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Leseprobe

 

 

 

 

EVELYN BERCKMAN

 

 

Das Geheimnis

jener Nacht

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 107

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS GEHEIMNIS JENER NACHT 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Alison ist froh, dass sie in der Bibliothek, die von Mr. Durant geleitet wird und in der auch ihre Schulfreundin Myra arbeitet, eine Anstellung findet. Schon bald bemerkt Alison, dass es Myra auf alte Dokumente abgesehen hat, die sich im Besitz von Mrs. Lees-Milburn, bei der beide Frauen wohnen, befinden. Diese Dokumente sind ein Vermögen wert, doch Alison kann nicht so recht glauben, dass Mrs. Lees-Milburn wegen ihnen von Myra ermordet wurde...

Und sie hat sich nicht getäuscht, doch erst viel später erfährt sie das Geheimnis jener Nacht, von dem sie keine Ahnung hatte...

 

Evelyn (Domenica) Berckman (*18. Oktober 1900; †18. September 1978) war eine US-amerikanische Autorin von Kriminal- und Schauer-Romanen.

Der Roman Das Geheimnis jener Nacht erschien erstmals im Jahr 1972; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1975.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DAS GEHEIMNIS JENER NACHT

 

 

 

 

 

   

  Erstes Kapitel

 

 

Zwei nicht mehr ganz junge Frauen wanderten am Strand entlang. Der dunkle Himmel über ihnen, die feuchtkalte Luft und die düstere See erweckten den Eindruck eines unfreundlichen Wintertages. Dabei war es erst Mitte September. Der milde englische Herbst war ausgeblieben. Stürme fuhren die Küste entlang, und in Lewisham und anderswo hatte es sogar schon Sturmflut gegeben.

Der scharfe Wind trieb die beiden Frauen vor sich her, was ein Vergnügen hätte sein können, wenn nicht der Rückweg gewesen wäre - man würde sich gegen den Wind stemmen müssen. Die tief dahinjagenden Wolken trübten das Tageslicht, als sei es November. Die verlassene Strandpromenade wirkte trostlos. Die Urlaubszeit war zu Ende.

Die beiden Frauen machten den Eindruck freundschaftlicher Verbundenheit, wie sie so nebeneinander dahingingen, zumindest schienen sie gute Bekannte zu sein. Die blonde, größere von beiden wirkte ein wenig reservierter. Die andere hingegen eher ein wenig verärgert durch die Schweigsamkeit ihrer Begleiterin. Sie sah sie von Zeit zu Zeit von der Seite an, dann gab sie sich einen Ruck und bemühte sich, die Unterhaltung, die längere Zeit gestockt hatte, wieder in Gang zu bringen.

»Ich hoffe so sehr, dass es dir gefällt«, begann sie unvermittelt, »wirklich, ich hoffe es von Herzen, Bally.«

»Ich bin sicher, dass es mir gefällt«, meinte die andere ruhig, fast ein wenig geistesabwesend.

»Ja, ja«, fiel die erste ihr ins Wort, »aber nachdem ich diejenige war, die das Ganze veranlasst hat, fühle ich mich eben verantwortlich.«

»Das brauchst du nun wirklich nicht«, murmelte die mit Bally Angeredete.

»Wenn schon - ich fühle mich nun einmal verantwortlich«, erwiderte die andere, wobei sie eine leichte Verlegenheit nicht verbergen konnte. Mein Gott, dachte sie im Stillen, das unmögliche Zeug, das du trägst, dieser Topf-Hut! »Ende September ist doch außer den großen Hotels alles geschlossen«, fuhr sie laut fort, »und die kosten - na, du weißt es ja - zwanzig Pfund die Woche. Alle wirklich netten Pensionen sind zu, und die, die noch geöffnet haben, sind fürchterlich. Ich habe alle abgeklappert, als du schriebst, dass du kommst, Alison.«

»Wie nett von dir, dass du dir so viel Mühe gemacht hast«, sagte Alison leise, »wirklich, furchtbar nett, Myra.«

»Ach was, das war keine Mühe, ich möchte nur, dass du dich wohl fühlst«, wehrte Myra ab. »Wie lange du endgültig hierbleiben willst, weißt du wohl noch nicht?«

»Nein«, Alison schüttelte den Kopf, »das hängt davon ab, wie lange die Arbeit dauern wird.«

»Na also, falls es länger dauern sollte und du dich dabei nicht wohl fühlen würdest, das wäre doch nicht das richtige. Deshalb habe ich dich auch lieber unter meine Fittiche genommen, trotz einiger Bedenken.«

»Warum Bedenken?«

»Ach, ich weiß nicht. So ein Haus ist nicht jedermanns Geschmack, ein bisschen schäbig, kein routinierter Pensionsbetrieb. Aber es hat auch seine Vorteile«, fuhr sie hastig fort. »Mrs. Mowbray ist nicht die durchschnittliche, übellaunige Vermieterin. Sie ist - ja, sie ist die Güte selbst. Im Übrigen ist sie die Witwe eines Obersten.« Sie lachte ein wenig geringschätzig. Ihr Lachen war, ähnlich wie ihre Art zu sprechen, abrupt, herausfordernd und ein wenig zu laut. »Außerdem ist es dort sauber. Das Essen ist, gemessen im Preis, passabel. Wenn Leute einmal dagewesen sind, bleiben sie entweder für immer oder sie kommen zumindest wieder, das möchte ich wetten. Weil es für die heutigen Zeiten eben erschwinglich ist, durchaus erschwinglich.«

»Ja, das glaube ich«, stimmte die andere zu.

»Und es ist nur ein kleiner Kreis, nicht so eine Herde dekadenter Grauköpfe, die ständig an einem herumnörgeln. Mit dir werden wir nur sechs Leutchen sein«, fuhr Myra fort. »Als die merkwürdige alte Schraube, Miss Ravenshaw, neulich starb, hab' ich die Gelegenheit wahrgenommen. Im Übrigen starb sie nicht in ihrem Zimmer«, beteuerte sie hastig, »sondern im Krankenhaus.«

»Oh!«

»Und ich finde es sehr sympathisch, dass dieses Haus nicht Haus Sonnenschein oder Haus Meeresblick heißt, oder ähnlich kitschig, sondern schlicht und einfach nach dem Besitzer Haus Mowbray.«

»Ich bin überzeugt, dass es mir dort gefallen wird«, stimmte ihre Begleiterin zu, sichtlich bemüht, sich ihre Unkonzentriertheit nicht anmerken zu lassen. »Die großen Hotels übersteigen auf jeden Fall meine finanziellen Möglichkeiten, und deine Pension scheint genau das zu sein, was ich mag. Hab' Dank, dass du mich dorthin gebracht hast. Wirklich, ich bin dir sehr dankbar, Myra«, fügte sie herzlich hinzu.

Der zungenfertigen Myra verschlug es für einen Augenblick die Sprache. Die Aufrichtigkeit in der Stimme ihrer Freundin, etwas, was sie nicht zu definieren vermochte, weil es ihr selbst fernlag, kein Überschwang, sondern eine seltsam überzeugende Ernsthaftigkeit, verblüffte sie und erinnerte sie zugleich daran, wie irritiert sie zuerst beim Anblick ihrer Freundin gewesen war.

»Alison«, sagte sie hastig, »so wie du dich kleidest, machst du dich einfach zu alt, viel zu alt.«

Alison konnte die eigene Überraschung zwar nicht verbergen, aber das Lächeln, mit dem sie sich jetzt ihrer Freundin zuwandte, verlor nichts an Herzlichkeit.

»Ich muss Garderobe kaufen, die eine Weile hält«, sagte sie ein wenig abweisend, und sah an ihrem biederen Kamelhaarmantel hinunter, »ich kann nicht jede Mode mitmachen.«

»Aber du siehst darin aus wie eine Oberlehrerin alten Stils oder wie die Vorsteherin eines Mädchenpensionats«, beharrte Myra. »Die unglückliche Ehe, die du hinter dich gebracht hast, ist noch kein Grund, dich als lebendig begraben zu betrachten und dich entsprechend anzuziehen.«

»Ich betrachte mich keineswegs als lebendig begraben«, erwiderte Alison. »So unglücklich meine Ehe auch gewesen sein mag, ich verdanke ihr Chris. Ein Sohn wie dieser entschädigt einen für manches.«

»Aber nicht für alles!«, unterbrach sie die andere. »Das glaube ich dir nicht!«

Wieder lächelte Alison, unbeirrbar freundlich, undurchdringlich, in einer Weise, die Myra rasend machte. »Und ob er mich entschädigt!«, sagte sie einfach. »Das weißt du doch.«

»Blödsinn. Für diese Kleidung ist es doch in zehn Jahren immer noch früh genug«, sagte Myra in komischer Verzweiflung. »Musst du denn jeden verdienten Pfennig ausschließlich für Chris ausgeben? Musst du denn unbedingt so wirken, als machtest du dich aus freien Stücken älter als du bist?«

»Ich bin schließlich nicht mehr jung, und so wie ich gekleidet bin, wirke ich zumindest korrekt«, murmelte Alison, nun etwas verstimmt und deutlich reserviert. Myra bemerkte es sofort und sammelte alle Kräfte zum Widerspruch.

»Sieh mal, Bally«, begann sie entschlossen, unterbrach sich aber gleich darauf. »Es ist doch nicht zu glauben!« Ihre Augen nahmen einen schadenfrohen Ausdruck an. »Schau mal da hinüber, siehst du die Frau?«

Gegen den grauverhangenen Himmel hob sich eine dunkle Silhouette ab; das einzige Lebewesen, das außer ihnen selbst hier auf dem Damm entlangging und sich gegen den Sturm stemmte, war eine Frau. Aus der Entfernung konnte man Einzelheiten kaum erkennen, gleichwohl ging etwas Seltsames von dieser windzerzausten Erscheinung aus.

»Siehst du sie?«, wiederholte Myra ihre Frage, mit kaum erklärlicher Aufregung in der Stimme.

»Ja, ich sehe sie«, erwiderte Alison ruhig und unbeeindruckt, »man kann sie ja gar nicht übersehen.«

Beide Frauen schwiegen eine Weile und sahen, wie die Gestalt allmählich herankam. Sie ging auf der anderen Seite des Fußweges, eine alte Frau, die selbst in ihrer jetzt etwas gebeugten Haltung außergewöhnlich hochgewachsen wirkte. Die schäbige Kleidung über der mageren Gestalt war schwarz. Mit weitausholenden Schritten ging sie an ihnen vorbei, ohne auch nur einen Blick, geschweige denn einen Gruß.

In betroffenem Schweigen blieben die beiden Jüngeren zurück. »Ich bin nur froh«, sagte Myra schließlich, »dass du sie jetzt wenigstens hier schon mal gesehen hast. Ihr zum ersten Mal am Abendbrottisch zu begegnen, ist eine ziemliche Zumutung.«

»Ach, heißt das...«

»Ja, sie wohnt auch bei den Mowbrays«, bestätigte Myra mit einem boshaften kleinen Lächeln. »Sie ist die älteste Mitbewohnerin und hat das Gebaren einer regierenden Fürstin. Dabei ist sie arm wie eine Kirchenmaus.«

»Oh?«

»Sie hat keinen Pfennig auf der hohen Kante, sie kann kaum das Notwendigste zum Lebensunterhalt zusammenkratzen. Wahrscheinlich hat sie irgendeine Sondervereinbarung mit Mrs. Mowbray getroffen, nehme ich an. Ich wette, dass die arme Caroline nicht einen Pfennig an ihr verdient, aber sie ist nicht zu erschüttern. Eine gewöhnliche Pensionsinhaberin würde das nie im Leben machen. Aber Caroline ist eben außergewöhnlich.«

»Wer ist die alte Dame eigentlich, die wir eben gesehen haben?«

»Mrs. Lees-Milburn. Untersteh dich ja nicht, sie etwa schlicht Mrs. Milburn zu nennen - sie würde dich glattweg in Streifen schneiden! Sie ist ein Überbleibsel aus der guten alten Zeit, ziemlich greulich, aber dafür einmalig«, meinte Myra ironisch. »Etwas Ähnlichem begegnest du nicht so schnell wieder, denk das bloß nicht.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja«, sagte Myra langsam und genüsslich, »sie ist uralt, neunzig oder darüber. Ihre Mutter war eine bekannte Persönlichkeit, hatte einen literarischen Salon, kannte Gott und die Welt und war ständig von diesen grässlichen viktorianischen bärtigen Männern umgeben, die zu ihrer Zeit gleichfalls berühmt waren und deren Biographien aus gutem Grunde erst jetzt so nach und nach veröffentlicht werden. Hochphilosophisch gebildet und daneben ein Leben lang an Stuhlverstopfung und Impotenz leidend.«

»Soso.«

»Du verstehst nicht, was ich meine«, beharrte Myra, »du begreifst es gar nicht, was ich dir gerade erklären will. Der springende Punkt ist nämlich der, dass sie alle miteinander eine unerhört gelehrte und schöngeistige Korrespondenz pflegten, ununterbrochen sozusagen. Vermutlich verbrachten sie ihre gesamte Zeit damit, pausenlos sechsseitige und längere Briefe zu schreiben, weiß der Himmel, wann sie daneben noch Zeit fanden, ihre Gedichte zu verfassen. Jene Zeit war, wie du weißt, die Zeit der großen Briefwechsel.«

Alison nickte.

»Na also«, sagte Myra triumphierend. »Und nun wirst du besser begreifen, was los ist. Dieses alte Ungeheuer, das du gerade gesehen hast, hat nämlich insofern mit dem Ganzen zu tun, als ihre Mama zum Browning-Kreis gehört hat und ebenso wild durch die Weltgeschichte korrespondierte, wie sie alle. Und«, fuhr sie bedeutsam fort, »stell dir vor, die alte Schreckschraube hat kofferweise, aber zumindest einen Koffer voll solcher Briefe, die ihren Liebhaberwert haben. Da sind zuerst einmal die Brownings, aber wer wohl noch? George Eliot und ihre beiden unterwürfigen Ehemänner, Ruskin, die Rosettis, Dickens, und diese ganzen literarischen Größen von einst.«

Absolute Stille folgte. Alison schwieg verwirrt und Myra gleichfalls, um ihr Zeit zu geben, das Gehörte zu verarbeiten.

»Bei den enormen Preisen, die heutzutage solche Dinge erzielen«, meinte Alison schließlich, »müsste eine Briefsammlung dieser Art doch einen beachtlichen Wert darstellen.«

»Das sagst du, eine Bibliothekarin, mir, einer Bibliothekarin, na weißt du!«

»Ich wundere mich, dass nicht schon längst jemand Wind davon bekommen hat«, fuhr Alison fort, »und diese Briefe zu kaufen versucht. Es würde sich doch lohnen.«

»Angebote hat sie genug«, antwortete Myra. »Es gibt Leute, die wissen um die Existenz dieses Koffers. Es kursiert sogar eine Geschichte von einem amerikanischen Professor, der ohne Voranmeldung eines guten Tages hereinschneite, um mit ihr zu sprechen, frühmorgens natürlich, wie die Amerikaner das so lieben. Daraufhin soll sich die alte Schachtel voller Würde in ihrem schäbigen Gewand auf gerichtet und gesagt haben: Ich bin nicht bereit, Sie zu empfangen! und aus dem Zimmer gerauscht sein. Und das glaube ich auch«, fügte sie hinzu, »es sieht ihr ganz und gar ähnlich.«

»Aber warum verkauft sie die Briefe denn nicht?«, fragte Alison verwundert. »Sie könnte doch ein bequemes Leben führen, statt...«

»Verkaufen? Die und verkaufen!«, schnitt Myra ihr in komischem Entsetzen das Wort ab. »Die ehrwürdige Korrespondenz ihrer ehrwürdigen Mama verkaufen! Wo denkst du hin, eher stirbt sie freiwillig den Hungertod.«

»Ja, sind denn diese Briefe so bedeutungsvoll?«

»Das weiß kein Mensch«, erwiderte Myra. »Sie lässt ja keinen ran, noch niemand hat sie gesehen. Man weiß nicht mal, aus welcher Zeit die einzelnen stammen.«

»Wertvoll sind sie wahrscheinlich auf jeden Fall«, meinte Alison nachdenklich und fügte vorsichtig hinzu, »selbst wenn es nur Briefe aus dem Browning-Kreis sind. Zum Beispiel aus der Zeit, in der er in London lebte und einigen bekannten Frauen nur kurze Mitteilungen geschrieben hätte, dann betrüge ihr Wert mindestens...«

»Bally! Gescheites Mädchen!«, unterbrach Myra sie begeistert. Ihre leuchtenden Augen, ihre bebenden Nasenflügel verhießen Dramatisches. »Bally, du hast mich auf den besten Gedanken gebracht, den man in diesem Zusammenhang haben kann. So werde ich's machen! Dass ich daran nicht schon früher gedacht habe!« Sie brach ab und erklärte mit überstürzter Schnelligkeit ihr Vorhaben: »Nimm mal an, ich wage es, vor allen anderen die Bedeutung dieser Briefe abzuwerten, oder ich lasse durchblicken, was ich davon halte - nämlich nichts! Ob sie das nicht aus der Reserve lockt, so dass sie sie schließlich doch herzeigt?« Mit wachsender Begeisterung sah sie Alison an. »Das mach ich. Beim Abendessen reize ich sie bis zur Weißglut! Und wenn du mir dabei einen Gefallen tun willst...«

»Ich? Wie komme ich dazu? Ich denke nicht daran«, unterbrach Alison sie. »Denkst du, ich führe mich am ersten Tag gleich so übel ein?«

»Na ja, ich brauche es ja nicht heute Abend zu versuchen. Ich kann warten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist«, sagte Myra, immer noch erregt von ihrer Idee und den Möglichkeiten, die sich abzeichneten.

»Lass mich dabei bitte aus dem Spiel«, beharrte Alison. »Ich will damit nichts, aber auch gar nichts zu tun haben.«

Myra kicherte nur aufgeregt vor sich hin, wahrscheinlich hatte sie gar nichts gehört.

»Nun ja«, sagte sie schließlich, als wolle sie vom Thema ablenken, »jetzt hast du wenigstens ein Mitglied des Hauses Mowbray gesehen.«

»Erzähl mir was von den anderen«, ging Alison etwas zu bereitwillig darauf ein. »Drei sind es noch, sagtest du? Wer sind sie?«

»Schön«, sagte Myra, redefreudig wie immer. »Da ist einmal ein charmanter alter Bursche, Major James Grant. Jimmy. Natürlich bereits pensioniert, seine Interessen erschöpfen sich in Golf, Schach und Bridge. Der Prototyp eines Offiziers alter Schule.« Sie zögerte ein wenig. »Heute Abend bin ich mit ihm verabredet, hier in der Gegend gibt es eine Menge kleiner Bridge-Clubs. Spielst du Bridge?«

»Du liebe Güte - nein.«

»Das hätte ich mir denken können. Man wird als Kartenspieler geboren. Du bist keiner. Komm, lass uns noch bis zur nächsten Bühne gehen«, meinte sie plötzlich, »dann wollen wir umkehren, es ist Zeit für den Tee - ich hab' für uns beide bestellt.«

»Eine Tasse Tee wird nach diesem Sturm gewiss gut tun«, stimmte Alison zu.

Schweigend schritten sie dahin, bis Myra die Stille durch eine plötzliche Frage unterbrach: »Kennst du die Redewendung Der vierte Mann am Seil?«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Alison irritiert zurück; sie hatte das Schweigen genossen. »Der vierte Mann am Seil?«, wiederholte sie. »Nein, die Wendung ist mir unbekannt. Was soll das heißen?«

»Wirklich nicht? Überleg doch mal.«

»Nein, wirklich nicht.«

»Es hat eigentlich eine scheußliche Bedeutung«, erklärte Myra, wobei ihre Stimme aber mehr Vergnügen als Abscheu ausdrückte. »Es kommt aus der Fachsprache des Klettersports - weißt du, diese armen Irren, die eine steile Felswand tausend Meter hoch kriechen, brrr!« Sie schüttelte sich. »Na ja, und die sind immer zu dreien am Seil festgemacht, das weißt du doch, oder?«

»Nein, ich wusste es nicht.«

»Das ist jedenfalls so. Und wenn das Seil reißt und einer oder alle abstürzen und sich das Genick brechen, dann heißt es, der vierte Mann am Seil war schuld daran.«

»Aber sagtest du nicht gerade, sie wären immer nur zu dreien an einem Seil festgemacht?«

»Aha! Jetzt begreifst du allmählich!«, meinte Myra triumphierend. »Es gibt nämlich in Wirklichkeit keinen echten, vierten Mann, verstehst du?«

»Ach so...«

»Na also. Der vierte Mann ist die Ursache dafür, dass das Seil reißt, ein morsches Stück Hanf, oder was immer. Das ist die Gefahr, die immer dabei ist.« Sie lächelte hintergründig. »Und sie wissen es nicht.«

»Ja, ich verstehe, aber du hast recht, es ist wirklich eine abscheuliche Vorstellung!«

»Nun stell dir jemand vor, jemand wie dich, zum Beispiel«, fuhr Myra hastig und wie unter Zwang fort, »jemand, der so ausgeglichen und ruhig ist.« Der Blick, den sie Alison zuwarf, war fast heimtückisch - was mag dich wohl aus deiner wohlanständigen Ruhe bringen, dachte sie dabei gehässig. »Nun also«, sagte sie laut, »Gesichter, die nichts verraten, und überlege dann, was sie wohl aus der Fassung bringen könnte.«

»Also weißt du«, erwiderte Alison betroffen, »bist du etwa auf der Suche nach den schwachen Stellen deiner Mitmenschen?«

»Und was wäre dabei?«, fragte Myra kichernd. »Ja, man kann es so nennen. Bruchstellen interessieren mich eben.«

»Das ist ja ein makabres Hobby.« Alison konnte ihre Abneigung nicht verbergen. »Ziemlich unerfreulich.«

»Jeder hat seinen vierten Mann«, versuchte Myra zu erklären, unbeeindruckt von der Kritik ihrer Begleiterin. »Was ist dein vierter Mann am Seil, Bally?«

»Myra, bitte!«

»Du willst es nicht sagen«, Myra schien entzückt zu sein, »hast du etwa Angst? Oder vielleicht kennst du deine schwache Stelle nicht mal selber?« Sie hob den Kopf wie ein Habicht. »Also, lass mich mal vermuten...«

»Bitte lass das«, unterbrach Alison sie mit ungewohnter Schärfe.

»Dein schwacher Punkt«, sagte Myra, ohne sich durch das Verbot ihrer Freundin beirren zu lassen, »dein schwacher Punkt könnte...«

»Myra!«, protestierte Alison. »Warum hörst du nicht auf, wenn ich dich darum bitte?«

»Ach, magst du das nicht?« Wieder schaute Myra triumphierend drein. »Das ist bereits ein Zugeständnis, weißt du das? Aber bitte - wenn du dich weigerst - ich - ich kriege auch so deinen vierten Mann heraus. Das gelingt mir immer. Und ich werde ihn meiner Sammlung von Bruchstellen hinzufügen«, schloss sie maliziös.

»Eine hässliche Sammlung muss ich sagen«, erwiderte Alison und hatte plötzlich das unterschwellige Gefühl einer lauernden Gefahr. »Wirklich scheußlich.«

»Ach, ich weiß nicht recht. Jeder amüsiert sich halt auf seine Weise«, meinte Myra scheinbar gleichgültig. »Komm, wir wollen umkehren.«

Schweigend gingen sie in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren und hatten alle Mühe, gegen den Wind anzukämpfen, der sich ihnen jetzt entgegen warf, an Myras dunklen Haaren zerrte und Alison den Hut vom Kopf zu reißen drohte. Aber sobald sie sich vom Strand weg und der Straße zuwandten, die in den Ort führte, erklang das Brausen des Sturmes schwächer, und sie konnten müheloser ausschreiten.

»Merkwürdig«, sagte Myra in die plötzliche Stille, »merkwürdig, dass du jetzt ausgerechnet in derselben Bibliothek arbeitest, in der ich schon bin.«

»Ja«, erwiderte Alison einsilbig.

»Nur schade, dass du nicht weißt, wie lange du bleibst!«

»Er - ich meine Mr. Durant - hat keinen genauen Zeitpunkt angegeben.«

»Na ja.« Myra zuckte die Achseln. »Weißt du übrigens, dass Champernowne keine öffentliche, sondern eine private Bibliothek ist, eine Stiftung?«

»Ja, Mr. Durant erwähnte das in einem seiner Briefe.«

»Ach so.« Myras Stimme klang merkwürdig verändert. »Kennst du ihn persönlich?«

»Ich kenne ihn überhaupt nicht«, erwiderte Alison gleichmütig. »Bevor ich die Stelle bekam, haben wir ein paar Briefe hin- und hergewechselt. Das ist alles.«

»Na, dann will ich dir mal erzählen. Er ist...«

»Myra«, unterbrach Alison sie, immer noch mit der mysteriösen Erscheinung der alten Frau beschäftigt, die vorhin ihren Weg gekreuzt hatte, »Myra, weiß die alte Dame, was in den Briefen steht?«

»Sie hat keinen blassen Schimmer. Mag sie auch aus guter Familie sein - sie ist vom Lande und dumm wie Bohnenstroh. Ob du's glaubst oder nicht - ich habe selbst gehört, wie sie Browning »diesen Dichterling« genannt hat. Und ich gehe jede Wette mit dir ein«, fuhr sie fort, »dass sie auch nicht einen dieser vielen Briefe jemals gelesen hat. Alles, was sie weiß, ist, dass es Familienpapiere sind, hochzuverehrender Familienbesitz, der heilig gehalten werden muss. Zum Teufel mit der alten Schachtel. Du wirst sie ja bald kennenlernen. Aber was unseren Mr. Durant anbelangt - er ist auch bei den Mowbrays. Bereite dich seelisch darauf vor, dass er uns mit seiner Anwesenheit beglücken wird.«

»Oh«, erwiderte Alison höflich, wenn auch uninteressiert, »du meinst, er lebt in derselben Pension?«

»Du lieber Himmel - nein. Der Direktor der Champernowne-Bibliothek, und dort leben? Wo denkst du hin! Nein, er ist nur vorübergehend da. Es ist ein bisschen anstrengend, mit seinem Chef unter einem Dach zu sein, ich dachte deshalb, es sei besser, dich vorzuwarnen.«

»Aber...« Alisons Verblüffung war mehr auf Myras Geheimniskrämerei als auf echtes Interesse zurückzuführen. »...ich meine, hat er denn keine Wohnung? Ist er Junggeselle?«

»Ach wo, verheiratet ist er«, sagte Myra in fast geheimnisvollem Ton. »Das ist ja gerade die Schwierigkeit. Oh, Himmel!« Ein Blick auf ihre Armbanduhr hielt sie von weiteren Erklärungen ab. »Du, jetzt müssen wir uns aber beeilen. Ich erzähl dir's später - wenn wir allein sind.« Sie drückte den Arm der anderen. »Oh, Bally, ich bin so froh, dass du hier bist. Aber komm, jetzt wollen wir schnell machen, sonst kriegen wir keinen Tee mehr.«

Ihr Zimmer war gemütlich, sauber und freundlich eingerichtet. Sie fühlte sich bereits wie zu Hause, als sie ans Auspacken ging. Wie Myra schon gesagt hatte, schien dies keine Pension im üblichen Sinne zu sein. Das Ganze wirkte familiär anheimelnd. Im oberen Stockwerk befanden sich sechs Gästezimmer und zwei Bäder. Auf dem blanken Parkett des Flurs lag ein verblichener Orientteppich. An der einen Wand stand eine alte Uhr, deren Pendelschlag beruhigend klang. Auf der anderen Seite befanden sich eine wunderschöne Mahagonikonsole aus viktorianischer Zeit und darauf eine altmodische Lampe, von zwei passenden dekorativen Vasen flankiert. Bewundernd nahm sie eine davon in die Hand und setzte sie gleich wieder ab, verblüfft von dem Gewicht, das man dem grazilen Stück gar nicht ansah. So etwas kostet in Antiquitätengeschäften zwischen vierzig und fünfzig Pfund, dachte sie anerkennend. Wie hübsch und geschmackvoll hier doch alles arrangiert war. Jeder Winkel schien Behaglichkeit und einen häuslichen Frieden auszustrahlen, der dieses Haus in besseren Tagen, als es noch keine Pension war, einmal zu einer Zuflucht und zur Stätte der Geborgenheit gemacht haben musste.

Im unteren Stockwerk erklangen Stimmen und Gelächter. Sie stieg die Treppe hinunter, vorbei an den alten Gemälden, die dort hingen, und begab sich, den Stimmen folgend, in den großen Wohnraum.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Nach dem Abendessen saß sie in der Diele und fühlte sich in der Atmosphäre des Mowbray-Hauses einfach wohl. Nicht nur die Umgebung gefiel ihr außerordentlich, auch das Essen war, wie Myra gesagt hatte, ganz vorzüglich.

Sie hielt eine Teetasse in der Hand, rührte mit dem Teelöffel gedankenvoll darin und führte sich ihre Mitbewohner noch einmal vor Augen. Zuerst war da Mrs. Lees-Milburn, die groteske alte Dame, die sie draußen in Wind und Wetter zuerst gesehen hatte, ein Überbleibsel aus alter Zeit, grimmig und überheblich. Sie musste einmal vermögend gewesen sein, ein Riesenhaus mit vielen Dienstboten besessen haben. Das Selbstbewusstsein aus diesen Zeiten früheren Glanzes äußerte sich in Anmaßung und Überheblichkeit ihren Tischgenossen gegenüber. Und was den Major Grant anbelangte, den Myra gleichfalls schon erwähnt hatte, er war mit seinem einseitigen Interesse für Schach und Bridge, mit seiner aufrechten Körperhaltung und seinen prätentiös guten Manieren der typische alte Offizier im Ruhestand.

Der einzige, der in dieser Tafelrunde wirklich undurchsichtig, fast ein wenig mysteriös zu sein schien, war ein Mr. Marx oder Markus. Er passte absolut nicht zu den anderen, schien eher scheu, fast schüchtern und fühlte sich ganz offensichtlich unter den Anwesenden nicht wohl, und wenn er einmal eine bescheidene Bemerkung zu machen wagte, blieb ein ignorantes Oh oder tatsächlich? mehr oder weniger die einzige Antwort auf seinen kläglichen Versuch, eine Konversation zu beginnen. Es war Alison peinlich gewesen, dies mit ansehen zu müssen. Hätte sie neben ihm gesessen, hätte sie sich gewiss mit ihm unterhalten.

Sie schob den unangenehmen Gedanken an Mr. Markus schnell beiseite und überließ sich stattdessen einer Art Wachtraum an die einzige Person bei Tisch, die sie beeindruckt hatte. Wie lange war es her, dass sie in dieser Weise an einen Mann gedacht hatte? Oder vielmehr, wie lange war es her, dass ihr ein Mann begegnet war, an den in dieser Weise zu denken sich lohnte?

Ihre Überlegungen wurden durch den plötzlichen Eintritt ihrer Kollegin unterbrochen. Myra war sorgfältig geschminkt und zum Ausgehen zurechtgemacht. Sie trug einen Mantel über dem Arm.

»Also nun«, begann sie ohne Einleitung, schob sich einen Sessel neben die Freundin und warf sich hinein, »was unser eben unterbrochenes Gespräch angeht« - sie senkte die Stimme zu einem Flüstern -, »Thomas Durant hält sich hier auf, weil er entweder seiner Frau davongelaufen ist, oder weil sie ihn hinausgeworfen hat. Mrs. Mowbray ist nämlich seine Kusine. Sie sind beide von hier, und in diesem Städtchen ist eigentlich jeder mit jedem irgendwie verwandt.«

Sie machte eine Atempause, die Alison zu der Frage benutzte: »Warum hält er sich nicht irgendwo auf, wo er's ein bisschen luxuriöser hätte?«

»Das ist es ja eben«, flüsterte Myra und sah zur Tür, als fürchte sie, dass jemand hereinkommen könne, »er wird, glaube ich, ganz gut bezahlt für seine Arbeit in der Bibliothek, aber doch nicht gut genug, um sich das Getrenntleben im großen Stil leisten zu können.«

»Ach so.« Alison hatte ein wenig Mühe, so viele Neuigkeiten auf einmal in ihrer Vorstellung einzuordnen.

»Und diese Hexe von Weib«, fuhr Myra fort, »kommt in sein Büro und macht ihm Szenen. Stell dir vor, in der Bibliothek! Dringt einfach ein und zieht eine Show ab. Du kannst dir ja denken, wie peinlich ihm das ist. Er läuft außerdem dabei Gefahr, seinen Posten loszuwerden.«

»Wieso? Ich denke, er hat beste Empfehlungen und ist sehr angesehen? Ich habe gehört, er hätte der Bibliothek erst zu einem Namen verholfen.«

»Das stimmt. Er hat sich Champernowne voll und ganz gewidmet. Aber das nützt ihm alles nichts, wenn ein Skandal erst einmal laut wird und dem Stiftungsausschuss zu Ohren kommt. Ich habe dir ja schon gesagt...« Sie zuckte verächtlich die Achseln. »...wir leben hier unter Spießbürgern auf dem platten Land. All die pensionierten Generale und Admirale im Ausschuss, diese ganze hochgestochene Blase - was die meinen, ist das Evangelium.«

»Sag mal«, Alison versuchte ihr Unbehagen zu überspielen und dem Thema auszuweichen, »wer war dieser merkwürdige, kleine Mann bei Tisch, dieser Mr. Markus?«

»Ach der? Das magst du wohl fragen!« Wieder sah Myra zur Tür und sprach hastig weiter. »Wie Caroline Mowbray einen Typ wie den überhaupt jemals hier auf genommen hat, ist mir unbegreiflich. Das versteht keiner. Sie musste gerade wieder mal einen Anfall von Nächstenliebe gehabt haben. Vielleicht hat auch irgendjemand ihn ihr auf gezwungen, oder was weiß ich.«

»Warum bist du eigentlich so voller Vorurteile?«, fragte Alison ruhig. »Ist nicht ein Mensch so gut wie der andere?«

»Nein, weißt du«, protestierte Myra, »ich bin, weiß der Himmel, nicht aus den feinsten Kreisen, aber ein Kerl wie der ist mir einfach zu schmierig. Der soll

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Evelyn Berckman/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphix.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphix.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Ursula Pommer (OT: The Forth Man On The Rope).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5014-7

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