über das völlige Fehlen von Abschürfungen und sonstigen äußerlichen Verletzungen. Angenommen, Alt hatte recht und George Andy war irgendwo anders überfahren und dann zu dieser mäßig befahrenen Stelle gebracht worden? Trotzdem hätte er andere Verletzungen haben müssen. Um Gottes willen, dachte er, George wird doch wohl nicht schon auf der Straße gelegen haben, als ihn ein Wagen anfuhr?

Er bedachte diese Möglichkeit sehr sorgfältig. Vor sechs Monaten hatte er den alten Mann untersucht, als er unter einer Grippe litt. Er war in relativ gutem Gesundheitszustand gewesen, aber bei George Andys Alter war eine plötzlich auftretende Krankheit nicht unmöglich. Oder die Hitze...

Dann waren sie im Krankenhaus angelangt.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

»Wie ist sein Blutdruck?«, fragte Jeff.

»Steigend.«

Jeff war sich der Hoffnung in seiner Stimme bewusst, als er ausrief:

»Gut!« Dann fragte er: »Was ist mit seinem Puls? Immer noch unruhig?«

»Ein wenig.«

Stirnrunzelnd machte sich Jeff wieder an seine Arbeit.

Der unruhige Puls beschäftigte ihn beträchtlich. Eine längere Betäubung war bei jeder Operation ein Risiko, aber in einem Fall wie diesem, wo keine Zeit war für die Vorbereitungen, die er sonst zu treffen pflegte, war das unvermeidliche Risiko weit größer.

Es war ihnen gerade noch Zeit geblieben, eine Röntgenaufnahme zu machen. Den Rest hatte Jeff aus seiner Erinnerung an jenen Krankenbesuch bei George entnehmen müssen. Er hatte dessen Grippe damals zum Anlass genommen, eine vollständige Untersuchung durchzuführen. Er hatte ihm sogar Blut entnommen, so dass er jetzt wenigstens George Andys Blutgruppe auf Anhieb wusste. Er machte noch einen Stich, dann einen Knoten und schnitt den Faden ab.

»Es dauert nicht mehr lange«, sagte er jetzt.

Er hatte bereits die Rippen auf der rechten Seite und das Brustbein stabilisiert und es blieben nur noch die Rippen der Unken Seite zu richten. Das jedoch war eine leichte Operation, denn es waren saubere Brüche. In ein paar Minuten würde der Anästhesist die Maske mit dem Betäubungsmittel abnehmen können. George Andy war zwar für die nächsten vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden nicht außer Gefahr, aber er hatte zumindest die erste Krisis überstanden.

Jeff stach die feine Nadel in das dünne Fleisch über George Andys Brustbein. Ein Stich und noch einer. Er arbeitete jetzt schnell und fühlte die Hoffnung in sich wachsen, dass der Alte wieder gesund werden würde. Durch Bluttransfusionen war sein Blutdruck gestiegen, und obwohl sein schwacher, unstetiger Puls noch Sorgen machte, war er doch schon viel besser

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Adeline McElfresh/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Robert Maguire/Christian Dörge.
Cover: Robert Maguire/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: N. N. (OT: Jeff Benton. M. D.).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2020
ISBN: 978-3-7487-5515-9

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