WAYNE D. OVERHOLSER
Showdown in Stony Crest
Roman
Apex Western, Band 36
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
SHOWDOWN IN STONY CREST
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Das Buch
Ben Shortt hatte die größte Ranch auf der Mesa. Aber sein Hunger nach Macht war unstillbar. Jetzt suchte er den Kampf mit den Siedlern am Fluss, denn er wollte seine Rinder auf ihrem Land weiden lassen. Jedes Mittel, sein Ziel zu erreichen, war ihm recht, und er kaufte sich Sam Marks, einen berüchtigten Revolverhelden.
Jeff Ardell stellte sich auf die Seite der Siedler. Und damit stand er auf der Abschussliste von Ben Shortt.
Auf der Mesa jagten ihn Shortts Leute - und in Stony Crest wartete Sam Marks, um für einen schnellen und gut gezielten Schuss tausend Dollar Kopfgeld zu kassieren...
Wayne D. Overholser (* 4. September 1906 in Pomeroy, Washington; † 27. August 1996 in Boulder, Colorado) war ein US-amerikanischer Western-Schriftsteller; er gilt als einer der bedeutendsten Western-Autoren.
Der Roman Showdown in Stony Crest erschien erstmals im Jahre 1957; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1972 unter dem Titel Abrechnung in Colorado.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Western-Literatur in seiner Reihe APEX WESTERN.
SHOWDOWN IN STONY CREST
Erstes Kapitel
Die Main Street von Starbuck war eine Grenze. Man konnte sie nicht sehen und nicht berühren, und doch wirkte sie genauso nachhaltig wie ein Stacheldrahtzaun. Südlich der Trennungslinie, auf der einen Straßenseite, lagen der Belle Union Saloon, Wellmans Store und der Red-Front-Mietstall. Ihre Kunden waren Farmer und kleine Rancher. Auf der anderen Straßenseite beherrschten die wohlhabenden Rancher, die hier unter dem Namen Die großen Vier bekannt waren, das Geschäftsleben. Jeff Ardell gehörte zu dieser Gruppe; aber er ritt trotzdem und mit voller Absicht genau auf der Mitte der Straße.
Jeff war einer der wenigen Männer im Westen des Sandoral County, der seine Geschäfte auf beiden Seiten der Straße abwickelte. Während die Sonne langsam nach Westen wanderte, ritt er über den staubigen Lehm und grübelte über die Verbohrtheit und Gier nach, die diese Zweiteilung herbeigeführt hatten. Solange sein Vater Matthew noch auf den Beinen war, hatte es sie nicht gegeben. Angefangen hatte das erst vor drei Jahren - ungefähr von dem Zeitpunkt an, als sein Vater von einem Pferd getreten worden war und seitdem sein Leben im Rollstuhl fristen musste.
Eine lange Reihe von Pferden war auf der Südseite der Straße angebunden, aber keins auf der nördlichen, ausgenommen Nikki Shortts Wagenstute vor dem Haus des Geistlichen Miles Rebus. Aber das zählte nicht mehr, weil das Gebäude am Rande der Stadt lag.
Es bestand eine stillschweigende Übereinkunft, dass die Südseite bis zum späten Nachmittag frei gemacht werden musste. Nach Anbruch der Dunkelheit würden dann die Holme auf der Nordseite voll besetzt sein. Auf diese Weise vermied man die sonst unvermeidlichen Reibereien. Aber Jeff war sich darüber im Klaren, dass diese Regelung niemals von Dauer sein konnte.
Jeff beabsichtigte, in Wellmans Store einzukaufen. Dann musste er noch auf der anderen Seite in Doc Bennets Drugstore eine Medizin für seinen Vater besorgen, und im Anschluss daran wollte er bei Miles Rebus vorsprechen, um sich dort mit Nikki zu treffen. Aber gerade, als er am Belle Union Saloon vorbeikam, trat Lacey Dunbar durch die Schwingtür und rief: »Jeff, komm doch rein und trink einen Schluck mit.«
Wenn es nicht Dunbar gewesen wäre, hätte Jeff abgelehnt. Aber Lacey war sein bester Freund. »Ich komme, Lacey«, sagte er und suchte sich ein freies Stück am Haltegeländer. Dann saß er ab, schlang die Zügel seines Pferdes um die Stange und ging in den Saloon.
Etwa fünfzehn Männer lehnten an der Bar - das Gesindel der Gegend, wie Ben Shortt sie zu bezeichnen pflegte. Shortt besaß mit der Wineglass-Ranch das größte Anwesen in diesem Landstrich. Er war Nikkis Großvater. Shortt konnte über diese verwandtschaftliche Beziehung froh sein, Nikki weniger. Wenn sie sich ihren Großvater hätte aussuchen dürfen, wäre sie gewiss nicht auf Ben Shortt verfallen.
Dunbar schlug Jeff auf die Schulter. »Bestell dir etwas, Junge«, ermunterte er ihn. »Tom bezahlt die Runde.«
Tom Barren, der erste in der Reihe, grinste Jeff gequält an. »Sieht so aus, als käme ich nicht drum herum«, meinte er. »Was soll es denn sein?«
»Bier«, sagte Jeff. Sein Blick wanderte von Tom Barrens glattrasiertem, schmalem Gesicht zu den sommersprossigen Zügen Red O'Tooles, der am Ende der Bar stand. Nach und nach verstummte das Stimmengemurmel, und die Männer wandten sich langsam Jeff zu, Jeff sah Dunbar an und fragte: »Wessen Begräbnis wird hier eigentlich gefeiert?«
»Unser aller, wie es scheint«, versetzte Lacey.
Der Barkeeper brachte das Bier und begann einzuschenken. Abe Wellman, der Besitzer des Ladens nebenan, war anwesend, außerdem Barney Hollis, der den Red-Front- Mietstall leitete. Die Not führt seltsame Freunde zusammen, schoss es Jeff durch den Kopf.
Lacey Dunbar stand abseits. Er war ein Einzelgänger. Unter normalen Umständen würde er sich nicht hier aufhalten, denn er unterhielt zu den anderen ebenso wenig engere Beziehungen wie Jeff Ardell. Dunbar gehörte eine Pferderanch am jenseitigen Ufer des Deer Creek nahe bei der Grenze nach Utah. Während des Roundups arbeitete er für Jeff, sonst lebte er allein. Er trug sein Haar lang und hatte sich seit Jahren nicht mehr rasiert. Nur selten kam er in die Stadt - wenn, dann nur, um das Notwendigste einzukaufen.
Jeff trank sein Bier. Das Schweigen war bedrückend. »Warum wollt ihr mich sprechen?«, fragte er schließlich.
»Keiner von uns weiß genau, was man davon halten soll«, antwortete Tom Barren. »Wir sind nichts weiter als Viehdiebe und Räuber, die von Rechts wegen aus dem Lande verjagt werden müssten. Jedenfalls behauptet das Ben Shortt.«
»Ihr solltet wissen, dass ich diese Meinung nicht teile«, entgegnete Jeff. »Ben hat das Recht, über euch zu denken, was er will - genauso, wie ihr von ihm denken könnt, was ihr wollt.«
Barren strich sich mit der Fingerspitze über seinen sorgfältig gestutzten Schnurrbart. Er war vierzig Jahre alt, schlank und mittelgroß. Für die Männer hier stellte er so etwas wie einen Anführer dar. Er hatte nicht geheiratet und lebte allein am Deer Creek am Rande der Red Mesa. Die Ardells schätzten ihn sehr, und er weilte oft als Gast auf der Rafter A. Jeff allerdings hatte ihn nie leiden können.
»Wenn ihr nicht wisst, was ihr davon zu halten habt, will ich es euch gern sagen«, erklärte Dunbar, zog ein zerknittertes Stück Papier aus der Tasche und reichte es Jeff. »Wir alle haben es bekommen. Teufel auch, vergessen wir, dass du ein reicher Mann bist. Ausschlaggebend ist, dass du nicht auch Shortt in den Hintern kriechst.«
Floyd Deems, der Eigentümer der Ranch unterhalb von Tom Barrens Anwesen am Deer Creek, nickte. »Ihr Vater ist ein prächtiger Mann, Jeff. Er hat Ben Shortt immer die Meinung gesagt. Jetzt wollen wir wissen, was Sie zu tun beabsichtigen.«
»Nichts«, antwortete Jeff. »Ich bin nicht mein Vater.«
Er glättete das Papier und überflog Ben Shortts große und weit auseinandergezogene Schrift. »Verkauft und verlasst das Land, solange ihr das noch könnt. Wenn ihr einen Käufer sucht, wendet euch an mich. Ben Shortt.«
Jeff gab den Fetzen zurück. Eigenartig, dachte er, wie die Leute in den Tag hinein lebten, wie sie wussten, dass irgendetwas passieren würde, während sie die ganze Zeit hofften, dass nichts geschehe, und wie sie dann, wenn es soweit war, völlig unvorbereitet dastanden.
»Ist einer von euch vielleicht zufällig bei Shortt gewesen und hatte ihn gefragt, wieviel er zahlen würde?«, fragte er.
»Nein«, erwiderte Red O'Toole unwirsch. »Und es interessiert uns auch nicht. Natürlich sind wir nicht gerade mit Reichtümern gesegnet, aber es ist allein unsere Angelegenheit, ob wir bleiben oder nicht. Wir schuften nicht, um uns von Ben Shortt Vorschriften machen zu lassen.«
»Mit diesen Briefen habe ich nichts zu tun«, sagte Jeff.
»Das wissen wir«, mischte Barren sich ein. »Aber jeder Mann in diesem Gebiet, der sich dagegen wehrt, ist für uns wichtig. Auf welcher Seite stehen Sie, Jeff?«
Ätzende Schärfe lag nicht nur in Tom Barrens Stimme, sondern auch sein ganzes Wesen war aggressiv. Seine Nase war schmal und spitz, ebenso sein Kinn. Seine Augen schimmerten matt wie grünes Eis, und er strahlte nicht die geringste Spur menschlicher Wärme aus.
Jeff hatte sich bisher niemals Gedanken darüber gemacht, aber jetzt, während er Barren musterte, wurde er sich bewusst, dass darin der Grund für seine Abneigung lag. Nicht einmal Ben Shortt mit all seiner Raffgier und seinem Machthunger strahlte eine derartige Kälte aus.
Jeff zögerte und versuchte, den Zorn über Barrens unverschämten Ton zu unterdrücken. Es fiel ihm schwer. »Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig, Tom«, sagte er schließlich und wandte sich zum Gehen.
Aber Dunbar hielt ihn zurück. »Ein Cowboy von der Wineglass hat uns gestern Morgen Shortts Brief ins Haus gebracht«, sagte er. »Was will der Alte? Mehr wollten wir von dir nicht wissen.«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Jeff. »Oder glaubst du, ich würde es dir nicht sagen?«
»Und was ist mit Hank Dolan und Steve Lawrence?«, fragte Floyd Deems. »Wollen sie weiterhin an einem Strick mit Shortt ziehen?«
Lawrence und Dolan gehörten zu den großen Vier. Jeff ließ sich Deems' Worte durch den Kopf gehen und fragte sich, ob Shortt sich mit den beiden beraten hatte oder ob dieser Plan sein eigenes Werk war. Vielleicht hoffte er, dass Jeff, Dolan und Lawrence ihre Zustimmung nachträglich geben würden.
»Auch darüber bin ich nicht orientiert«, sagte Jeff. »Shortt hat mir gestern eine Nachricht geschickt, in der er mich aufforderte, morgen Nachmittag zur Wineglass zu kommen. Wahrscheinlich werde ich dann erfahren, was er vorhat.«
»Wir sitzen alle in der gleichen Patsche«, brummelte Abe Wellman. »Alle hier im Raum schulden mir Geld - außer Ihnen natürlich, Mr. Ardell. Wenn Ben Shortt tatsächlich sämtliche Leute verscheuchen will, deren Nase ihm nicht passt, bin ich ruiniert.«
»Shortt nennt uns dauernd Viehdiebe«, brauste O'Toole auf. »Und das habe ich langsam satt. Schon möglich, dass er ein paar Rinder verloren hat, aber ich schätze, er benutzt diese Tatsache nur als Vorwand, um auf die billigste Weise seine Weide zu vergrößern.«
Lacey Dunbar verzog verächtlich die Lippen. »Immer mit der Ruhe, Red«, sagte er dann lässig. »Niemand behauptet, dass Sie der einzige sind, der sich ab und zu an fremdem Eigentum vergreift. Mir schmeckt Wineglass Rindfleisch genauso wie Ihnen, und ich wette meinen letzten Dollar, dass Sie in den vergangenen fünf Jahren nicht einen einzigen von Ihren eigenen Stieren geschlachtet haben.«
»Darauf kommt es doch gar nicht an«, mischte Barren sich ein. »Shortt kann sich diese geringen Verluste leisten. Aber er bläht sich auf, als hätten wir damit ein Kapitalverbrechen begangen. Und das haben wir auf keinen Fall!«
Trotz seiner entschiedenen Worte war der Zweifel in seiner Stimme unüberhörbar, und Jeff spürte, dass alle von dieser Unsicherheit geplagt wurden. Sie würden nicht Zusammenhalten. Genau das war es, worauf Shortt sich verlassen konnte. Einige würden zu ihrem Wort stehen, und wenn es sie das Leben kosten sollte. Lacey Dunbar gehörte dazu, Tom Barren ebenfalls und vielleicht Red O’Toole. Bei den anderen war es hundertprozentig sicher, dass sie den Schwanz einzogen und davonliefen, sobald es ernst wurde.
Es hatte keinen Zweck, noch länger zu bleiben. Im Augenblick war Jeff sich nur über eins im Klaren: er war nicht verpflichtet, diesen Männern seine Meinung über den Brief offenzulegen, doch Ben Shortt gegenüber würde er kein Blatt vor den Mund nehmen.
»Ich verschwinde«, sagte Jeff. »Hab' noch etwas zu erledigen.«
Er ging hinaus, ohne zu bemerken, dass Barren ihm bis auf die Straße folgte. Mit seiner scharfen Stimme rief er hinter Jeff her: »Warten Sie. Ich hätte Sie gern einmal unter vier Augen gesprochen.«
Jeff wandte sich unwillig um. Er hatte Nikki seit einer Woche nicht gesehen und wusste, dass sie ihn sehnsüchtig erwartete. Seit mehr als drei Monaten pflegten sie sich im Haus des Geistlichen zu treffen.
Nikki war fast achtzehn Jahre alt, Jeff dreiundzwanzig. Keiner von beiden wusste, zu welchem Zeitpunkt sie sich ineinander verliebt hatten, aber es war geschehen. Nicht einmal Ben Shortts Tyrannei konnte etwas daran ändern. Sie hatten noch nicht mit ihm gesprochen, aber das wäre auch zwecklos. Seine Enkelin Nikki war seine einzige noch lebende Angehörige. Er würde jeden Mann auspeitschen, der versuchte, sie ihm wegzunehmen.
»Was gibt's?«, fragte Jeff.
»Ich wollte schon vor langer Zeit mit Ihnen über eine bestimmte Angelegenheit reden«, begann Barren. »Sie kennen meine Verhältnisse. Ich besitze ein Haus und lebe allein. Wenn ich Hilfe hätte, könnte ich ohne weiteres meine Herde vergrößern. Ich habe mir gedacht, dass es für uns beide von Vorteil wäre, wenn wir uns zusammentäten.«
»Nein.«
»Nun rennen Sie nicht gleich davon«, protestierte Barren. »Früher oder später werden auch Sie Ärger mit Shortt bekommen. Wenn es soweit ist, wird er Sie genauso erbarmungslos davonjagen, wie er es mit uns vorhat.«
»Er ist fast siebzig Jahre alt und wird nicht ewig leben«, wandte Jeff ein.
»Er handelt und sieht aber aus wie ein Fünfzigjähriger«, sagte Barren. »Möglicherweise überlebt er uns alle. Ich schlage vor, Ihr Vater verkauft an Shortt, und Sie ziehen alle zu mir. Am Ende können wir auf diese Weise mehr auf die Beine stellen als jetzt. Wenn Sie sich sofort entschließen, sind wir auch eher in der Lage, Shortt Widerstand zu leisten.«
»Ich habe es nicht nötig, ihm Widerstand zu leisten«, erklärte Jeff und wollte zu seinem Pferd gehen.
Barren pachte ihn am Arm. »Nehmen Sie doch Vernunft an, Jeff. Shortt ist ebenso wenig auf Sie angewiesen wie auf mich oder Dunbar. Der einzige Grund, warum er Sie auf seine Seite ziehen will, ist der Name Ardell. Ihr Vater, Jeff, ist ein bedeutender Mann.«
Damit hatte er recht, aber es von Tom Barren zu hören, machte Jeff keine Freude. Er riss sich los, stieg in den Sattel und ritt die Straße hinunter. Hielt Barren die Ardells in der Tat für so beschränkt, jemals die Red Mesa aufzugeben und an den Deer Creek mit seinem dürftigen Weideland zu ziehen?
Jeff zuckte unwillkürlich die Achseln und dachte an Lacey Dunbar. Vielleicht konnte er ihn bewegen, auf die Rafter A umzusiedeln. Aber das schien unwahrscheinlich, denn Lacey liebte sein Leben, so einsam es auch sein mochte.
Zweites Kapitel
Jeff verließ die Main Street und näherte sich Miles Rebus' Haus von hinten. Er stieg vom Pferd, ließ die Zügel hängen und betrat den Pfad, der zur Hintertür führte.
Schon den ganzen Frühling über waren Nikki und er gezwungen gewesen, sich hier zu treffen. Sie ließ ihren Wagen stets vor dem Haus stehen und tat so, als besudle sie Mrs. Rebus. Jeff ritt zum Hintereingang. Mrs. Rebus verschwand dann immer in der Küche und ließ ihn und Nikki im Wohnzimmer allein.
Früher oder später würde Ben Shortt von diesen Begegnungen erfahren, denn zweifellos fühlte sich irgendjemand verpflichtet, den Alten aufzuklären. Jeff war eigentlich überrascht, dass das bis jetzt noch nicht geschehen war. Der einzige Grund dafür - so glaubte er - lag darin, dass es überhaupt schwierig war, mit Shortt ins Gespräch zu kommen.
Jeff hörte, wie Miles Rebus den Hühnerstall reinigte. Er wandte sich nach rechts, bahnte sich einen Weg durch das Unkraut und rief: »Sind Sie es, Miles?«
»Ja!« Der Geistliche kam heraus und lehnte die Harke an die Wand. »Ich hab' Sie gar nicht kommen hören.«
Rebus setzte Jeff immer wieder von neuem in Erstaunen. Der Mann sah weder so aus noch handelte er wie einer der vielen Geistlichen, die vor ihm in Starbuck gepredigt hatten. Jeff ging zum ersten Mal in seinem Leben regelmäßig in die Kirche - einfach nur deshalb, weil er Rebus achtete und bewunderte.
Miles Rebus war einen ganzen Kopf kleiner als Jeff, wirkte aber wegen seiner starken Hände und Arme und seiner breiten, muskulösen Schultern sehr wuchtig. Er hatte Jeff in den beiden Sommern, die er nun schon in Starbuck wohnte, kräftig bei der Heuernte geholfen. Außerdem besserte er sein mageres Einkommen dadurch auf, dass er zwei Kühe und mehr als hundert Plymouth-Rock-Hühner hielt und den größten Garten auf der Mesa bestellte.
»Mein Pferd ist eins von den berüchtigten Leisetretern«, sagte Jeff lächelnd. »Ist Nikki hier?«
»Sie wartet schon. Aber sie wird sich noch weitere fünf Minuten gedulden müssen. Ich möchte mit Ihnen sprechen.«
Jeff konnte nie lange genug bei Nikki sein, und er gönnte Miles die fünf Minuten keineswegs. Aber er achtete den Geistlichen zu sehr, um seine Ungeduld offen zu zeigen.
»Also gut. Aber nach fünf Minuten gehe ich. Unwiderruflich.«
Miles lachte. Er war ein oder zwei Jahre älter als Jeff und hatte gerade eine Woche, bevor er nach Starbuck gezogen war, geheiratet. »Holen Sie Ihre Uhr heraus und passen Sie auf, dass ich meine Zeit nicht überschreite.« Er sah Jeff flüchtig an und wandte seinen Blick dann wieder ab. »Wie groß sind Ihre Füße, Jeff?«
Jeff starrte verwirrt auf seine staubbedeckten Stiefel. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Sind sie groß genug, um in die Fußstapfen Ihres Vaters zu treten?«
»Nein, das sind sie nicht«, sagte Jeff nachdrücklich. »Meine Stiefel sollen mir passen, nicht meinem Vater.«
»Natürlich«, sagte Miles. »Ich vermute, ich habe mich nicht sehr glücklich ausgedrückt. Ich kannte Matthew nicht, als er noch gesund war, aber ich habe viel über ihn gehört. Er soll nie einen Colt getragen haben, weil er die Anwendung von Gewalt für sinnlos hielt. Seltsamerweise gab es, obwohl man es in diesem erst unlängst besiedelten Land ganz anders hätte erwarten können, kaum jemals eine Schießerei. Wenn Matthew nicht gewesen wäre, hätte das wohl anders ausgesehen. Ich habe mich oft gefragt, wie er das fertiggebracht hat.«
»Keine Ahnung«, erwiderte Jeff. »Ich weiß nur, dass er mehr Mumm in den Knochen hat als jeder andere. Einmal konnte ich zufällig beobachten, wie er einem Betrunkenen, der ihn töten wollte, einfach die Waffe wegnahm. Ich hätte nicht den Mut dazu aufgebracht.«
»Ich auch nicht«, gestand Miles. »Aber das ist nun vorbei. An dem Tag, an dem er den Huftritt bekam, hat er seine Macht verloren. Jetzt zeigt sich Ben Shortt von seiner schlechtesten Seite. Es geht um Mord, Jeff, und ich kann nur dastehen und zusehen.«
»Meinen Sie die Aufforderung, die Shortt Tom Barren und den anderen geschickt hat?«
»Nein, darüber weiß ich nichts.«
Jeff machte ihn mit den Einzelheiten vertraut. »Aber wovon sprechen Sie dann?«, fragte er.
Miles zögerte. »Ich hätte es gar nicht erwähnen sollen«, sagte er schließlich. »Dieser Befehl ist mir neu, aber er passt gut ins Bild. Lassen Sie Nikki nicht länger warten. Die fünf Minuten sind um.«
»Miles, was zum Teufel...«
»Nikki kann es Ihnen erzählen.«
Der Geistliche verschwand im Hühnerstall. Jeff wartete unschlüssig, dann lief er zum Haus und klopfte. Sorgen sind wie Schatten. Man kann sie nicht einfach abschütteln.
Mrs. Rebus öffnete die Tür und lächelte, als sie Jeff erkannte. Sie war eine zarte Frau und kränkelte, seit sie nach Starbuck gekommen war. Der Arzt behauptete, sie könne die Höhenluft nicht vertragen, doch Jeff fragte sich, ob ihre häufigen Schwächeanfälle nicht eher den großen Anforderungen zuzuschreiben waren, die an die Frau eines Geistlichen gestellt wurden. Sie würde bald ein Baby bekommen. Trotzdem schien es ihr besser zu gehen als in der ersten Zeit auf der Red Mesa.
»Kommen Sie herein, Jeff«, forderte sie ihn auf. »Was fällt Miles nur ein, Sie so lange aufzuhalten?«
»Ich hab's ihm nicht leichtgemacht«, sagte Jeff grinsend. »Schließlich kann er jeden Tag mit mir reden. Warum musste es gerade heute sein?«
»Sicher«, pflichtete Mrs. Rebus ihm bei. »Aber nun gehen Sie ins Wohnzimmer und trösten Sie Nikki.«
Er durchquerte die Küche und überlegte, was Mrs. Rebus gemeint haben konnte. Als er die Samtportiere an der Tür des Wohnzimmers teilte, verstand er. Nikki hatte geweint. Als sie ihn erblickte, sprang sie auf und eilte ihm entgegen. »Ich dachte, du würdest nie kommen«, flüsterte sie.
Er schloss sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. Sie hob den Kopf und küsste ihn. Er fühlte, wie sie zitterte, als wäre ihr kalt. In einer Woche würde sie ihren achtzehnten Geburtstag feiern. Sie war in jeder Beziehung eine reife Frau. Noch niemals hatte er sie weinen sehen. Sie hatte auch nie die Nerven verloren - außer, als sie im Frühling zu heiraten beschlossen hatten und einsehen mussten, dass selbst der Versuch, Ben Shortts Erlaubnis einzuholen, zwecklos war.
Sie legte den Kopf zurück und blickte ihn an. »Lass uns nach Placerville fahren und den nächsten Zug nach Montrose nehmen«, flehte sie. »Ich gebe ein falsches Alter an, und morgen heiraten wir.«
Er zog die Brauen zusammen und starrte sie verständnislos an. Sie hatten sich geeinigt, lieber bis zur Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres zu warten, als den Zorn Ben Shortts herauszufordern. Jeff vermochte nicht einzusehen, warum dieser Plan geändert werden sollte.
»Lieber heute als morgen«, sagte er. »Aber ich halte es für besser, wenn wir uns noch eine Weile gedulden.«
»Bitte, Jeff!«
Er schüttelte den Kopf und führte sie zu der Ledercouch, auf der sie gesessen hatte. Er ließ sich neben ihr nieder und nahm ihre Hand. »Was ist passiert?«
Sie wich seinem Blick aus und heftete ihre Augen auf das große schwarze Klavier, das Miles Rebus nach Starbuck mitgebracht hatte. Jeff betrachtete sie und wurde das Gefühl nicht los, dass sie das Instrument überhaupt nicht sah.
»Du hast recht«, seufzte sie. »Ich bin immer voreilig und werde mir noch einmal den Hals dabei brechen. Du bist ganz anders. Du verlierst nie das Ergebnis aus den Augen und fasst immer die richtigen Entschlüsse.«
»Hat Ben dir etwas getan? Hat er dich geschlagen?«
»Mich geschlagen?« Sie blickte ihm erstaunt ins Gesicht, als fragte sie sich, ob er es ernst meinte oder nicht. »Das würde er nie tun.«
Nikki stand auf und ging zum Fenster hinüber, unruhig, tiefunglücklich und besorgt. Jeff blieb sitzen. Er fühlte, dass sie zumindest im Augenblick nicht sprechen wollte.
Er rief sich ins Gedächtnis zurück, wie Nikki und Ben Shortt zusammengekommen waren. Shortt hatte zwei Kinder gehabt. Seine Tochter Sadie hatte einen Mann namens Steve Lawrence geheiratet und war im vergangenen Jahr gestorben. Sie hatte keine Kinder gehabt. Shortts Sohn Bert war mit einer Schauspielerin davongelaufen und hatte sie später geheiratet.
Da Bert seiner Frau das Leben so angenehm wie möglich machen wollte, folgte er ihr von einer Stadt zur anderen. Ihre gemeinsame Tochter Nikki bedeutete eine zu große Last für die Eltern, die ständig herumzogen. Deshalb gaben sie das Kind in ein Pensionat.
Vor vier Jahren waren Nikkis Eltern bei einem Zugunglück ums Leben gekommen. Shortt wusste damals nicht, dass er eine Enkeltochter hatte, bis Nikki ihm schrieb. Er fuhr nach Denver und brachte sie auf seine Ranch. Jeff zweifelte nicht daran, dass er sie liebte, doch war seine Liebe eigennützig und egoistisch und deshalb schlimmer als gar keine.
Nikki wandte sich zu Jeff um. »Manchmal glaube ich, dass ich Großvater hasse«, erklärte sie. »Wenn er erfährt, dass wir verheiratet sind, wird er nicht eher ruhen, bis du tot bist.«
»Er kann uns nichts anhaben, Nikki«, beruhigte er sie.
Sie kramte in ihrer Tasche, holte ein Tuch hervor und putzte sich die Nase. »Er wird es versuchen, Jeff. Miles sagt, er ist vom Teufel besessen. Ich fürchte mich nicht vor ihm, aber ich habe Angst um dich. Er wird versuchen, dich an seinen Verbrechen mitschuldig zu machen. Reite morgen nicht zur Wineglass. Benachrichtige ihn, du seist krank. Oder brich dir ein Bein. Tu irgendetwas, nur geh nicht hin.«
»Ich bin fest entschlossen«, entgegnete er. »Ich will erst gar nicht versuchen, dir zu erklären, warum. Ich glaube, es kommt in einer Ehe oft vor, dass der Mann etwas tun muss, was seiner Frau unverständlich erscheint.«
Das junge Mädchen setzte sich neben ihn. Für Jeff war sie eine Schönheit. Ihr Haar war tiefschwarz. Sie hatte ein rundes Kinn, und wenn sie lachte, erschienen Grübchen in ihren Wangen. Sie kaute auf der Unterlippe, sah ihn an und blickte dann wieder weg.
»Nikki«, sagte er leise. »Du hast mir immer noch nicht erzählt, was dich so aufgeregt hat.«
»Nikki.« Sie wiederholte ihren Namen, als wenn sie ihm nicht zugehört hätte. »Wie albern es klingt! Aber mein Vater hat auf diesem ausgefallenen Namen bestanden.«
Jeff ließ sich nicht ablenken. »Du wolltest mir etwas erzählen.«
»Ich weiß nichts Genaues«, begann sie. »Großvater spricht dauernd von Tom Barren, Floyd Deems und den anderen. Er behauptet, sie seien Viehdiebe und würden ihn nach Strich und Faden bestehlen. Er will ihnen das Handwerk legen, und wenn er sie hängen müsste. Sie sind deine Freunde, Jeff - einige von ihnen jedenfalls. Du kannst dich da nicht einmischen. Das geht nicht.«
»Werde ich auch nicht«, versprach er. »Aber morgen reite ich trotzdem zur Wineglass. Es kommt der Tag, an dem jemand Ben Shortt entgegentreten wird. Vielleicht bin ich es, und vielleicht wird es schon morgen sein.« Er legte den Arm um ihre Taille und zog sie an sich. »Lass uns von etwas anderem sprechen.«
Aber das war heute unmöglich. Er stand auf und blickte auf sie hinunter. »Ich liebe dich, Nikki«, sagte er. »Alles darfst du vergessen, nur das nicht.«
»Ich werde es nicht vergessen.«
Wo war das fröhliche und lebhafte Mädchen geblieben, das Nikki Shortt hieß? Irgendetwas bedrückte sie. Aber er wollte jetzt nicht weiterbohren.
Drittes Kapitel
Die Red Mesa war ein langgestrecktes Hochplateau, das sich von den San Juan Mountains im Osten bis zu dem zerklüfteten Ödland jenseits des Deer Creek im Westen erstreckte. Im Süden zog
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Wayne D. Overholser/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Otto Kühn und Christian Dörge (OT: Showdown At Stony Crest).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 19.08.2020
ISBN: 978-3-7487-5418-3
Alle Rechte vorbehalten