Cover

Leseprobe

 

 

 

 

JOHN WAINWRIGHT/AL CONROY/

JOHN PADDY CARSTAIRS/JACK PEARL

 

 

Der kalte Stahl

 

Vier Romane in einem Band

 

 

 

 

Apex Crime, Band 100

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

John Wainwright: IN EINER NACHT DES GRAUENS (Freeze Thy Blood Less Coldly) 

John Paddy Carstairs: MP IN ZARTEN FINGERN (No Thanks For The Shroud) 

Al Conroy: DAS TODESURTEIL (Soldato!) 

Jack Pearl: 7 GEGEN CHICAGO (Robin And The 7 Hoods) 

 

 

Das Buch

Ein Verkehrsunfall auf einer tiefverschneiten Straße im Moorland von Yorkshire ist der Ausgangspunkt eines Kampfes um Leben und Tod zwischen zwei Gruppen von Männern: einer Jazzband, die von einem Tanzabend kommt, und einer Verbrecherbande, die nach einem brutalen Raubüberfall sich und ihre Beute in Sicherheit zu bringen versucht...

 

Es gibt mehrere Möglichkeiten, zum Film zu kommen. Der Schriftsteller Garway Trenton zum Beispiel wird nach Hollywood gerufen. Und Maybelle, seine bildhübsche Sekretärin, versucht es auf die klassische Weise, über Mr. Trenton. Mitgefangen - mitgehangen. Trenton wird verdächtigt, einen Kollegen ermordet zu haben, und auch Maybelle bleibt nicht ungeschoren...

 

Johnny Morini war 29 Jahre alt, es war ihm vorbestimmt, nicht älter zu werden: Don Renzo Cappellani hatte sein Todesurteil gefällt. Verräter mussten sterben - so lautete das Gesetz der Mafia. Don Renzos Todesschützen ölten ihre Waffen. Aber ein Mann wie Morini ließ sich nicht einfach abknallen wie eine Tontaube...

 

Chicago in der 1920er Jahren: Die Atmosphäre ist schwül und ausgesprochen bleihaltig. Sieben unorthodoxe Gangster mit ausgesprochen unfairen Methoden, ein nichtsahnender, bereits so gut wie toter Gangsterboss, eine femme fatale und zwei korrupte Sheriffs mit begrenzter Lebensdauer...

 

Der Jubiläumsband 100 der Reihe APEX CRIME aus dem Apex-Verlag enthält vier klassische Kriminal-Romane internationaler Spitzen-Autoren: In einer Nacht des Grauens von John Wainwright, MP in zarten Fingern von John Paddy Carstairs, Das Todesurteil von Al Conroy sowie 7 gegen Chicago von Jack Pearl, den Roman zum gleichnamigen legendären Gangster-Film aus dem Jahr 1964 mit Frank Sinatra, Dean Martin, Sammy Davis jr., Bing Crosby, Peter Falk und Barbara Rush. 

  John Wainwright: IN EINER NACHT DES GRAUENS

  (Freeze Thy Blood Less Coldly)

 

 

 

DREIUNDZWANZIGSTER DEZEMBER

 

 

Dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig

 

Wie lebende Leichname in einer rauchigen Höhle schoben sich die Tanzenden hin und her; Halbstarke mit weißem Gesicht und schlaffem Mund; mit verrückten Frisuren und auffälliger Kleidung. Im Saal stank es wie in jedem anderen billigen Tanzlokal, wenn es auf Mitternacht zugeht; und der Geruch wehte zum Podium herauf: vager Körpergeruch mit gelegentlichen Wölkchen von konzentriertem Gestank, eine Mischung aus Fusel, kosmetischen Massenartikeln, Schweiß, Erbrochenem und einfachem, unverfälschtem Körperschmutz.

Kent führte die Melodie in spielerischer Kadenz in die untere Lage hinab, und die Jugendlichen reagierten sofort. Sie senkten die Augenlider, zogen die Schultern hoch und ließen die Musik in ihre sich langsam bewegenden Körper eindringen. Die Klarinette beherrschte sie wie die Flöte eines Schlangenbeschwörers. Harry zupfte die Basssaiten. Der Puls der großen Trommel war wie das Pochen eines Herzens, und Fatso webte streifige Muster aus dem Klang der Messingbecken. Der Pianist spielte gebrochene Arpeggien - glitzernder Kristallstaub, der auf die dunklen Linien von Kents Melodie fiel.

Es war eine gute Band. In früheren Zeiten hätten sich vielleicht die großen Konzertagenturen um sie gerissen. Aber heute nicht mehr. Weder besaßen sie elektronisch verstärkte Gitarren, noch kreischte einer von ihnen suggestiv wirkende Texte in ein vor den Mund gehaltenes Mikrofon. Sie hatten sich dem Jazz verschrieben, aber niemand wusste das zu schätzen - höchstens die Kenner. Doch wer die Band liebte, liebte sie wirklich. Und zudem waren sie echte Musiker.

Die Bläser setzten ein, sanft und getragen, und Dicks gleitendes Tremolo verstärkte die Trauer des ebenholzschwarzen Schluchzens. Es war ein schönes Stück; von einem Farbigen geschrieben, der wenig über Musik, aber alles über das Leid wusste; der seinen Kummer genommen und ihn in Noten und Akkordfolgen verwandelt hatte. Nie hatte jemand ein besseres Stück geschrieben, und nie hatten sie es mit mehr Gefühl gespielt.

Der fremde Schmerz zerrte an irgendetwas in der Seele des Pianisten, und für einen Augenblick fiel seine Welt in Scherben. Er wollte hinaus. Nicht mehr jeden Abend woanders spielen. Nicht immer nachts unterwegs sein müssen. Nicht in billigen Hotelzimmern schlafen. Nicht sich mit Fatso wegen Marihuana-Zigaretten zanken. Nicht mehr die spöttischen Bemerkungen ertragen, die hinter vorgehaltener Hand über Dick und ihn gemacht wurden.

Dann schwang sich Kent zum Glissando des Schlusses hinauf, hielt den Ton hoch über dem Schwirren der rutengestrichenen Becken, und das Stück war zu Ende; die melancholische Stimmung verflog.

 

 

Dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig

 

Der Mann, der Ripley hieß, kontrollierte die Straßensperren. Er hätte es nicht zu tun brauchen; sein Rang als Abteilungs-Superintendent der Grafschaftspolizei erlaubte es ihm, derartige Pflichten seinen Chefinspektoren oder Inspektoren zu übertragen. Aber er hatte ein gutes Gedächtnis. Er konnte sich noch daran erinnern, wie er als Police-Constable selbst ähnliche Straßensperren bewacht hatte; er entsann sich der Langeweile und des aus der Langeweile geborenen Hangs zur Trägheit; des zynischen Verdachts der untergeordneten Beamten, dass sich der Abteilungs-Superintendent nach Erlass seines Befehls zu Bett legte und die Männer, die an den Kontrollstellen vor Kälte zitterten, vergaß.

Die A 1 und A 167 hatte er bereits besucht.

Er bremste seinen Rover hinter zwei auf der A 19 geparkten Streifenwagen, kurbelte das Fenster herunter und erwiderte den Gruß des uniformierten Sergeants.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.

»Jawohl, Sir. Bisher nichts.«

»Gut!« Er sah zu, wie zwei Constable einem nach Süden fahrenden Wagen winkten, er solle halten, und sagte: »Die Jungs in Durham dürften sie erwischen - ich glaube nicht, dass sie bis hierher kommen.«

»Nein, Sir.«

»Wenn sie’s doch schaffen, möchte ich nicht, dass sie North Riding erreichen. Die Yorkies haben sowieso schon eine viel zu hohe Meinung von sich.«

Der Sergeant grinste und sagte: »Ich bin aus Thirks, Sir.«

»Aye - ich weiß.«

Es war eins jener trockenen Wortgeplänkel, wie sie im Polizeidienst üblich sind - wo sich die Männer trotz aller Disziplin ihre Individualität bewahren. Das war es, was den Fortbestand der Polizei überhaupt möglich macht: die auf lockernde Wirkung des Humors in diesem Beruf, der Menschen ihrer Humanität berauben kann.

»Ich werde dafür sorgen, dass Sie um zwei Uhr abgelöst werden«, sagte Ripley. »Bis dahin haben Sie wohl genug.«

»Ja, Sir.«

»Und teilen Sie die Männer ein, Sergeant. Dreißig Minuten Wache - fünfzehn Minuten frei. Lassen Sie sie im Wagen sitzen. Lassen Sie die Motoren laufen, die Heizung einschalten - damit die Leute auftauen - und damit sie wissen, dass man sie immer noch liebt.«

»Ich werde dafür sorgen, Sir.«

»Und falls wir uns bis dahin nicht mehr sehen sollten - fröhliche Weihnachten, Sergeant!«

»Danke, Sir. Ihnen ebenfalls.«

Sie grüßten einander, dann kurbelte Ripley das Fenster wieder hoch, steuerte den Wagen vom Straßenrand auf die Fahrbahn, wendete und fuhr davon.

 

 

 

VIERUNDZWANZIGSTER DEZEMBER

 

 

Ein Uhr fünfzehn

 

Jock schüttelte den Speichel aus seiner Trompete und begann wie immer in den frühen Morgenstunden zu schimpfen. Er sagte: »Sie sind widerlich. Restlos. Sie können Armstrong nicht von Calvert unterscheiden.«

»Du hast ihnen gefallen«, erinnerte ihn der Pianist. »Dein Can't-get-started- Solo kam ganz groß an.«

»Blödsinn!« Jock fing an, die Ventile aufzuschrauben. Das war ein Ritual, etwas, was er nach jeder Vorstellung tat. Er hatte eine gute Trompete. Bei der Sorgfalt, mit der er sie pflegte, würde sie eine Ewigkeit halten. Er sagte: »Die könnten nicht mal ein Horn von einer Fabriksirene unterscheiden.«

»Und könntest du es?« Fatso grinste und schnallte den Riemen um einen Trommelkasten fest.

Es war kein nettes Grinsen. Es war auch keine nette Bemerkung. Von den sechsen war Fatso derjenige, der dem Pianisten das Leben am schwersten machte - und dabei war er auch nicht gerade der beste Schlagzeuger der Welt. Eines Tages würde er es zu weit treiben, und dann würde dem Pianisten der Kragen platzen. Der Pianist wusste es, und der Pianist wusste auch, dass Fatso es wusste, aber keiner von beiden scherte sich darum. Fatso war in der Band ein Außenseiter. Die anderen fünf spielten ihre Musik nicht bloß - sie lebten sie. Fatso jedoch nicht. Fatso war ein mittelmäßiger Schlagzeuger; ein Taktschläger; ein übergewichtiger Trottel, der für Studioaufnahmen noch gerade gut genug war; einer von tausend - sonst nichts. Außerdem hatte er eine Schwäche für Haschisch, die dem Pianisten Sorge bereitete.

Cooley blickte zur Tür, hörte auf, Akkorde auf den Saiten seiner Gitarre zu klimpern, und sagte: »Wir bekommen Besuch, Chef.«

Der Manager tänzelte mit gezierten Schritten durch den Saal. Er war klein, schlank, hatte gewelltes dunkles Haar und ein Schnurrbärtchen, das man mit einem Augenbrauenstift hätte nachzeichnen können. Ein Gigolo oder Zuhälter; der Pianist war ihm Dutzende von Malen begegnet, ohne sich indessen schlüssig werden zu können. Sein Abendanzug sah aus, als hätte er darin geschlafen, und seine Lackschuhe waren mit einer Schicht des Zeugs bedeckt, das man auf den Fußboden gestreut hatte. Er trug eine ungeöffnete Flasche Johnny Walker in der Hand.

Er hüpfte auf das Podium, winkte mit dem Schnaps und sprudelte heraus: »Mein Kompliment, Jungs - und sagt bloß nicht, ihr hättet’s nicht verdient!«

»Wer hat hier was gesagt?«, fragte Harry.

Der Pianist entkorkte die Flasche und ließ den Whisky einen Weg durch den Staubklumpen brennen, der sich in seiner Kehle angesammelt hatte.

»Ein netter Tanzabend!«, sagte der Manager.

»Freut mich, dass es Ihnen gefallen hat.« Der Pianist wischte über den Flaschenhals und stellte den Whisky auf einen Stuhl. Er schraubte ihn nicht wieder zu; das wäre reine Zeitverschwendung gewesen.

»Mal was anderes«, sagte der Manager.

»Hm«, sagte der Pianist.

»Altmodisch.«

Harry legte die in Leinwand gehüllte Bassgeige auf die Seite, griff nach der Flasche und murmelte: »Sie hätten’s bloß sagen müssen, dann hätten wir ein paar Mazurkas eingeschoben. Vielleicht noch eine Pavane oder zwei.«

»Nein«, sagte der Manager. »Ihr wisst ja, wie das ist. Die jungen Leute wollen bestimmte Gruppen - heutzutage. Ihr wisst, wie das ist.«

»Hm.« Der Pianist wollte keinen Streit anfangen. Er wusste, was die jungen Leuten wollten: das, was man ihnen gab - selbst wenn es Mist war.

Sie verpackten ihre Instrumente, teilten sich in den Inhalt der Flasche und schwatzten mit der schnurrbärtigen Type im Abendanzug. Der übliche Ausklang einer Veranstaltung: Zigaretten, Schnaps und das Gefühl emotioneller Verstopfung. Zwei Männer in Hemdsärmeln schleppten eine Leiter umher und fingen an, Weihnachtsdekorationen anzubringen: Flaggenschmuck vom letzten Jahr, bunten Flitter und künstliche Stechpalmenzweige.

All das dauerte ungefähr eine Stunde, dann trugen sie ihre Sachen zum VW-Kleinbus, während der Pianist und Dick ins Auto stiegen.

Draußen war es kalt. Der Frost griff die Lungen des Pianisten an; er reizte ihn zum Husten, fegte aber auch den letzten Rest des Tanzsaalmiefs aus ihm heraus. Er ließ sich auf den mit Kunstfell bezogenen Fahrersitz sinken und steuerte den Wagen durch die menschenleeren Straßen.

Dick stellte das Radio an. Zwischen White Christmas und Winter Wonderland erzählte ein Plattenjockey seine der Jahreszeit angepassten Witze.

 

Der Wagen war schön - ein 3,8-Liter-Jaguar; er war eins der wenigen Dinge, die zu lieben sich der Pianist gestattete. Das Auto bedeutete ihm etwas, es war für ihn mehr als bloß gepresstes Stahlblech, vier Räder und ein Motor. Es war vielerlei: ein Maßstab - um es besitzen und fahren zu können, hatte er von dem vollgepfropften Schuppen in den Slums von Leeds, wo er angefangen hatte, einen weiten Weg zurückgelegt. Freiheit: Er konnte überallhin fahren, wo es eine Straße gab; kein Warten auf Busse oder Züge oder Taxi; er brauchte nur die Zündung einzuschalten, und schon ging’s dahin. Ein Spiegel jeder Stimmung, die ihn überkam: Das Armaturenbrett hielt ihm seine eigenen Launen vor - ob er zu schnell oder zu langsam, rau oder sanft war - und dann wusste er, ob er sich beruhigen oder zusammennehmen musste. Es war mehr als ein Auto; es war seine Frau, seine Geliebte, sein Kamerad und überhaupt alles, was er brauchte - oder beinahe alles. Er sprach mit ihm, als wäre es ein lebendiges Wesen, das ihn verstünde. Manchmal versuchte es sogar, ihm zu widersprechen. Solange er das Auto hatte, brauchte er niemanden - und nichts.

Der Wagen trug sie aus der Stadt hinaus, durch die flache Landschaft von Lincolnshire, wandte sich dann auf der A 1 nach Norden, spannte die Muskeln an und nahm die Schnellstraße mit einer gleichmäßigen Geschwindigkeit von hundertzwanzig in Besitz.

Als sie anhielten, um zu tanken und etwas zu essen, holte sie der Kleinbus ein. Während sie aßen und tranken, unterhielten sie sich; doch ihr Gespräch hatte keinerlei Bedeutung, es war das Äußerste an Nicht-Kommunikation. Keiner sagte etwas, was zu sagen sich gelohnt hätte. Keiner hörte zu. Fatso zündete eine Zigarette an, und der Pianist schnupperte, um sich zu vergewissern, dass es kein Hanf war.

Harry gähnte, streckte sich und sagte: »Fröhliche Weihnachten allen miteinander und jedem einzelnen.«

»Lass nur, Kleiner«, lächelte der Pianist. »Noch zwei Stunden, dann hast du den Frühling im Herzen.«

Sie verließen das Café, und der Pianist mäßigte die Geschwindigkeit des Jaguars. Als sie von der Al nach rechts abbogen, um gen Osten durch die Ebene von York in Richtung Wolds zu fahren, hängte Cooley sich mit dem Kleinbus dicht hinter den Pkw. Der Pianist kannte diesen Teil des Landes, denn hier war er zu Hause; er kannte die schmalen Straßen, die anstiegen und sich wanden und die einsamen Dörfer miteinander verbanden. Auf den Hügeln schneite es, und der Wind trieb den Schnee über das offene Moorland. Das Schneegestöber verdichtete sich, und der Pianist verringerte das Tempo des Jaguars noch weiter. Er wusste, dass Cooley sich schwer tat; im Rückspiegel konnte er die Scheinwerfer hin- und herschwenken sehen, als der Kleinbus ins Schleudern zu kommen drohte, sich aber wieder fing.

»Noch sehr weit?«, fragte Dick.

»Dreißig Kilometer - ungefähr.«

»Solange es nicht noch schlimmer kommt...«, meinte Dick und starrte durch das flache V, das der zusammengepresste Schnee auf der Windschutzscheibe formte.

Der Pianist knurrte. Vor sich sah er Scheinwerfer wenden und über das Moor auf sie zukommen; und er überlegte, ob es nicht klüger wäre, anzuhalten und das andere Fahrzeug vorbeizulassen. Dann beschloss er jedoch, dies nicht zu tun. Nicht wegen des Jaguars, sondern weil der Kleinbus möglicherweise ins Rutschen kommen könnte und sie dann wirklich in der Patsche säßen.

Die Scheinwerfer kamen direkt auf sie zu, und man hatte den Eindruck, dass der Fahrer nichts vom Abblenden hielt. Der Pianist blinkte mit den Scheinwerfern des Jaguars, um ihn daran zu erinnern, aber der andere nahm keine Notiz - und kam gefährlich schnell näher.

Der Pianist war geblendet, schaltete in den zweiten Gang hinunter, steuerte geradeaus und überließ alle weiteren Feinheiten dem entgegenkommenden Fahrzeug. Er riskierte einen Blick in den Rückspiegel und sah, dass Cooley den Kleinbus in der Gewalt behielt, allerdings nur einen knappen Meter hinter der rückwärtigen Stoßstange des Jaguars.

»So ein blödes Schwein!«, schimpfte Dick, als die Scheinwerfer rechts von ihnen vorbeiflogen.

Der Pianist blickte über die Schulter zurück, sah die Lichtstrahlen kippen und glaubte, durch den Wind das Geräusch von knirschendem Metall zu hören. Er bremste, öffnete die Tür des Jaguars und trat in den Schneesturm hinaus.

 

 

Ein Uhr fünfzehn

 

Beechwood Brook ist ein Marktflecken. Es hat eine Einwohnerzahl von 11750 (mit geringen Schwankungen nach oben oder unten), verfügt über keinerlei größere Industrieunternehmen und kann keinen Anspruch auf besonderen Ruhm erheben. Seit die britische Eisenbahnverwaltung vor ein paar Jahren den Bahnhof geschlossen hat, besitzt der Ort sogar noch weniger Bedeutung als zuvor.

Dennoch ist es ein geschäftiges Städtchen; Mittelpunkt und Achse einer ausgedehnten ländlichen Gemeinde. Es ist ein Ort mit Geschäften und Kirchen, Gaststätten und öffentlichen Bedürfnisanstalten, Cafés und Büros, einem Kino und zwei großen Bingo-Spielsälen, einem kopfsteingepflasterten Marktplatz, wo die Männer aus den umliegenden Tälern zusammenkommen, um zu handeln und einander zu beschimpfen, und mit einer Oberschule, die sowohl dem Gebäude als auch dem Lehrplan nach erstaunlich modern ist.

Beechwood Brook ist zudem das Hauptquartier einer Polizeiabteilung gleichen Namens, aber die Abteilung der Grafschaftspolizei, die Beechwood Brook heißt, ist wesentlich größer als der Marktflecken Beechwood Brook.

Die Abteilung Beechwood Brook umfasst ein Gebiet von 540 Quadratkilometern. Ein kleiner Teil davon ist als Stadtbezirk ausgewiesen. Das übrige ist der Landbezirk mit weiten Strecken von Moorland, die ebenso unwirtlich und einsam sind wie die dunkle Seite des Mondes. Dieses Gebiet wird von Angehörigen der Grafschaftspolizei betreut. In nackten Zahlen ausgedrückt, bedeutet dies, dass die Einhaltung der Gesetze in den Händen von 152 Police-Constablern, 5 weiblichen Constablern, vier Kriminal-Constablern, 25 uniformierten Sergeants, einer Sergeantin, einem Kriminalsergeant, einem Schreibstuben-Sergeant, einem Verwaltungsinspektor, vier uniformierten Inspektoren, einem Kriminalinspektor, einem Chefinspektor und einem Superintendenten liegt; ferner bedeutet dies, dass der gesamte Bezirk in vier Unterabteilungen und zweiundzwanzig Sektionen unterteilt ist.

Soweit die Zahlen. Dem Innenministerium genügen sie. Auch der Zentrale der Grafschaftspolizei genügen sie. Und fügt man noch die Streifenwagen, die Mannschaftswagen vom Typ Panda und die Motorräder vom Typ Noddy sowie die Funkgeräte und tragbaren Funkfernsprecher hinzu, dann dürfte wohl jedermann zufriedengestellt sein.

Unglücklicherweise machen die Jahreszeiten aus dieser Statistik Hackfleisch. Von Mai bis September sind die Straßen im Bereich der Abteilung Beechwood Brook von Autofahrern verstopft, die aus den Städten aufs Land strömen, um frische Luft zu schöpfen. Zwischen Dezember und März übernimmt das Wetter das Kommando, und für einen großen Teil der Abteilung werden die Begriffe Mobilität und Motorisierung zu leeren Floskeln in der Theorie der Rechtspflege. Man gewinnt den Eindruck, dass die Dinge nie ausgewogen sind, dass es immer zu wenig oder zu viel gibt - und zwar von allem.

Solche Gedanken gingen Superintendent Ripley durch den Kopf, während er sich in einem Sessel räkelte und vor dem Zubettgehen noch eine Tasse heißen Kakao trank. Das waren seine Probleme, mit denen er sich schon seit Jahren herumschlug. Sie waren nicht unüberwindlich - ja, manchmal machten sie das Leben erst wirklich interessant -, aber sie waren im Begriff, sich zu vermehren, sich zu verdoppeln. Zusammenlegung. Innerhalb der Polizeitruppe war der Ausdruck schon beinahe zu einem Schimpfwort geworden. Zusammenlegungen waren manchmal notwendig (das bestritt niemand), aber eben ein notwendiges Übel, das darauf hinauslief, dass die kleineren Gemeinde-Polizeistationen, die auf eine Tradition von hundert und mehr Jahren zurückblicken konnten, von den großen Einheiten verschluckt wurden - gewöhnlich von einer Grafschaftspolizei. Niemandem gefiel das - weder den Männern der Gemeinde noch den Leuten von der Grafschaft - und solche Aktionen schufen böses Blut. Und während sich die Bobbies zankten, betrieben die Gauner weiterhin ihre Gaunereien und hatten dabei mehr Erfolg, als sie ohne die Reorganisierung gehabt hätten.

Schließlich bügelte sich alles von selbst wieder aus; neue Zugehörigkeitsgefühle entstanden, neue Traditionen wurden geschaffen. Aber das lag noch in weiter Zukunft. Im Augenblick gab es zu viel Bitterkeit, zu viel Streit, zu viel Ungewissheit.

Wie zum Beispiel in Beechwood Brook.

Die Grafschaftspolizei hatte die Polizeieinheiten von fünf Gemeinden übernommen. Keine davon lag im Bereich von Beechwood Brook, aber infolge der Übernahme änderten sich die Grenzen der Abteilungen, und die einzelnen Abteilungen wurden wesentlich vergrößert. Der Buschtelegraf der Grafschaftszentrale meldete, dass Beechwood Brook mit Pike Top, der Nachbarabteilung, zusammengelegt werden und eine einzige, umfangreiche Chef-Superintendantur bilden solle. Der Buschtelegraf gab ferner Ripley vor allen anderen Beamten, die für den Posten eines Herrschers über diese neue Mammutabteilung in Frage kamen, den Vorzug.

Falls der Buschtelegraf recht hatte (und er irrte sich selten), dann wollte Ripley Bedenkzeit, um sich die Sache zu überlegen.

Es würde bedeuten, dass er zum Chef-Superintendenten befördert würde - und einen größeren Gehaltsscheck bekäme. Es würde aber auch mehr Leute, ein größeres Gebiet und dementsprechend größere Probleme bedeuten. Mehr Verantwortung, mehr Sorgen und (wie es in der Natur der Dinge lag) weniger Schlaf.

Es hatte eine Zeit gegeben, da er mit beiden Händen zugegriffen hätte.

Eine Zeit - als er jünger war - als er noch mehr Ehrgeiz hatte - bevor sein Ehrgeiz die Bande seiner Ehe zerrissen hatte - bevor er gelernt hatte, vernünftiger zu sein.

Jetzt brauchte er Bedenkzeit.

 

 

Drei Uhr dreißig

 

Es war ein grüner Austin-A40-Lieferwagen, und er lag auf der Seite, halb in einer flachen Schneewehe vergraben. Wenn man ihn auch vielleicht nicht ganz abschreiben musste, dann war er zumindest so lange unbeweglich, bis besseres Wetter kommen und die nötigen Hilfsmittel zur Verfügung stehen würden.

Der Pianist stemmte sich gegen den Wind, schirmte die Augen mit der Hand vor dem fliegenden Schnee und watete auf den Wagen zu. Cooley kam gleichzeitig mit ihm an, und sie rissen die Tür am Fahrersitz auf.

Das Auto schien mit Menschen vollgestopft zu sein - es waren vier Männer und eine Frau. Kent hielt die Taschenlampe, während der Pianist und Cooley dreien der Männer und der Frau aus dem Lieferwagen halfen. Sie sahen nicht allzu schlimm aus - verstört, und sie hatten ein paar Schnittwunden und Prellungen abbekommen und sie sprachen auch nicht viel; sie ließen sich einfach aus dem verunglückten Wagen heraushelfen. Der vierte Mann war in übler Verfassung; er hatte neben dem Fahrer gesessen, und der Sicherheitsgurt war nicht befestigt gewesen. Er hatte mit dem Kopf die Windschutzscheibe zertrümmert, und das Glas hatte ihn beinahe skalpiert. Er war bewusstlos, und niemand wusste, ob er noch am Leben war.

Der Pianist schwang sich hinauf und drückte sich am Steuerrad vorbei.

Der Bewusstlose war dick, und der Kamelhaarmantel, den er trug, machte ihn nicht schlanker. Der Pianist schob von unten her und zwängte ihn am Steuer vorbei; Cooley, Harry und Jock packten Arme und Schultern und zogen von oben; Kent und Dick hielten die Taschenlampen. Fatso ging hinter den Kleinbus und übergab sich.

Der Pianist konnte keinen rechten Halt finden, irgendetwas war seinen Füßen im Wege. Er blickte nach unten und sah die Kricketbeutel - drei an der Zahl -, und ihr misstönendes Klappern gab ihm die erste Warnung, dass hier irgendetwas nicht ganz so war, wie es sein sollte. Er presste seine Schulter gegen das Kreuz des Bewusstlosen und schob. Cooley, Harry und Jock zerrten. Etwas in einer Manteltasche verfing sich am Steuerrad, und der Pianist wandte sich um, griff nach oben und steckte die Hand in eine der Taschen. Als er sie wieder herauszog, hielt sie einen .45er automatischen Colt. Cooley sah ihn im Lichtstrahl der Taschenlampe und sagte: »Was, zum...?«

»Still!« Der Pianist stopfte den Colt in die Tasche seines Regenmantels. »Zuerst mal wollen wir ihn rauskriegen.«

Sie zogen und hoben den Ohnmächtigen aus dem Fahrzeug, und als sie ihn zur Hintertür des Kleinbusses getragen hatten, waren sie alle vier trotz des Wetters in Schweiß gebadet. Die drei Männer und die Frau sahen zu; weder sprachen sie etwas, noch erboten sie sich zu helfen. Sie standen in einer Gruppe beisammen - einer der Männer hielt sich die eine, blutende Hand -, und trotz des Vorhangs aus treibendem Schnee spürte der Pianist ihren Hass und ihr Misstrauen; er sah es an ihrer Haltung und ihrem wütenden, verärgerten Gesichtsausdruck. Sie legten den Bewusstlosen auf den Boden des Kleinbusses. Er war nicht tot - er gab kehlige, gurgelnde Laute von sich -, aber es stand schlecht um ihn. Es bedurfte einer Menge Stiche, wenn sein Skalp wieder am rechten Fleck sitzen sollte; und er hatte eine Menge Blut verloren - und das meiste davon war ihm über das Gesicht und vorn auf die Kleider geflossen.

»Ich nehme den Jaguar«, sagte der Pianist. »Da müsste eine Telefonzelle...«

»Nein!« Zum ersten Mal sprach einer der Männer aus dem Lieferwagen. Er war unterdurchschnittlich klein - etwa ein Meter dreiundsechzig und in dem Wort lag der ganze Bombast eines kleinen Mannes, der gern groß gewesen wäre. Kent sah ihn groß an und sagte: »Hören Sie mal - wir brauchen einen Krankenwagen. Er ist schwer verletzt. Wir können nicht...«

»Schnauze!«, befahl der Kleine. Er fuhr fort: »Kein Krankenwagen. Keine Ärzte. Kein Garnichts. Wenn er abkratzt, hat er Pech. Aber niemand rührt sich vom Fleck, ehe ich’s erlaube!«

»Was, zum Teufel, ist denn los?« Dick war der Jüngste der Band. Er war körperlich fit und hatte Muskeln, auf die er stolz war. Er besaß auch Temperament.

»Mach’s halblang, Junge!«, warnte der Pianist. »Es hat schon seinen Grund.«

Der Kleine sah den Mann mit der blutigen Hand an, machte ihm mit dem Kopf ein Zeichen und sagte: »Hol das fette Aas.«

Der Angesprochene nickte und ging zu Fatso, der sich von seiner Übelkeit erholte. Er drückte dem Schlagzeuger die Mündung einer Luger in die Nabelgegend.

Der Kleine sagte: »Keine Dummheiten, sonst seid ihr den Fettwanst los. Kapiert?«

Der Pianist nickte. Cooley und Kent auch. Jock und Harry glotzten. Dick sah aus, als wollte er in die Luft gehen; und Fatso machte ein Gesicht, als würde er im nächsten Augenblick tot umfallen.

»Wir brauchen ein paar Sachen aus dem Lieferwagen«, sagte der Kleine.

»Kricketbeutel?«, fragte der Pianist.

»Die müssen raus.«

»Kricketbeutel?«, fragte Kent. »Wozu brauchen die...?«

»Ich glaube, ich kann’s erraten«, unterbrach der Pianist.

Der Pianist trottete voran, Cooley und Kent folgten ihm. Das Gehen war mühsam, sie mussten sich gegen den Wind stemmen und die Füße hoch anheben, um durch den Schnee zu stampfen. Der dritte Mann stand zwischen dem Pianisten und dem Lieferwagen, und als sie an ihm vorbeikamen, drehte sich der Pianist um, warf ihm den Arm um den Hals, stieß ihm den Colt gegen die Rippen und brüllte: »Sag ihm, dass er die Luger fallen lässt!«

Der Kleine hielt das für komisch. Er grinste und schrie: »Und wenn nicht - was dann?«

»Mir ist’s ernst!« Der Pianist spannte die Armmuskeln an, weil der Mann um sich schlug.

»Leeres Geschwätz!« Der Kleine grinste immer noch.

»Es ist mir ernst.«

Alle beobachteten den Pianisten. Cooley sah besorgt aus; er wusste, dass der Pianist den Colt hatte; seine Augen warnten ihn, vorsichtig zu sein - sie spielten mit Dynamit. Fatso schien erleichtert. Auf den Gesichtern der anderen mischten sich Wut und Unglauben.

Die Frau wirkte interessiert und der Mann mit der Luger unschlüssig. Der Kleine schien sich immer noch zu amüsieren. Er zuckte die Schultern, sagte: »Wenn du’s so haben willst«, und nickte.

Der Wind riss den Knall der Luger in Fetzen. Etwas wie Entsetzen begann Fatsos Augen zu weiten, aber er war tot, noch ehe er etwas begriffen hatte.

 

 

Drei Uhr dreißig

 

Der Sergeant, der um zwei Uhr als Ablösung an die Straßensperre kam, war ein junger Mann, gewissenhaft und bemüht, vorwärtszukommen. Die Winkel an seinen Ärmeln waren noch weiß, und er war sich ihrer Weiße bewusst; er war sich darüber im Klaren, dass die älteren Constable ihn, solange die Winkel weiß blieben, als grün ansahen. Zwischen den beiden Farben bestand ein Zusammenhang; weiße Ärmelwinkel bedeuteten einen »grünen« Sergeant. Er wünschte, dass der Schmutz der Abnutzung sich bald in die weißen Stoffstreifen einfressen und sie grau färben möge. Dann hätte er nämlich nach stillschweigendem, anerkanntem und allgemeinem Einverständnis seine inoffizielle Probezeit bestanden und würde als echter Sergeant akzeptiert werden.

Einstweilen waren die Winkel jedoch immer noch weiß; und er hatte das Kommando über sechs Männer, die sämtlich älter waren als er.

Er trat zu einem der Constable und bemerkte: »Es wird ein bisschen frisch. Meinen Sie nicht auch?«

»Ich merk’ nischt.« Das war die nackte, phantasielose Feststellung einer Tatsache. Der Constable »merkte nischt.« Er hätte selbst am Südpol »nischt bemerkt« - er hatte auch genügend Zeug angezogen. Über der Uniform trug er eine wasserfeste Hose, einen Mantel, ein Cape und wollene Fausthandschuhe. Unter der Uniform hatte er einen Schal, einen Pullover, ein Hemd und warme Unterwäsche. Er kannte solche Spielchen - diese Art Dienst - seit langem. Wenn man sich richtig vorsah, war es nicht der Rede wert. Tat man es nicht, war es glatter Mord. In seiner Stimme schwang ein väterlicher Unterton mit, als er hinzufügte: »Man muss sich für so ’nen Job richtig einpacken, wissen Sie.«

Ein zweiter Constable kam hinzu und grollte: »Ist das nicht einfach lächerlich?«

»Was denn?«, fragte der Sergeant.

»Hier rumzustehen wie unnütze Schwänze auf einer Hochzeit«, sagte der zweite Polizist. Er war ein säuerlicher Mann mit einem sauren Gesicht - ein immerwährender Meckerer. Sein normaler Gesichtsausdruck legte den Gedanken nahe, dass er mit einem Mund voller Zitronensaft durchs Leben ging. Er sagte: »McKay wird diesem verfluchten Ort nicht auf hundert Kilometer nahe kommen.«

»Irgendwo ist er«, murmelte der Sergeant.

»Hier in der Nähe nicht.«

»Weißt du das?«, fragte der erste Constable. »Biste sicher?« Der zweite Constable rümpfte die Nase.

»Sie werden nach Süden fahren - das müssen sie«, meinte der erste Constable.

»Kann sein«, grunzte der zweite.

»Wohin sonst? Nach Osten können sie nicht, jedenfalls nicht ohne Schiff. Im Norden gibt’s nischt für sie - außer Schottland. Und wenn sie’s bei dem Wetter mit Cumberland-Westmorland versuchen, haben sie’s nicht anders verdient.«

»Hoffentlich versuchen sie das«, sagte der Sergeant. »Hoffentlich frieren sie sich da oben bei Gunnerside zu Tode.« In seiner Stimme lag ein erstaunliches Maß von Gift.

»Es sind üble Burschen«, stimmte der erste Constable zu.

»Das sind sie alle«, sagte der zweite, und das Wort alle schien jedes lebende Wesen, mit Ausnahme des Sergeants und des ersten Constables mit einzuschließen - ließ jedoch, selbst was diese betraf, einige Zweifel offen.

 

 

Vier Uhr morgens

 

Der Pianist umklammerte das Steuerrad des Jaguars und verfluchte sich in alle Ewigkeit. Seit dem Augenblick, da der Lieferwagen in den Graben gekippt war, als er an ihnen vorbeifuhr, hatten sie in der Patsche gesessen, aber noch nicht tief. Es hätte ihnen passieren können, dass sie auf dem schneeverwehten Moor ohne Auto dagestanden und am nächsten Morgen der Kriminalpolizei ihre Geschichte erzählt hätten.

Unannehmlichkeiten dieser Art - aber nicht das hier! Er hatte sich richtig anstrengen müssen, um so tief in die Patsche zu geraten. Er hatte seinen großen Kalanag-Trick vorgeführt und dabei vergessen, die Waffe zu entsichern - er hatte sich mit Profis eingelassen und verloren - er hatte erraten, dass Kricketbeutel bequeme Behälter sind, um darin viel Geld herumzuschleppen - er hatte einen automatischen Colt gefunden und sich gedacht, dass das Geld nicht beim Rennen gewonnen war - und er hatte mit zwei Killern und einer Luger-Pistole Meine Tante - deine Tante spielen müssen.

Es war gar nicht einfach, sich eine solche Suppe einzubrocken. Aber der Pianist hatte es geschafft.

Und er war nicht allein. Er hatte Kent, Harry, Dick, Jock und Cooley mit hineingerissen. Er hatte sich benommen wie ein Komiker der Stummfilmzeit.

Fatso nicht zu vergessen.

Der Pianist mochte Fatso immer noch nicht - oder, vielmehr, er hatte ihn nie gemocht. Aber wenn er nur um Gottes willen damit gerechnet hätte, dass der kleine Mann dem Mann mit der Luger Schießbefehl erteilen könnte...

Oder machte er sich nur etwas vor? Angenommen, es wäre nicht Fatso gewesen; angenommen, es wäre um Dick oder Kent gegangen - oder um einen der anderen. Was dann?

Es hätte auch keinen Unterschied gemacht. Er sagte sich das mit einer so lauten Stimme - und mit so großer Überzeugungskraft -, wie er sie seinem Verstand aufzuzwingen vermochte. Doch der Zweifel tauchte immer wieder auf, wie ein Korken, der auf den Wellen tanzt, und wollte nicht untergehen. Er hatte es riskiert, weil es sich um Fatso handelte.

Zum Teufel, nein! Oder doch?

Und da war noch etwas anderes: die Frage, ob er imstande war, jemanden kalten Blutes zu ermorden - oder nicht. Der Gedanke bedrückte ihn. Nicht als akademische Denkübung; nicht als Thema einer höflichen Diskussion unter Gebildeten über etwas, das sowieso nie eintreten wird. Dies war geschehen; er hatte den Colt einem Mann in die Rippen gestoßen; er hatte abgedrückt; und wenn er nur ein bisschen mehr von Waffen verstanden hätte, dann wäre der Mann jetzt ebenso tot gewesen wie Fatso.

Aber das war nicht die eigentliche Frage.

Angenommen, sie hätten Fatso nicht erschossen - nur geblufft und gesagt: »Na gut, schieß.« Was dann?

Wieder eine Frage, die er nicht beantworten konnte.

Eine verflixte Menge von Fragen - und er konnte keine von ihnen beantworten.

Der kleine Mann klopfte ihm vom Rücksitz aus auf die Schulter und sagte: »Pass auf, wie du fährst, Süßer, sonst halten wir an, und du fliegst raus und verblutest.«

Das war keine bloße Angabe. Der Kleine meinte es ernst.

Der Pianist war Männern dieses Schlages zwar bisher noch nie begegnet, aber so gewiss er wusste, dass Feuer brannte, so sicher wusste er, dass dieser Mann zu allem fähig sein würde. Außerdem hielt er alle Trümpfe in der Hand; er hatte jetzt den Colt - und diesmal war die Waffe entsichert; er hatte Kent hinten neben sich sitzen; und es hätte genügt, dass der Pianist in einen falschen Gang geschaltet hätte, um Kent in eine Leiche zu verwandeln.

Der Pianist saß nicht auf einem Pulverfass - er saß auf einem Munitionsdepot.

Er konnte spüren, wie Dick auf dem Beifahrersitz vor Wut kochte, und das trug keineswegs dazu bei, seine Sorgen zu mindern. Dick war noch jung genug, um sich für unsterblich zu halten - und töricht genug, sich kugelsicher zu dünken.

Er versuchte sich auf die Bedienung des Jaguars zu konzentrieren. Der Wagen musste sorgfältig behandelt werden; kein Auto war für diese Art Wetter konstruiert. Der Schnee wehte ihnen entgegen, parallel dem Erdboden, flog im Scheinwerferlicht hoch und peitschte beide Seitenfenster und die Windschutzscheibe, während der Sturm von vorn auf sie einschlug. Die Heizung war voll aufgedreht, und der Ventilator drehte sich mit Höchstgeschwindigkeit, aber trotzdem mussten die Scheibenwischer schwer gegen den Schnee kämpfen, der sich anhäufte, ehe er schmolz. Es gab keine Schneeverwehungen, denn man sah nichts, was dem treibenden Schnee einen Halt gegeben hätte, nur das flache, ununterbrochene Moorland, ohne Bäume, ohne Zäune, ohne Mauern - und trotzdem wurde die Schicht unter den Rädern immer dicker. Der Pianist kannte die Zeichen und kannte das Land; ein echter, für das nördliche Yorkshire typischer Schneesturm braute sich zusammen, und innerhalb einer Stunde konnte jedes Fahrzeug, das nicht mit Vierradantrieb ausgestattet war, statt Räder ebenso gut Wurzeln haben.

Cooley fuhr den Kleinbus wie ein Held - er hielt ihn dicht hinter dem Jaguar im Windschatten -, aber der Bus war überladen, und der Schwerpunkt lag zu hoch, so dass Cooley wenig mehr tun konnte, als von einem Ausrutscher in den anderen zu schlittern.

Der Pianist überlegte, wie es wohl im Bus aussehen mochte: Cooley am Steuer; Harry und Jock; die beiden Männer und die Frau aus dem Austin-Lieferwagen; der Mann mit der abgerissenen Schädelhaut; Fatsos Leiche; ihr eigenes Gepäck und die drei Kricketbeutel. Sie mussten gewiss enger beieinandersitzen als Flöhe auf einem räudigen Hund - und der Mann mit der Luger spielte den »Großen Bruder.« Der Kleine hatte das klargestellt. Der Pianist hoffte, dass niemand versuchen würde, Dummheiten zu machen.

Er spähte durch die Windschutzscheibe und sagte: »Noch etwas mehr von dem da, und ich kann nicht mehr sehen, wo die Straße ist.«

»Fahr weiter!« Der Kleine sprach immer noch im Befehlston. »Bitte!« Kents Stimme klang verängstigt. »Halten Sie Ihre Pistole irgendwie anders. Ich werde brav sein - das verspreche ich Ihnen. Aber wenn wir von der Straße abkommen...«

»Dann brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen«, beendete der Kleine seinen Satz.

Stille setzte ein - sofern man einen heulenden Schneesturm als Stille bezeichnen kann. Der Schnee kam ihnen wie eine horizontale Lawine entgegen, die Sicht war auf knapp zehn Meter begrenzt, und dahinter schloss ein Vorhang von wahnwitzigem Weiß sie von der übrigen Welt ab. Der Jaguar wurde von Minute zu Minute langsamer, und weder der größte Aufwand an kunstvollem Schalten und Kuppeln noch die geschicktesten Steuermanöver vermochten die Räder auf die Dauer am Durchdrehen zu hindern.

»Wohin wollen wir?«, fragte der Pianist.

»Fahr weiter!« Der Kleine dachte wohl, er wäre Gott, und das Unwetter hätte nichts zu bedeuten. Vielleicht glaubte er auch, er könnte wie Moses am Roten Meer ein Wunder tun und sie von hier hinausbringen. Der Pianist teilte seinen Glauben nicht.

Er sagte: »Benehmen Sie sich wie ein Erwachsener. Hier können Sie sich nicht den Weg freischießen.«

Der Kleine brütete ein oder zwei Sekunden lang darüber, dann fragte er: »Wo sind wir?«

»In Yorkshire - vermute ich.«

»Mach keine Witze, Süßer.«

»Mehr weiß ich nicht«, sagte der Pianist. »Vielleicht North Riding - vielleicht East Riding - vielleicht sonstwo. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mal, ob wir noch auf der Hauptstraße sind.«

»Legen Sie doch die Pistole beiseite«, bat Kent.

»Er traut sich nicht.« Dicks Stimme klang hässlich, höhnisch. »Er hat eine Scheißangst. Wie ein Baby, das sich an seinem Schnuller festhält - sein Schnuller ist das Schießeisen.«

»Um Gottes willen!«, rief Kent.

»Beruhige dich, Junge«, warnte der Pianist. »Klarinettisten wachsen schließlich nicht auf Bäumen.«

»Du glaubst wohl, ich würde die Kanone nicht gebrauchen?« Die Stimme des Kleinen war kälter als das Zeug, das gegen die Windschutzscheibe wehte. »Mach noch so ’nen Witz, und man packt dich neben den dicken Kerl.« Er machte eine Pause, um seine Drohung wirken zu lassen, dann fügte er hinzu: »Halt nach irgendwas Ausschau.«

»Wonach?«, fragte der Pianist.

»Egal was. Jemand muss ja hier in der Gegend wohnen.«

»Das ist nicht sicher.«

»Irgendjemand.«

Der Pianist zuckte die Schultern und murmelte: »Wenn hier jemand lebt, dann ist er verrückt.«

Fünf Minuten danach erblickten sie die Farm.

 

 

Vier Uhr morgens

 

In der Leitstelle der Abteilung Beechwood Brook beobachtete der Constable vom Nachtdienst, der die Büros hütete, wie der Fernschreiber rasselte und seine Papierzunge, auf die eine Meldung gedruckt war, herausstieß. Er drückte auf den Knopf mit der Aufschrift »Empfang bestätigt«, riss das Schreiben aus der Maschine, griff nach der Flasche mit Gummiarabikum und klebte die Nachricht ins Telefonbuch. Er füllte die Spalte »Tag und Stunde des Empfangs« aus, fügte seine Initialen hinzu sowie seinen Rang und seine Dienstnummer und zündete sich dann eine Zigarette an.

Die Mitteilung lautete:

 

Nachtrag zur Meldung 18:10  

Benutzte Fahrzeuge am öffentlichen Parkplatz Sedgefield Grafschaft Durham verlassen aufgefunden. Grüner Austin-A40-Lieferwagen Kennzeichen DWW 641 B in Sedgefield um 19:45 gestohlen gemeldet. McKay und Komplizen vermutlich jetzt im Besitzt dieses Fahrzeugs.

 

 

Vier Uhr dreißig

 

Diasc-Farm.

Die Wörter standen in schmiedeeisernen Lettern da und waren an einer Ulme neben der Pforte befestigt. Das Schild war groß und passte zu dem großen Hof; einem düsteren Hof, der trotz des Schnees und der Scheinwerfer immer noch schwarz wirkte - wie ein von Hitchcock persönlich für einen altertümlichen Gruselfilm erdachtes Szenarium.

Sie rutschten und schlitterten die Auffahrt entlang und gelangten zur Vordertür. Über ihnen erhob sich das Haus wie ein Turm: vier Stockwerke stummer Ungastlichkeit mit blinden Fenstern und einem weit überhängenden, finster blickenden Dach.

»Wecken wir sie auf«, sagte der Kleine.

Er gab Kent einen Stoß und folgte ihm in das Unwetter hinaus. Dick und der Pianist schlossen sich den beiden an. Der Schnee reichte ihnen bis an die Waden und wirbelte wie in einem Hexenkessel; an den Bäumen und Mauern hatte er sich gefangen, und einige der Verwehungen reichten bereits anderthalb Meter hoch. Der Kleine winkte mit dem Colt, und sie pflügten sich ihren Weg zum Kleinbus, der schräg in der Zufahrt stand. Cooley saß am Steuer, und der Mann mit der Luger hockte seitlich auf dem Vordersitz, bereit, abzudrücken, wenn jemand auch nur wagen sollte, in der falschen Tonlage zu husten. Er sah nervös aus, wie auch der andere Mann und die Frau. Cooley, Jock und Harry wirkten völlig verängstigt. Sie hatten eine Fahrt hinter sich, die sie ihr Leben lang nicht vergessen würden.

Der Kleine brüllte zu dem Mann mit der Luger hinüber: »Keine Telefondrähte.«

»Die könnten auch unterirdisch sein.«

»Glaub’ ich nicht. Hier draußen kaum.« Er war sich indes nicht ganz sicher: »Wir werden sehen, wenn wir im Haus sind.«

Der andere antwortete irgendetwas, aber niemand konnte ihn in dem Sturm verstehen.

Der Kleine schrie: »Ich werd’ sie herausklopfen. Die drei nehme ich mit. Wenn ich in fünf Minuten nicht zurück bin, puste die anderen drei aus - und sieh dann nach, was los ist. Kapiert?«

Der Mann mit der Luger schrie: »Okay!«, ohne den Blick von Cooley, Jock und Harry abzuwenden.

»Was, zum Teufel...?«, sagte Jock.

»Er kommt zurück«, rief der Pianist. »Fangt keinen Blödsinn an. Ich sorge dafür, dass er zurückkommt.«

Der Kleine lächelte und gab ihnen mit dem Colt ein Zeichen, auf die Haustür zuzugehen.

Es war eine schwere Tür, an der ein ringförmiger Klopfer mit einem Wasserspeiergesicht hing. Der Pianist hämmerte gegen die Tür und versuchte, seine Gedanken von dem Colt und der Luger, von Fatsos Leiche und Dicks Temperament fernzuhalten.

»Sprich du, Süßer«, sagte der Kleine. »Ich hör’ zu.«

Der Pianist nickte.

»Sprich freundlich und sprich laut - damit ich’s hören kann.«

»Ja.«

»Und vergiss nicht - das Schießeisen hab’ ich.«

»Du miese halbe Portion!« Dick ging wieder der Hut hoch. Er starrte den Kleinen wütend an, und der Pianist fürchtete, er würde mit einem einzigen, selbstmörderischen Sprung alles auf eine Karte setzen. »Du glaubst wohl, weil du ’ne Kanone in der Hand hast, kannst du...?«

»Halt den Mund!« Der Pianist hatte schreien wollen - aber es wurde ein Kreischen wie das einer hysterischen Frau. Er schämte sich. Er schloss die Augen und empfand Hass gegen Dick, weil er seinetwegen dem Kleinen verraten hatte, in welchem Zustand seine Nerven waren. Er öffnete die Augen und sagte: »Junge, wenn du nicht den Mund hältst, kann er dich erledigen. Verstehst du? Verdien dir einen Orden - aber auf deine eigenen Kosten, nicht auf meine. Jetzt sei still und mach mir keinen Kummer.«

Der Kleine war im Begriff, etwas zu sagen, doch da gingen zwei Lichter an - eins an einem Fenster im Erdgeschoss und das andere im ersten Stock -, und er behielt seine Gedanken für sich.

Sie warteten. Der Schnee umtobte sie, als versuchte er, sie zu begraben, ehe sie das Haus betreten konnten; er legte sich ihnen auf die Schultern und haftete an ihren Augenbrauen, er ließ ihre Kleider dünn wie Musselin scheinen und schlug ihre Gesichter wie mit winzigen Peitschenhieben.

Dann öffnete sich die Tür, und aus der erleuchteten Halle blickte ihnen eine Frau entgegen.

Sie war nicht schön. Selbst wenn man von dem knöchellangen Nachthemd aus Flanell und dem Mantel, der als Morgenrock diente, absah, war sie nicht schön. Ihr Körper war zu eckig - zu mager -, um je eine Schönheitskonkurrenz zu gewinnen, und ihr Gesicht war eher anheimelnd als aufregend - einem solchen Gesicht begegnet man in keinem Nachtlokal. Es besaß keine Schönheit, aber es besaß Ruhe, Frieden - die Art Frieden, der nach einem heftigen Sturm einkehrt.

Dieser Frieden war da, unvermittelt und absolut. Er wuchs einem nicht langsam zu, er traf einen, und man erkannte ihn. Er traf den Pianisten, der etwas Derartiges nie erlebt hatte.

Sie wartete, ob einer von ihnen etwas sagen wollte.

Der Pianist sagte: »Entschuldigen Sie, aber wir sind - äh... Ich fürchte, der Schneesturm hat uns erwischt. Wir können nicht weiter.«

Sie blickte an ihnen vorbei, betrachtete den treibenden Schnee und lächelte.

»Wir haben ei-n Unfall gehabt, gnädige Frau«, sagte Kent. »Einen Autounfall - dort weiter hinten.« Er machte eine Kopfbewegung. »Ein Mann ist schwer verletzt.«

Sie öffnete die Tür etwas weiter und sagte: »Kommen Sie bitte herein.«

Die Halle war groß, hoch und weit und hatte einen rotgekachelten Fußboden; die Wände waren farbig getüncht, die Balken unverkleidet, und die Möbel waren von der Art, wie man sie gewöhnlich in den Sakristeien der Kirchen findet. Der Kleine trat als letzter ein, schloss die Tür und behielt eine Hand in der Tasche. Sie standen in einer Gruppe beisammen und warteten darauf, dass der Pianist sprechen würde, doch dieser wusste nicht, was er sagen sollte.

»Welche Art von Verletzungen?«, fragte sie.

»Am Kopf«, antwortete der Pianist. »Schlimm - sehr schlimm. Wahrscheinlich noch weitere Verletzungen. Wir wissen es nicht.«

»Leider haben wir kein Telefon«, sagte sie, und die Mundwinkel des Kleinen hoben sich um einen Bruchteil. »Aber ich bezweifle, dass ein Krankenwagen uns bei diesem Wetter überhaupt erreichen könnte.«

»Ich bezweifle es ebenfalls«, pflichtete der Pianist bei.

»Aber wenn Sie ihn hereinbringen wollen...«

Sie wurde unterbrochen. »Frau!«, schrie jemand aus einem Nebenzimmer.

Sie setzte zu einem Seufzer an, unterdrückte ihn jedoch, sagte: »Entschuldigen Sie - mein Mann«, drehte sich um und ging ans Ende der Halle und dort in ein Zimmer zur Rechten.

»Du machst es gut, Süßer«, sagte der Kleine mit sanfter, spöttischer Stimme. »Sprich nur weiter. Du machst es gut.«

Er beobachtete den Pianisten, während er sprach, spürte etwas kommen und hatte den Colt schon fast aus der Tasche gezogen, als Dicks Faust landete. Der Schlag war stark, er enthielt die gesamte aufgestaute Verzweiflung eines Mittzwanzigers, der seinen Zorn allzu lange zurückhalten musste. Er traf den Kleinen seitlich am Hals, ließ ihn in eine Ecke taumeln und den Colt in eine andere fliegen.

»Oh, mein Gott!«, stöhnte Kent.

»Recht so, machen wir mit den Schweinen Schluss«, knurrte Dick und ging auf die Waffe zu, doch der Pianist kam ihm zuvor. »Zurücktreten, Junge!«, rief der Pianist. Seine Stimme klang hoch und fast unbeherrscht. »Wahrhaftig, wenn du sie zu nehmen versuchst, knall’ ich dir eine Kugel ins Bein.«

Dick hörte, was der Pianist sagte, und blieb stehen; er glaubte ihm, weil er wusste, dass er Ernst machte - aber er konnte ihn nicht begreifen. Er glotzte ihn mit offenem Munde an, wie ein törichter großer Fisch, der nach Ameiseneiern schnappt.

»Du verdammter Narr, Dick!«, sagte Kent, und auch ihm war es Ernst.

Der Kleine rappelte sich wieder hoch. Er war benommen, aber er war zäh. Er sagte mit rauer Stimme: »Leg ihn um! Mach schon!«

»Halt’s Maul!« Der Pianist richtete die Waffe auf den kleinen Mann und drückte leicht auf den Abzug. Seine Worte klangen heiser und wild, als er sagte: »Du bist nicht mehr obenauf. Du gibst keine Befehle mehr. Jetzt habe ich den Taktstock in der Hand.«

»Du hast wohl den Verstand verloren, Süßer.«

In diesem Augenblick fragte die Frau: »Was ist hier los?«

Sie war aus dem Nebenzimmer zurückgekehrt, stand am Ende der Halle und betrachtete sie. Sie war nicht aufgeregt. Sie war auch nicht besorgt. Sie war nicht einmal verärgert. Sie wollte nur wissen, was vorging, und war völlig ruhig, als ob Schlägereien und Revolver schwenkende Typen etwas Alltägliches wären.

Die Stimme aus dem Zimmer brüllte: »Verdammt noch mal! Was geht draußen vor?«

Sie achtete nicht darauf, sondern wiederholte ihre Frage: »Was ist los?«

Kent holte tief Luft und versuchte es ihr zu erklären: »Entschuldigen Sie, gnädige Frau. Wir haben Ihnen nicht die volle Wahrheit gesagt. Nicht die ganze. Wir haben einen Unfall gehabt - soweit stimmt es - und...«

»Diese Schufte!«, explodierte Dick. Er zeigte mit der Hand auf den Kleinen. »Irgendwelche Gauner. Fahren wie die Irrsinnigen. Dann, als wir anhielten und versuchten, ihnen zu helfen...«

»Dick!« Der Pianist brachte ihn zum Schweigen und bemühte sich seinerseits, die Geschichte zusammenhängend zu erzählen. »Wir sind eine Band - eine Tanzkapelle - sieben Mann. Jeden Abend woanders - wie das so ist. Wir waren unterwegs zu unserem morgigen - heutigen - Engagement. Über die Hügel. Wir gerieten in den Schneesturm, und ein entgegenkommender Lieferwagen fuhr in den Graben.« Er nickte dem Kleinen zu. »Die waren zu fünft; vier Männer und eine Frau. Einer der Männer war verletzt - der, von dem ich Ihnen erzählt habe. Wir wissen nicht, wer sie sind. Nur dass sie unsere Fahrzeuge mit Waffengewalt genommen haben.« Er schluckte und sprach weiter: »Unseren Schlagzeuger haben sie schon umgebracht.«

Die Stimme brüllte: »Hörst du mich? Was, in drei Teufels Namen, geht da draußen vor?«

»Mein Mann ist körperbehindert.« Sie machte aus dem Satz eine freundliche Entschuldigung für den Lärm, der aus dem anderen Zimmer kam.

Der Kleine streckte die Hand aus und sagte: »Gib mir das Eisen, Süßer.« Er rieb sich die Seite des Halses, an der ihn Dicks Faust getroffen hatte, und in seinen Augen stand blanker Hass.

»Warum sollte er es tun?«, fragte sie. »Wenn es stimmt, was er gesagt hat...«

»Es stimmt«, grollte Dick.

»Dann wäre es nicht sehr klug.«

»Du hast nicht mehr allzu viel Zeit, Süßer«, sagte der kleine Mann.

»Es gibt noch eine zweite Pistole, gnädige Frau.« Kents Stimme klang feierlich, als erteilte er den Segen. »Sie zielt auf drei von unseren Freunden. Wenn irgendetwas passiert...« Er beendete seinen Satz nicht.

»Die bluffen nur«, meinte Dick.

»Glaubst du?« höhnte der Kleine. »Du glaubst das! Du solltest heute Abend deine Strümpfe in den Kamin hängen - du glaubst noch an den Weihnachtsmann!«

»McKay?«, fragte die Frau. »Und Sibley und Hatcher und Lang? Und dieses Mädchen, die Worton?«

»McKay ist tot«, sagte der Kleine. »Wenn nicht schon jetzt, dann wird er es jedenfalls bald sein. Ich bin Sibley. Also - wer glaubt wem?«

»Ich glaube Ihnen«, antwortete sie. »Sie haben bereits drei umgebracht - oder vielmehr vier, wie es scheint. Und zumindest vier weitere verwundet. Auch Strafen haben ihre Grenzen.«

»Sie kennen sie?«, erkundigte sich der Pianist.

Der Mann im anderen Zimmer schrie erneut. Sie drehte sich um und rief: »Hab Geduld, David, ich komme bald zu dir!« Dann fuhr sie fort: »Der Lohngelder-Raub in Newcastle. Es kam gestern Abend in den Spätnachrichten.«

»Wir hören nicht oft Radio«, sagte der Pianist. »Gestern Abend haben wir gespielt.«

»In Newcastle«, wiederholte sie. »Eine der großen Firmen. Lohngelder und Weihnachtsgratifikationen. Irgendjemand versuchte, die Räuber aufzuhalten. Sie schossen sich durch die Lohnbuchhalter und Wachmänner den Weg frei.« Sie lächelte and ergänzte: »Die Polizei hat an der Al Straßensperren errichtet.«

»Das machen die immer«, sagte der Pianist bitter.

Der kleine Mann murmelte: »Nun - bekomme ich die Pistole?« Es klang, als wäre er stolz, als hätte die Frau eine offizielle Würdigung einer Heldentat zitiert.

»Den Teufel bekommst du«, brummte Dick.

»Wir haben keine Wahl«, meinte Kent. »Wenn er nicht zum Bus zurückkehrt, gibt es noch mehr Morde.«

»Wir wollen doch sehen, wer besser schießt.« Dick schien erstaunt zu sein, dass jemand anderer Meinung sein könne. »Wir können...«

»Lass das, Junge!«, unterbrach der Pianist. »Es wird kein Feuergefecht geben. Diese Dinger haben richtige Kugeln.«

»Aber du wirst doch, um Christi willen, nicht...?«

»Hör auf!« Der Pianist wandte sich an den Kleinen:

»Wenn ich Ihnen die Pistole gebe - was ist dann?«

»Dann habe ich die Pistole.« Der kleine Mann lächelte.

»Und was ist mit ihm?« Der Pianist sah zu Dick hinüber.

»Was soll mit ihm sein?«

»Kein Racheakt?«, fragte der Pianist. »Er hat Sie geschlagen.«

»Hm - ja, er hat mich geschlagen«, pflichtete ihm der Kleine bei.

»Ich halte Sie für fähig, ihn umzubringen - allein deswegen«, meinte der Pianist.

»Glaubst du?« Der Kleine lächelte immer noch.

»Werden Sie es tun?«, fragte der Pianist.

»Was geht’s dich an, Süßer?«

»Viel!« Der Pianist hatte die Stimme gesenkt. Er keuchte leicht - als wäre er eben gerade eine Treppe hinaufgelaufen.

»Ist er dein Liebster?«, fragte der Kleine.

Der Pianist zögerte. Er neigte den Kopf zum Schimmer eines Nickens und sagte: »Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Werden Sie ihn umbringen?«

»Versuchs mit mir.«

»Ich möchte Ihr Wort«, sagte der Pianist und wusste, dass er heuchelte. Er brauchte nicht das Wort des Kleinen, denn es hatte ebenso viel Wert wie die Luft, die der Gangster ausatmete, wenn er es gab. Was der Pianist wirklich wollte, war eine bequeme Ausrede für den Fall, dass der Kleine Dick erschießen würde. »Hör mal zu«, sagte Dick. »Er wird dir nichts versprechen. Und wenn er’s doch tut, wird er’s nicht halten.«

Der Pianist sah den kleinen Mann an und fragte: »Was sagen Sie also?«

»Mein Wort?« Das Lächeln wurde breiter.

Der Pianist nickte.

»Und wenn ich’s nicht gebe?«

»Dann bekommen Sie die Pistole nicht.«

Der Kleine blickte auf seine Armbanduhr und sagte: »Hatcher fängt in zwei Minuten an zu knallen.«

»Sie werden das nicht mehr hören«, gelobte der Pianist. »Nein?« Der Mann betrachtete ihn fragend und sagte dann: »Du machst solche Sachen gut, Süßer. Leere Worte!«

»Aber diesmal ohne Sicherung.«

»Drei für einen?« Seine Augen verengten sich und spähten, ob der Pianist irgendein Anzeichen von Schwäche zeige. »Egal, wie du’s ausspielst. Das Ergebnis wird das gleiche sein: drei für einen.«

»Ist Hatcher dort draußen?«, fragte die Frau. »Mit Ihren Freunden?«

Der Pianist nickte.

»Und hat er eine Waffe?«

»Ja. Und Befehl, sie zu gebrauchen, wenn dieser Mann - Sibley oder wie er sonst heißt - nicht innerhalb von fünf Minuten zurück ist.«

»Jetzt sind’s nur noch zwei Minuten«, berichtigte der Gangster.

»Wird er’s tun?«, fragte sie.

»Ja.«

»Er hat es schon getan«, sagte Kent.

»Ihr könnt darauf jede Wette eingehen«, murmelte der Kleine. Er hatte die Drohung des Pianisten »leere Worte« genannt. Das stimmte nicht. Es gab nicht einmal eine Alternative. Drei für einen - den Preis hatte er völlig richtig genannt. Wenn der Pianist abdrückte, ermordete Hatcher Cooley, Jock und Harry. Wenn er den Kleinen vor sich her hinausstieß, den Colt in der Hand, dann würde der Preis dadurch nicht niedriger werden. Wenn er dem Kleinen die Pistole gab und der Verbrecher Dick erschösse, stand es immer noch drei für einen - nur dass der »eine« dann ein anderer war.

»Er hätte Sie nicht schlagen dürfen«, sagte der Pianist erbittert. »Er wird’s noch merken.«

»Schlagen Sie ihn!«

Der kleine Mann machte ein verblüfftes Gesicht.

»Was, zum Teufel...?!«, rief Dick.

»Schlagen Sie ihn!« Die Nerven des Pianisten waren am Zerreißen, und man hörte es seiner Stimme an. »Schlagen Sie ihn, wie er Sie geschlagen hat - so stark, wie er Sie geschlagen hat -, dann können Sie die Pistole haben.« Er drehte sich zu Dick um und knurrte: »Und wenn du dich rührst - irgendetwas tust, um ihn zu hindern - deinen verdammten Mund aufreißt dann erschieße ich dich.«

»Okay.« Der Kleine trat vor. »Du willst es so - ich tu dir den Gefallen.«

Er ballte die Faust und führte einen Schwinger gegen Dicks Kinn. Er verfehlte die Spitze, aber Dick stand da, empfing den Schlag und ging dann wie ein gefällter Baum zu Boden. Der kleine Mann betrachtete ihn, verzog die Lippen und leckte an den Knöcheln seiner Faust.

»Fühlen Sie sich jetzt besser?«, fragte der Pianist.

Der Kleine bewegte die Schultern.

»Einer für einen - nicht drei für einen.«

»Meinst du?«

»Er hat sonst nichts getan«, warf Kent ein. »Sie geschlagen - sonst nichts.«

»Und nicht so stark«, ergänzte der Pianist.

Der Kleine sagte: »Aber er hat mich geschlagen.« Er hielt inne und sprach weiter: »Das Schießeisen!«

»Ich möchte Ihr Wort.«

»Immer noch?« Die spöttische Stimme klang spröde und knisternd, wie brennendes Papier.

Der Pianist blickte zu Dick hin, der sich mühsam aufrichtete, and sagte: »Ich möchte nicht, dass er umgebracht wird, bloß weil er ein Dummkopf ist.«

»Okay.« Der kleine Mann streckte ihm die Hand hin.

»Ihr Wort?«

Er nickte, und der Pianist reichte ihm den Colt.

Der Kleine wog die Waffe in der Hand, blickte zwischen halbgeschlossenen Lidern zu Dick auf und fragte: »Hast du Lust, es noch mal zu versuchen?«

»Sie haben versprochen...«, unterbrach der Pianist.

»Halt’s Maul!« Jetzt hatte der Mann den Colt wieder. Jetzt war er wieder Herr der Lage, und alle Versprechen der Welt bedeuteten ihm nichts mehr. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf Dick und steigerte sich in seinen Hass hinein. »Komm nur! Sie ist hier! Die Kanone. Du kannst sie dir nehmen. Ein großer Kerl wie du! Muskelprotz. Oder hast du Angst vor einem kleinen Stück Metall? Vor einem kleinen Kerl wie mir?«

Dick wischte sich das Blut ab, das ihm aus dem Mundwinkel rann, und spie dem kleinen Mann auf die Schuhe. Der Speichel war mit Blut gemischt. Es war eine Geste, wie das Hinwerfen eines Handschuhs: großartig, aber irrwitzig.

»Großer Mann - du bist zu groß.« Wenn der Pianist je irgendwelche Zweifel gehabt hatte, dann waren sie jetzt beseitigt: Dieser Mann gehörte nicht in die Welt normaler Menschen; die Gefühle, deren er fähig war, waren nichts als verschiedene Abstufungen von Hass und Abscheu. Der Pianist hatte von solchen Menschen gehört und gelesen; und so sicher wie das Amen in der Kirche, hatte er jetzt einen von ihnen vor sich. Dieser Mann war ein Psychopath. Er sagte: »Ich sehe nicht gern zu anderen Leuten auf, großer Mann. Zu niemandem. Und ich werde auf dich hinabsehen, du Idiot. Ich werde dich kleiner machen - zwei Fuß kürzer.«

Der Colt knallte dreimal, und in der Halle klang es, als wären drei Atombomben explodiert. Dick schrie auf - es war ein hoher markerschütternder Schrei, der aus keiner menschlichen Kehle zu stammen schien. Sein Unterleib zuckte nach hinten, und er fiel vornüber auf das Gesicht. Der Kleine hatte getan, was der Pianist zu tun gedroht hatte: Er hatte Dick die Beine unter dem Leib weggeschossen.

Der Pianist wollte sich übergeben - und dann wollte er am liebsten sterben.

Aus dem anderen Zimmer brüllte eine Stimme: »Was, in drei Teufels Namen, geht dort draußen vor?«

 

 

Sechs Uhr dreißig früh

 

Ripley war aufgestanden und in voller Tätigkeit; er hatte gebadet, sich rasiert und angezogen und bugsierte den Rover rückwärts aus der Garage.

Die Streuwagen waren schon dagewesen, und der Schnee war halb geschmolzen; dort, wo sich Autos bereits durch den Matsch der Straßen ihren Weg gebahnt hatten, hatte der Schnee die Farbe von Milchschokolade angenommen. Immer noch schneite es, und die Gehwege waren weiß; im weiteren Laufe des Tages würde er festgetreten und uneben werden - trügerisch und gefährlich. Jetzt jedoch sah er aus wie Zuckerwatte, in der sich hier und da die Spuren eines frühen Fußgängers in einer Linie abzeichneten. Die Hecken und Mauern trugen weiße Hauben, und die Äste der Bäume wirkten wie Frauen, die ihre Arme ausstreckten, damit jedermann ihre weiße Stola bewundern konnte. Es war noch dunkel, und die Scheinwerfer des Rovers ließen die Eiskristalle auf der Oberfläche des Schnees glitzern.

Es war kalt - aber nicht so kalt wie in der Wohnung.

Eine andere Art Kälte.

Die Wohnung war trotz der Zentralheizung kalt - trotz der teppichbelegten Fußböden - trotz der schweren Vorhänge. Die Wohnung war trotz ihrer Wärme kalt. Diese Kälte wurde durch die Einsamkeit gezeugt, von der Abgeschlossenheit geboren, von ungewolltem Alleinsein genährt. Alles das machte die Wohnung kalt und das Gebäude der Abteilungsleitstelle warm; mit Feuer und Zimmertemperatur hatte es nichts zu tun. Diese Wärme konnte nicht mit dem Thermometer gemessen werden. Ihr Maßstab war das Vorhandensein von Gefährten.

Es war möglich, dass Ripley selbst das nicht verstand. Nicht etwa, weil er ein Dummkopf gewesen wäre - denn sehr wenige Dummköpfe steigen zum Range eines Superintendenten auf. Auch nicht, weil es ihm an Gefühl gefehlt hätte. In seinem Beruf, der nicht gerade für Milde bekannt war, konnte er mehr Mitleid beweisen als die meisten anderen. Der Grund, warum er seine eigene Unruhe nicht begriff, war eine persönliche Schwäche; genauer gesagt, eine Stärke, die er sich so sehr zu eigen gemacht hatte, dass sie zu einer Schwäche geworden war. Er verachtete jedes Selbstmitleid. Er verabscheute es bei anderen und versagte es sich, selbst diesem Gefühl nachzugeben - was so lange eine gute Sache ist, bis die Grenzlinie zwischen Selbstmitleid und Selbsterkenntnis verwischt wird, he beiden verschmelzen und eine einzige Bedeutung annehmen. Wenn dies geschieht, setzt eine Art selbstgeschaffener Blindheit ein.

Ripley war im Begriff, diesen Zustand der Blindheit zu erreichen. Er war ein einsamer Mann, der sich weigerte, seine eigene Einsamkeit zu erkennen. Wie konnte er denn einsam sein? Er hatte Freunde - Kollegen in der eigenen und in benachbarten Polizeieinheiten -, die er besuchen, mit denen er trinken und mit denen er ein Garn spinnen konnte. Er hatte eine Tochter und einen Schwiegersohn. Sie liebte ihn, er behandelte ihn mit unverhohlener Bewunderung. Er war Superintendent, und beinahe zweihundert Polizeibeamte unterstanden seinem persönlichen Befehl; keiner von ihnen hatte eine Abneigung gegen ihn, die meisten achteten ihn, und einige mochten ihn sogar gern. Wieso konnte er da überhaupt einsam sein?

Und trotzdem war er es. Aber die Einsamkeit schwand, als er die Leitstelle der Abteilung Beechwood Brook betrat.

Einsamkeit war eine Phantasie - eine morbide Einbildung - eine Fata Morgana - vielleicht etwas, das mit seiner Leber zusammenhing. Daher war es das Beste, sie zu vergessen. Sich nicht damit zu beschäftigen.

Der Sergeant vom Frühdienst begrüßte ihn: »Morgen, Sir. Weitere Meldungen über das Ding in Newcastle.«

»Haben wir sie erwischt?«, fragte Ripley.

»Nein, Sir - noch nicht. Sie haben das Fahrzeug gewechselt. Sie haben in Sedgefield einen Lieferwagen geklaut.«

»Sedgefield?« Ripley schlenderte hinter den Tresen, der den Raum teilte. Er schob die Hände in die Hosentaschen, verlagerte das Körpergewicht auf die Fersen und starrte zu einer Karte von Nordengland hinauf, die einen großen Teil einer Wand bedeckte. »Sedgefield«, sinnierte er. »Das bedeutet, dass sie den größten Teil der Grafschaft Durham umgangen haben. Den Jungs im Kohlenrevier wird das nicht gefallen.«

»Die Meldung kam um vier Uhr herein«, sagte der Sergeant. »Die Straßensperren haben sie innerhalb von zehn Minuten bekommen.«

»Hm-hm«, Ripley betrachtete die Karte. »Weiß man, wann der Lieferwagen geklaut wurde?«

»Der Verlust wurde drei Viertel zehn bemerkt, gestern Abend.«

»So.« Ripley kaute seine Lippe und sagte schließlich: »Wenn nichts dazwischengekommen ist, sind sie über die Linie Middlesborough-Darlington hinaus. In unserem Gebiet - vielleicht auch schon durch. Vielleicht sogar im Abteilungsgebiet.«

»Oder in Pike Top«, vermutete der Sergeant.

»Tja - oder in Pike Top«, runzelte Ripley die Stirn, wandte sich von der Karte ab und fragte: »Wie ist das Wetter oben in den Mooren?«

»Die Nacht war schlimm, Sir.«

»Wie schlimm?«

»Die Funkstreifen wurden gegen Mitternacht zurückgerufen - als der Schneesturm auffrischte. Die Straßen sind zu - und weitere Schneefälle sind vorausgesagt.«

»Wäre das nicht komisch...«, überlegte Ripley.

»Sir?«

»...wenn sie dort oben wären - wenn sie in dem Schlamassel gefangen wären - wenn sie ihre Banknoten verbrennen müssten, um sich einen Weg ins Freie zu schmelzen?«

 

 

Acht Uhr fünfundvierzig

 

Der Raum war groß, und die Fenster zeigten nach Osten. Es wurde heller; und das, was wie der Himmel aussah, aber wahrscheinlich nichts als Schnee war, nahm die Farbe von Perlen an. Die Flocken spritzten gegen das Glas, als würden weiße Bomben bersten, lautlos und ohne Ende. Und wenn man lange genug zuschaute, fühlte man sich wie hypnotisiert. Es war im Zimmer nicht mehr kalt. Ein unter dem Boden installierter Blasebalg hatte der glühenden Asche im großen Kamin neues Leben eingeblasen, und neue Holzscheite und Kohlebrocken schickten ihre Flammen in die schwarze stählerne Esse hinauf. Der Raum war groß und gehörte einem reichen Mann. Hier gab es nichts Billiges und nichts Schäbiges - alles sah entweder antik oder fast antik aus. Jedoch keine »niedlichen« Antiquitäten und keine Victoriana. Hart, fest und bis in die Ewigkeit haltbar, wobei Bequemlichkeit und Aussehen eine untergeordnete Rolle spielten.

So ähnlich wie der Besitzer.

Er war ein Krüppel. Er trug über dem Pyjama einen wollenen Morgenmantel und saß in einem Rollstuhl. Von der Taille abwärts war er in eine schottisch gemusterte Decke gehüllt. Aber er war dennoch ein Riese; wenn er auf stand (sofern er aufstehen konnte), ragte er zweifellos über die Ein-Meter- achtzig-Marke hinaus, und er hatte die Schultern eines Gewichthebers.

Vor etwa zwei Stunden hatte Sibley (der kleine Mann) gesagt: »Na gut - machen wir uns bekannt. Wie heißt du, Papi?«

Der Mann im Rollstuhl hatte gegrollt: »Kümmere dich um deine eigenen verdammten Angelegenheiten! Und dein Vater bin ich nicht - keines von den Weibsbildern, mit denen ich geschlafen habe, hätte je einen so klein geratenen Zwerg wie dich zur Welt gebracht.«

Einige Sekunden lang hatte der Pianist erwartet, dass wieder ein Mord erfolgen würde.

Der Mann im Rollstuhl indessen nicht; er hatte den Colt angesehen, als handle es sich um einen üblen Gestank, dann hatte er ein Rad seines Stuhles gedreht und Sibley den Rücken zugewandt - und aus irgendeinem Grunde, den Gott allein wusste, hatte das gewirkt.

Das war vor zwei Stunden gewesen - bevor Sibley mit dem jungen Mann das Zimmer verlassen hatte, um das Haus nach Schusswaffen oder sonstigen Gegenständen, die eine Gefahr darstellen konnten, zu durchsuchen. Und seitdem hatten sie alle viel zu tun gehabt.

Dick ruhte auf einer Couch; seine zerschmetterten Beine lagen zwischen Schienen aus Spazierstöcken, die man mit von einem sauberen Bettlaken abgerissenen Stoffstreifen gepolstert hatte. Er litt Schmerzen, aber seit jenem ersten Schrei hatte er keinen Laut von sich gegeben. Er entledigte sich eines Teiles seiner Schmerzen, indem er den Pianisten mit den Augen, mit zusammengebissenen Zähnen und zusammengepressten Lippen hasste.

Der Pianist akzeptierte den Hass als bare Münze - denn er wusste, dass es echter Hass war; die Art Hass, die nur junge Menschen kennenlernen, wenn sie ihren Abgott in den stinkenden Schlamm menschlicher Schwäche hinabsinken sehen. Der Pianist war Dicks Abgott gewesen, und der Pianist hatte das gewusst und als Entgelt dafür betrachtet, dass er ihn »entdeckt« hatte; dafür, dass er ihm gegeben hatte, wovon der junge Mann träumte: berufliche Anerkennung. Er hatte ihn aus einer Amateurblaskapelle in Blackburn geholt und zu dem Jazzmusiker gemacht, der er eigentlich war - und er hatte ihn dabei pervertiert.

Doch der Pianist wusste, dass er eigentlich nichts getan hatte. Denn der Keim des Perversen war bereits vorhanden gewesen, der Boden war nicht unfruchtbar - und was für den einen Mann natürlich ist, kann für seinen Nachbarn unnatürlich sein.

Auch in musikalischer Hinsicht hatte der Pianist nichts getan. Er hatte lediglich einen Klang erkannt, auf den selbst Dorsey stolz gewesen wäre; einen Ansatz und eine Technik, die für einen Platz in jedem Blasensemble des Landes gut genug gewesen wären. Alles, was der Pianist getan hatte, war, dies zu überwachen; er hatte ihm den Trompeter Jock und den Klarinettisten Kent als Lehrer gegeben und es ihnen überlassen, zu zeigen, dass echter Jazz sowohl süß als auch schwungvoll sein kann - selbst wenn das Ziel nur unter größten Mühen zu erreichen ist.

Dick hatte schnell gelernt - wie der Pianist es erwartet hatte -, und der Vertrag stellte sicher, dass kein anderer ihn haben konnte, solange der Pianist nicht zu einer Trennung bereit sei.

So war der Pianist - der Abgott. Und jetzt hasste Dick ihn nur wenig mehr, als der Pianist sich selber verabscheute.

Cooley sagte: »Was ist mit ihm?« und starrte auf den Mann im Kamelhaarmantel hinab, den Mann, der McKay hieß.

»Tun Sie etwas!« Hatcher stand in der Nähe des Kamins. Er bewegte die Luger in einem ständigen Bogen von links nach rechts - wie ein Metronom, das den Takt zu einem Largo schlägt. Das Blut an seiner Hand hatte sich verkrustet, aber er konnte immer noch den Abzug bedienen. Er beobachtete sie alle, sprach jedoch zu der Frau. »Sie verstehen was davon. Tun Sie etwas!«

»Ich kann nicht viel tun«, sagte sie. »Mir fehlen die Instrumente.«

»Tun Sie etwas!« Er hatte eine flache, monotone Stimme; gefühllos, leer. Sie passte zu seinen Augen.

Sie zuckte die Schultern und ging dorthin, wo man McKay auf den Teppich geworfen hatte.

Der Pianist folgte ihr.

Ehe Sibley ihn mit dem Colt bedroht und aus dem Raum geführt hatte, um das Haus zu durchsuchen, hatte der jüngere Mann sie Belle genannt. Auf einer Anrichte hatte der Pianist Umschläge, die an Mr. & Mrs. D. Gawne adressiert waren, gesehen, und ihren Mann hatte sie mit David angeredet. Belle Gawne. Ein ungewöhnlicher Name für eine ungewöhnliche Frau.

Die Spannung in dem Raum berührte sie nicht; weder Sibley noch Hatcher (und ganz gewiss weder Lang noch die Worton) konnten sie aus ihrer Ruhe reißen. Sie war ausgebildete Krankenschwester, einstige Stationsschwester - sie hatte es erwähnt, doch die Art und Weise, wie sie Dick behandelt hatte, machte diese Bemerkung unnötig. Wahrscheinlich stammte daher ein Teil ihrer Ruhe, aber das war noch nicht alles. Es war noch mehr - etwas, das Florence Nightingale ihr nicht vererbt hatte: ein unerschütterlicher Friede, der aus den Wurzeln ihrer Seele zu kommen schien.

Sie bückte sich, um McKay zu untersuchen.

Er lebte. Wieweit er noch lebte, darüber wollte der Pianist nicht gern Vermutungen anstellen. Immer noch sickerte Blut aus seiner Kopfwunde - dick wie Himbeermarmelade -, und grauer Knochen schimmerte an den Stellen, wo die Haut vom Schädel gerissen war. Sein Gesicht war unkenntlich, nicht einmal als Gesicht; und der Vorderteil seines Mantels, Anzugs und Hemds waren von dem Blut, das er bereits verloren hatte, durchtränkt und steif.

Sie blickte zu Hatcher auf und sagte: »Er muss gesäubert werden.«

»Bringen Sie ihn nur in Ordnung. Ob er schön ist oder nicht, spielt keine Rolle.«

Sie richtete sich auf und sagte: »Wenn ich nicht sehen kann, wo er verletzt ist, kann ich ihm nicht helfen.«

Die Frau, Worton, sprach jetzt zum ersten Mal. »Das leuchtet mir ein, Hatch«, sagte sie. Sie hatte eine schreckliche Stimme, die hinten aus ihrer Kehle kam, und sie sprach, ohne die Kiefer zu bewegen.

 

Der Mann im Rollstuhl grollte: »Lass ihn sterben. Es ist billiger, ihn zu begraben, als ihn im Gefängnis zu halten.«

»He! Maul halten!« Langs Nerven hatten etwas abbekommen. Der Pianist hatte ihn in Gedanken bereits als kleinen Mann, der zu große Hosen angezogen hatte, eingestuft; was immer sie angestellt haben mochten, um an das Geld zu kommen - Lang war nur als Mitläufer dabei gewesen, und der Autounfall hatte nicht dazu beigetragen, seinen Mut zu beleben. Er zitterte zwar nicht gerade, war aber auch nicht weit davon entfernt. Und der Pianist war froh, dass nicht er die Luger hielt.

»Was brauchen Sie denn?«, fragte Hatcher.

»Im Schlafzimmer - im Schlafzimmer meines Mannes. Sie werden dort im Schrank Handtücher und Laken finden. Und dort gibt es auch heißes Wasser - und Schüsseln.«

Hatcher dachte ein paar Sekunden lang darüber nach, dann sagte er zu dem Pianisten: »Hol das Zeug.« Er wandte sich an die Worton: »Geh mit ihm, Kind. Handtücher und heißes Wasser. Sonst nichts.« Als der Pianist die Tür öffnete, fügte er hinzu: »Keine Mätzchen - sonst drücke ich ab.«

Sie traten in Gawnes Schlafzimmer. Es war ein geräumiges Zimmer, eine umgebaute Bibliothek - an zwei Wänden reichten die mit Glastüren versehenen Regale immer noch vom Fußboden bis zur Decke. Auch die Bücher standen immer noch da; in Kalbsleder gebundene Ausgaben von Shakespeare, Dickens, Pope und Milton; Bücherclubausgaben von McLean, Innes, Gibbs und de Polnay; Taschenbuchausgaben von Creasy, Gilbert, Boland und Le Carre. Sie lagen durcheinander da, wie Bücher, die wirklich gelesen werden. Wenn Gawne der Leser war, dann hatte er einen sehr universellen Geschmack.

Im Zimmer stand ein Doppelbett aus Stahlrohr mit einer Stange, an der Gawne sich hochziehen konnte. Neben dem Bett befand sich ein Waschbecken mit Heiß- und Kaltwasserhähnen. In einer Ecke war ein großer Schrank zu sehen. Der Pianist öffnete die Schranktür. In den Fächern waren Handtücher, Laken und Decken ordentlich aufgeschichtet. Auf dem Boden des Schranks stand eine Anzahl von Schüsseln aus rostfreiem Stahl, ein Eimer aus rostfreiem Stahl und eine Bettschüssel. »Wie in so ’nem verdammten Krankenhaus, nich wahr?«, meinte die Worton. Ihre Stimme klang so kratzig wie eine Säge, die über einen Nagel fährt.

Ohne zu antworten, zog der Pianist Handtücher aus den Fächern.

»Hier!« Er blickte sie an. Sie stand breitbeinig mit gekreuzten Armen da und grinste ihm zu. »Spiel mit mir ja nicht Leckermäulchen, Kleiner! Sonst sag’ ich Hatch, dass du was versucht hast.«

Er trug die Handtücher zum Bett und sagte: »Tja, es ist wie im Krankenhaus.«

Weil der Eimer für das Waschbecken zu groß war, ließ er das heiße Wasser laufen, bis es dampfte und füllte dann die Schüssel. Sie ging zum Bett, hüpfte auf den Sprungfedern auf und ab, hockte sich hin und beobachtete ihn. Er leerte die Schüssel in den Eimer und stellte sie dann wieder unter den Wasserhahn.

»Möchtste denn nie ’ne Frau?«, fragte sie.

Er sah zu, wie das Wasser in die Schüssel strömte.

»He, Kleiner! Ich hab’ das schon immer wissen wollen.«

Die Muskeln in seiner Schulter und in seinem Genick schienen zu gefrieren; nicht in einer sichtbaren Bewegung, aber in plötzlicher und völliger Unbeweglichkeit.

»Ich hab’s immer schon wissen wollen«, wiederholte sie. Dann fuhr sie fort: »Du bist’n warmer Bruder - nicht? Sibley meint das. Und er riecht so was ’ne Meile gegen den Wind.«

Er goss noch eine Schüssel voll heißen Wassers in den Eimer. Sie plapperte weiter. »Ich kapier’s nicht - das ist alles. Ich meine, was würde passieren, zum Beispiel, wenn ich’s dir anbiete? Jetzt? Könntest du? Oder ist’s etwas, waste nich kannst?«

Er schob erneut die Schüssel unter den Hahn. Ihm war übel - physisch übel. Ihm kam der Gedanke, dass die Hölle wahrscheinlich ein Ort sei, der von Frauen ihrer Art bevölkert ist. Er verabscheute sie; in diesem Augenblick war sie ihm stärker zuwider als Sibley oder Hatcher oder McKay - stärker als alles in der Welt.

Sie sprach: »Weil ich’s nämlich rauskriegen möchte. Verstehste? Wennste willst, ’s ist da, Kleiner. Ehrlich! Wir ham genug Zeit. Alles. Alles, waste willst. Ich möcht’s. Verstehste? Jede Stellung, die du möchtst - wenn du weißt, was ich meine.«

»Hör schon auf!«, unterbrach Sibley. »Er hat kein Interesse.« Der Pianist ließ die Luft mit einem lauten Seufzer aus seinen Lungen entweichen.

Sibley stand in der offenen Tür, lehnte sich gegen den Pfosten und ließ den Colt lose in der rechten Hand herunterhängen. Der Pianist goss das Wasser aus der Schüssel in den Eimer und flüsterte: »Ich hätte nie gedacht, dass ich mich darüber freuen könnte.«

Die Worton sprang vom Bett herunter und zupfte ihren Rock zurecht. Sie machte dabei lächerlich altmodische, gezierte Handbewegungen.

»Ins andere Zimmer, Kind!« Sibley machte mit dem Kopf eine Bewegung. »Sag Lang, dass er dich immer noch nicht befriedigen kann - und nimm die Handtücher mit. Wir kommen nach.«

Sie sammelte die Handtücher vom Bett und spazierte an ihm vorbei. Der Bück, den sie ihm zuwarf, hätte ihn töten sollen, verfehlte jedoch seinen Zweck.

Der Pianist drehte den Heißwasserhahn zu.

Sibley trat ins Zimmer und schloss die Tür. Er sagte: »Wir tun es alle mit ihr. Sie will immer noch mehr.«

»Es ist krankhaft«, murmelte der Pianist.

»Für sie ist es ein Vergnügen.« Sibley machte eine Pause und fuhr fort: »Du hast Verstand, Süßer.«

Der Pianist schwieg und wartete.

»Du bist anders als der große Trottel.«

»Er ist noch jung.«

»Er ist dämlich.«

Der Pianist zuckte die Schultern. »Er ist jung - und dämlich.«

»Vielleicht nicht als einziger?«

»Kann sein!«

»Vielleicht ist irgendein Dummkopf dabei, nachzurechnen...«, Sibley warf einen Blick zur Tür. »Dort, im anderen Zimmer. Vielleicht zählt und überlegt er: Ihr seid acht - wir sind vier. Er glaubt vielleicht, es müsste klappen.«

»Sie sind bewaffnet«, sagte der Pianist.

»Wie ich schon sagte - du hast Köpfchen.« Sibley lächelte. Sag’s den anderen weiter: Wenn wir euch alle erschießen, fühlen wir uns einsam - sonst nichts.«

»Ich werde das weitersagen«, versprach der Pianist. Er hob den Eimer auf. »Wollen wir das Missverhältnis verbessern und sehen, ob wir euch McKay wiedergeben können.«

 

 

9 Uhr morgens

 

»Dort könnten sie stecken«, meinte Ripley.

»Sie könnten überall stecken«, erwiderte sein Schwiegersohn. Ripleys Schwiegersohn war Detektivsergeant in der Abteilung Beechwood Brook: Detektivsergeant Goodright. Zwischen den beiden Männern herrschte ein merkwürdiges Verhältnis; sie hatten sich erst daran gewöhnen müssen. Es bestand darin (und zwar immer noch), dass Ripley Goodright härter anfasste als irgendeinen anderen Sergeanten in seiner Abteilung, und wenn auch nur, um jegliche Anschuldigungen, er begünstige Goodright, von vornherein zu widerlegen. Es bedeutete, dass Goodright das übliche Sicherheitsventil eines Polizeibeamten versagt blieb: eine Ehefrau, die sich empörte Klagen über die Launen und ausgefallenen Ideen des Abteilungs-Superintendenten bereitwillig anhörte. Aber glücklicherweise hatte sich hier etwa im Laufe des letzten Jahres eine Entspannung abgezeichnet. Susan Goodright hatte allmählich eingesehen, dass Goodright nicht nur maßlos übertrieb, wenn er Ripley als »völlig übergeschnappt« bezeichnete, sondern dass er damit den Superintendenten Ripley und nicht den Vater seiner Frau meinte. Das Verhältnis zwischen Ripley und Goodright beruhte auf einem fein eingespielten System gleichmäßig verteilter Macht- und Kontroll-Befugnisse; schließlich war es ja unmöglich, dauernd im Geiste aus- und einzuschalten und »im Dienst« oder »außer Dienst« zu sein, je nachdem es die Umstände erforderten. Sie hatten deshalb (und ganz ohne sich dessen bewusst zu sein) eine Art halbdienstliches Niemandsland geschaffen, in dem sie sich miteinander ohne jede Peinlichkeit verständigen konnten - was bedeutete, dass Goodright Ripley Dinge sagen konnte, wie es sich kein anderer Sergeant erkühnen durfte. Und umgekehrt konnte Ripley Goodright in dem sicheren Wissen zusammenstauchen, dass Goodright, auch wenn die Strafpredigt noch so ungerechtfertigt sein mochte, nicht mit Gebrüll zum Personalrat rennen würde.

Es war ein seltsames Verhältnis, aber es war ein gutes Verhältnis. Es funktionierte, weil beide Männer erstklassige Polizeibeamte waren - und weil sie gegenseitig ihre Fähigkeiten anerkannten.

»Irgendwo müssen sie schließlich sein«, sagte Ripley. »Selbstverständlich.« Goodright zündete sich eine Zigarette an und warf das abgebrannte Streichholz in den gläsernen Aschenbecher auf Ripleys Schreibtisch.

»Ich habe mit den Leuten in Yorkshire gesprochen«, berichtete Ripley. »North Riding. East Riding. Sogar mit West Riding. Sie sind so gut wie sicher, dass die nicht durchgekommen sind.«

»Aber nicht ganz sicher.«

»Sie haben Straßensperren - wie wir.«

»An den Hauptstraßen«, sagte Goodright. »Nicht an allen.«

»Hör mal!« Ripley lehnte sich vor, beugte sich über den Schreibtisch. »Gestern Abend waren sie in Sedgefield. Sie klauten einen Lieferwagen. Dieser verdammte Wagen hat unsere Kontrollstellen nicht passiert. A eins. A neunzehn. A hundertsiebenundsechzig.« Er zählte die Straßennummern im Sprechen an den Fingern ab. »Sie sind ja nicht blöd. Große und kleine Städte werden sie nicht riskieren - jedenfalls nicht nachts. Damit fallen also Billingham, Stockton, Middlesborough und Darlington aus.«

»Sie können sich irgendwo verkrochen haben«, vermutete Goodright.

»Wenig wahrscheinlich«, wandte Ripley an. »Wenn sie diesen Trick versucht hätten, dann wären sie in der Nähe von Newcastle untergeschlüpft - nicht weiter südlich als Gateshead.«

»Sofern sie nicht sehr gerissen sind«, meinte Goodright.

»So gerissen sind sie auch wieder nicht - nicht einmal

McKay«, sagte Ripley. »Es bleiben also diese drei Straßen. Sonst hätten sie durch Ortschaften fahren oder sich nach Norden zurückziehen müssen.«

»Oder aber kleine Landstraßen benützen - und das ist meine Vermutung«, sagte Goodright.

»Stimmt - sprechen wir also über die Landstraßen.«

»Sie klauten einen Lieferwagen - wann genau?«, fragte Goodright.

»Drei Viertel zehn.«

»Oder etwas früher - aber sagen wir mal drei Viertel zehn. Wir erhielten die Meldung erst heute früh um vier...«

»Auf den A-Straßen ist der Wagen nicht gefahren«, unterbrach Ripley. »Ich habe mich bei den Sperren erkundigt.«

»Hat man die Nummern aller Fahrzeuge notiert?«

»Das hat man«, bestätigte Ripley. »Um ganz sicherzugehen. Ich bin auch nicht von gestern.«

»Sehr raffiniert!«

»Freut mich, dass du zufrieden bist.«

»Aber das sind nur drei Straßen«, grinste Goodright.

»Ich weiß. Wir wollten ja von den kleinen Landstraßen sprechen.«

»Sie hätten durchschlüpfen können. Zeit genug hatten sie.«

»Bei dem Wetter? Es ist ein Lieferwagen - kein Schneepflug.«

»Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig«, meinte Goodright. »Sie können über die Hügel gekommen sein, noch ehe das Wetter ganz schlecht wurde.«

»Aha!«, sagte Ripley. »Jetzt sind wir schon bei fünfzig zu fünfzig.«

»Hab’ ich gesagt, dass es unmöglich ist?«, fragte Goodright. Ripley schnaufte und sagte: »Bisher hast du überhaupt nicht viel gesagt. Nichts, was des Anhörens wert war. Eine Menge Quatsch über Meisterverbrecher und kleine Landstraßen.«

»Du hast mich danach gefragt«, verteidigte sich Goodright.

»Ich hätte wissen müssen, dass es keinen Zweck hatte.«

»Susan«, murmelte Goodright, »sagt, dass du zur Dickköpfigkeit neigst.«

»Susan ist nicht mein Detektivsergeant - du bist es«, brummte Ripley. »Und zieh dir lieber deine wollene Winterwäsche an. Und nimm eine Schaufel mit. In Kürze wirst du Schnee schaufeln müssen.«

 

 

10 Uhr vormittags

 

Es schneite immer noch. Ein Blick aus dem Fenster zeigte weiße Hügel, die von einer weißen Ebene umgeben waren. Zwei dieser Hügel waren der Jaguar und der Kleinbus. Über diese Hügel und das flache Land trieb der Wind Flocken, die so groß waren wie Shillingstücke.

Im Zimmer war es warm, beinahe stickig. Trotz seiner Größe war der Raum mit vierzehn Personen überfüllt. Dick lag immer noch auf der Couch. Gawne saß im Rollstuhl. Die anderen hatten sich hingesetzt, wo sie gerade Platz gefunden hatten. Sibleys Stuhl stand neben der Tür; er hatte den Colt in den Hosenbund geschoben und hielt eine doppelläufige Husquarna-Schrotflinte quer über seinen Knien. Hatcher hockte mit seiner Luger immer noch am Kamin, und Lang saß neben dem Fenster und hätschelte ein .22er Winchester-Repetiergewehr.

Die Worton lümmelte in einem Sessel und döste vor sich hin. Und McKay war bei Bewusstsein.

Was der Pianist nicht für möglich gehalten hatte, war geschehen: Belle Gawne hatte McKays Gesicht und Hände gesäubert, die klaffenden Ränder seiner Wunde geschlossen und aus Handtüchern einen Turban gewickelt, der ihm bis ins Genick und unters Kinn reichte und die Kopfhaut in der richtigen Lage hielt. Kent und Harry hatten Belle geholfen, McKay den besudelten Mantel, das Jackett und das Hemd auszuziehen; und Sibley hatte den Pianisten erneut ins Schlafzimmer geschickt, um eine Decke zu holen.

Und jetzt saß McKay in einem der Lehnsessel und litt. Er war groß, und jede Faser seines Körpers war zäh, doch der Schmerz ließ ihn allmählich zu Zwergengröße schrumpfen. Die Pein hatte seine Augen bereits verdunkelt und seinem Gesicht die Farbe von Hammelfett verliehen, und man konnte bei jedem Herzschlag die Andeutung eines Zusammenzuckens sehen. Dennoch war er immer noch der Chef, und Sibley gehorchte seinen Befehlen - bis auf weiteres.

Gawne schob seinen Rollstuhl einen viertel oder halben Meter näher ans Feuer und grollte: »Ich bin hungrig. Wollt ihr uns erschießen oder verhungern lassen?«

»Schnauze, du Krüppel«, sagte Sibley. Er beobachtete die Anwesenden, aber er beobachtete auch das Fenster, und es bedurfte keiner großen Anstrengung, um zu erraten, was er dachte: dass das weiße Zeug draußen undurchdringlicher sei als eine Gefängnismauer.

»Warum nicht?« McKay hatte die Stimme eines Schauspielers;

sie reichte weit, ohne laut zu sein. Aber der Schmerz ließ die Silben um den Bruchteil eines Tones zu hoch klingen - wie ein schlecht gestimmtes C-Dur-Saxophon. Er sagte: »Wir brauchen was zu essen. Wir wollen essen.«

»Wenn du meinst...« Sibleys Worte klangen wie ein gedachtes Schulterzucken.

»Ich gehe schon«, sagte Belle Gawne.

Der Mann, den sie Tony nannten - ein Jüngling, der vorhin mit Sibley mitgegangen war, um das Haus nach Waffen zu durchsuchen, sagte: »Ich komme mit.«

»Nein«, sagte Sibley und hob die Husquarna eine Handbreit höher. »Du gehst, Süßer. Bleib nicht zu lange weg. Und klopf an, ehe du die Tür aufmachst - sonst haben wir einen Teller zu viel.«

Der Pianist folgte der Frau aus dem Zimmer, und Sibley warf die Tür hinter ihnen mit einem Tritt ins Schloss.

Die Küche war wie alles andere im Hause: groß und gut ausgestattet, jedoch düster. An einer Wand standen ein riesengroßer Kochherd und ein Kühlschrank, der so geräumig war, dass man hätte hineinspazieren können. Schränke und Arbeitsflächen gab es in Hülle und Fülle; Pfannen waren zu Dutzenden aufgestapelt. Und wenn Frau Saubermann all die Küchengeräte und den ganzen Krimskrams hätte sehen können, dann hätte sie bestimmt kopfgestanden. Der Schnee hatte sich an den Fensterscheiben angehäuft und ließ ein unwirkliches Licht durchschimmern, in dem der Raum wie das kulinarische Zentrum im Palast der Eiskönigin wirkte.

Ehe sie die Neonleuchten einschaltete, fragte der Pianist: »Alles das - nur für Sie drei?«

»Wir pflegten Gesellschaften zu geben.« Die Leuchten flackerten, brannten und durchfluteten die Küche mit bläulichem Schein. »Wir hatten Personal.«

Sie bewegte sich flink und geräuschlos, als ob sie, statt der Füße, tadellos gelagerte Räder besäße. Dem Kühlschrank entnahm sie Speck, Eier und Butter; dann Brot und Marmelade; danach holte sie eine riesige kupferne Bratpfanne. Sie stellte alles auf einer Arbeitsplatte neben dem Herd zurecht.

Sie hob den Deckel von einer der Kochplatten und fragte: »Können Sie das Frühstück machen?«

»Ich bin dafür bekannt«, gab der Pianist zu.

»Ich möchte mich gern anziehen.«

»Schon gut! Ich werde die Eier braten.«

»Aber für David nicht«, sagte sie. »Sein Frühstück mache ich selber. Er möchte die Eier ausgelaufen und den Speck knusprig haben.«

»Es lebe David!«, murmelte der Pianist.

Sie ließ ihn allein, und er machte sich daran, das Essen zuzubereiten. Es war angenehm, wieder allein zu sein; Gelegenheit zu haben, nachzudenken. Nur dass seine Gedanken nicht angenehm waren, eher wie Alpträume. Sie konnten von Dick und Fatso nicht loskommen; von dem, was er getan und was er nicht getan hatte - und was er hätte tun sollen.

Er schlug die Eier in die Bratpfanne und dachte voller Kummer an Dicks Beine. Vielleicht würden sie verheilen - vielleicht auch nicht. Er hoffte es. Er hatte noch keinen Jazzmusiker kennengelernt, der kein ganzer Mann war; aus irgendeinem Grunde musste jeder Mensch vollkommen - makellos - sein, um die Fackel aufnehmen zu können, welche die Männer in Dixie und New Orléans zuerst entzündet hatten. Gott allein wusste, warum - aber es war etwas dran. Dick konnte immer noch Posaune spielen - und sogar gut. Er konnte in jeder Show-Band des Landes als Außenmann mitwirken; hin und wieder einen effektvollen Refrain oder ein effektvolles Solo spielen. Aber das alles war kein Jazz. Für Jazz brauchte man eine kleine Gruppe, und die Männer vorn mussten einander nahestehen - musikalisch wie seelisch. Man musste an der Musik Freude haben. Mehr als Freude - man musste sie lieben -, selbst wenn sie getragen und blue war und einem das Herz zerriss. Man musste selber Bestandteil der Musik werden, und sie musste Bestandteil der eigenen Persönlichkeit sein. Und vielleicht konnte man sie nie ganz erfassen, wenn man selber nicht ganz war.

Das war es, was er Dick angetan hatte. Und darum hatte er Kummer.

Die Gedanken an Fatso waren nicht so schwer. Der Pianist hatte Fatso nicht gemocht, und Fatso hatte den Pianisten nicht ausstehen können. Und überhaupt war Fatso kein echter Jazzman gewesen. Man würde ihn begraben und vergessen, und niemand würde dadurch ärmer werden. Er hatte irgendwo eine Frau (seine Witwe), aber sie würde nicht weinen. Er hatte sie wie einen Hund behandelt; sie knapp gehalten und mit jeder Hure geschlafen, die dazu bereit war. Seine Frau würde ihn nicht vermissen, und der Jazz auch nicht, das stand fest.

Nur dass Fatso ein Mensch gewesen war und jetzt als Leiche dalag - und auch daran war der Pianist schuld.

Jesus Christus! Er war an so vielem schuld!

Als sie zurückkehrte, trug sie ein zweiteiliges Kostüm in Kastanienbraun und Weiß. Sie hatte sich gewaschen, das Haar frisiert und eine Andeutung von Make-up aufgelegt. Sie sah sauberer, ordentlicher und noch selbstbeherrschter aus als zuvor. Sie ließ den Pianisten weiter mit der Bratpfanne hantieren, während sie sich um das Brot, den Toaster und die Kaffeemaschine kümmerte. Es war recht gemütlich, und die düstere Stimmung des Pianisten begann zu schwinden: das Brutzeln des bratenden Specks, die Hitze des Herdes, der Duft des tiefbraunen Kaffees, der knusprige Geruch des heißen Toastes - noch ein paar Kinder, und sie hätten seit Jahren verheiratet sein können - beinahe.

»Ich habe gar nicht gewusst, wie hungrig ich bin«, sagte er.

Sie lächelte, strich Butter auf eine frisch geröstete Brotscheibe und bemerkte: »Man scheint Ihnen zu vertrauen.«

Er wusste nicht, worauf sie hinauswollte.

»Die anderen dort drinnen: Sibley und seine Freunde - sie gestatten Ihnen ein gewisses Maß an Freiheit.«

»Finden Sie?«

»Überlegen Sie einmal selbst«, sagte sie ruhig.

»Das brauche ich gar nicht. Ich bin kein Freund von denen. Nach allem, was die getan haben, werde ich wohl kaum...«

»Ich habe nicht behauptet, dass Sie es seien«, unterbrach sie. »Mehr oder weniger.«

»Nein - das nicht.« Sie lächelte erneut und fuhr fort, die Toastscheiben mit Butter zu bestreichen. »Leicht einzuschüchtern - das meine ich.«

Er fühlte, wie eine Woge von Zorn ihn überkam. Und dann verwandelte sich der Zorn in Abneigung.

Sie öffnete eine Schranktür und begann Geschirr herauszunehmen. Mit dem Rücken zu ihm dastehend, fragte sie: »Haben Sie Angst?«

»Das haben wir alle.«

»Ihr großer Freund nicht.«

»Es hat ihm wenig genützt«, sagte er bitter.

»David auch nicht.«

Er widersprach nicht.

»Und ich glaube nicht, dass die anderen Angst haben - jedenfalls nicht so sehr wie Sie.«

Er stimmte ihr nicht zu - aber er widersprach immer noch nicht.

Sie zog ein Schubfach auf und legte Bestecke neben das Geschirr. Sie sah ihn auch dann nicht an, als sie fragte: »Warum?«

»Warum was?«

»Warum fürchten Sie sich mehr als die anderen? Warum haben Sie Angst - und die anderen nicht?«

»Sie fürchten sich auch«, sagte er. »Sie fürchten sich sogar sehr. Besonders Kent, der Klarinettist.«

»Der dunkelhaarige Mann mit der Brille?«

»Ja.«

»Wahrscheinlich - aber er verbirgt es besser als Sie.«

»Sie haben alle Angst«, beharrte er unfreundlich. »Wir sind gewohnt, mit Musikinstrumenten umzugehen - nicht mit Waffen.«

Sie nickte; eine winzige Bewegung, als hätte er etwas gesagt, was sie erwartet hatte. Sie ging in eine Ecke und rollte einen Servierwagen zum Herd. »Bitte verteilen Sie das Essen auf die Teller«, sagte sie. »Ich brate inzwischen Davids Frühstückseier.«

»Ein verlaufenes Ei und knusprigen Speck«, murmelte er gehässig.

Sie setzte wieder ihr Lächeln auf, und er begriff, dass er seine Bemerkung verschwendet hatte; keine Worte konnten tief genug dringen, um sie zu berühren - wenn sie es nicht wollte. Er häufte das Essen auf die Teller und stellte die Teller auf den Servierwagen, im Innern kochend, weil er wusste, dass sie nicht ganz unrecht hatte. Die Schufte im anderen Zimmer hatten ihn um den Verstand gebracht und ihn tatsächlich eingeschüchtert. Er hatte bereits zu vieles versucht - zu viel Leid verursacht. - Und jetzt wollte er nichts tun, nur sich treiben lassen, leicht und bequem, bis es vorbei sei. Es war wichtig, dass sie ihn verstand.

Er sagte: »Hinten im Bus liegt ein Toter.«

»Ja«, sagte sie und betrachtete das Ei.

»Er war unser Schlagzeuger.«

»Ja.«

»Hatcher erschoss ihn, weil ich Lang überfiel.«

»Wirklich?« Das Ei nahm ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch.

»Weil Sibley ihm befahl, ihn zu erschießen.« Der dringende Wunsch, verstanden zu werden, ließ ihn verzweifeln, und die Verzweiflung machte ihn schwatzhaft. Aber sie musste es wissen, sie musste ihn verstehen! Er fuhr fort: »Dort draußen - bevor wir herkamen. Bei dem Unfall. Der Colt war in McKays Tasche. Ich nahm ihn und richtete ihn gegen Lang. Deshalb erschossen sie Fatso. Hatcher erschoss Fatso.«

»Warum haben Sie Lang nicht erschossen?« Sie hob die Bratpfanne von der Kochplatte und sagte: »Reichen Sie mir bitte einen Teller«, und im ersten Satz lag nicht ein Gramm mehr Gefühl als im zweiten.

Der Teller klapperte, als er ihn auf die Kunststoffplatte stellte, neben den Herd, und die Worte würgten ihn beinahe, als er sprach: »Ich habe ja versucht, ihn zu erschießen. Ich hätte ihn auch erschossen. Aber dieser verfluchte Colt war gesichert.«

»Wie schade!«

»Sie glauben mir also.«

»Spielt das eine Rolle?«

»Ja - es spielt eine Rolle.«

»Warum?« Sie stellte Gewürze auf den Servierwagen.

»Weil...« Er schluckte und setzte nochmals an. »Weil ich der einzige bin, der etwas getan hat - außer Dick und das machte alles noch schlimmer. Die anderen haben bloß - ich weiß nicht - es hingenommen. Es akzeptiert. Ich habe wenigstens etwas getan.«

Sie holte Milch, Sahne und Zucker und sagte: »Sie sind ein Held.«

»Ich wollte damit nicht sagen...«

»Wenn der Schnee schmilzt, werden Sie ein toter Held sein«, unterbrach sie.

Er runzelte die Stirn.

Sie überprüfte die Sachen auf dem Servierwagen und fuhr in der Luft im Zickzack mit dem Zeigefinger über die Tassen, Teller und Untertassen. Im Tone höflicher Konversation fuhr sie fort: »Die Männer sind gefährlich - verzweifelt. Im Augenblick sind sie in Sicherheit. Sie können nicht vom Fleck - aber niemand kann an sie heran. Wenn ihnen das bisher noch nicht klargeworden ist, wird es ihnen bald klarwerden. Bis der Schnee schmilzt, können sie es sich bequem machen. Aber wenn der Schnee zu tauen beginnt, fängt auch die Jagd an. Jeder kann sich wieder auf den Weg machen. Die können fort. Sie können es auch. Wir ebenfalls. Die Behörden können erfahren, dass McKay, Sibley, Hatcher, Lang und die Worton Weihnachten auf der Diasc-Farm verbracht haben. Das bedeutet, dass sie festgenommen werden - falls die Behörden es erfahren. Wenn nicht irgendjemand etwas unternimmt, werden sie dafür sorgen, dass die Behörden es nicht zu wissen bekommen.« Sie blickte auf, setzte wieder ein Lächeln auf und sagte: »Wenn Sie jetzt bitte den Wagen schieben würden, mache ich Ihnen die Türen auf.«

 

 

11 Uhr vormittags

 

Auf Weihnachtskarten sieht Schnee hübsch aus. In den Schaufenstern ist er aus Watte nachgemacht und wirkt jahreszeitlich angemessen. In Gärten macht er einen malerischen Eindruck. In den Straßen einer Stadt ist er schmutzig und matschig - ein Ärgernis und unbequem. In den Tälern und auf den Bauernhöfen macht er den Leuten das Leben schwer.

Auf den Höhen des Moorlandes wird er zum Mörder.

Er ist die stählerne Faust der Natur im weißen Samthandschuh. Er tötet leise und sanft, aber unter Qualen. Niemand und nichts schreit, wenn es erfriert. Und dafür gibt es auch einen Grund: Der Tod bringt ein Nachlassen der Schmerzen mit sich, die Qualen steigern sich so langsam, dass das Opfer - wenn der Augenblick gekommen ist, da es schreien müsste - nicht mehr die Kraft dazu hat. Der Tod ist wie ein Einschlafen. Die letzten paar Stunden sind ein allmähliches Verströmen des Lebens; eine Verringerung der Wärme, bis das Blut gefriert und das Herz stillsteht. Und die Natur macht dann ihren letzten, geschmacklosen Scherz, indem sie dem Opfer ein Leichentuch schenkt, das aus dem Mordwerkzeug gemacht ist: aus Schnee.

Eine Ahnung dieses Grauens rührte Ripley und Goodright an, während sich der Rover durch den Schneesturm schob und sich über die Hügel die Straße entlangtastete. Keiner von beiden erwähnte es, und doch waren sie beide für die Anwesenheit des zweiten Wagens dankbar - eines Funkstreifenwagens Marke Austin Princess - der sich hinter ihnen durch das Unwetter bohrte.

Ripley handhabte das Steuer wie ein Terrier, der eine Ratte bedroht. Was er tat, hatte mit Autofahren ebenso viel zu tun wie die blutigen Faustkämpfe früherer Zeiten mit der ledergepolsterten, wissenschaftlich fundierten Boxkunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Er setzte Gewalt gegen Gewalt, und selbst wenn das Wetter letzten Endes siegen sollte, war Ripley doch entschlossen zu kämpfen, solange der Wagen sich auf seinen vier Rädern weiterbewegte.

»Dies hier«, sagte er, »ist Polizeiarbeit ohne Scheuklappen.«

»Nicht im Stile von Scotland Yard«, stimmte Goodright zu. Ripley grinste und sagte: »Denen wäre schon längst das Wasser in die verdammten Augen gestiegen.«

 

 

11 Uhr vormittags

 

Gawne war maßlos - in jedem Sinne des Wortes. Alles an ihm war gewaltig: sein Körper, seine Stimme, seine Persönlichkeit. Er war ein Krüppel und in den Rollstuhl gebannt; doch wenn er durch das Zimmer zu rollen begann, vergaß man diese Einzelheiten; man begriff, dass er, obwohl er von der Taille abwärts unbeweglich war, immer noch so viel darstellte wie anderthalb Männer. Man musste es merken, denn das Feuer seiner Augen drohte, einen wie zwei Thermitlanzen zu zerschneiden. Und man widersprach ihm nur, wenn man wahnsinnig genug war, sich für ebenso groß und ausdauernd zu halten, wie er es war.

McKay glaubte das - und vielleicht hatte er auch recht. Zwischen den beiden Männern war es zu einem frontalen Zusammenstoß gekommen, und von der Wucht des Aufpralls schien der gesamte Raum zu erzittern. Die anderen Anwesenden sahen und hörten zu, mischten sich jedoch - ob bewaffnet oder unbewaffnet - nicht ein.

Gawne knurrte: »Eher lass ich dich in der Hölle braten!«

»Kannst du mich denn daran hindern?« McKays Stimme klang roh und hässlich. Die Haut seines Gesichtes hatte einen wächsernen Schimmer, und irgendwo in seinem Schädel fachte der Schmerz einen Schmelzofen zur Weißglut an. Er stieß sich von seinem Sessel hoch und sagte: »Du mit deinem verdammten Go-Cart! Glaubst du, du könntest mich aufhalten?«

»Bleib, wo du bist!« Gawne drehte das eine Rad seines Stuhls und versperrte McKay den Weg zur Tür.

McKay schwankte ein wenig, und ein dünnes Rinnsal von Schweiß sickerte seitlich an seinem Gesicht hinab. Er ballte die Fäuste, öffnete sie wieder und krächzte: »Hau ab! Geh mir aus dem Weg, bevor ich...«

»Nicht in meinem Bett!«, brüllte Gawne.

»Egal, in wessen verfluchtem Bett! Ist mir ganz egal!«

»Der Stuhl, McKay - sonst nichts. Und nicht einmal das, wenn die dich nicht hereingeschleppt hätten, ehe ich sie daran hindern konnte.«

»Geh mir aus dem Weg!« McKay schrie nicht - was in seinem Kopf vorging, ließ ein Schreien nicht mehr zu -, aber seine Worte waren ein wütendes Flüstern. Der Mann war vor Schmerz wahnsinnig. Sie alle wussten es; sie konnten sehen, wie ihm der Schweiß vom Kinn tropfte, wie die Qualen Falten in sein Gesicht gruben, wie seine Augen vor wildem Schmerz brannten. Wenn je ein Mensch alle Sünden, die er im Laufe eines ganzen Lebens zu begehen vermochte, auf die Sekunde bezahlen konnte, dann tat es McKay in diesen Stunden. Im Augenblick hatten sie alle Mitleid mit ihm - ohne Einschränkung.

Gawne jedoch hatte kein Mitleid. Gawne brüllte: »Du wirst nicht in meinem Bett sterben, McKay. Du nicht - und niemand von den Dreckskerlen, die du mitgebracht hast. Du hast einen üblen Ruf. Sie haben das in den Nachrichten gesagt: Ein gefährlicher Mann, für seine Gewalttätigkeiten bekannt...«

McKay bewegte sich vorwärts - ein taumelndes, plattfüßiges Schlurfen. Seine Augen starrten den Mann im Rollstuhl an. Seine Finger waren gekrümmt, bereit, Gawne an der Kehle zu packen.

»Ein Mann, der sich nimmt, was er will - und sich um sonst nichts schert.« Gawnes Stimme sank von donnerndem Brüllen zu höhnischem Schreien. »Aber nicht in diesem Hause, McKay. In diesem Hause kriegst du nur, was ich dir gebe. Und das ist nicht viel...«

McKay taumelte gegen den Servierwagen, und das schmutzige Geschirr klapperte; einer der auf gestapelten Teller glitt von dem Haufen herab und knallte auf den Teppich. Er zog die Lippen von den zusammengebissenen Zähnen hoch, so dass sein Mund ein einziges hass- und schmerzerfülltes Grinsen war. Fäden von Blut vermischten sich mit dem Schweiß, der unter seinem Handtuchhelm hervorströmte. Aber er ging weiterhin auf die Tür und auf Gawne zu: unbeholfen, unsicher, wie ein von Menschenhand gemachtes Ungeheuer in einem billigen Horrorfilm - nur war es dieses Mal Wirklichkeit.

»Und du kriegst kein Bett, in dem du sterben kannst. Nicht in diesem Hause! Einen Stuhl - wenn du Glück hast. Oder dort draußen im Schnee. Oder auf dem Fußboden, wo du hingehörst. Du kannst wählen, McKay! Ich möchte dir Zusehen - sehen, wie groß du wirklich bist - sehen, wie stark du wirklich bist - sehen, ob du in die Hölle fahren kannst, ohne zu jammern. Ich möchte...«

McKay hatte den Rollstuhl erreicht. Es war ungewiss, ob er ihn sah; aller Wahrscheinlichkeit nach hatten ihn die Schmerzen bereits blind gemacht. Aber er berührte ihn mit dem Fuß, den er mühsam vorwärts schob, knurrte tief in der Kehle und fiel vornüber auf seinen Peiniger. Seine Hände tasteten nach Gawnes Armen, fanden sie und tappten hinauf zu den Schultern und dem Hals.

Gawnes Hände packten McKay um die Taille und über den Rippen, wie ein Mann ein Kind packt. Er grunzte und hob; McKay knallte rückwärts gegen den Servierwagen, und ein Rad brach von dem Rollstuhl ab.

Gawne fiel der Länge nach auf den Teppich und stieß wütende Flüche aus.

McKay hing über dem zusammengebrochenen Serviertisch, inmitten von zerbrochenem Geschirr, und sein Blut sickerte durch die Handtücher. Er gab noch einen Laut von sich, ein langgezogenes schauderndes Stöhnen - dann nichts mehr.

Belle Gawne beugte sich über ihn, richtete sich auf und sagte: »Würden Sie bitte meinem Mann auf einen Stuhl helfen. McKay ist tot.«

 

 

Zwölf Uhr fünfzehn mittags

 

Das ist es, was den Polizeibeamten ausmacht: Ahnungen und Intuition; ein Gehirn, das wie ein Computer für die Beurteilung von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten programmiert ist; Eigensinn; Verbissenheit; Sturheit; die Weigerung, sich geschlagen zu geben, selbst wenn niemand sonst auch nur einen Schimmer von Hoffnung sieht. Und wenn er Prügel bezieht, kommt er zurück, auch wenn er eine neue Tracht einstecken muss. Ein Geisteszustand, in dem Vernunft und Mäßigung nicht zur Kenntnis genommen werden. In der Umgangssprache, die Ripley gebrauchte, hieß das: »Alles oder nischt!« Ripley hatte das alles. Goodright ebenfalls.

Das war der Grund, warum sie immer noch durch den Schnee stapften, eine Stunde nachdem der Rover und der Streifenwagen aufgehört hatten, sich vorwärts zu bewegen. Auf die Frage: »Warum noch weitergehen?« hätten sie keine vernünftige Antwort geben, sondern nur die Gegenfrage stellen können: »Warum nicht?« Keiner von ihnen erwartete bewusst, die Spur der McKay-Bande zu finden - ebenso wenig wie ein zum ersten Mal gewählter Politiker erwartet, es zum Premierminister zu bringen. Es war lediglich eine Möglichkeit - nichts sonst. Aber die Möglichkeit bestand, und deshalb marschierten sie weiter.

Sie hatten bereits eine Handvoll vom Schnee erstickter, verlassener Fahrzeuge überprüft: einen Milchwagen, ein Brotauto, einen Messerschmitt-Roller, zwei Ford, einen Sunbeam und einen Hillman. Sie waren triefend nass: einmal vom Schnee und zudem von ihrem eigenen Schweiß. Sie hatten beide genug, sie wollten beide gern umkehren, aber keiner wollte derjenige sein, der als erster den Vorschlag dazu machte. Deshalb schleppten sie sich vorwärts, mit geneigtem Kopf, stemmten die Schultern dem Wetter entgegen, taumelten und stolperten, krochen beinahe durch den immer dicker werdenden Schnee - weil keiner von ihnen weniger »Mann« sein wollte als der andere.

Das nächste Fahrzeug, zu dem sie gelangten, war der Lieferwagen. Sie erkannten, dass es ein grüner Austin war. Goodright klopfte den Schnee von dem hinteren Nummernschild, und sie lasen: DWW 641 B.

Ripley grinste und schrie: »Wer will noch behaupten, dass es keinen Weihnachtsmann gibt?«

Sie zerrten die Tür auf und blickten ins Innere.

»Einer von den Kerlen ist verletzt worden.« Goodright zeigte mit einer Handbewegung auf das befleckte Polster des Beifahrersitzes. »Jemand hat eine Menge Blut verloren.«

Ripley schützte die Augen mit der Hand vor dem Schneesturm, lugte in das Weiße hinaus, das sie umgab - in die wirbelnden Flocken und die flache Schneewildnis -, und sagte: »Wo, zum Teufel, sind die Brüder?«

»Nicht weit«, rief Goodright. »In diesem Zeug können sie nicht weit gekommen sein.«

»Falls sie noch am Leben sind.«

»Ob lebend oder tot - jedenfalls nicht weit.«

Sie schlossen die Tür des Lieferwagens, um sich vor dem Blizzard zu schützen, und Ripley meinte: »Einer von uns sollte hierbleiben. Ich bleibe.«

»Besser, wenn ich bleibe.«

»Wenn du glaubst, weil ich der Ältere bin, kann ich nicht...«

»Du hast den höheren Rang«, unterbrach Goodright. »Auf dich wird man hören, ohne Zeit mit Fragen nach Erklärungen zu verschwenden. Du bringst die Sache schneller in Gang.«

»Niemand wird doch um Himmels willen Erklärungen verlangen!«

»Irgendjemand bestimmt - irgendein an seinem Stuhl klebender Blödian in der Zentrale.«

Ripley starrte Goodright ins Gesicht, überzeugte sich, dass der Vorschlag nicht aus Gründen des Altersunterschiedes gemacht wurde, und schrie: »Ich komme wieder. Halt dich warm - bleib in Bewegung. Wenn nötig, klettere in den Lieferwagen, und zum Kuckuck mit Fingerabdrücken und allem anderen.« Goodright nickte.

In weniger als einer Minute hatte das Schneegestöber Ripley verschlungen.

 

 

Zwölf Uhr dreißig

 

Jetzt bekam der Pianist erst richtig Angst.

Das zahlenmäßige Verhältnis hatte sich erneut verschoben, und es war, als ob irgendjemand irgendwo alle anderen zum Narren hielt. So weit gelangte der Pianist mit seinen Überlegungen - dann war er bei den Da-capo-Punkten angekommen und fing wieder vorn beim Notenschlüssel an.

Es war eine Kette ohne Ende.

Die Worton und Lang waren kein Problem. Die Worton war eine Hure, ein Flittchen - vielleicht eine Nymphomanin. Ihre Gedanken bewegten sich nur unterhalb des Nabels. Lang war ein Schlappschwanz, ein Nichts, er war nur dazu da, um die Zahl vollzumachen. Er handhabte sogar die .22er, als wäre sie elektrisch geladen.

Die Worton und Lang waren relative Nullen, aber von da ab ging es steil hinauf.

Von der Worton und Lang war es ein weiter Weg bis zu Hatcher. Hatcher war ein Killer - Punkt. Kein Gefühl, nicht viel Hirn und keine Phantasie, die der Rede wert gewesen wäre. Nur ein Finger an einem Abzug; ein lebendiges Zusatzgerät zu der Luger. Er mordete, wenn man ihm zu morden befahl. Und wenn er keinen Befehl erhielt, tat er es nicht.

Der Mann, der ihm Befehle erteilte, war Sibley, und Sibley war von Hatcher so weit entfernt wie Hatcher von der Worton und Lang; er war Hatcher plus ein Him plus Schlauheit plus Ehrgeiz - und plus noch etwas anderes. Er hätte eingreifen können; er hätte Gawne erschießen können - oder Hatcher befehlen können, ihn niederzuschießen. Er hatte es nicht getan, und der Pianist wusste, warum. Weil nämlich Sibley wusste, was geschehen würde - dass niemand mit einer derartigen Kopfwunde einen Faustkampf überleben konnte - nicht einmal einen Kampf mit einem Krüppel. Ein leichter Weg zur Spitze: »Der König ist tot, es lebe der König!« Und außerdem gab es eine zusätzliche Genugtuung: McKay war ein großgewachsener Mann gewesen.

Sibley war eine Art Museumsstück. Aber man konnte ihn verstehen.

Der Pianist starrte aus dem Fenster; beobachtete den Schnee und gelangte mit seinen Gedanken zum x-ten Male bis zu diesem Punkt. Die Spur, die sie zum Kleinbus gestampft hatten, begann sich schon wieder zu füllen, und die Stellen, wo McKays Blut den Schnee gefärbt hatte, wurden allmählich weiß. Fatso hatte jetzt hinten im Kleinbus einen Gefährten, und der Pianist fragte sich, wer noch den Bus als Behelfsbahre benutzen würde, bevor diese Sache ihr Ende fände.

Hinter ihm entlockte Cooley seiner Gitarre sanfte Akkorde. Es war Cooleys Idee gewesen, ein paar ihrer Instrumente mit ins Haus zu nehmen; seine eigene Gitarre, Jocks Trompete, Kents Klarinette und Dicks Posaune. Der Pianist hatte nicht widersprochen. Es schien ein guter Gedanke zu sein; nicht dass die Instrumente in dem Bus zu Schaden gekommen wären; aber sie waren ein Bestandteil ihres normalen Lebens, und sie waren Symbole. Sie repräsentierten eine geistig gesunde Welt. Und nach all den Schusswaffen bedeuteten sie eine gewisse Abwechslung.

Blieben noch drei: Gawne, Belle Gawne und der junge Mann - Tyler. Und hier kam der Pianist mit seinen Überlegungen nicht weiter.

Cooley spielte Improvisationen über Stille Nacht; zart und in einem langsamen Dreivierteltakt, den sie bei ihren Auftritten nie verwendeten. Es klang schön; er spielte eine Akkordfolge, die noch niemand je zu Papier gebracht hatte; er fügte effektvoll verminderte Septimen ein, transportierte die Melodie von Dur in Moll - und wieder zurück in Dur. Es war schön - aber verschwendet.

Tyler war nicht allzu schwierig.

Der Pianist hatte genug aufgeschnappt, um zu wissen, dass er Belle Gawnes Bruder war und mit Vornamen Anthony hieß. Alles Übrige war leicht. Dunkles Haar, das er lang und in einer legeren Frisur trug, die sorgfältiges Kämmen und Legen erforderte. Ein mageres Gesicht, hohe Backenknochen und eine Nase, die schmal und um einen Bruchteil zu spitz war - die Züge eines Bohemiens, zu denen das grüne Kordjackett, die Baumwollhose und das buntgemusterte Hemd

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Renata Blodow/Wulf Bergner/N. N./Günther Königsberger/Christian Dörge.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 06.07.2020
ISBN: 978-3-7487-4872-4

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /