WOLF D. BRENNECKE
Mándola
IM DUNKEL DER NACHT – KRIMIS AUS DER DDR, Band 4
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
MÁNDOLA
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Nachbemerkung
Das Buch
Mándola, Südküste Siziliens: Zwei Mafia-Bosse - Herr Ferri und der Herr Rossi - beherrschen die Stadt. Aber ihre Macht wird angegriffen, selbst durch die eigenen Söhne, die auch in das Geschäft des Jahrhunderts einsteigen wollen: Sizilien - der größte Umschlagplatz für Rauschgift in Europa und ein Hort der Mafia in ihrer patriarchalischen Form. Ein neuer Carabinieri-Kommandant, Di Sardi, kommt nach Mándola, ungewöhnlich jung. Er ist einem Mann wie aus dem Gesicht geschnitten, der vor zwölf Jahren zusammen mit zweien seiner Söhne bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben kam. Ist Di Sardi wirklich der Adoptivsohn eines Ministers? Maria erkennt in ihm ihren Bruder und erwartet von ihm, den Unfall als Racheakt der Mafia aufzuklären, verlangt Vendetta, Blutrache. Doch die Schuldigen kommen plötzlich durch ein Attentat ums Leben, und Di Sardi gerät unter Mordverdacht. Sein Auftrag ist in Gefahr: die Fahndung nach dem geheimen Heroin-Labor...
Mándola von Wolf D. Brennecke (* 28. September 1922 in Magdeburg; † 3. Juni 2002 in Thale) erscheint in der Reihe Im Dunkel der Nacht – Krimis aus der DDR im Apex-Verlag; der Roman - erstmals im Jahr 1986 erschienen - gilt als einer der Klassiker aus der Spätphase der DDR-Kriminal-Literatur.
MÁNDOLA
Erstes Kapitel
Di Sardi betrat sein Dienstzimmer, wo ihn der Marschall schon erwartete. Er nickte ihm zu und öffnete zunächst die Fenster und stieß die Läden zurück. Sonnenlicht brandete herein und malte drei helle Bogen auf den gefliesten Fußboden. Während seiner Abwesenheit war das Zimmer energisch gesäubert und desinfiziert worden, er roch es. Die Fliegen, die munter hereinsummten, rochen es auch und drehten schleunigst wieder um.
Di Sardi ging zu dem Schreibtisch, der auf einem Podest stand, das ein hölzernes Geländer umgab. Ein Fürst hatte den Palast erbauen lassen, der danach den Bürgermeistern als Residenz gedient hatte, bis einer ein neues Rathaus aus Beton, Aluminium und Glas errichten ließ, in dem er offenbar keine vergitterten Fenster haben wollte, darum war die Kaserne der Carabinieri in dem alten Palast geblieben. Di Sardis neues Reich, über das er nun herrschen sollte, nahm das erste Stockwerk ein: dieses Zimmer, davor das Amtszimmer, Machtbereich des Marschalls, daneben der Bereitschaftsraum mit den üblichen Pritschen und Spinden, dahinter vier Zellen, zurzeit ohne Gäste. Großmütig hatte der Bürgermeister auch alle Möbelstücke zurückgelassen, die nicht in den Rahmen des neuen Rathauses passten: den riesigen zernarbten Schreibtisch, hinter dem verschanzt er auf den Besucher herabgeblickt hatte, der jenseits der Barriere in einen unbequemen Holzstuhl gebeten wurde, ein paar Aktenschränke aus Blech, einen altmodischen Safe, einen Konferenztisch mit Stahlrohrsesseln, die vor zwanzig Jahren vielleicht modern gewesen waren, eine lange Holzbank an der Wand dem Schreibtisch gegenüber für Bittsteller oder dergleichen. Man hatte jegliche Kosten gescheut, die Räume neu auszustatten, es war ja auch nur ein kleiner Posten: ein Feldwebel, zwei Korporale, zehn Carabinieri. Und nun dazu ein Hauptmann.
An der Wand über der Holzbank hingen aufgereiht Fotografien in einheitlichen Rahmen, aber unterschiedlich in der Technik. Es waren die Konterfeie von Di Sardis Vorgängern, einige von hinterwäldlerischen Fotografen aufgenommen und sogar handkoloriert, andere aus Zeitungen und Illustrierten ausgeschnitten. Eine lange Reihe, aber der Raum war so groß, dass bis zur Tür hin noch Platz genug war für eine erkleckliche Anzahl von Nachfolgern. Di Sardi lächelte. Sein Aufenthalt in Mándola würde so kurz sein, dass kein Fotograf Gelegenheit fand, an ihn heranzukommen. Er entledigte sich des Lederfutterals mit der Dienstpistole und legte sie, wie gewohnt, auch hier auf die linke Seite des Schreibtischs. Er wollte den Kragen lockern, aber angesichts des bis obenhin zugeknöpften Marschalls ließ er es bleiben. Er musste sich erst wieder an die Hitze gewöhnen, im Norden war der Sommer bisher kühl und regnerisch gewesen.
Mit der Sonne war auch der Lärm vom Platz eingedrungen. Die Fischverkäufer, die Gemüseverkäufer, die Blumenverkäufer verluden ihre Restbestände auf brummende, knatternde, fauchende Fahrzeuge und versuchten mit schrillen Gesängen verspätete Käufer anzulocken, um noch das eine oder andere loszuwerden. Der Platz stieg zur Kathedrale hin an und war sehr groß. Um ihn in Form zu bändigen, hatten Baumeister ihn mit großmächtigen Palästen eingefasst. Die Front gegenüber lag noch im Schatten. Die Fassaden mit ihren Arkaden, Terrassen und Balkonen mochten einst nobel gewirkt haben, sogar schön gewesen sein, aber die Zeit nagte an ihnen, Hitze, Salzluft und Abgase zerfraßen sie. Im Erdgeschoss überschrien Läden, Cafés und Bars einander mit grellbunten Reklamen.
Di Sardi hatte, am Schreibtisch stehend, die Terrasse des Clubs im Blick, auf der sich die Plätze füllten. Die Kellner servierten Getränke. Di Sardi erkannte den Bürgermeister, dem er vorhin seinen Antrittsbesuch abgestattet hatte. Der Bürgermeister ging, hier und da sich verneigend, da und dort eine Hand schüttelnd, durch die beiden Tischreihen und begrüßte am letzten Tisch einen hageren alten Mann mit weißem Schnurrbart, weißgekleidet, weiß behütet, und dessen Gesellschaft. Ein Stuhl war für ihn frei gehalten worden, er setzte sich und schnipste mit den Fingern nach dem Kellner, der sofort herbeisprang. Der Bürgermeister und der alte Mann steckten die Köpfe zusammen, dann starrten alle am Tisch herüber. Di Sardi wusste, dass der Bürgermeister von ihm erzählt hatte, er blickte den Mann fest an, mit dem er noch abzurechnen hatte.
Aber das hatte Zeit. Auf dem Schreibtisch lag die Liste mit der Reihenfolge seiner Antrittsbesuche, die der Marschall für ihn vorbereitet hatte. »So, das haben wir überstanden«, sagte er, zerknüllte das Blatt und warf es in den Papierkorb. Dann wandte er sich dem Marschall zu und winkte ihn mit seinem weißen Stöckchen näher heran.
Der Marschall war Mitte Vierzig, zwanzig Jahre älter als Di Sardi. Sein Kopf war rund, das Haar wurde an den Schläfen grau, aber der Bart war sorgfältig gefärbt. Di Sardi rechnete zwölf, fünfzehn Jahre zurück, damals war der Marschall noch Carabiniere gewesen; nein, es wollte sich keine Erinnerung einstellen. Er hatte mit dem Mann gestern Abend, gleich nach seiner Ankunft, schon gesprochen und ihn danach eingeschätzt: nicht besonders intelligent, aber zuverlässig, ein Mann, der schon lange auf diesem Posten diente und sich auskannte mit den Leuten, dem Dienstbetrieb und dem ihm verhassten Papierkram. Eine Perle also.
»Eine freundliche Stadt mit freundlichen Leuten, ich bin überall gut aufgenommen worden. Das ist der Schein. Der Schein kann trügen, wir beide wissen es.« Di Sardi schenkte dem Marschall, dessen Verwirrung ihm nicht entging, ein gewinnendes Lächeln. »Ich bin neu auf diesem Posten und darum sehr auf Ihre Hilfe angewiesen. Der Laden läuft?«
»Der Laden...?« Der Marschall sah ihn starr an. »Ja, es hat alles seine Ordnung.« Er bemühte sich, dialektfrei zu sprechen. In seinen Augen war ein bisschen Neugier und zugleich auch eine furchtsame Spannung. »Wenn Sie gestatten, Herr Hauptmann...«
»Bitte?«
»Herr Hauptmann würden gut daran tun, sich auch bei den Herren Ferri und Rossi vorzustellen. Sie sind die Chefs der beiden großen Familien hier bei uns in der Stadt. Den Herrn Ferri treffen Sie jetzt im Club gegenüber, den Herrn Rossi ebenfalls dort, aber erst nach der Siesta...« Er verhaspelte sich, errötete. »Mit der Wohnung sind Sie zufrieden, Herr Hauptmann? Es ist natürlich keine Wohnung wie in der Hauptstadt. Wir leben hier bei uns sehr einfach. Aber Sie bleiben ja sicherlich nicht lange hier bei uns?«
Di Sardi bewegte leichthin die Hand. »Ich werde mich einzurichten wissen.«
»Die Zimmer wirken sehr groß. Das macht, weil sie so leer sind. Aber es ist sogar ein Badezimmer dabei, das haben hier bei uns die wenigsten. Wenn mir die Frage gestattet ist, Herr Hauptmann: Die werte Familie kommt nach?«
»Ach, ich bin gar nicht verheiratet«, erwiderte Di Sardi. »Noch keine Zeit dazu gehabt. Aber sagen Sie, warum starren mich die Leute so an?«
Die Verstörtheit des Marschalls nahm zu. »Tun sie das?«
»Ja.«
Der Marschall räusperte sich. »Vielleicht, weil Sie jemand sehr ähnlich sehen, den alle hier bei uns einmal gut gekannt haben. Ein Mann aus unserer Stadt. Salvatore Grecco. Er kam vor zwölf Jahren ums Leben. Mit seinen zwei ältesten Söhnen. Auch seine Frau starb bald darauf. An Herzensgram, wie die Leute hier bei uns sagen. Eine Tochter ist übriggeblieben. Maria Grecco. Sie lebt hier. Sie hatte noch einen Bruder außer den beiden, die getötet wurden. Er hieß Pietro und war damals vierzehn Jahre alt. Jemand hat ihn von hier mit fortgenommen, und keiner weiß, was aus ihm geworden ist.«
Di Sardi schnalzte mit der Zunge. »Ja, das sind so Schicksale...« Er legte das weiße Stöckchen auf die Schreibtischplatte und ließ sich in dem hochlehnigen Stuhl nieder, ihn ausprobierend. »Sagten Sie die getötet wurden?«
Der Marschall erschrak. »Habe ich das gesagt? Ich wollte sagen, die zu Tode kamen. Ein Unfall. Ihr Lastauto war zu schwer beladen. Wir hatten in dem Jahr eine sehr gute Ernte. Die Bremsen versagten in den Serpentinen. Damals war ja die neue Straße noch nicht gebaut.«
»Die Bremsen versagten?«
»So ist es gewesen, Herr Hauptmann. In den Serpentinen. Das Auto stürzte auf die Klippen hinunter. Ein tragisches Geschehen.«
»Ein tragisches Geschehen«, sagte Di Sardi nachdenklich. Er stand auf und ergriff sein weißes Stöckchen wieder. »So nennt man das also hier bei Ihnen? Es gab ein bisschen viel tragisches Geschehen in den letzten Jahren hier bei Ihnen, deshalb bin ich ja hier.«
Der Marschall schluckte und fasste sich ein Herz. »Ihr Name ist Di Sardi, Herr Hauptmann. Falls Sie mir auch diese Frage noch gestatten, ich... Seine Exzellenz...« Er blieb hoffnungslos stecken.
Di Sardi lächelte kühl. »Sie meinen den Minister Alfredo Di Sardi? Er ist mein Vater.«
»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Hauptmann!«, stammelte der Marschall.
»Er ist unangenehm berührt von den vielen tragischen Geschehen. Diese Stadt passt nicht in das Bild einer modernen Gesellschaft, hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Warum eigentlich bitten Sie mich ständig um Entschuldigung und Verzeihung?«
»Verzeihen Sie, Herr Hauptmann, aber...« Die Verwirrung des Marschalls war grenzenlos geworden.
Di Sardi tippte ihm mit der Spitze seines Stückchens auf die Brust. »Soll ich Ihnen sagen, was Sie insgeheim denken?«
»Nichts, Herr Hauptmann! Wirklich...«
»Sie sind seit fünfundzwanzig Jahren bei den Carabinieri, seit acht Jahren Feldwebel, und Sie sind fünfundvierzig. Was denken Sie von mir? Mit sechsundzwanzig schon Hauptmann, warum wohl?«
»Ich weiß es nicht, Herr Hauptmann.«
»Weil Ihr Vater zufällig Bauer war und mein Vater zufällig Minister ist. So einfach ist das. Haben Sie mir die Flasche Wein auf mein Zimmer gestellt?«
Der Marschall hob den Blick und sagte mit Würde: »Ja, Herr Hauptmann. Es ist hier bei uns so Brauch. Zur Begrüßung. Ein guter Wein. Vom Südhang unter der Kapelle.«
»Sie bauen Wein an?«, fragte Di Sardi scheinbar absichtslos.
»Wein, Artischocken, Tomaten. Wovon sollte man sonst leben. Hier bei uns ist jeder Carabiniere, der Familie hat, nebenbei Bauer.«
»Ein Carabiniere, wenn er nebenbei Bauer ist, bezahlt er Miete, oder zahlt man ihm Rente?« Di Sardi schwenkte sein Stöckchen. »Ach, tun Sie doch nicht so, als verstünden Sie mich nicht. Wer in dieser Stadt lebt, zahlt an die Familie oder wird von ihr bezahlt - Miete oder Rente.«
»Sie waren schon mal hier bei uns, Herr Hauptmann?«, fragte der Marschall eifrig, aber auch diesmal wich ihm Di Sardi aus: »Das ist doch überall so, wo es die großen Familien noch gibt, und hier in dieser Stadt sind es gleich zwei: die Ferri und die Rossi. Wer ist der Oberchef?«
»Der Herr Cesare Ferri, Herr Hauptmann, seit der alte Herr Ferri gestorben ist. Das war vor zehn Jahren.«
Di Sardi blickte zu dem Tisch auf der Terrasse des Clubs hinüber, an dem ein ständiges Kommen und Gehen war. Der Mann in Weiß hielt Audienz. Männer näherten sich ihm, verbeugten sich vor ihm, bekamen seine Hand gereicht oder auch nicht, brachten ihr Anliegen vor, entfernten sich wieder, erfreut oder betrübt. Cesare Ferri! »Wieviel Miete verlangt er dieses Jahr?«
»Ein Viertel der Ernte.«
»Ein Viertel der Ernte!« Di Sardi pfiff durch die Zähne. »Dazu die Abgaben für die Ausbesserung der Straße, für die Feldhüter, für die Ewige Lampe im Herrenhaus, für die Namensfeiertage der Familie und die Kirche und die Mönche und das Festessen am Tag des heiligen Lucia! Was vergessen? Das war doch aber seit jeher so, ich verstehe nicht, was bringt die Leute so auf?«
»Sind sie aufgebracht?«, fragte der Marschall vorsichtig.
»Ja, stellen Sie sich das nur vor: Sie sind aufgebracht! Wenn ich einen solchen Posten übernehme, erkundige ich mich zuallererst, was in der Stadt los ist. Ich habe heute Morgen mit einem Dutzend Leuten gesprochen.
Bei einigen wurden nur die üblichen Phrasen gedroschen, andere ließen mit sich reden. Die Stimmung in der Stadt ist bedrückt. Warum? Gehört Ihnen das Stück Land, das Sie bebauen? Also nicht. Dann sind Sie kein Bauer, sondern Pächter und zahlen, an Ferri oder Rossi.«
Der Marschall atmete schwer. Zögernd sagte er: »Wir sollen ein Drittel der Ernte abgeben, was bleibt uns dann noch zum Leben übrig, wo doch alles von Tag zu Tag teurer wird, sogar das Brot, das Öl, der Fisch.«
»Also werden sich die Leute auflehnen, also wird es wieder tragische Geschehen geben, wie Sie es nennen. Wie damals vor zwölf Jahren, wie vor sieben, vor fünf, vor drei Jahren. Wie fangen Sie es an, dass Sie von tragischen Geschehen nie betroffen werden?«
»Herr Hauptmann?«
Di Sardi schwenkte sein Stückchen. »Dieser Posten ist seit acht Jahren mit einem Marschall ausgekommen; wie viele Kommandanten haben Sie in dieser Zeit kommen und gehen sehen?«
Die Verwirrung des Marschalls nahm wieder zu. »Vier - oder waren es fünf? Ich muss erst nachrechnen, Herr Hauptmann.«
Di Sardi ging zu den aufgereihten Fotografien hinüber. Er zeigte mit seinem Stückchen auf die erste. »Ihr Vater, nicht wahr? Als die Amerikaner auf Sizilien landeten, setzten sie ihn als Präfekt ein. Er war Kommunist. Eine integre Person. Nun könnte man trotzdem fragen, warum sie sich einen Kommunisten aussuchten, aber vielleicht rechneten sie sich aus, welches Schicksal ihm blühte. Er nahm seine Aufgabe ernst und jagte die faschistischen Schwarzhemden, die sich in den Bergen verkrochen hatten. Er jagte sie mit einem Knüppel und seinem Hund, denn Schusswaffen zu tragen war ihm nicht erlaubt. Sie blendeten seinen Hund, aber er fand nach Hause zurück und konnte die Leute noch zu seinem Herrn führen, den sie in den Rücken geschossen hatten.«
»Das wissen Sie alles noch?«, fragte der Marschall atemlos, und wieder stand eine furchtsame Frage in seinen Augen.
»Es gibt ein Buch, in dem solche Geschehnisse aufgezeichnet sind. Auch die Geschichte Ihres Vaters wird darin erzählt. Das Buch heißt Das gelbe Seidentuch und handelt von der Landung der Amerikaner und Engländer im Juli dreiundvierzig auf Sizilien und davon, wie Lucky Luciano und die großen Familien die Besetzung vorbereiteten, welche Rolle das gelbe Seidentuch mit dem schwarzen L dabei spielte und wie Leute wie Ihr Vater um die Erfüllung ihrer Träume geprellt wurden.« Di Sardi wandte sich dem nächsten Bild zu.
»Mein Vatersbruder.« Der Marschall sprach jetzt Sizilianisch. »Wollte seinen Bruder rächen, sie haben ihn auch umgelegt, die vermaledeiten Banditen, Gott sei seiner armen Seele gnädig.«
»Ihr Onkel?« Di Sardi ließ sich nicht in die Falle locken. »Er scheint kein heller Kopf gewesen zu sein, sonst hätte er die Zeichen der Zeit verstanden.« Er ging die Reihe entlang, betrachtete jedes Bild, blieb vor dem letzten stehen. »Es waren fünf in den acht Jahren. Mein Vorgänger hielt es noch am längsten aus. Zwei Jahre. Nun muss sich das Ehrengericht mit ihm befassen. Dem Minister fiel leider nichts Besseres ein, als mich herzuschicken, damit ich den Ehrenschild der Carabinieri reinwasche und die Rechtsstaatlichkeit wiederherstelle. Mit allen Mitteln. Das ist doch eine Aufgabe, oder?« Di Sardi blickte nachdenklich auf die Fotografie, die einen in die Kamera lächelnden Mann mit schmalem Lippenbärtchen zeigte. Mit seinem Stöckchen hob er das Bild vom Nagel, es fiel zu Boden. »Von seinen Machenschaften haben Sie nichts gewusst?«
»Dieses Zimmer ist nicht mein Zimmer. Es war Leutnant Albertis Zimmer, wie es jetzt das Ihre ist, Herr Hauptmann. Manchmal werde ich hereingerufen, sonst erfahre ich nicht, was hier besprochen und verhandelt wird. Leute wie ich verkehren auch nicht im Club und in der Villa. Mein Bereich jedenfalls ist sauber, da dulde ich keine krummen Sachen!« Die Stimme des Marschalls schwankte leicht, rote Flecke zeichneten sich auf seinen Wangen ab, aber sein Blick blieb fest.
Dieses Aufbegehren gefiel Di Sardi, er fasste Zutrauen zu dem rundköpfigen, schnauzbärtigen, stämmigen kleinen Mann. Trotzdem sagte er: »Acht Jahre Marschall auf diesem Posten, aber er weiß von nichts!« Er betrachtete das nächste Bild. »Leutnant Barbieri. Er war nur ein halbes Jahr hier, dann zerschmetterte ihm eine Kugel das linke Knie.«
»Es war bei der Kaninchenjagd. Eine verirrte Kugel. Ein Jagdunfall, Herr Hauptmann.«
»So? Ich war immer der Meinung, man schösse mit Schrot auf Kaninchen und nicht mit Patronen, deren Spitze abgefeilt ist.« Di Sardi ging zum nächsten Bild weiter.
»Leutnant Matarella, Herr Hauptmann. Er stürzte nachts bei einer Streife von den Klippen ab.«
»Und ist heute ein Krüppel. Natürlich auch ein Unfall! Merkwürdig, dass es nur immer die Unbestechlichen trifft. Was, glauben Sie, wird man sich für mich ausdenken?«
»Verzeihung, Herr Hauptmann, ich...«
»Schon gut. Und der?«
»Leutnant Lo Vasco, Herr Hauptmann. Das war ein Verrückter! Entschuldigen Sie, das ist mir jetzt so herausgerutscht. Aber ich erinnere mich noch genau daran, wie er da unten vorfuhr. Das Auto war so lang, dass es kaum auf den Platz passte. Als er ausstieg, zündete er sich eine Pfeife an. Mit der qualmenden Pfeife kam er herein. Er brachte eine ganze Sammlung von Pfeifen mit. Eine Sherlock-Holmes-Pfeife war dabei, eine Maigret-Pfeife, eine Kommissar-X-Pfeife. Jede hatte ihren Namen. Er mochte die Uniform nicht, lief meistens in Zivil umher. Leutnant Porcelli hat ihn deswegen oft gerügt. Aber er machte sich nicht viel daraus.«
»Er konnte es sich leisten«, sagte Di Sardi. »Sein Vater ist ein großer Boss in der Industrie.«
»Sie kennen ihn, Herr Hauptmann?«
Di Sardi überhörte die Frage. »Sie wollten mir von seinen Tabakspfeifen erzählen!«
»Den Qualm hätten wir ertragen, aber er hatte noch einen Tick: Er sammelte Fingerabdrücke. Die Leute murrten. Sie zeigten zuletzt keinen Diebstahl und überhaupt nichts mehr an, weil er sofort da war und alles mit seinem braunen Pulver beschmutzte. Überall lagen Blätter mit Fingerabdrücken herum. Der Herr Leutnant Porcelli war schon verrückt deswegen und wir auch und die ganze Stadt. Er lud mich manchmal zu sich ein, um mich zu unterrichten. Er hatte ein Zimmer in Leutnant Porcellis Wohnung. Er trank keinen Wein, nur Tee, immer nur Tee, indischen. Dann schaltete er den Bildwerfer ein und verglich Fingerabdrücke und erklärte mir das mit den Pappa...«
»Papillar...!«
»Mit den Papillarlinien«, wiederholte der Marschall und schien gekränkt zu sein. »Aber das wusste ich schon, dass nicht zwei Menschen auf der ganzen Welt dieselben Papillarlinien haben. Ich habe drei Lehrgänge durch!«
Er gefiel Di Sardi immer mehr. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie unterbrochen habe. Sie wollten mir etwas erzählen.« Der Marschall, der nur zu gern seine Geschichte loswerden wollte, ging darauf ein. Und wie er erzählte, erkannte Di Sardi ihn wieder, an der Stimme, die nicht mehr dienstlich war, zuweilen ins Sizilianische abglitt, sich würdevoll wieder zum Italienisch erhob. Seinen Namen wusste Di Sardi: Claudio Scrivani. Nun fiel ihm Scrivanis Spitzname wieder ein: Cico der Schwätzer. Und da kam die Erinnerung: Graciela und er versteckt zwischen den Körben unter dem Stand der fetten Marisa, zwischen Hemd und Haut die klebrigen gestohlenen Feigen, eingeschlossen auf der einen Seite von Marisas dicken Beinen, auf der anderen von zwei Beinen in scharfgebügelten Uniformhosen, die plötzlich den Fluchtweg verstellt hatten. Gracielas zur Seite geneigtes Gesicht mit den schrägen Katzenaugen über den vorspringenden Wangenknochen, lauschend auf das, was Cico der Schwätzer der Marktfrau erzählte, eine Geschichte, nur für deren Ohren eigentlich bestimmt, bei deren Anhören in Gracielas Gegenwart ihm heiße Röte in die Wangen stieg... »Verzeihen Sie, wie war das?«
Der Marschall reagierte empfindlich. »Ich sagte, dass wir hier bei uns nicht in London leben. Ich sagte, wem es wohl genützt hat, als er herauskriegte, dass der krumme Sefrefan zweimal in der Woche mit der Witwe Turgot in dem Bootshaus am Fluss nächtigte. Das wusste doch jeder. Musste er es ausposaunen? Sefrefan hat von seiner Frau gewaltige Dresche gekriegt. Auch sie wusste es längst, aber durch ihn wurde es öffentlich. Er ging den Leuten auf die Nerven mit seinem braunen Pulver und seiner Lupe. Sie haben ihm die Reifen kaputtgestochen. Sie haben ihm sämtliche acht Lampen, die vorn an seinem Auto waren, demoliert. Sie haben ihm die Windschutzscheibe eingeschlagen. Machte ihm nichts aus. Er lachte: Ich kriege euch alle! Dann hat einer an dem Bus, der immer oben bei der Kathedrale hält, die Bremsen gelöst, und der Bus rollte los und krachte direkt auf das Auto drauf. Ein paar Tage später hatte er ein neues Auto, noch länger. Er fasste sogar den Täter. Sefrefans jüngster Sohn. Der hatte auf dem Lenkrad des Busses seine Fingerabdrücke hinterlassen. Die einzigen, die ihn zuletzt noch mochten, waren die beiden Schwestern Skorfu, die den kleinen Laden an der Ecke haben. Wer was vorhatte, kaufte sich Handschuhe bei ihnen, sie konnten so schnell gar nicht genug heranschaffen.«
»Ein spleeniger Kerl!«, sagte Di Sardi.
»Bei allen Heiligen, ja! Wir atmeten alle auf, als wir ihn los waren. Eines Abends wurden wir nach Verina gerufen.« Der Marschall erzählte die Geschichte genüsslich und untermalte die Worte mit seinen kurzen, wulstigen Fingern. »Eine Frau sei vergewaltigt worden. Aber alle Fingerabdrücke, die der Leutnant einsammelte, stammten von Kindern, fünfjährigen, sechsjährigen. Die Leute hier bei uns sind nämlich pfiffig und haben solche Streiche drauf. Aber wir mussten uns das Lachen verkneifen, denn Leutnant Porcelli war da schon weg, und Leutnant Lo Vasco spielte sich als Kommandant mächtig auf, wenn ich das in aller Freiheit so sagen darf, Herr Hauptmann. Als ich an dem Abend noch zu ihm ging, hockte er auf dem Fußboden und weinte. Er weinte, Herr Hauptmann! Wie ich es sage. Während wir in Verina herumfuhrwerkten, waren sie in sein Zimmer eingedrungen und hatten seine sämtlichen Tabakspfeifen zerbrochen, eine wie die andere, auch die Sherlock-Holmes-Pfeife, die Maigret- Pfeife, die Kommissar-X-Pfeife.«
Di Sardi fand die Geschichte glaubwürdig. Er erinnerte sich an einen Delinquenten, den sie zu dritt eine ganze Nacht hindurch verhört hatten, ohne ihn weichzukriegen, bis einer die Krawatte, die man ihm abgenommen hatte, vor seinen Augen zu zerschnippeln begann. Die Krawatte war das letzte Geschenk seiner verstorbenen Mutter gewesen...
»Ich mochte ihn trotzdem. Was wohl aus ihm geworden ist?«
»Er hat bald darauf den Dienst bei uns quittiert«, sagte Di Sardi. »Er fand ihn nicht aufregend und gefährlich genug. Es war ja auch nur eine Marotte von ihm gewesen. Er hat dann versucht, allein in einem Ballon den Atlantik zu überqueren, und landete irgendwo in der Sahara. Es stand in allen Zeitungen. Nicht gelesen? Tuareg fanden ihn auf, da war er schon fast vertrocknet. Nun hat ihn sein Vater gebändigt, verheiratet und zum Direktor gemacht. Sie sagten, Leutnant Porcelli sei zu der Zeit schon nicht mehr hier gewesen?«
Die Miene des Marschalls veränderte sich. »Das war wirklich ein tragisches Geschehen, Herr Hauptmann! Sein Töchterchen wurde von einem Auto überfahren.«
Di Sardi trat ein paar Schritte zurück, bis er die Terrasse des Clubs im Blickfeld hatte. »Leutnant Porcelli war auch ein Unbestechlicher, nicht wahr? Er gab den Dienst auf und wechselte zur Staatsanwaltschaft über. Befürchtete er, dass seinem Söhnchen oder seiner Frau auch etwas zustoßen könnte?«
»Es war ein fremdes Auto, ein fremder Mann, keiner hatte ihn vorher hier bei uns gesehen. Er muss betrunken gewesen sein. Als er sah, was er angerichtet hatte, beging er Fahrerflucht.« Die Stimme des Marschalls klang seltsam gepresst. Di Sardi nahm das nur nebenbei auf. Am Tisch des Weißgekleideten tat sich was. Jemand war geholt worden, ein bulliger Kerl, den der Alte jetzt herunterputzte, der bullige Kerl zog den Kopf ein. Dann bekam er einen Auftrag. Er nickte und stippte mit dem Zeigefinger an seinen Hut und schob ihn damit aus der Stirn. Es waren immer dieselben Gesten. Sie sahen sich zu viele alte amerikanische Gangsterfilme an.
Di Sardi bemerkte erst jetzt die verstörte Miene des Marschalls. Er sagte: »Es geschah vor drei Jahren, ja?
Ich habe die Zeitungsberichte gelesen. Emotionen, mein Lieber, kann man sich in unserem Beruf nicht leisten. Ich verstehe Porcelli noch, er war befangen, es war sein Kind, aber Lo Vasco und auch Sie...« Er brach ab, weil er den bulligen Kerl aus der Tür treten und über den Platz kommen sah. Mit leisem Tadel in der Stimme fuhr er fort: »Sie beide haben eine Menge Leute vernommen. Seltsam. Das Auto muss stundenlang auf dem Platz gestanden haben. Der Fahrer war betrunken, sagten Sie? Er trank allenfalls einen Kaffee, behaupte ich, und ging dann umher und besah sich die Kathedrale und die Läden. Offenbar wartete er auf jemand. Ein fremdes Auto, ein fremder Mann, danach gucken doch die Leute hier bei Ihnen. Bestimmt haben Hunderte den Mann und sein Auto gesehen, aber nicht zwei Beschreibungen stimmen überein. Ein junger Mann, ein älterer Mann, ein dünner Mann, ein dicker Mann. Er trug ein blaues Hemd und weiße Hosen, ein weißes Hemd und graue Hosen, einen hellen Anzug, einen grünen Anzug. Nicht mal Fabrikat und Farbe seines Autos konnten eindeutig festgestellt werden, vom Kennzeichen ganz zu schweigen.«
»Aber so ist das, Herr Hauptmann! Sie kennen das Leben und die Leute hier bei uns nicht. Nach einem solchen Geschehen ist Schweigen. Keine Zeugen, keine Beweise.« Der Marschall richtete sich auf, suchte Di Sardis Blick. »Es war ein Verkehrsunfall! Sonst...« Und nun brach es aus ihm heraus: »Sie war ein Sonnenschein, Herr Hauptmann! Meine Frau... Wir haben keine Kinder... Sie kam zu mir gelaufen, wann immer sie konnte, ich habe mit ihr gespielt, habe ihr Bilder gemalt... Sie war sozusagen auch mein Töchterchen!« Er schwieg, fügte dann erschöpft hinzu: »Ich kenne alle Leute in dieser Stadt, bin mit so vielen von ihnen versippt und verschwägert, einet, wenigstens einer hätte doch den Mut aufgebracht, mir die Wahrheit zu sagen, wenn... Es war ein Unfall, Herr Hauptmann!«
Di Sardi erwiderte kalt: »Polizistenmorde kommen auch bei uns selten vor. Weil darauf stets verstärkte Aktivitäten seitens der Polizei folgen, die den Geschäften abträglich sind. Das müssten Sie doch wissen: Jemand, der sich nicht fügen will, wird mehrmals geduldig ermahnt und dann verwarnt, und erst, wenn er sich immer noch verquer stellt, entschließt man sich zum Äußersten. Sind Sie niemals ermahnt worden? Ähh! Wie oft mag wohl Barbieri ermahnt worden sein, ehe man ihn verwarnte, indem man ihm das Knie zerschmetterte; wie oft wurde Matarella ermahnt, ehe man ihn zum Krüppel machte? Aber beide leben noch, man tötet so ohne weiteres keinen Polizisten. Nun frage ich Sie: Wurde auch Leutnant Porcelli ermahnt und hörte nicht darauf, so dass er verwarnt werden musste, indem man sein Töchterchen tötete?«
»Ich weiß es nicht!« Der Marschall knirschte: »Aber wenn wir jemals den Mann erwischen, der das Auto gefahren hat, dann...«
»Ach, es geht doch gar nicht um den Fahrer!«, sagte Di Sardi. Er lauschte auf die Geräusche im Vorzimmer. »Es geht um den, der ihn bezahlt hat.«
Es war schwer, des Marschalls Blick zu deuten, sein Begreifen, seine plötzliche Furcht, es war auch schwer, seine geflüsterten Worte zu verstehen: »Ich bitte um Verzeihung, Herr Hauptmann, aber nennen Sie mir Ihren Schutzpatron, damit ich in der Messe zu ihm für Sie beten kann!«
Ein Schauer überrieselte Di Sardi, aber er war so lange im Norden gewesen, dass er gelassen antworten konnte: »Ich bin ich und brauche keine Bittgebete, nur Freunde und Gefährten.«
Zweites Kapitel
Antonio Monti war häufig im Hause des Vaters zu Gast gewesen, Di Sardi hatte ihn für einen Freund des Vaters gehalten und mit den Söhnen von ihm, die in seinem Alter waren, gespielt, da war er zehn oder elf Jahre alt gewesen. Er hatte den Mann bewundert wegen seiner Größe, seiner Kraft und seiner lauten Fröhlichkeit und sich zugleich vor ihm gefürchtet, seines »Rufes« wegen. Es wurde erzählt, er habe schon vier Männer umgebracht; Tiger Tino Monti wurde er genannt. Eines Tages hatte ihm der Vater, nachdem Monti von ihm schroff aus dem Hause gewiesen worden war, verboten, weiterhin mit Gino und Alberto zu spielen. Er hatte es sich nicht erklären können. Der Vater gab nie Erklärungen ab, er verkündete Gesetze; übertrat sie jemand aus der Familie, nahm er wortlos den Riemen vom Nagel. Heute verstand er nur zu gut, was er damals nicht verstehen konnte: die geheimnisvollen Klopfzeichen manchen Abend, worauf die Mutter mit ihnen, den Kindern, sofort in das andere Zimmer ging, das verschwörerische Murmeln von Männerstimmen nebenan, das Maultier, das sie eines Morgens aufgehängt an der Stalltür fanden, die nächtens von einem Traktor breitgewalzten Erdbeerpflanzen, die immer düsterer werdende Miene des Vaters, die verstohlenen Tränen der Mutter, die Auseinandersetzungen zwischen Vater und Mutter, die Lupara, die Schrotflinte mit dem abgesägten Lauf, die sich der Vater beschafft hatte. Ein paarmal hatte er ihren Knall gehört und dann, eines Nachts, auch einen Schrei. Der Vater hatte Domenico und Luigi aus dem Bett geholt. Sie mussten sich anziehen und gingen mit ihm hinaus. Später hatte der Vater auch ihm befohlen, aufzustehen und sich anzuziehen. Die Mutter wollte es nicht und hatte geweint, er hatte sie streng angefahren. Es war noch dunkel. Von der Stadt herauf kamen zwei Männer mit einem Esel. Domenico hatte sie geholt. Auf dem Esel wurde ein längliches Paket festgebunden, das mit Sackleinen umhüllt und mit Stricken umwunden war. Dann gingen sie los. Merk dir den Weg, Pietro! hatte der Vater zu ihm gesagt, und diese Worte blieben die einzigen während des stundenlangen Marsches, die er immer wieder hörte. Jedes Mal, wenn der Pfad sich verzweigte, wies ihn der Vater auf einen Stein, einen Baum, ein anderes Merkzeichen hin und knuffte ihn dabei schmerzhaft: Merk dir den Weg! Sie stiegen höher, immer öder wurde das Land, sie begegneten keiner Menschenseele, nur der Wind sang. Endlich bogen sie von dem Pfad in ein Tal ein. Der Vater blieb mit ihm stehen, zeigte nach oben auf die seltsam geformten Felsen und kniff ihn ins Ohr, bis er aufschrie. Merk dir diese Stelle, Pietro! Am Hang war ein Spalt im Fels, ein Schlund, dort warteten seine Brüder und die beiden Männer mit dem Esel. Der eine trug eine Lupara bei sich wie der Vater, der andere eine Pistole. Der Vater nahm die Last von dem Esel und trug das Paket bis an den Spalt. Alle entblößten den Kopf, der Vater sprach ein Gebet, er faltete die Hände wie die anderen auch und sah zu, wie der Vater das Paket in den Schlund hinunterstieß. Darauf ließen sie sich nieder, der Vater breitete eine Decke aus, sie aßen Brot und Käse und getrockneten Fisch und tranken Wein dazu. Zum ersten Mal durfte er Wein trinken, soviel er wollte, der Kopf wurde ihm schwer davon. Dann verabschiedeten sich die Männer, sie reichten auch ihm die Hand und gingen mit dem Esel davon. Der Vater gab ihm noch einen Schluck Wein zu trinken und sagte: Merk dir diese Stelle, Pietro; es kann sein, dass du als letzter von uns übrigbleibst, nun weißt du, was du dann zu tun hast. Und kein Wort über das, was du gesehen hast, zu anderen! In den folgenden Tagen kamen mehrmals Polizisten ins Haus und schnüffelten herum, aber die Lupara war verschwunden. Sie wollten auch ihn ausfragen, aber er sah sie nur an. Was wollten sie von ihm? Es veränderte sich einiges. Der Vater grüßte beim Kirchgang die Herren Ferri und Rossi nicht mehr und befahl auch ihnen, die Herren Ferri und Rossi nicht mehr zu grüßen. Dafür wurde der Vater gegrüßt, von Mal zu Mal von mehr Männern. Die einen taten es noch heimlich, mit einem Nicken oder Blinzeln, andere mit Handschlag und Umarmung; er beobachtete es und lernte ein neues Wort kennen: Kooperative. Und dann, eines Tages, kam der Vater mit einem Lastauto, einem funkelnagelneuen Lastauto angefahren...
Hatte er das Anklopfen überhört? Monti stand schon im Zimmer, begrüßte lärmend den Marschall: »Grüß dich, Cico! Wie geht's? Ist der Neue da?«
Der Marschall bewegte verlegen die Hand, Monti drehte sich um, gewahrte Di Sardi, sein Gesicht wurde fahl. »Heilige Mutter Gottes, steh mir bei!«
»Wer ist das?«, fragte Di Sardi.
»Herr Monti, Herr Hauptmann!«
Monti war alt geworden. Damals hatte er ihn wegen seiner Stärke bewundert. Tiger Tino Monti! Verlebt das Gesicht, schwere Tränensäcke unter den Augen, die Haut grau, der Blick trüb, Schweißtropfen auf der Stirn. »Madonna! Die Toten stehen wieder auf!«
»Was schwätzt der Mann?«, fragte Di Sardi scharf.
Wieder eine verlegene Handbewegung des Marschalls. »Es geht ihm wie so vielen Leuten hier bei uns. Sie sehen jemand sehr ähnlich, den wir einmal gut gekannt haben. Salvatore Grecco. Der vor zwölf Jahren mit seinen beiden Söhnen getötet wurde.« Er trat zu Monti, legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das ist der Herr Hauptmann Di Sardi, Tino!«
»Weißt du das genau, Cico?«, fragte Monti dumpf und betrachtete Di Sardi noch immer voller Furcht. Die Szene vorhin auf der Terrasse wurde erklärlich für Di Sardi. Monti war betrunken und lutschte Veilchenpastillen, um seine Alkoholfahne zu verbergen.
»Der getötet wurde?«
Die Stimme des Marschalls schnappte fast über. »Verzeihung, Herr Hauptmann, Sie haben mich nicht richtig verstanden. Es war ein Unfall! Ich habe es Ihnen schon erzählt.«
»So was von Ähnlichkeit!« Monti begann sich zu fassen. Er blinzelte, überwand den Schock. »Salvatore Grecco! Mein Freund! Wir haben zusammen...« Er wiegte den Kopf hin und her. »Welch ein tragisches Geschehen!«
»Die Bremsen versagten in den Serpentinen, so war es doch, Tino?« Die Stimme des Marschalls hatte einen Unterton, als probiere er, sehr vorsichtig zunächst, eine neue Stimmlage aus. »Der Mann hier, Herr Antonio Monti, hat Salvatores Tochter zu sich in sein Haus genommen, nachdem ihre Mutter verstorben war.«
»Sie starb an Herzensgram, wie die Leute hier bei Ihnen sagen, nicht wahr?«
Monti streckte die Hand aus. »So war es, bei Gott! Ein hartes Schicksal. Der Mann und zwei Söhne. Auf einen Schlag. Weg. Ausgelöscht.« Er starrte Di Sardi trotzig an. »Ja, ich habe das arme Mädchen zu mir in mein Haus genommen.«
»Aus Freundschaft zu dem Getöteten, Ihrem Freund Salvatore Grecco!«
»Sie sagen es!«, erwiderte Monti würdevoll. »Aus Freundschaft und Mitleid und Barmherzigkeit. Wo sollte sie sonst hin? Sie war ja damals erst fünfzehn Jahre alt.«
»Aus Mitleid und Barmherzigkeit!« Di Sardi sah den Marschall an, dessen aufmerksamer, aber längst nicht mehr furchtsamer Blick zwischen ihnen hin- und herging. »Ich habe heute einige Besuche gemacht und mir die bedeutenden Männer dieser Stadt nennen lassen, zu denen offenbar auch ein Antonio Monti gehört. Er fungiert als eine Art Leibwächter des Herrn Ferri und hat einen angsteinflößenden Beinamen: Tiger Tino Monti. Ich nehme an, es handelt sich um diesen Herrn hier. Aber hat er nicht auch einen Spitznamen? Nennt man ihn nicht den Knabenmacher? Auf wie viele Söhne hat er es inzwischen gebracht?«
»Still, Tino! Der Herr Hauptmann hat mich gefragt!«, sagte der Marschall. »Es sind fünf, Herr Hauptmann. Eigentlich sieben, aber zwei sind verstorben.«
»Ach? Wurden sie getötet?«
»Sie starben an den Blattern, Herr Hauptmann.« Ein Flattern der Lider, ein Zucken um die Mundwinkel zeigten Di Sardi an, dass der Marschall zu begreifen begann.
»Nicht mal ein Autounfall?«
»Es waren die Blattern!« Montis Stimme dröhnte.
»Was ist los? Will der sich lustig machen über mich?«
»Halte doch den Mund, Tino!«, mahnte der Marschall. »Wir sind hier im Zimmer des Herrn Hauptmann.«
Di Sardi ging zum Fenster. Am Tisch des Weißgekleideten schwieg man. Alle blickten herüber. Die Streife, die längst zurück sein musste, war noch nicht zu sehen. Di Sardi sagte: »Nur Söhne. Keine Tochter, die der Mutter zur Hand gehen kann: Wasser holen, kochen, waschen, das Haus säubern. Wie edel und uneigennützig, ein elternloses Mädchen ins Haus zu nehmen! Sie kann arbeiten wie eine Magd, aber man braucht sie nicht zu bezahlen wie eine Magd. Was will er hier?«
Er hörte Montis Stimme: »He, ich hab das nicht verstanden. Er soll wie 'n normaler Mensch reden!«
Er hörte des Marschalls Stimme: »Der Herr Hauptmann hat gefragt, was du hier willst, Tino.«
Und wieder Monti: »Er soll rüberkommen. Der Herr Ferri will ihn sehen.«
Er drehte sich um. Der Marschall sagte in betontem Italienisch: »Herr Monti sollte ausrichten, dass der Herr Ferri Sie gern an seinem Tisch begrüßen möchte, Herr Hauptmann. Der Herr Ferri sitzt gegenüber auf der Terrasse des Clubs...«
»Was soll 'n das Gesülze!« fuhr Monti den Marschall an. »Von gern und möchte hat er überhaupt nichts gesagt. Er hat zu mir gesagt: Hol den neuen Kommandanten her, ich will ihn mir ansehen!«
Der Marschall hatte sein Bestes getan, um zu vermitteln, Di Sardi kam ihm zu Hilfe: »Mir fällt ein, dass Herr Monti ja der erste Besucher bei mir ist. Holen Sie bitte den Wein herüber? Und drei Gläser?«
»Den Wein? Und drei Gläser? Jawohl, Herr Hauptmann!«, erwiderte der Marschall eilfertig und wohl auch erleichtert und ging in Di Sardis Wohnung hinüber.
»Sie soll'n aber gleich kommen!«, brummte Monti und schien sich unbehaglich zu fühlen, allein gelassen mit Di Sardi.
»Aber Sie werden mir doch die Ehre erweisen, Herr Monti? Zur Begrüßung. Wie es hier bei Ihnen so Brauch ist. Kommen Sie gut aus mit Ihrem Chef? Bitte, nehmen Sie Platz!«
Monti wehrte fast bestürzt ab. »Man kann schon mit ihm auskommen. Wenn man sich nicht spreizt.«
»Spreizt?«, fragte Di Sardi.
»Verquer stellt!«, sagte Monti gereizt. »Verstehen Sie unser Reden nicht? Aber das kriegt jeder schnell mit. Hier bei uns befiehlt nur einer, da zieht man eben mit.«
»Man zieht mit?«
»Man kuscht, man pariert, man spurt, man gehorcht. Kapiert?«
»Oder?«
»Was denn oder?«
»Wenn einer nicht kuscht, pariert, spurt?«
»Hier bei uns spurt jeder!«, sagte Monti und schien seine Selbstsicherheit zurückgewonnen zu haben.
»Dann wird es Zeit, dass Mándola ein Wunder erlebt!«
In diesem Moment, dem bestmöglichen, trat der Marschall wieder ein. Er stellte die Flasche und die Gläser auf dem Tisch ab. Hatte er an der Tür gelauscht? Er sah beunruhigt zu Monti hin, in dessen Gesicht es arbeitete. Ein Problem war aufgetaucht, das ihn verblüffte; er wusste nicht, wie er damit fertig werden sollte, und geriet in Rage. Der Marschall bedachte Di Sardi mit einem warnenden Blick. »Der Wein, Herr Hauptmann!«
Die beiden Carabinieri kehrten von ihrer Streife zurück. Sie hielten ihre Maschinenpistolen wichtigtuerisch im Arm wie bei einem Kommandounternehmen im Dschungel, schlenderten aber ganz gemütlich über den Platz, blieben sogar stehen, um einem Mädchen mit prallem Hintern nachzusehen. Wie lange brauchten sie denn noch! Sie mussten sich beim Marschall zurückmelden, wenn sie ihn in seinem Zimmer nicht antrafen, würden sie hereinkommen.
Der Marschall hatte die Flasche entkorkt und eingegossen. Di Sardi sagte: »Auf Ihr Wohl, Herr Monti!«
Monti hob das Glas gegen das Licht, schnupperte dann daran. »Ist das deiner, Cico? Der vom Südhang?« Er kostete, wälzte den Schluck im Mund, schnaubte durch die Nase, schluckte, hob das Glas wieder und leerte es. »Das ist ein Weinchen!«
»Der beste überhaupt, den ich je hatte!«, sagte der Marschall begeistert. »Noch etwas zu frisch vielleicht...« Er holte die Flasche, goss Monti wieder ein. »Sie trinken ja gar nicht, Herr Hauptmann?«
»Ich trinke nicht, wenn ich im Dienst bin. Die Bremsen versagten?«
Monti setzte das Glas ab, sah den Marschall an. »Wovon redet der?«
Auch Di Sardi sah den Marschall an. »Das Lastauto war zu schwer beladen?«
Der Marschall wusste nicht, wohin mit seinem Glas. »Das eben war ja die Ursache des Unfalls, Herr Hauptmann.« Di Sardi las einen Vorwurf in seinen Augen.
»Was hatte es denn geladen?«
»Was hatte es geladen, Tino? Es ist schon so lange her.«
Monti sah sich gehetzt um, als sei ihm bewusst geworden, dass er in der Falle saß. »Erdbeeren.«
»Erdbeeren? Ich hätte eher geglaubt, Zement.« Di Sardi wechselte sein immer noch volles Glas in die Linke, griff mit der Rechten das Stöckchen auf, er horchte nach draußen. »Da bleibt noch eine Frage offen, auf die der Untersuchungsrichter damals keine Antwort bekam oder fand: Der Unfall ereignete sich um ein Uhr nachts. Wohin wollte Salvatore Grecco mit den Erdbeeren mitten in der Nacht?«
Ein Klopfen. Monti achtete nicht darauf, er wurde laut: »Alte Geschichten, warum stecken Sie Ihre gottverfluchte Nase da rein! Salvatore war mein Freund, warum lassen Sie ihn nicht in seinem Grabe ruh'n!«
Di Sardi schüttete ihm den Wein ins Gesicht. Monti brüllte auf, wollte sich, obwohl geblendet, auf ihn stürzen, das dünne weiße Stöckchen in Di Sardis Hand stieß ihn zurück. Er griff danach, packte die Spitze, wollte es zerbrechen, das Stöckchen bog sich nur, schnellte plötzlich zurück und traf Monti am Hals, er taumelte.
Die beiden Carabinieri waren eingetreten und glotzten. »Nehmen Sie den Mann fest!«, sagte Di Sardi. Als sie ihn weiterhin nur begriffsstutzig anstierten, herrschte er sie an: »Sperren Sie ihn ein, oder muss ich das auch noch besorgen!«
Da erst griffen sie nach Monti, wären aber wohl kaum mit dem Tobenden fertig geworden ohne den Marschall. Während sie mit Monti rangen, versuchte er ihn zu beruhigen: »Mach doch keinen Unsinn, Tino! Das kommt alles in Ordnung!«
Sie führten Monti ab. Di Sardi lockerte den Kragen, fuhr sich mit dem Taschentuch übers Gesicht, über Hals und Nacken. Er sah zu dem Mann auf der Terrasse hinüber, ihre Blicke kreuzten sich. Zwölf Jahre! Die Zeit beugt jeden. Di Sardi steckte das Taschentuch weg, ordnete seine Uniform. Vor zwölf Jahren hätten vier Männer Tiger Tino Monti nicht bändigen können, er hätte sie in alle vier Zimmerecken verstreut und wäre lachend davongegangen. Auch Sie, Cesare Ferri, sind um zwölf Jahre gealtert. Soll man deswegen Mitleid haben und alles vergessen, so tun, als ob nie etwas geschehen sei?
Der Marschall kam zurück, noch gerötet das Gesicht, eine Frage in den Augen. Di Sardi sagte: »Vermerken Sie die Festnahme im Protokollbuch. Begründung: Beleidigung eines Offiziers im Dienst, tätlicher Angriff auf ihn. Widerstand gegen die Staatsgewalt. Das dürfte reichen.«
Der Marschall räusperte sich. »Ich weiß nicht, ob das schon reicht, Herr Hauptmann. Herr Monti ist ein angesehener Bürger unserer Stadt und steht unter dem besonderen Schutz des Herrn Ferri. Verzeihung, Herr Hauptmann, ich wollte Sie nur darauf hingewiesen haben.«
»Es reicht!«, entschied Di Sardi, bedachte sich dann aber. »Setzen Sie hinzu: In volltrunkenem Zustand. Halten Sie den Mann fest, bis er ausgenüchtert ist.«
»Wie Sie befehlen, Herr Hauptmann«, erwiderte der Marschall und passte seine Stimme Di Sardis kühlem Ton an, dennoch war ihm anzumerken, dass er zutiefst besorgt war.
Drittes Kapitel
Di Sardi ging in die Wohnung hinüber, die nun die seine geworden war. Für wie lange? Seine Schritte hallten in den fast leeren Räumen. Fünf Zimmer und reichlich Nebengelass, das er noch nicht gänzlich erkundet hatte. Es war vormals die Stadtwohnung eines Großgrundbesitzers gewesen, die der Bürgermeister übernommen hatte, um sie, als er in das neue Rathaus umzog, an den Kommandanten abzutreten.
Vom Balkon des Schlafzimmers konnte Di Sardi in die Via Vossata hineinsehen, die mit immer armseliger werdenden Häusern geradlinig steil zum Hafen abfiel. Rechts begrenzte die Palastfassade den Blick, links der gedrungene Turm des ehemaligen Klosters, dessen Front den Platz nach Süden abschloss. Weit unten sah er die Häuser am Hafen, darüber einen Streifen des Afrikanischen Meeres, graublau jetzt im heißen Dunst der mittäglichen Stunde. Von links ragte das Kap hinein, auf dem die Villa des Barons stand.
Sein Auftrag lautete, die Verhältnisse in der Stadt zu sondieren. Es gab die beiden Familien, die Ferri und die Rossi, die sich seit Generationen befehdet hatten, mit Toten auf beiden Seiten, bis es dem großen alten Mann in Palermo offenbar zu viel geworden war und er seinen Schiedsspruch getan hatte: alle Landrechte den Ferri, alle Wasserrechte den Rossi. Seitdem herrschte Burgfrieden, fundamentiert durch eine Fabrik, die die Ferri und die Rossi gemeinsam begründeten und in die jede Familie einen Sohn als Direktor entsandte, damit er ihre Interessen wahrte. Mutige Männer hatten immer mal wieder versucht, die Macht der beiden Familien zu brechen. Diese Versuche hatten aufgehört, nachdem vor zwölf Jahren der Vorsitzende einer sogenannten unabhängigen Kooperative mit seinen beiden ältesten Söhnen bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben kam; es hatte sich niemand gefunden, der seine Nachfolge antreten wollte. Seit ein paar Jahren gab es einen dritten Machtfaktor in der Stadt: die Villa. Er hatte zu ermitteln, welche Beziehungen zwischen den Familien und der Villa, der Stadt und der Villa bestanden. Das war nicht ganz so einfach, wie es sich die drei Obristen vorstellten.
Alberti hatte die Frage, wieso zu dem illustren Kreis, der in der Villa verkehrte, auch der Kommandant des Carabinieri-Postens, ein Leutnant, eingeladen wurde, nicht beantworten können. Vielleicht hatte die ganze Möbelgeschichte nur den Zweck gehabt, ihn zu korrumpieren, aber warum hatte ihn dann die Villa, als es hart auf hart ging, einfach fallenlassen wie eine faule Frucht, so dass die Stadt triumphieren konnte? Taktik? Strategie? Es hatte die drei Obristen bei ihren Computerspielen erheblich verwirrt.
Bei seinen Antrittsbesuchen hatte sich Di Sardi die üblichen Gemeinplätze anhören müssen; aus den Andeutungen, die nebenbei fielen, musste er sich nun einen Vers machen. Die Möbelgeschichte war noch in aller Munde, am meisten erbost war der Bürgermeister gewesen. Als er umzog, hatte er fast alles Mobiliar stehen lassen. Die Kommandanten hatten zwischen den ehrwürdigen Möbeln gewohnt, die einst der Großgrundbesitzer hatte anfertigen lassen, bis Leutnant Alberti beantragte, den alten Plunder entfernen zu dürfen, um die Wohnung modernisieren zu können. Es war ihm gestattet worden. Mit den an die zweihundert Jahre alten Schränken, Kommoden, Betten, Tischen, Stühlen, Sesseln, Bänken, Truhen, Vitrinen, Konsolen hatte Alberti das Geschäft seines Lebens gemacht. Er hatte sie nach und nach für horrendes Geld, wie es hieß, an den Baron verkauft, der sich auf dem Kap eine Villa einrichtete. Dieses ganz private Geschäft, das nicht mal illegal war, da man ihm ja gestattet hatte, mit dem Plunder zu machen, was er wolle, hatte ihm auch Missgunst eingebracht. Aber wer hatte die anonymen Briefe geschrieben und ihn denunziert? Der Bürgermeister, weil es ihn gereute, das Geschäft nicht selbst gemacht zu haben? Die Villa, weil man dort die Suppe vorgekostet hatte, ehe man sie löffelte? Eine zu komplizierte Geschichte, die sich die Obristen ausgedacht hatten; ein simpler Leutnant, der noch mit beiden Beinen auf dem Boden der Realitäten stand, hätte sich eine einfachere und darum bessere einfallen lassen. Aber wie sagte schon Terenz: Geschehene Dinge sind nicht mehr zu ändern.
Die Auskünfte waren widersprüchlich. Der Baron sei Franzose und habe eine schwerreiche Amerikanerin geheiratet, mit ihrem Geld sei die Villa umgebaut und eingerichtet worden, die ursprünglich ein Kastell aus der Zeit des Friedrich von Schwaben war. Um 1240 war mit dem Bau des Kastells begonnen worden, das aber nicht vollendet wurde. Zu der Zeit sei Sizilien der modernste Staat des Abendlandes gewesen mit Konstitutionen, die Leitbilder für ganz Europa hätten werden können, wenn die Päpste nicht aus Eifersucht Zwietracht und Krieg gesät und damit das Werk von Roger und Friedrich zerstört hätten. Das hatte Di Sardi allerdings nicht in der Stadt erfahren, sondern von dem Minister, der aus Neigung Historiker war und Experte für normannisches Recht. Sowenig Zeit er auch hatte, er ließ sich einfangen, wenn man ihn über Mándola ausfragte. Auf Sizilien hatte er Erfolgserlebnisse gehabt, die ihm sein Ministeramt kaum bot. Mitte der dreißiger Jahre, als er noch Gehilfe im Büro des Amtsrichters in Agrigento gewesen war, hatten sich die Faschisten stark genug gefühlt, sich abermals mit den großen Familien auf Sizilien anzulegen. Gegen deren Widerstand hatten sie das Kastell dem Konsortium für museale Altertümer entzogen und zu einer Schulungsstätte für Jungfaschisten ausgebaut. Auch die Ferri und die Rossi waren damals in die Schusslinie geraten, was es ihnen ermöglichte, sich 1943, bei der Landung der Alliierten, als Antifaschisten auszugeben. Während des Krieges hatte das Kastell Kampfschwimmer beherbergt, die dort ausgebildet wurden, nach der Besetzung amerikanische Funker. Später hatte ein unternehmungslustiger Mann das Kastell in ein Hotel umzufunktionieren versucht und dabei Bankrott gemacht.
Von dem Baron hatte sich die Stadt viel versprochen. Ein Haus, wie ein Millionär es führt, brauchte doch Dienstboten. Jede Familie hatte sich eine Chance ausgerechnet, durch ein Familienmitglied ernährt zu werden, das als Köchin, Dienstmädchen, Zofe, Chauffeur, Gärtner, Diener, Laufbursche, Wischfrau unterkam. Die Baufirmen, Fuhrunternehmer, Handwerker und Händler kalkulierten kühn. Nichts wurde aus dem großen Geschäft. Der Architekt kam aus Schweden, die Bauleute kamen aus Jugoslawien, das Material kam aus Frankreich, die Dienstboten kamen aus England, und aus Deutschland kamen drei scharfe Doggen, die jeden verbellten, dem nicht der Duft von Chanel anhaftete.
Ein so riesiges Haus, so kostbar eingerichtet, so wenig genutzt! Zurzeit war die Herrschaft gerade mal wieder da, für eine Woche vielleicht, um sich dann monatelang nicht mehr sehen zu lassen. Nein, die Stadt sympathisierte nicht mit der Villa. Allein der Bürgermeister hatte sich zurückhaltend geäußert. Nun, von dem Kaufpreis des Grundstückes hatte er für sich und Mándola ein neues Rathaus bauen können, und die Steuern, die von der Villa in den Stadtsäckel flössen, waren bestimmt mehr als einen Pappenstiel wert. Dem Baron schien es egal zu sein, wie man von ihm redete, er brauchte die Stadt nicht. Aber nachdenken durfte man schon darüber, warum er sich in Mándola eingenistet hatte. Es gab hier keine Luxushotels, in denen die reichen Globetrotter abstiegen, die zu seinen Kreisen gehörten, nur einfache Hotels und Pensionen. Die Honoratioren, mit denen man verkehren konnte, waren provinzlerische Leute. Warum ausgerechnet Mándola? Und wenn man einmal beim Nachdenken war, konnte man auch die nächste Frage stellen: Die Ferri besaßen die Landrechte, die Rossi die Wasserrechte und hatten damit ihre Hände in der Tasche eines jeden in der Stadt - war der Baron Goldesel oder Goldfisch? Oder stand er unter einem mächtigeren Schutz?
Die Frau war ihm vom Marschall empfohlen worden, mit dem sie weitläufig verwandt war. Am Morgen hatte sie sich vorgestellt. Eine schüchtern wirkende Frau mittleren Alters. Sie sollte ihm die Wohnung sauber halten, für seine Wäsche sorgen und ihn bekochen, wenn er nicht auswärts aß. Der Lohn, den sie nach einem Zögern, das ihm nicht entging, verlangte, erschien ihm, der an haupt- und großstädtische Preise gewöhnt war, so niedrig, dass er, ohne zu feilschen, darauf einging und von sich aus einen Pauschalbetrag für ihre Einkäufe aufschlug, damit sie nicht jeden Posten mit ihm abrechnen musste. Ihr Blick hatte ihm angezeigt, dass sie glaubte, dabei nicht zu kurz zu kommen. Einer von Victors Ratschlägen: Eine Haushälterin, bei der du nicht knauserst, kann eine zuverlässigere Informationsquelle sein als fünf Spitzel. Sie hatte ihn gefragt, was er zu essen wünsche. Er hatte etwas Sizilianisches verlangt, vielleicht Fisch, wenn sie ihn ganz frisch kriegte.
Das Speisezimmer hatte vier Fenster zum Platz hin.
Die bis zur Decke reichenden Eckschränke gehörten noch zur alten Einrichtung, Alberti hatte es nicht mehr geschafft, auch sie zu verhökern. Es waren herrliche Stücke mit kunstvollen Schnitzereien.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Wolf D. Brennecke/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 11.08.2020
ISBN: 978-3-7487-5316-2
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