GEORGE H. COXE
Kühler Jazz
und heiße Spuren
Roman
Apex Crime, Band 114
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
KÜHLER JAZZ UND HEISSE SPUREN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Das Buch
Der Bandleader war ein Halunke: Er spielte zu viel Sweet für die Frauen und zu viel Beat für ihre Männer.
Eines Nachts hatte er zu viele Gäste, und einer von ihnen brachte ihn um. Von da an spielte Privatdetektiv Max Hale die erste Geige...
Der Roman Kühler Jazz und heiße Spuren von George H. Coxe (* 23. April 1901 in Olean/New York; † 31. Januar 1984 in Old Lyme/Connecticut) erschien erstmals im Jahr 1940; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1965.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
KÜHLER JAZZ UND HEISSE SPUREN
Erstes Kapitel
Sue Marshall schloss die Bürotür hinter sich und lehnte sich, eine Hand auf dem Knauf, dagegen. So stand sie, bis Max Hale von seinem Buch hochsah, in dem er las.
»Ein Herr ist draußen«, verkündete sie.
»Was verkauft er?«
»Er sagt, es handle sich um eine persönliche Angelegenheit.«
Hale beäugte sie skeptisch. »Sie wollen doch nicht etwa andeuten, es könnte ein Klient sein?«
»Nur eine vage Hoffnung«, erklärte sie spitz. »Er fragte, ob die Buchstaben M. C. an unserer Eingangstür Maxfield Chauncy bedeuten.«
Ein Grinsen wischte einen Teil der Skepsis aus Hales Blick. Sein zweiter Vorname war ein streng gehütetes Geheimnis, und in seiner Jugend hatte er unzählige Kämpfe ausgetragen, um zu beweisen, dass er nichts zu bedeuten hatte. Nur ein paar engste Freunde - und ein oder zwei von diesen unmöglichen Individuen, die solche Informationen für Kundenlisten zusammentragen, wussten, dass C. Chauncy bedeutete.
»Bitten Sie ihn herein«, sagte er. »Ich werde ihm vermutlich einen Drink anbieten müssen.«
»Das dachte ich auch«, entgegnete Sue. »Er sieht wie einer vom Jet-Set aus.«
Sie öffnete die Tür und trat beiseite, schlank und rank und außerordentlich tüchtig aussehend.
Eine Stimme ließ sich vom Vorzimmer her vernehmen, die »Vielen Dank«, sagte, und dann betrat ein junger, etwas untersetzter Mann in einem teuer aussehenden Tweedmantel das Büro. Seine braunen Augen blickten ernsthaft hinter der randlosen Brille, und Hale zog bei seinem Anblick im Geiste den Hut vor Sues rascher und völlig richtiger Beurteilung. Alan Proctor personifizierte so exakt ihre Bezeichnung, wie es nur jemand kann, der hundertfünfzig Jahre Familientradition und ein paar Millionen im Rücken hat.
»Alan«, sagte er, sich erhebend.
»Hallo, Max.« Proctor ergriff lächelnd seine Hand. »Schön, dich wiederzusehen.« Er sah sich um und umfasste mit einem Blick die komfortable Nussbaum- und Lederausstattung samt der eindrucksvollen Bibliothek über Kriminalistik in den Regalen an der einen Wand. »Repräsentiert das nun Kapital oder Einkommen?«
»Kapital. Setz dich.«
Proctor ließ sich in einem Sessel gegenüber dem Schreibtisch nieder und warf seinen Hut in einen Briefablagekorb.
»Dann stimmt es also, dass du tatsächlich etwas mit dieser Detektei zu tun hast?«
Hale sagte, dass dem so sei, vorausgesetzt es biete sich ihm eine Chance dazu.
»Ausgezeichnet.«
Proctor steckte sich eine Zigarette an, zog lässig daran und fuhr fort, sich umzuschauen, offensichtlich keineswegs in Eile, den Grund seines Besuches bekanntzugeben. Hale beschäftigte sich ebenfalls mit dem Anzünden seiner Zigarette und ließ seine Gedanken zu einem bestimmten Jahr zurückwandern, als Proctor noch ein spindeldürrer Steuermann in der Rudermannschaft des Colleges war. Proctor hatte sich inzwischen offenbar genug umgesehen, denn nun richtete er sich ein wenig in seinem Sessel auf.
»Ich kam«, begann er, »weil ich ein bisschen Beistand von dir brauche. Und, weil es sich um etwas handelt, womit ich nicht zu einem der üblichen Privatdetektive gehen will. Nicht nach allem, was man so von diesen Burschen hört.«
Er schwieg und blies eine Rauchwolke zur Decke, offenbar bemüht, die richtigen Worte zu finden.
»Es geht um Gail«, sagte er schließlich.
»Ach, um Gail mit ihren Zopf eben.«
»Die hatte sie damals noch, als du sie am Cape draußen kanntest, nicht wahr? Nun, inzwischen ist sie einundzwanzig.« Ein Lächeln streifte flüchtig seinen Mund, aber die Augen blieben ernst. »Kennst du einen Bandleader namens Don Washburn?«
»Ja, ich kenne ihn, wenn auch nicht persönlich. Er spielt im Ambler.«
»Nun, Gail zieht mit ihm herum.«
»So?«
»Ich denke ja nicht, dass es etwas Ernstes ist.«
Hale wollte schon reden, überlegte es sich aber anders und beschloss, Proctor Zeit zu lassen, es auf seine Weise darzulegen.
»Was natürlich nichts nützen würde, wenn sie durch seine Schuld in Schwierigkeiten geriete. Das ist das Blöde an der Geschichte. Und in ihrem Alter kann man ihr nichts mehr sagen. Ich habe versucht, eine Erklärung zu finden.« Ein Aschenstäubchen fiel auf seinen Ärmel, und er schnippte es weg. »Mutter starb vor zwei Jahren, wie du vermutlich weißt. Seither hat sich Gail völlig verändert. Sie fühlt sich wohl sehr allein, nehme ich an. Nun, jedenfalls so etwa ein halbes Jahr nach Mutters Tod schien sie sich wieder zu fangen. Aber dann heiratete Onkel Lathrop diese Frau. Er ist, bis wir unseren Vermögensanteil ausbezahlt bekommen, das offizielle Familienoberhaupt. Ja, was ich wegen Gail sagen wollte - sie konnte seine Frau vom ersten Moment an nicht ausstehen. Dann kam Johnny Trenholm, und ich glaube, sie hat sich ziemlich heftig in ihn verknallt. Was ganz in Ordnung war, bis Ethel - so heißt Onkels Frau - anfing, ihm schöne Augen zu machen.«
Proctors Mund wurde schmal, als wäre seine Beziehung zu Ethel kein bisschen besser als die seiner Schwester. »Daraufhin kam es zwischen Gail und Johnny zum Krach, und nun steckt sie dauernd mit diesem Washburn zusammen. Nicht, dass sie es gerade wild treibt - obwohl sie zu viel trinkt. Sie ist bloß aufsässig und besteht eben darauf, ihr eigenes Leben zu leben.«
»Wer ist Johnny Trenholm?«, fragte Hale.
»Er ging mit uns aufs College. Du müsstest dich eigentlich an ihn erinnern. Er hat ein paar Drehbücher verfasst und ein mäßiges Theaterstück. Ich hatte mich übrigens ebenfalls mit Schriftstellerei versucht. Und als ich Johnny vergangenen Sommer zufällig wiedertraf, überredete ich ihn, bei uns zu wohnen und mit mir zusammen an einer Sache zu arbeiten.«
Hale drückte seine Zigarette aus. Sein Gesicht hatte einen abweisenden Ausdruck angenommen. Er ahnte bereits, worauf Proctor hinauswollte.
»Was ist nun deine Idee?«
»Ich dachte, du könntest sie in meinem Auftrag beobachten.«
»Du meinst, sie bewachen?«
»Natürlich nicht die ganze Zeit.«
»Auch nachts?«
»Nun - ja. Sie ist praktisch zu jeder Tages- und Nachtzeit unterwegs. Ich bin ziemlich sicher, dass sie sogar zu ihm in seine Wohnung geht...«
»Und du möchtest, dass ich die Affäre beende.«
»So kann man es ungefähr nennen.«
»Wie?«
»Woher soll ich das wissen?« Proctor machte eine fahrige Bewegung. »Dazu kam ich ja hierher.«
»Moment mal«, sagte Hale und lächelte, um seine Bereitschaft zu zeigen, sein Problem zu verstehen. »Angenommen, ich folge ihr und stelle fest, dass sie Washburn in seiner Wohnung aufsucht. Was dann? Soll ich etwa ebenfalls hingehen, an die Tür klopfen und...«
»Hör zu, Max, ich finde die ganze Angelegenheit keineswegs witzig.«
»Angenommen, ich verständige dich«, fuhr Hale unbeirrt durch die Unterbrechung fort. »Schön, du gehst hin und versuchst sie dort rauszuholen. Meiner Meinung nach machst du damit die Sache nur noch schlimmer. Außerdem ist sie volljährig, und nach dem, was du sagst...«
»Aber ich möchte wissen, wo sie sich aufhält«, widersprach Proctor.
»Kennst du Washburn?«
»Leider ja. Das ist auch etwas, das wir Ethel zu verdanken haben. Sie war vor ein paar Jahren noch Barsängerin. Letzten Sommer spielte Washburn hier und ging die ganze Zeit in unserem Haus ein und aus, wie es ihm passte. Auf diese Weise hat ihn auch Gail kennengelernt. Es kam so weit, dass er praktisch jede Frau in der Runde mit Anträgen verfolgte. Es ist wahrscheinlich ein Wunder, dass ihm noch niemand die Kehle durchgeschnitten hat. Vor etwa einem Monat oder so hat ihm Onkel Lathrop schließlich das Haus verboten.«
»Ich kann gut begreifen, Alan, warum du dir Sorgen machst. Aber ganz offen gesagt, ich weiß nicht, wie ich dir helfen könnte. Du kannst natürlich Gail beobachten und gleichzeitig Erkundigungen über Washburn einziehen lassen. Vielleicht hilft dir das Resultat, Gail zu überzeugen, dass er nicht der richtige Umgang für sie ist.«
»Genau das ist es, was ich wünsche.«
»Fein. Dann solltest du dich an jemanden wenden, der sich beruflich mit solchen Dingen befasst. Ich glaube, ich kenne da einen, der...«
»Einen Privatdetektiv?«
»Ja.«
»Ich verstehe«, sagte Proctor steif, und Hale fiel wieder ein, dass Proctor immer schon dazu neigte, leicht einzuschnappen. »Es ist also durchaus eine Aufgabe für einen Privatdetektiv, wie ich sehe. Nur, dass du keine Lust hast, dich damit zu befassen. Ist es so?«
»Ich bin für solche Fälle nicht direkt eingerichtet, Alan. Weiter nichts. Es ist eine Routinesache, die...«
Proctor stand auf und nahm seinen Hut. »Nun, ich dachte, ich könnte dich darum bitten. Obwohl ich mir freilich nicht vorstellen konnte, dass du in dieser Richtung etwas anderes als ein Dilettant sein könntest.«
Der Angriff brachte eine leichte Röte in Hales Wangen, aber er unterdrückte seinen Ärger und warf nur beiläufig hin: »Was willst du damit sagen?«
»Nicht mehr, als dass es für dich weiter nichts als ein Hobby zu sein scheint. Warum solltest du schließlich etwas tun, was dich nicht amüsiert?« Er begleitete seine Worte mit einer lässigen Geste.
Das Telefon klingelte, bevor Hale etwas entgegnen konnte. Er hob ab, aus den Augenwinkeln Proctor anschauend, der inzwischen auf dem Weg zur Tür war, und sagte: »Warte noch einen Augenblick.«
»Worauf«, fragte die Stimme am Telefon, »warten Sie eigentlich? Auf den Kriminalfall des Jahres?«
Ein Grinsen breitete sich auf Hales Gesicht aus, als er Sue Marshalls Stimme erkannte und sah, dass der Hebel der Sprechanlage nicht umgelegt war, so dass sie sein Gespräch mit Proctor mithören konnte.
»In den drei Jahren, seit Sie dieses Büro haben, erhielten Sie drei oder vier Aufträge. Wir sitzen immerzu herum und hoffen, dass irgendetwas passiert. Sooft ich aber kündigen will, überreden Sie mich zu bleiben und halten mich mit Versprechungen, was alles Sie zu tun beabsichtigen, hin. Und nun, da Sie jemandem helfen könnten, da Ihnen jemand die Chance bietet, sich zu bewähren, lehnen Sie ab. Noch dazu bei einem Freund!«
»Vielleicht haben Sie nicht ganz unrecht«, murmelte Hale, einen amüsierten Glanz in seinen dunklen Augen. »Aber erst will ich Sie noch etwas fragen. Sind Sie einverstanden, mir bei diesem Fall an die Hand zu gehen?«
»Selbstredend.« Eine kurze Pause, und dann, eine Winzigkeit unsicher: »Wenn ich kann.«
»Fein. Dann regen Sie sich wieder ab, meine Liebe. Wir nehmen an.«
Er legte auf. Alan Proctor musterte ihn neugierig, nicht ganz sicher, ob er das Lächeln erwidern sollte.
»Du hast natürlich recht, Alan«, sagte Hale friedfertig. »Meine Sekretärin hat mir das gerade klargemacht.« Er nickte in Richtung Telefon. »Wenn du also willst, dass ich für dich arbeite, dann werde ich tun, was ich kann.«
Proctor kam wieder zum Schreibtisch zurück. »Pass mal auf. Paul Sanford gibt eine Geburtstagsparty heute Abend im Ambler. Wir werden alle dort sein. Wie war’s wenn du für eine Weile hinkommen würdest? Du könntest bei dieser Gelegenheit alle kennenlernen, könntest dir Washburn mal genauer ansehen und dir dann dein eigenes Urteil bilden.«
»Schön«, sagte Hale. »Ich weiß nur immer noch nicht, was ich dagegen tun kann, wenn es deiner Schwester gefällt, Washburn in seiner Wohnung zu besuchen.«
»Wenn ich mich recht erinnere«, begann er trocken, eine Braue spöttisch gewölbt, »dann stellte für dich der Umgang mit Damen niemals ein Problem dar. Es wird dir schon etwas einfallen.«
Zweites Kapitel
Der zum Ambler-Club gehörende Parkplatz war gut besetzt, als Max Hale sein Kabriolett über den Bürgersteig holpern ließ und neben dem uniformierten Parkwächter anhielt.
»Pass mal gut auf, Joe«, sagte er, als der Junge die Tür aufmachte. »Ich möchte meinen Wagen möglichst nahe an der Ausfahrt stehen haben und an einem Platz, wo ich schnellstens abfahren kann.«
»Verstehe, Mr. Hale.«
»Dann zeig mir jetzt, wo du ihn hinstellst.«
Der Junge sah sich um und kratzte sich am Kopf. Er lief auf eine Limousine zu, manövrierte sie geschickt an einen anderen Platz und lenkte dann das Kabriolett rückwärts in die freigewordene Parklücke. Hale drückte ihm einen Dollar in die Hand.
Hale trat gerade auf den Bürgersteig hinaus, als ein Herr und eine Dame in ein Taxi stiegen, das vor dem Clubeingang stand. Er konnte das Paar nicht deutlich sehen, aber den Herrn im Abendanzug, der dem Portier geflissentlich half, die Tür für die Fahrgäste zu schließen, erkannte er. Es war Alan Proctor.
»Oh, hallo Max!« Proctor kam ins Foyer, wo sich Hale inzwischen aufhielt. »Schade, dass du nicht früher kamst. Ich brachte eben Onkel Lathrop und seine Frau zum Taxi. Er hatte schlechte Laune wegen irgendetwas. Sagte, er fühle sich nicht wohl.« Er machte einen Schritt auf den Eingang zum Clubrestaurant zu und legte eine Hand auf Hales Arm. »Komm, ich bring dich zu unserem Tisch.« io
Hale hatte Sue Marshall mitgeteilt, dass er bereits heute Abend mit einem Einsatz rechne und ihre Begleitung wünsche. Sie waren übereingekommen, dass sie ihn hier irgendwann nach zweiundzwanzig Uhr treffen würde, weshalb er jetzt sagte: »Ich erwarte jemanden, Alan. Es wird besser sein, wenn ich mir einen eigenen Tisch geben lasse. Geh du nur los, ich komme dann später.«
Proctor war einverstanden, und Hale folgte ihm in das Restaurant, wo ihm Leroy, der Oberkellner, sofort ein Zeichen gab und sich auf einen Tisch dicht neben der Tanzfläche zubewegte. Aber Hale rief ihn zurück.
»Heute Abend nicht, Leroy«, sagte er. »Wie wäre es mit dem dort in der Ecke?« Er zeigte auf einen Tisch in der Nähe des Eingangs, von wo aus man einen günstigen Überblick auf den gesamten Raum hatte.
Leroy schien einen Moment erstaunt, verbarg es aber wohlerzogen und steuerte mit einem kaum merklichen Zucken seiner mageren Schultern auf den bezeichneten Tisch zu. »Erwarten Sie jemanden, Mr. Hale?«
»Eine Blondine, Leroy. Und eine sehr reizende dazu. Sollte ich nicht an meinem Tisch sein, wenn sie kommt, wollen Sie sich dann an meiner Stelle um sie kümmern?«
Leroy versprach es, und Hale nahm Platz und bestellte Scotch und Soda. Als sein Drink kam, steckte er sich eine Zigarette an und sah sich um. Für einen Night-Club war es ein ziemlich großer Raum, der jedoch durch die gedämpfte, indirekte Beleuchtung und durch geschickte Innendekoration dennoch ein gewisses Maß an Intimität behalten hatte. Die Tanzfläche war geräumig und das Essen überdurchschnittlich gut. Selbst zu dieser Stunde und an einem Wochentag war mehr als die Hälfte der Tische besetzt. Auch die Bar, auf die ein Bogendurchgang die Sicht freigab, war gut besucht.
Die Band spielte im Moment nicht. Hale nippte hin und wieder an seinem Drink, nickte gelegentlich einem Bekannten zu und wunderte sich, auf welche Weise er Alan Proctor bei der Lösung eines Problems, das so ausschließlich familiär war, von irgendwelchem Nutzen sein konnte. Er zählte fünf Personen an Alan Proctors Tisch - Alan, seine Schwester, ein anderes Paar und einen Mann, von dem er annahm, dass er Johnny Trenholm sein musste. Er wartete noch ab, Bis die Musik wieder spielte und sich die Tanzfläche zu füllen begann. Dann machte er sich auf den Weg dorthin.
Er kam langsamer voran, als er gedacht hatte, und bis er endlich dort eintraf, fand er nur noch drei Leute an dem Tisch nahe der Tanzfläche - Alan, seine Schwester Gail und den schlanken, drahtigen Jungen mit ausgeprägter Kinnpartie, die auf eine gehörige Portion Starrsinn schließen ließ. Alan, der Hale die Hand schüttelte, tat so, als handelte es sich um ein zufälliges Zusammentreffen, ehe er mit der Vorstellung begann.
»Max Hale!«, sagte Gail Proctor und reichte ihm die Hand. »Wie nett, dich mal wiederzusehen! Wo warst du die ganze Zeit?«
»Und das ist Johnny Trenholm.«
Hale schüttelte auch ihm die Hand, und als sie sich setzten, nahm er sich einen Stuhl neben Gail. »Du bist doch tatsächlich erwachsen geworden, Mädchen.«
»Das«, warf Trenholm lässig hin, »ist noch eine höchst umstrittene Frage.«
»Hör nicht auf ihn.« Gail sagte es lustig, aber Hale bemerkte den aufflackernden Ärger in ihren Augen. »Er schmollt, und außerdem besitzt er keine Manieren. Wie geht es dir denn so? Wie geht es Martha?«, fügte sie noch hinzu. »Ist sie immer noch in Frankreich? Wann kommt sie heim?«
Hale sagte, dass es ihm gut gehe, ebenso seiner Schwester, und dass er keine blasse Ahnung habe, wann sie nach Hause zu kommen gedächte. Während sie miteinander schwatzten, bot sich ihm Gelegenheit genug, festzustellen, wie enorm sie sich seit jenem Sommer, da sie miteinander zu segeln pflegten, verändert hatte. Damals hatten seine Eltern noch gelebt, und die Familie verbrachte die Sommermonate gemeinsam draußen am Cape, nicht weit von Proctors Besitzungen entfernt. Gail und seine Schwester Martha waren zusammen auf gewachsen; dennoch war es erst in jenem letzten Sommer geschehen, dass sie sich ihm plötzlich angeschlossen hatte. Wie ein Schatten war sie ihm überallhin gefolgt, bis er ihr schließlich versprochen hatte, sie jeden Samstag mit auf sein Segelboot zu nehmen. Im Stillen nachrechnend, gewahrte er, dass seither sieben Jahre vergangen waren. Sie musste damals vierzehn gewesen sein.
Sie besaß immer noch diese biegsame Knabenfigur, wenn es auch den Jahren gelungen war, ihre Hüft- und Busenlinie sanft zu runden. Ihr Haar hatte sich zu einer äußerst reizvollen Mahagonifarbe verdunkelt, aber ihre Haut hatte die kindliche Glätte und Frische bewahrt. Sogar die Sommersprossen über dem Nasenrücken und die hellen, kupferfarbenen Pünktchen in den braunen Augen waren noch da. Und auch die Impulsivität und Energie, die sie als Teenager an den Tag gelegt hatte.
Ein Kellner kam Alans Wink folgend heran, und Hale bestellte wieder einen Scotch. Gail verlangte für sich dasselbe.
»Man hat mir erzählt, dass du dich neuerdings mit Schriftstellerei beschäftigst«, wandte sich Hale an Alan, als hätte ihr nachmittägliches Gespräch nie stattgefunden.
»Schon seit zwei Jahren«, bestätigte Alan. »Jetzt arbeite ich mit Johnny zusammen. Er hat bereits ein paar Drehbücher verfasst und dabei schon einige Erfahrung gesammelt.«
»Vergiss das Theaterstück nicht«, warf Gail ein.
»Nein«, sagte Johnny Trenholm, »vergiss das bloß nicht.«
Hale zeigte höfliches Interesse. »Wirklich? Wie hieß es denn?«
»Das spielt keine Rolle. Sie haben es bestimmt nicht gesehen«, erklärte Trenholm. »Es war eine großartige Pleite.« Er leerte sein Glas, als der Kellner mit einem frischen Drink kam. »Doch diesmal glauben Alan und ich etwas wirklich Gutes zu haben.«
»Wir möchten gerne selbst die Produktion übernehmen.«
»Wenn ihr das Geld zusammenbekommt«, sagte Gail mit einer Spur Bosheit.
Trenholm seufzte. Mund und Augen verrieten seine Gereiztheit; aber er brachte immerhin ein halbes Lächeln zustande, als er sich an Hale wandte.
»Hören Sie, Sie kennen sie doch schon eine ganze Weile. War sie immer ein solches Biest?«
»Immer«, fiel Gail schnell ein.
»Und so bodenlos boshaft?«
»Warum hört ihr zwei nicht endlich auf?«, fragte Alan irritiert.
»Lass ihr doch ihren Spaß«, antwortete Trenholm.
»Was für einen Spaß?«
Hale war nun sicher, dass es sich hier nicht um das übliche Geplänkel handelte, und er war eben entschlossen, es zu beenden, indem er Gail zum Tanzen aufforderte, als die Musik abbrach. Das Paar, das er vorher bemerkt hatte, kam nun zum Tisch zurück. Alan stellte sie als Paul und Cora Sanford vor, und Hale fiel ein, dass er von Zeit zu Zeit Bilder von den beiden in Zeitungen gesehen hatte. Sie schienen dauernd entweder gerade zu irgendeiner Expedition nach Neu-Guinea oder dem Amazonas oder Asien aufzubrechen oder von einer zurückzukehren. Er musste zugeben, dass die beiden ihrem Aussehen nach hielten, was man sich, den Zeitungsberichten zufolge, unter ihnen vorstellte.
Cora Sanford war eine schmalhüftige, vollbusige Frau, die ihr schlichtes, wunderbar sitzendes Kleid aus Chiffon mit überlegener Gelassenheit zu tragen verstand. Ungefähr Dreißig, schätzte Hale, mittelblond, mit klugen grauen Augen und einer leicht gebräunten Haut, die Gesundheit und Kraft ausstrahlte.
Ihr Mann hätte jederzeit die Rolle eines Abenteurers in einem Film übernehmen können, ohne sich um sein Make-up kümmern zu müssen. Er war geschmeidig, bronzebraun und auf eine männliche, sportliche Weise gutaussehend. Sein blondes, ziemlich kurzes Haar war eine Schattierung dunkler als das seiner Frau, und seine großen, kräftigen Zähne blitzten weiß unter dem gestutzten blonden Schnurrbart, wenn er lächelte.
»Einen Drink, Darling«, sagte Cora, hörbar ausatmend, um zu zeigen, wie warm ihr war. »Bekomme ich einen?«
»Aber selbstverständlich, Liebes.«
Sanford winkte einen Kellner heran und bestellte. Seine Frau begann die Melodie mitzusummen, die die Band eben spielte.
»Erinnerst du dich noch, wo wir diesen Song zuletzt hörten?«, fragte sie.
Ihr Mann zog eine Braue hoch und lächelte. »Oh, ja, ganz genau. Im Savoy, nicht wahr?«
Cora Sanford erwiderte sein Lächeln. »Nein, mein Lieber«, sagte sie zärtlich. »Es war im Ritz.«
»Im Ritz? Aber nein, da täuschst du dich! Es war im Savoy.«
»Nein, Darling. Ich erinnere mich haargenau. Es war im Ritz.«
»Bist du sicher, dass es nicht im Crillon war?«, fragte Gail verschmitzt.
»Nein«, erklärte Sanford todernst. »Es war im Savoy. Und zwar im September«, fuhr er milde fort. »Wir waren bei den Houghtons zum Dinner gewesen. Und anschließend gingen wir ins Savoy.«
Hale verbiss sich mühsam ein Grinsen, bis er Alans Blick auffing. Als er das Lächeln sah, begriff er, dass es sich offenbar um eine alte Story handelte.
»Wir waren bei den Adams' zum Dinner gewesen, Darling«, berichtigte ihn Cora Sanford. »Und es war im Ritz.«
Der Kellner servierte die Drinks, und Sanford dankte ihm. Dann leise, zu niemandem im Besonderen redend, sagte er: »Im Savoy«, und wandte sich Alan zu. »Weißt du, was mit Lathrop und Ethel los war?«, erkundigte er sich.
Alan zuckte die Achseln. »Bloß müde, nehme ich an.«
»Lathrop war müde«, sagte Gail. »Aber Ethel hätte zu gerne noch getanzt. Stimmt es nicht, Johnny?« Trenholm begnügte sich mit einem wütenden Blick auf sie.
Die Musik begann wieder zu spielen, und Hale stand schnell auf, gleichzeitig Gail Proctors Hand ergreifend. Sie sah leicht verwundert zu ihm hoch, stand dann aber auf und betrat die Tanzfläche.
Sie tanzte wundervoll, genau wie er erwartet hatte. Eine Weile gab er sich ganz dem Tanz mit ihr hin. Dann spannte er ein wenig die Muskeln seines Arms an, und sie blickte zu ihm hoch.
»Hör mir mal zu, Kleine. Auf diese Weise wirst du dich bei den Leuten nicht gerade beliebt machen.«
»Das wäre fürchterlich tragisch, nicht wahr?«
»Du hast also vor, auch mit mir so bissig umzuspringen, wie?«
Sie senkte den Kopf, und Hale schaute auf ihr glattes, weiches Haar hinunter, während sie eine Weile schweigend tanzten. In den kurzen Pausen, wenn die Band die Melodie wechselte, hielt sie ihre Augen sorgfältig von den seinen abgewandt. Dann, nach einer beträchtlichen Zeitspanne, sagte sie: »Hört es sich wirklich so bissig an, Max?«
»Ja.«
»Mmm. Wahrscheinlich hast du recht. Ich habe mir das nie so richtig klargemacht.«
»Was ist denn mit dir und Trenholm los? Soll das ein Liebesgeplänkel sein?«
»Ganz gewiss nicht.«
»Nun gut, dann hör damit auf. Selbst, wenn du ihn nicht ausstehen kannst...«
»Aber ich habe gar nichts gegen ihn«, unterbrach ihn Gail schnell. »Er ist - nun ja, ich hatte ihn sogar mal sehr gerne, aber...«
»Du bist doch nicht etwa auf die Frau deines Onkels eifersüchtig?«
»Eifersüchtig?« Sie schaute zu ihm auf, die junge Stirn nachdenklich gerunzelt. »Nein, Max. Enttäuscht würde schon eher stimmen, denke ich. Es ist nichts. Wir haben uns nur dauernd in der Wolle. Ohne Grund.« Ein paar Sekunden lang sagte sie nichts. »Weißt du, es ist alles ganz anders als früher«, fuhr sie dann fort. »Erinnerst du dich, wie ich noch deine Segelcrew war? Damals war alles so wunderbar einfach. Das Leben kam mir herrlich vor, voller Romantik und Erwartungen und Überraschungen. Vielleicht geht es allen Mädchen so, aber - ach, ich weiß nicht.«
Er fühlte, wie sie sich in seinem Arm zu entspannen begann. Ein bisschen später redete sie weiter.
»Seit Mutter tot ist und Onkel Lathrop mit seiner Frau bei uns lebt, ist alles anders geworden und...« Wieder hob sie den Kopf und lächelte ihm zu. Aber die Schatten wichen nicht aus ihren Augen. »Lass uns von etwas anderem reden, ja?«
Eine Welle von Mitgefühl erfasste Hale plötzlich. Das Mädchen war viel unglücklicher, als er sich vorgestellt hatte. Er suchte nach einer passenden Einleitung für das, was er sagen wollte, und begann schließlich: »Was ist eigentlich an dem dran, was ich über dich und Don Washburn hörte?«
Sie sah ihn schnell an, aber er war damit beschäftigt, den Mann zu beobachten, der, ein strahlendes Bühnenlächeln auf den Lippen, vor der Kapelle stand. Don Washburn sah unbedingt gut aus, wenn er lächelte. Seine Züge waren regelmäßig, wenn auch Mund und Kinn trotz des gepflegten Bärtchens irgendwie weichlich wirkten. Sein Haar war dicht und lockig.
»Warum, Max? Was hast du gehört?«
»Ach, nur das Übliche«, schwindelte Hale. »Was man so in Klatschspalten zu lesen bekommt. Du kennst das ja: Junge Dame der Gesellschaft wählt Bandleader zu ihrem ständigen Begleiter.«
»So ein Unsinn!«
»Wirklich? Man hat dich aber sehr oft mit ihm zusammen gesehen, stimmt’s?«
»Nicht sehr oft, Max.«
»Du bist in ihn verliebt, nicht wahr?«
»Nicht die Spur.«
»Nun, dann verstehe ich dich nicht. Ich muss sagen, mir kommt er eigentlich nicht ganz hasenrein vor.«
»Ist er auch nicht«, gab Gail unbekümmert zu. »Aber er macht daraus kein Geheimnis. Er weiß, dass ich es weiß.« Sie lachte kurz und ein bisschen schnippisch. »Das haben wir zwischen uns gleich geregelt, als ich zum ersten Mal auf einen Drink in sein Apartment mitging.«
»Dann möchte ich wissen, was du dir von dieser Freundschaft versprichst?«
»Er ist amüsant«, sagte Gail leichthin. »Bei ihm habe ich meinen Frieden. Er nörgelt nicht dauernd an mir herum, und ich kann so sein, wie ich bin.«
Die Musik hörte zu spielen auf, und als sie zusammen die Tanzfläche verließen, griff sie nach seiner Hand. »Findest du mich jetzt abscheulich, Max?«
»Mein endgültiges Urteil behalte ich mir vor, bis ich in dieser Sache genauer Bescheid weiß«, sagte er streng, aber mit einem Lächeln in seinen Augen, weil er glaubte, sie zu verstehen.
Gail sah es, und einen kurzen Moment lang zeigte sich so etwas wie Erleichterung in ihrer Miene, als legte sie Wert auf seine Meinung über sie. »Fein. Lass es mich wissen«, sagte sie.
Während sie zum Tisch zurückgingen, bemerkte Hale, dass Paul Sanford sich erhoben hatte und dabei war, sich einen Weg zu dem Durchgang dicht neben der kleinen Bühne zu bahnen. Der Ausdruck grimmiger Entschlossenheit in seinem Gesicht ließ Hale seinem Blick folgen. Er sah, dass er sich auf den Rücken des weinroten Smoking-Jacketts von Don Washburn richtete, der eben in diesem Durchgang verschwand.
Sobald Gail Platz genommen hatte, entschuldigte sich Hale mit der Bemerkung, er müsste zu seinem Tisch zurückkehren. Ohne Eile schlenderte er zwischen den Tischen hindurch und betrat ebenfalls den schmalen, nicht sehr langen Flur, an dessen Ende die Tür zu Ned Amblers Büro lag, wie er wusste. Von den beiden anderen Türen, die es hier noch gab, gehörte die eine zur Herrentoilette und die andere zu einem zweiten Büro, über dessen Verwendung er nicht eingeweiht war.
Der Flur lag im Moment verlassen da. Hale ging zur Herrentoilette, warf einen Blick hinein und stellte fest, dass außer dem Neger, der dort Dienst tat, niemand drin war. Gerade öffnete sich die zweite Tür im Flur. »Ich will den gesamten Rest haben, oder...«, sagte eine Stimme in dem dahinterliegenden Raum.
Dann war eine andere Stimme zu vernehmen: »Das ist alles, was Sie jemals von mir erhalten werden. Und wagen Sie bloß nicht, mir Schwierigkeiten zu machen! Sollte ich etwas dergleichen bemerken, werde ich dafür sorgen, dass Sie endgültig den Mund halten!«
Hale wich schnell zurück und verschwand in der Herrentoilette, als er einen Mann aus dem Zimmer in den Flur treten sah. Als er sich über ein Waschbecken beugte, ging die Tür hinter ihm auf, und Paul Sanford kam herein. Nicht der Paul Sanford, den Hale am Tisch vorher begrüßt hatte, sondern ein geröteter, schmallippiger Mann mit zornfunkelnden Augen. Er sah direkt zu Hale hinüber, begann sich die Hände zu waschen, und erst nach einer ganzen Weile schaute er noch mal hin, als hätte er ihn erst jetzt erkannt.
»Ah, hallo«, sagte er kurz angebunden. Er nahm das Handtuch, das ihm der Neger reichte, trocknete seine Hände ab und ging, ohne ein Trinkgeld zu geben, hinaus.
Der Neger murmelte etwas, das nicht sehr freundlich klang. Hale ließ sich Zeit, trocknete sich umständlich die Hände und gab dem Mann einen Vierteldollar. Wieder draußen auf dem Flur, zögerte er einen Augenblick und ging dann schnurstracks auf die Bürotür zu. Ohne einen speziellen Plan zu haben, drehte er den Türknauf und schob die Tür einen Spalt auf, ehe er recht wusste, was er tat.
Auch diesmal wurde das Gespräch von zwei Männern geführt, aber es schien weitaus ruhiger zu verlaufen.
»So hör doch mal zu, Ned«, sagte der eine von ihnen. »Ich sagte dir, ich würde heute die fünf für dich bereit haben, und vielleicht in ein paar Tagen...«
»Du wirst zehn haben, Donny.« Die zweite Stimme war leise, ruhig, fast überredend, und dennoch flößte sie das Gefühl drohender Gefahr ein. Sie beeindruckte Hale weit mehr als Sanfords Zornesausbruch. »Ich werde kommen und sie mir holen.«
Es war zu spät für Hale, sich unbemerkt zurückzuziehen; andererseits wünschte er keinesfalls auf diese Weise ertappt zu werden, weshalb er nun kurz entschlossen begann, die Tür weiter aufzumachen. Im gleichen Augenblick ergriff drinnen eine Hand den Türknauf und riss so heftig daran, dass er nur mit Mühe sein Gleichgewicht bewahren konnte.
Direkt vor ihm stand ein rundlicher, kahlköpfiger Mann. Hinter ihm, nahe bei einem Schreibtisch, befand sich der düster dreinschauende Don Washburn.
Hale wich zurück. Der Kleine folgte ihm, die hellen Schweinsäuglein misstrauisch zugekniffen.
»Verzeihung«, sagte Hale schnell. »Dachte, es sei die Tür zur...«
»Herrentoilette, Max?« ergänzte Ned Ambler trocken. »Gegenüber.«
»Natürlich! Sollte es eigentlich wissen. War schon oft genug hier. Muss ganz in Gedanken gewesen sein...«
»Das scheint mir auch«, sagte Ambler, die Augen immer noch verkniffen. Dann drehte er sich abrupt um und ging den Flur entlang. Hale, der blieb, wo er war, sah, wie Ambler sich umdrehte und ihn kalt musterte. Es half nichts: Er musste noch mal in die Herrentoilette hineingehen und sich ein zweites Mal die Hände waschen.
Drittes Kapitel
Sue Marshall wartete am Tisch auf ihn. Als Hale sie dort in ihrem eleganten kleinen Abendkleid sitzen sah, wunderte er sich wieder einmal, warum sie darauf bestand, sich während ihrer Tätigkeit in seinem Büro streng und nüchtern zu kleiden. Er wusste natürlich nicht, dass Sue ein bisschen verliebt in ihn war und ihre abweisende, betont sachliche Haltung lediglich aus Furcht vor der Entdeckung ihres Geheimnisses angenommen hatte.
Nur äußerst selten folgte sie einer Einladung zum Dinner, und jedes Mal, wenn sie annahm, erlitt ihr mühsam konstruiertes Verteidigungssystem eine schmähliche Niederlage. An diesem Abend sah sie ungemein liebenswert, sehr weiblich und sehr graziös aus. Ohne ihre Brille kam das tiefe Braun ihrer langbewimperten Augen erst richtig zur Geltung. Ihr Teint war fleckenlos und ihre schlanke Figur weich gerundet. Sie begrüßte ihn mit einem Lächeln, als er sich zu ihr setzte.
»Habe ich mich sehr verspätet?«
»Nein. Tut mir leid, dass ich Sie warten ließ, Sue«, sagte Hale und winkte dem Kellner. Nachdem er Drinks bestellt hatte, zeigte er ihr Proctors Tisch und erzählte ihr ein bisschen über die Leute, die dort saßen.
Sue war ganz Ohr. Sie fand Gail reizend und war besonders von den Sanfords beeindruckt, weil sie sie schon öfters auf Fotos in den Zeitungen gesehen und von ihren Expeditionen gehört hatte.
»Was werden wir tun?«, fragte sie schließlich.
Hale sah sie erstaunt an. »Nun, was schlagen Sie vor? Vergessen Sie bitte nicht, dass Sie es waren, die fand, ich müsste diesen Fall übernehmen.«
Sie schnitt ihm eine Grimasse. »Finde ich immer noch. Und außerdem auch, dass Sie eigentlich wissen sollten, wie man so etwas anpackt.«
»Weiß ich auch. Aber mir kommt es auf die Betrachtungsweise einer Frau an. Deshalb bat ich Sie hierher. Also, lassen Sie sich was einfallen. Ich höre.«
Sue wusste nicht recht, ob das ernst war oder nicht. »Wir könnten sie heute Nacht beobachten«, schlug sie hoffnungsvoll vor.
»Mmm.«
»Mal sehen, was sich tut.«
»Einverstanden.« Hale nickte. Die nächste halbe Stunde saßen sie mehr oder weniger stumm dort und nippten an ihren Drinks.
»Könnten wir nicht wenigstens tanzen?«, fragte Sue endlich.
Hale schüttelte den Kopf. »Nehmen Sie bloß mal an, die ganze Gesellschaft bricht auf, gerade während wir uns in der Mitte der Tanzfläche befinden. Was dann?«
»Sie sind niederträchtig«, murmelte sie.
»Aber praktisch.«
Sue seufzte resigniert.
»Vielleicht täusche ich mich«, sagte Hale. »Aber ich glaube, Sie werden die ganze Geschichte ziemlich dumm finden. Wir können sie freilich beschatten und sie auch vor körperlichen Gefahren beschützen. Aber, was sämtliche anderen Arten von Gefahren angeht, lassen sie sich wohl kaum ausschalten. Wenn ein Mädchen ihres Alters - das gilt auch für Sie - mit einem bestimmten Mann herumziehen will, wird sie niemand davon abhalten können. Und je mehr Hindernisse man ihr in den Weg legt, umso dickköpfiger wird sie darauf bestehen. Irre ich mich darin?«
Einen langen Moment war Sues Blick voll und überraschend weich auf ihn gerichtet. Dann lächelte sie, und der sonderbare Ausdruck in ihren Augen verschwand.
»Ich fürchte, Sie haben recht. Aber...«
Hale legte seine Hand auf ihren Arm, und sie brach ab.
»Eben sah ich Proctor nach der Rechnung verlangen«, sagte er. »Gehen wir.«
Er stand auf. Gleichzeitig erklärte er Leroy, der herbeigeeilt kam, dass er keine Zeit mehr habe, auf die Rechnung zu warten, er solle sie auf seine Clubrechnung übertragen lassen. Noch ehe die kleine Gesellschaft den Bürgersteig betrat, saßen sie schon in seinem Kabriolett.
»Nun ja,«, bemerkte Hale. »Sie werden jetzt alle zusammen nach Hause fahren. Wir folgen ihnen, und dann gehen wir auch heim. Einverstanden?«
Sue gab keine Antwort. Doch dann sah Hale auch schon, dass er sich geirrt hatte. Alan Proctor und die Sanfords stiegen auf dem Parkplatz in eine schwere Limousine und ließen Gail Proctor und Johnny Trenholm auf dem Bürgersteig zurück. Gail Proctor und Trenholm machten ein paar Schritte in den Parkplatz hinein, bevor sie zur Seite traten und die Limousine vorbeifahren ließen.
Plötzlich blieb Gail stehen. Trenholm redete, nach seinen Gesten zu schließen, ernsthaft auf sie ein. Dann drehte sich Gail um, und Trenholm folgte ihr zum Eingang zurück. Ohne ihm auch nur die geringste Beachtung zu schenken, ging sie direkt auf ein Taxi zu. Der Portier sprang heran und riss für sie den Wagenschlag auf.
Trenholm griff nach ihrem Arm, hielt sie einen Moment fest, aber sie riss sich heftig von ihm los und stieg ein. Der Taxifahrer gab Gas, und der Wagen schoss vom Randstein weg.
»Na, sehen Sie?«, sagte Sue mit leisem 'Triumph, als Hale langsam über den Bürgersteig auf die Straße hinausrollte.
»Ja«, antwortete er geistesabwesend, weil er ausschließlich von dem Ausdruck ungezügelter Wut auf Trenholms Gesicht gefangen war. Der Schein einer Neonschrift beleuchtete die starre Maske des Zorns in dieser Sekunde, während er dort allein auf dem Bürgersteig stand. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und rannte in den Parkplatz hinein.
Es war leicht für Hale, das Taxi im Auge zu behalten. Der Verkehr war so gut wie vorbei, die meisten Schaufensterbeleuchtungen waren abgeschaltet, so dass die Verkehrsampeln hell und klar durch die Dunkelheit strahlten. Somit war es keinerlei Problem, sie genau abzuschätzen.
Mit bescheidenen dreißig Meilen rollten sie in die Stuart Street, bogen links ab und fuhren dann geradeaus weiter, bis zur Abzweigung in die Huntington Avenue und weiter in westlicher Richtung.
Sie waren fast gegenüber der Bezirkspolizeistation - Hale immer noch einen guten Häuserblock dahinter -, als ein kleiner, zweisitziger Sportwagen an ihnen vorbeiflitzte und sofort langsamer wurde. Als er dieses Tempo auch noch über die Eisenbahnbrücke beibehielt, wusste Hale, dass der Wagen dem Taxi folgte. Sue sprach es aus.
»Das war Trenholm. Ich sah sein Gesicht.«
Das Taxi fuhr endlich langsamer, als es eine Straße, nicht weit vom Fenway, erreichte. Vor einem der drei- und vierstöckigen Apartmenthäuser dort, ungefähr in der Mitte des Häuserblocks, hielt es schließlich an. Auf beiden Straßenseiten parkte eine bescheidene Anzahl von Autos, aber der Sportwagen dachte gar nicht daran, sich an die Parkregeln zu halten, sondern drängte sich hinter das Taxi in die Lücke. Hale kam zwei Wagen dahinter zum Stehen, gerade als Gail ausstieg.
Trenholm hatte inzwischen ebenfalls seinen Wagen verlassen, und als Gail ihn sah, trat sie schnell zurück und versuchte wieder in das Taxi einzusteigen. Trenholm bekam sie am Arm zu fassen, hielt sie fest, und so ständen sie sich ein paar Sekunden gegenüber: Gail, die versuchte, sich loszureißen, und Trenholm, der heftig auf sie einredete. Auf einmal hörte sie auf, sich zu wehren, holte aus und gab ihm eine Ohrfeige.
Trenholm ließ sie unwillkürlich los; dann griff er mit beiden Händen nach ihr, packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. Das brachte den Taxifahrer auf den Plan.
Hale streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Er hörte den Taxifahrer fluchen, sah, wie er sich Trenholm griff, ihn herumriss, und noch während jener sich drehte, schoss seine Faust vor und landete hart auf dem Kinn des Fahrers.
Der Fahrer setzte sich auf das Straßenpflaster. Gail Proctor schaute auf ihn hinunter, und der Fahrer schaute zu Trenholm hinauf und beschloss dort zu bleiben, wo er war.
»Nicht schlecht«, murmelte Hale. »Der Junge hat einen ausgezeichneten Schlag.«
Ein oder zwei Sekunden lang gefror die Szene zur Bewegungslosigkeit. Dann sprang Gail in das Taxi und knallte die Tür zu. Trenholm wollte hinter ihr her; doch schon nach einem Schritt bremste er, schaute sich nach dem Taxifahrer um, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zu seinem Sportwagen zurück. Als nächstes rappelte sich, der Fahrer hoch und rieb sich das Kinn.
Der Sportwagen schoss rückwärts in die Straßenmitte, kam zitternd zum Halten und schnellte dann vorwärts. Der Fahrer war auf die Fahrbahn hinausgetreten und spähte dem Wagen hinterher, als beabsichtige er, sich die Nummer zu merken. Dann stieg er in das Taxi und fuhr los.
»Nun...«, hauchte Sue Marshall. »Er war - er war ganz schön wütend, wie?« Hale sah sie aus den Augenwinkeln an, während er das Kabriolett auf den Weg brachte. Im schwachen Schimmer des Armaturenlichts bemerkte er ihre weit aufgerissenen Augen und ihre halb geöffneten Lippen, und er musste ein Lächeln unterdrücken, als er sah, wie stocksteif aufgerichtet sie neben ihm saß.
»Mir scheint, sie hat ihn ziemlich fertiggemacht. Sollen wir ihr noch eine Weile auf den Fersen bleiben?«
»Um Himmels willen, ja! Bis wir sicher sind, dass sie zu Hause ist. Mir war angst und bange, Max. Sie hätte...«
»Sie meinen, sie wäre in dieser Stimmung imstande gewesen, etwas Dummes anzustellen?«, ergänzte Hale und wurde sich bewusst, dass er so ziemlich den gleichen Eindruck hatte.
Das Taxi war nun wieder in der Commonwealth Avenue, und während Hale ihm durch die Unterführung folgte, gelangte er zu dem Schluss, dass Gail sich nun doch wohl entschieden hatte, heimzufahren. Eine halbe Meile weiter, gerade als er glaubte, das Taxi würde vor dem schmalen vierstöckigen Ziegelbau halten, wendete es und begann in erhöhtem Tempo zurückzufahren.
»Ach, du meine Güte«, seufzte Sue enttäuscht.
Hale spähte angestrengt durch die Windschutzscheibe und machte sich an die Arbeit. Zehn Minuten später befanden sie sich wieder vor dem Apartmenthaus.
Diesmal blieb Gail im Wagen sitzen. Hale parkte an der gleichen Stelle wie vorher und schaltete seine Scheinwerfer aus. Er war nicht sicher, ob Gail oder der Taxifahrer bemerkt hatten, dass er ihnen gefolgt war; aber er fand es im Moment auch nicht besonders wichtig, weshalb er nun für Sue und sich Zigaretten ansteckte.
Es waren vielleicht fünf Minuten vergangen, als ein geschlossenes dunkles Coupe langsam die Straße herunterfuhr und in der ersten freien Parklücke hinter dem Taxi hielt. Zwei Sekunden später spazierte Don Washburn
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: George H. Coxe/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Gertraud Nothhelfer und Christian Dörge (OT: The Lady Is Afraid).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2020
ISBN: 978-3-7487-5283-7
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