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Leseprobe

 

 

 

 

ADELINE MCELFRESH

 

 

ENTSCHEIDEN SIE SICH,

DR. KENYON

- Arztroman-Klassiker, Band 5 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

ENTSCHEIDEN SIE SICH, DR. KENYON 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

 

Das Buch

Der Gedanke, der sie Sekunden vor dem schrecklichen Ereignis überfallen hatte, kam von irgendwoher: Was war, wenn sie Brill wirklich nicht liebte? Was war, wenn ihre Zuneigung nur der Wunsch einer zu beschäftigten Ärztin gewesen war, ihre wenigen freien Stunden mit einem gleichgesinnten Menschen zu teilen?

Ihre schlanken Hände legten sich über ihre Augen, und ihre Wangen brannten bei diesem neuen Gedanken. Das war das schlimme mit den Ärzten, dachte sie. Man diagnostizierte sogar das eigene Herz.

 

Entscheiden Sie sich, Dr. Kenyon erschien erstmals im Jahre 1960; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1990. Der Roman erscheint in der Reihe ARZTROMAN-KLASSIKER aus dem Apex-Verlag, in der klassische Arztromane aus der goldenen Ära dieses Genres als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

  ENTSCHEIDEN SIE SICH, DR. KENYON

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Es würde mich wundem, wenn der es schafft.«

Brill Craydens Stimme kam dumpf hinter seiner Gesichtsmaske hervor. Ann, die wie Brill ihrem Chef, Dr. Scotlin, bei der Operation assistierte, schämte sich für seine Bemerkung. Aber Brill war eben so, obwohl er als Chirurg und Arzt nicht geschickter und sorgfältiger hätte sein können. Es war gut, dass der Patient auf dem Operationstisch und seine angstvoll wartende Familie ihn nicht hatten hören können, dachte sie, als sie Dr. Scotlin in schärferem Ton als gewöhnlich sagen hörte:

»Skalpell, Miss Vernon.« Die Schwester reichte ihm das Instrument.

Das hervorschießende Blut, das dem geschickten Schnitt in der Brust des Mannes folgte, löschte ihre Gedanken aus. Sie war jetzt nicht mehr Ann Kenyon, die Brill Crayden liebte, sie war jetzt nur noch Dr. Kenyon, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Operationsvorgang richtete. Dr. Scotlin, ihr Chef, war ein brillanter Chirurg und hingebungsvoller Arzt

Wenn doch nur Brill auch so wäre, dachte Ann.

Aber Brill war nicht so. Brill würde niemals so sein.

Die Operation schien länger zu dauern, als man angenommen hatte. Für Ann konnte das bedeuten, dass sie ihren Zug verpasste. Aber was machte es schon aus, einen Zug zu verpassen, wenn dieser hässliche dunkle Fleck, den sie bei den Röntgenaufnahmen entdeckt hatte, sich wirklich als bösartig heraussteilen sollte? Sie konnte immer noch einen späteren Zug nehmen. Wenn sie dann auch nicht die Ruhe eines reservierten Abteils genießen konnte, so hatte sie doch immerhin ein paar Stunden für sich selbst.

Es war so lange her, dass sie voll und ganz nach ihrem Gutdünken über ihre Freizeit verfügen konnte. Eigentlich sollte sie das nicht stören, denn sie liebte Brill Crayden und er sie, warum sollte sie also die Zeit bedauern, die sie mit ihm verbracht hatte? Warum erschienen ihr die langen Stunden der Zugreise plötzlich so wertvoll?

Es war nicht nur wegen gestern Nacht. Sie hatte bereits vor zwei Wochen gebucht, als die Operationsliste ihr erlaubte, für eine Woche abwesend zu sein. Für zehn Tage, wenn sie wollte, hatte Dr. Scotlin ihr angeboten. Hatte er die Anspannung gespürt, die sie zuweilen empfand, und die Zweifel, vor denen sie ihre Augen verschloss? Sie hatte sie nicht erst seit gestern Nacht, obwohl...

Dankbar für den Gesichtsschutz, der ihre Nase und ihren Mund bedeckte, biss Ann sich auf die Lippen. Sie hatte sich vorgenommen, nicht mehr an den gestrigen Abend zu denken, aber manchmal kam die Erinnerung daran ungewollt und schlagartig zurück. Da sie mit Brill zusammen arbeiten musste, denn Dr. Scotlin verlangte sie beide als Assistenten, war es nicht zu verhindern.

»Puls, Atmung und Blutdruck normal«, stellte Dr. Elbridger, der Anästhesist im gleichen Moment fest, als Dr. Scotlin diese Information benötigte.

Dr. Scotlin antwortete: »Gut Wir fangen an.«

Obwohl es relativ häufig vorkam, war es doch immer noch eine knifflige Angelegenheit, den Brustkorb eines Menschen zu öffnen, auch wenn die Rocky-Head-Klinik in Personal und Ausstattung den großen Kliniken in New York in nichts nachstand.

Ann war glücklich, dass das Schicksal ihr die nötige Kraft und das Talent gegeben hatte, bei einer solchen Operation mitwirken zu können. Bei einer solchen oder überhaupt bei einer Operation - denn seit den Tagen, als sie die medizinischen Notizen ihres Urgroßvaters entdeckt hatte, war es ihr sehnlicher Wunsch gewesen, eines Tages Ärztin zu sein.

Ihr Großvater und ihr Vater waren beide Landärzte gewesen, ihr Urgroßvater Chirurg wie sie. Ihre Eltern hatten sie bei ihrem Wunsch nach Kräften unterstützt. Sie hatten zwar darauf hingewiesen, dass der Chirurgenberuf für eine Frau nicht leicht sein würde, aber wenn das ihr Wunsch und ihr Ziel sei, dann solle sie versuchen, eine gute Chirurgin zu werden. Anns Mund verzog sich zu einem zärtlichen Lächeln, als sie daran zurückdachte. Wie stolz ihr Großvater und ihr Vater gewesen wären, wenn sie noch miterlebt hätten, wie man ihr eine Stellung als Assistenzärztin in der Rocky-Head-Klinik anbot!

Jetzt erkannte sie bereits das Rippenfell unter Dr. Scotlins geschickten Händen, die in Gummihandschuhen steckten. Bald würden sie sehen, ob der Tumor gutartig oder bösartig war. Selbst wenn er bösartig sein sollte, vielleicht hatte er noch keine Metastasen gebildet...

Ann wusste, dass auch Dr. Scotlin von diesen Fragen geplagt wurde. Ebenso Brill, der wie sie Dr. Scotlin geschickt assistierte. Sie waren ein großartiges Team - vom ersten Tag an, als Brill vor einem Jahr nach Rocky Head gekommen war. Sein erster Tag in der Klinik war anstrengend gewesen, denn sie hatten eine lange Operationsliste gehabt. Er hatte es seine Skalpelltaufe genannt. Der Tag hatte mit Steaks und Salat geendet, und sie, Ann Kenyon, die für Männer in ihrem Leben nie Zeit gehabt hatte, war verliebt gewesen.

Ärgerlich über diese neuerlichen Erinnerungen, verrückte Ann ein wenig den Schlauch, mit dem das Blut abgesaugt wurde.

»Machen Sie mir noch etwas mehr Platz, Brill«, sagte der Chirurg.

Brill öffnete die Öffnung ein wenig mehr.

»Sehen Sie etwas?«

»Ja, die krebsbefallene Zone. Klein, aber...« Dr. Scotlin brach ab. »Dort ist ein Knoten - und noch einer. Elbridger...«

»Ja, alles bereit.«

Ann holte tief Luft. Sie konnte bereits den Besuch bei Dot und Rieh vergessen. Sie würde noch einige Stunden im OP zubringen und konnte vielleicht nicht einmal vor morgen früh abreisen.

»Ann?«, fragte Dr. Scotlin, und in ihren Augen stand ein kleines Lächeln, als sie erwiderte: »Bereit.«

»Ich dachte an Ihre Buchung. Miss Lucerno kann anrufen.«

»Ja, bitte«, sagte Ann zu der Schwester, die neben ihr stand.

Es war typisch für Dr. Scotlin, dass er es für selbstverständlich ansah, dass sie bleiben würde. Aber sie erwartete auch nichts anderes von ihm und wünschte sich ihr Verhältnis so. Gleichzeitig machte er sich jedoch Gedanken um ihr späteres Fortkommen.

»Ich sollte mein Ticket am Bahnhof abholen«, sagte sie jetzt zu der Schwester. »Grand Central Station. Könnten Sie versuchen, eine Reservierung für einen späteren Zug für mich zu bekommen?«

Die Schwester entfernte sich auf leisen Gummisohlen, und wenn es eine Unterbrechung im Operationsablauf gegeben hatte, so war sie kaum spürbar gewesen. Dr. Scotlin war bereits dabei, den Schnitt um die Wucherung herum zu erweitern, wobei ihre und Brill Craydens Hände ihm Hilfestellung leisteten.

 

Die Stunden, die dann folgten, schienen Ewigkeiten zu sein. Der Krebs hatte bereits Metastasen gebildet, und wenn sie derzeit auch nur kleine Knötchen waren, so waren sie doch vorhanden, bereit, die Brust und die Atemwege des Mannes zu zerstören. Ann seufzte unhörbar. Sie würden ihr Bestes tun, um den Mann zu retten, aber selbst dann würde es lange dauern, bis sie wissen konnten, ob sie mit der Operation Erfolg gehabt hatten. Fünf Jahre, dachte Ann. Fünf Jahre, bis dieser Mann endlich in Frieden atmen konnte, und selbst dann... Armer Mann.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Brill: »Ich gebe ihm noch ein Jahr. Stimmt irgendeiner für zwei - oder seid ihr noch vorsichtiger mit der Diagnose?«

Ann sah nicht auf. Sie erlaubte ihren schlanken, geschickten Händen keine Pause, aber seine Worte hatten sie schockiert.

»Brill, um Gottes willen...«

Der Klang ihrer Stimme war so elektrisierend, wie der von Brills Worten gewesen war. Chirurgen pflegten sich während einer Operation, bei der ein Patient mit offenem Brustkasten vor ihnen lag, nicht so anzusprechen, aber die Bemerkung war ihr entschlüpft, verursacht durch die Kälte, mit der er seine Worte vorgebracht hatte.

»Es tut mir leid, Doktor«, entschuldigte sie sich.

»Sie meint Sie, Doktor Scotlin, fürchte ich«, sagte Brill sarkastisch.

Dr. Scotlin schien keinen von beiden gehört zu haben.

»Schweiß«, sagte er, und die Schwester, die ihm am nächsten stand, tupfte seine Stirn mit einem sterilen Tuch ab.

Ann konnte den Knoten kaum erkennen, auf den Dr. Scotlin nun deutete. Er lag in festem Gewebe eingebettet, und es waren diese Knoten, die dem Auge des Chirurgen am leichtesten entgehen konnten, und durch die Suche nach ihnen erstreckte sich die Operation so endlos. Wie viele Knoten hatten sie bereits lokalisiert und entfernt? Sie hatte längst aufgehört zu zählen. Im Moment war es wichtiger, das Leben dieses Mannes zu retten, das in ihren Händen lag.

»Das hier ist der Unruhestifter«, erklärte Dr. Scotlin und arbeitete an dem Knoten, der sehr klein zu sein schien.

Plötzlich dachte Ann wieder an ihren Zug.

Die einfachste Lösung würde sein, ein Flugzeug zu nehmen, aber sie hatte eine starke Abneigung gegen das Fliegen. Im Zug konnte sie sich erholen und nicht mehr an New York denken. Nicht einmal an Brill.

Heute hatte sie einen nicht zu anstrengenden Tag gehabt. Es hatten weniger Operationen als gewöhnlich auf ihrem Plan gestanden. Selbst diese hier, mit Brill an ihrer Seite, war erträglich, obwohl sie sich seiner Gegenwart stets bewusst war. Aber wenn sie erst im Zug saß und aus Ann Kenyon, der Ärztin, wieder Ann Kenyon, die Frau, wurde...

Ich liebe dich, Brill, schrie ein Teil ihrer selbst innerlich. Aber was ist aus uns geworden?

Ann Kenyon, die Ärztin, hörte das nicht.

»Schwamm«, sagte sie und wechselte ihn innerhalb von Sekunden aus.

»Wie spät ist es?« Der Chefarzt stellte die Frage, ohne aufzusehen, und Ann überlegte einen Moment, ob er sich vielleicht wegen der ausgedehnten Narkose Sorgen machte. Dann sagte er: »Wenn ich das nächste Mal einen winzigen Schatten auf den Röntgenbildern entdecke...«

Er brach ab, als Dr. van Every sagte:

»Fast fünf. Noch drei Minuten.«

Drei Minuten vor fünf - und es war gerade eins gewesen, als Dr. Elbridger den Patienten für die Operation als bereit erklärt hatte. Ann befeuchtete ihre Lippen. Kein Wunder, dass sie müde war.

 

Gestern hatte sie gegen fünf Uhr die Röntgenaufnahmen betrachtet, die Dr. Scotlin ihr zeigen wollte. Erst nach sechs hatten sie den Fall ausgiebig besprochen, und Brill wollte gegen sieben kommen. Ann war zügig zu ihrem Apartment gefahren und hatte geduscht. Als Brill klingelte, legte sie gerade Lippenstift auf. Jede Einzelheit kam ihr wieder ins Gedächtnis zurück.

»Eine Sekunde, Liebling!«, rief sie zur Tür hin.

»Aber wirklich nur eine!«, rief er zurück.

Beim Klang seiner Stimme hatte alle Müdigkeit sie verlassen, und Ann lächelte ihrem Spiegelbild zu. Ich liebe dich, Brill Crayden, dachte sie. Sie teilte dieses Wissen mit der schönen, dunkelhaarigen jungen Frau im Spiegel, deren rotbraunes weiches Wollkleid hervorragend zu ihrer Haarfarbe passte. Ich liebe dich, liebe dich!

Ihr Herz sang sehr unvernünftig als sie zur Tür ging und öffnete.

»Entschuldige, Brill.«

»Die Vorfreude hat mir das Warten erleichtert.« Seine Augen streichelten sie. »Scotlins Brustkrebs?«

Ann nickte.

»Das ist morgen«, sagte er und zog sie in seine Arme. »Heute Abend sind wir für uns da, Liebling.« Er küsste sie, nicht auf den Mund, sondern auf ihre pulsierende Halsschlagader. »Versprochen?«

»Versprochen, Brill.« Sie flüsterte es, denn in ihrer Kehle steckte ein Klumpen. Oh, Brill, ich liebe dich so! Ich sehne mich nach dir! Sie holte tief Atem. »Für Doktor Scotlin ist es keine Sache, die er bis morgen vergessen kann.« Und für den Patienten auch nicht, fügte sie für sich hinzu.

»Keine Diskussion bitte. Wahrscheinlich wird er heute Abend bei Aperitif im Geiste die Brust öffnen, beim Hauptgang nach den Knoten suchen und den Tumor beim Dessert finden. Und was bringt das schon? Du und ich, Liebling, wir sind jetzt zusammen.« Er küsste sie wieder und war bemüht, ihren Lippenstift nicht zu verwischen. »Fertig?«

»Fertig.«

Es wurde ein wunderschöner Abend. Sie aßen große Steaks in einem kleinen Restaurant, saßen lange bei ihrem Kaffee und fuhren später auf Brills Vorschlag zu ihrem Apartment, da der Abend wie geschaffen schien für ein Kaminfeuer.

»Es ist schade, dass die Klinikzimmer keinen Kamin haben«, sagte sie, als sie es sich auf dem Sofa bequem machte. »Stell dir vor, wie schön ein Feuer für die Patienten in der Nacht vor der Operation wäre!«

»Lass das nicht Schwester Vernon hören!«

»Du magst sie nicht, nicht wahr?«

»Frauen sollten nicht so verflixt tüchtig sein.«

Lächelnd neckte Ann: »Nicht einmal in der Chirurgie?«

»Nicht einmal in der Chirurgie«, erwiderte er, als er sie an sich zog. Sein Mund, zunächst zärtlich, wurde leidenschaftlich und fordernd.

Beide schwiegen, als der Kuss vorüber war. Es war fast so, als dürfe der Bann nicht durch Worte gebrochen werden, dachte Ann, und beide lauschten dem Prasseln des Feuers und dem Heulen des Januarwindes, der um das Haus tobte. Anns Herz klopfte so laut, dass Brill es hören musste, und sie teilten etwas Wunderschönes miteinander.

Was für ein dummer Gedanke, schalt sie sich dann selbst. Natürlich hatten sie etwas Gemeinsames, das wunderschön war! Sie liebten sich, hatten sich vom ersten Tage an geliebt und würden sich lieben, bis – oh, Brill! Brill! Küss mich, Brill!

Aber die stumme Bitte blieb ungehört, und als er seine starken Arme um ihre Taille legte und sie an sich zog, schob sich ihre Hand vertrauensvoll in seine. Dot und Rieh würden Brill mögen. Sie würde ihnen am Wochenende davon erzählen. Die beiden hatten ihre Praxis für ein paar Tage geschlossen und wollten sie in St. Louis treffen. Dot würde erfreut ausrufen: »Hab’ ich es dir nicht gesagt, Ann? Wenn du dich verliebst...«

Ann lächelte still vor sich hin in der Erinnerung. Sie, Dorothy Linden und Richard Grenfell hatten gemeinsam die medizinische Fakultät besucht, und sie war bei Dots und Richs Hochzeit Trauzeugin gewesen.

»Brill.«

»Hmm?«

»Ich muss um sieben zur Operation antreten.«

Einen Moment lang schwieg er. Dann rückte er von ihr ab.

»Das heißt also, gute Nacht, Doktor Crayden?«

»Nein, gute Nacht, Brill - Liebster«, korrigierte sie ihn.

»Ann...« Willig ließ sie sich in seine Arme nehmen. »Ann, Liebste ..Seine Worte streichelten ihre Lippen. »Es muss nicht gute Nacht sein, Liebling.«

»Brill, bitte!«

Sein Mund, der sich hart auf ihren presste, unterbrach sie. Brill, bitte!, flehte sie innerlich. Es wurde ein langer Kuss, der sie schließlich erschöpft gegen ihn sinken ließ, und ihr Flüstern kam einem Schluchzen verdächtig nahe: »Brill...«

Wieder küsste er sie - ihren Mund, ihre Augen und ihren Hals.

»Darf ich bleiben, Liebste?«

»Nein, Brill!«

Er starrte sie überrascht an, und einen Moment lang dachte Ann, dass sie es ihm nicht übelnehmen konnte. Sie hatte seine Leidenschaft erwidert - und wie sie sie erwidert hatte! Aber, Liebling, versteh mich doch, flehte ihr Herz, als es aus ihm herausbrach:

»Was ist eigentlich mit dir los? Mein Gott, Ann! Es ist doch nicht, als ob wir Kinder wären.«

 

Wieder kam ihr die ganze folgende hässliche Szene in den Sinn und wie es die ganze Nacht gewesen war, als sie schlaflos und mit offenen Augen in ihrem Bett gelegen hatte.

Dann sagte Dr. Scotlin, aus dessen Stimme die Erschöpfung der vergangenen fünf Stunden klang: »Das dürfte es sein. Würden Sie bitte nähen, Ann?«

Überrascht, weil sie erwartet hatte, dass diese Aufgabe Brill zufallen würde, erwiderte Ann: »Natürlich, Doktor«, und nahm die Nadel und den feinen Faden von Schwester Vernon entgegen.

Jetzt lagen Brill Crayden und der Streit der vergangenen Nacht in einer anderen Welt.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Die Operation war vorüber; die Spannung, die sie alle in ihrem Bann gehalten hatte, ließ nach. Dr. Scotlin war, nachdem er sich umgezogen hatte und einen neuen weißen Kittel trug, dem Patienten in sein Zimmer gefolgt.

Brill hielt Ann an der Tür zum Waschraum an. Sie ließ sich Zeit, als sie sich umwandte.

»Ja, Brill?« Der kühle Ton passte nicht zu Ihrem heftigen Herzklopfen, und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass Brill das auch wusste.

»Gute Arbeit.«

»Danke, Brill.« Danke, Brill, dass du unpersönlich bleibst dachte sie, sagte es jedoch nicht. »Ich muss mich beeilen, Brill.«

»Ich fahre dich hin.«

»Bitte nicht, Brill.«

Er zuckte die Achseln.

»Wie du willst.« Für einen Moment blitzte die alte Wut von gestern wieder in seinen Augen auf. »Scotlin scheint sauer zu sein.«

Ann holte tief Luft

»Das kann ich ihm nicht verdenken, Brill.«

»Das hast du ziemlich deutlich gezeigt. Brill! Um Gottes willen...«, ahmte er ihren Ausbruch nach, jedoch in leisem Ton, damit die anderen ihn nicht hören konnten. »Es hörte sich an, als hätte ich die Hauptarterie durchschnitten.«

»Es tut mir leid, Brill.«

»Das hast du auch bereits gesagt«, erinnerte er sie. »Was ist eigentlich mit dir und Scotlin los? Was ist denn so geheiligt an einem Operationsraum?«

Ann antwortete nicht. Sie drückte die Waschraumtür auf und ging hinein, sich innerlich so leer und hölzern fühlend wie gestern Nacht.

Oh, Brill!, schluchzte es in ihr. Hastig reinigte sie sich und schlüpfte in den eleganten schwarzen Hosenanzug, den sie heute Morgen getragen hatte, weil er als Reisekleidung sehr angenehm war. Ein paar Minuten später ging sie durch eine selten benutzte Tür in die chirurgische Abteilung hinüber. Zum ersten Mal, seit sie in diese Klinik gekommen war, konnte sie sie nicht schnell genug verlassen.

 

Die Berge, die langsam an ihnen vorbeizogen, waren schneebedeckt und wunderschön. Die kleinen Dörfer, in denen der Zug halt machte, waren eingeschneit.

Mit einem Seufzer wandte Ann sich vom Fenster ab.

»Ich weiß, wie Sie sich fühlen, Kleines«, sagte ihre Sitznachbarin zu ihr, und als Ann ein schwaches Lächeln für sie zustande brachte: »Es ist immer offensichtlich, wenn jemand einen Menschen verloren hat.«

»Wie?« Ann fuhr überrascht zusammen. Dann fiel ihr ein: Ihr schwarzer Anzug sah nach Trauerkleidung aus.

»Ich sitze schon die ganze Zeit hier und frage mich, ob ich Sie darauf ansprechen soll.«

»Es ist schon gut.«

Die Frau, eine plumpe, einfache Erscheinung, schien das für den Augenblick zu akzeptieren. Ann unterdrückte einen weiteren Seufzer, denn sie wollte sich nicht unterhalten, erst recht nicht mit einer Person, die ihr unbekannt und sich überdies so sehr im Irrtum befand.

Sie hatte Brill nicht verloren, es war nur so, dass sie... Sie schloss ihre Augen, um die plötzlichen Tränen nicht zu zeigen. Brill hatte recht. Was war mit ihr los? Schließlich waren sie beide erwachsen. Aber musste er ihr diese Tatsache so brutal ins Gesicht schreien?

Ann, die die Augen der Frau auf sich fühlte, öffnete ihre gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Frau ihren Blick abwandte. Oh, Gott, dachte sie und wünschte, sie hätte auf den nächsten Zug gewartet, wo sie ein Abteil für sich hätte haben können. Aber sie hatte nicht warten wollen, und die Frau hatte sie kurz nach dem Einsteigen nervös und irgendwie ängstlich gefragt, ob der Platz an ihrer Seite noch frei sei. Nun, soll die doch denken, dass Brill - dass irgendjemand gestorben sei.

Irgendetwas war auch gestorben. Ein Teil von ihr. Es war im Taxi von der Klinik zum Bahnhof in Agonie verfallen. Brill, dachte sie unglücklich und versuchte, sich auf das Stampfen des Zuges zu konzentrieren, um im Schlaf Ruhe zu finden.

Eine ganze Weile später bewegte sich die Frau neben ihr. Unangenehm berührt, blickte Ann auf.

»Ich bin Matilda McAnders.« Ann war überrascht, dass die Frau sich nach diesen langen Stunden des Beieinanderseins vorstellte. Bisher hatte sie sich damit begnügt, still neben ihr zu sitzen. »Wenn irgendetwas passieren sollte...«

Sie hat Angst, die Arme, dachte Ann mitleidig, so wie ich vor Flugzeugen, und sagte freundlich: »Sie brauchen keine Angst zu haben. Es wird nichts passieren.«

»Ich weiß es nicht. Ich habe letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen, und mein Betttuch hätte auch mein Leichentuch sein können.«

»Wahrscheinlich haben Sie zum Abendessen etwas Schwerverdauliches gegessen«, sagte Ann lächelnd.

»Nein, das war es nicht. Ich hatte Schweinekoteletts und... Sie glauben mir nicht.« Eine kleine, mit braunen Flecken übersäte Hand drückte die Anns, die ein medizinisches Journal in der Hand hielt, in dem zu lesen sie vorgegeben hatte. »Ich nehme es Ihnen nicht übel, meine Liebe. Menschen, die das zweite Gesicht nicht haben, können es einfach nicht verstehen. Mein Großvater hatte es nicht, und er lebte sechsunddreißig Jahre mit meiner Großmutter. Der Rest meiner Familie hat es auch nicht, und ich verstehe bis heute nicht, warum meine Großmutter ausgerechnet mich dazu erwählt hat, es mir weiterzugeben.« Sie glättete ihren einfachen Tweedrock mit der Hand und schien stolz, wenn auch nervös.

Ann hatte bereits über diese Dinge gelesen, aber jetzt saß eine Frau neben ihr, die tatsächlich beanspruchte, das zweite Gesicht zu haben. Sie fragte: »Meinen Sie - Ihre Großmutter hat Ihnen diese Macht übergeben?«

Die Frau nickte.

»Sie rief mich kurz vor ihrem Tode an ihr Bett und sagte mir, dass jemand in der Familie es haben solle, wie es in unserer Familie immer gewesen war, und sie hätte mich dazu auserwählt Eines Tages würde ich verstehen warum, sagte sie, und eines Tages müsse ich diese Gabe weitergeben.« Sie holte tief Luft. »Ich sage Ihnen, Miss...«

»Kenyon«, half ihr Ann, und die Frau fuhr fort:

»Ich fürchtete mich. Ich wusste vorher schon, dass Großmutter sterben musste, aber im gleichen Augenblick, als

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Adeline McElfresh/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Rudy Nappi/Christian Dörge.
Cover: Rudy Nappi/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: N. N. (OT: Ann Kenyon, Surgeon).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2020
ISBN: 978-3-7487-5509-8

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