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Leseprobe

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)

 

 

Tat ohne Täter

 

 

IM DUNKEL DER NACHT – KRIMIS AUS DER DDR, Band 3

 

 

 

Drei Novellen

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

24 STUNDEN SPÄTER von Paul Debler 

TAT OHNE TÄTER von Leo Lux 

DAS ROTE KABRIOLETT von Eberhard Richter 

 

 

Das Buch

Der Band Tat ohne Täter, zusammengestellt und herausgegeben von Christian Dörge, erscheint in der Reihe Im Dunkel der Nacht – Krimis aus der DDR im Apex-Verlag und enthält die folgenden spannenden Krimi-Novellen: 24 Stunden später von Paul Debler (1961), Tat ohne Täter von Leo Lux (1962) und  Das rote Kabriolett von Eberhard Richter (1966). 

  24 STUNDEN SPÄTER von Paul Debler

 

 

 

Es war ein schleichendes, heimtückisches Gift. Er ahnte nicht im Entferntesten die gefährliche Wirkung. Und er nahm es freiwillig, mit einem geradezu unbezähmbaren Verlangen. In letzter Zeit beinahe jeden Tag.

Indes, es war kein Gift von der Art, daran einer sterben konnte, oder dass man davon krank und schwach wurde. Schwach - schon eher... Aber das stand auf einem anderen Blatt. Dieses Gift wirkte anders. Ganz anders: Wenn er es mit all seinen Sinnen gierig aufgenommen hatte, dann fühlte er sich sogar stark, sehr stark...

In solchen Augenblicken hätte er dem ersten besten Burschen, etwa so einem, wie er es war, aber auch einem älteren Menschen, einfach die Faust ins Gesicht rammen können, ohne jeden Wortwechsel: brutal, gemein, skrupellos. Überhaupt war ihm nach und nach alles, was mit Recht und Gesetz zusammen« hing, mit Ordnung, Anständigkeit und Moral, gleichgültig geworden. Dieses Gift hatte in ihm Neigungen zur Grausamkeit geweckt, ohne dass er es merkte.

Als er an diesem Tag um 18 Uhr aus dem Kino kam - wie immer aus jenem Westberliner Tageskino unweit der Sektorengrenze -, hing ein gelbschwarzer Gewitterhimmel tief über der Stadt. In den Geschäften hatte man die Beleuchtung eingeschaltet. Ein ungewöhnliches Bild an diesem Spätsommertag und um diese frühe Abendstunde. Daher herrschte in den Läden ein unwirkliches, fahles Zwielicht. Die Gesichter von Kunden und Verkäufern schienen darin merkwürdig blass, gleichförmig getönt, maskenhaft. Beinahe gespenstisch, dachte der Bursche, als er wieder einmal vor einer Auslage stehenblieb und die Nase gegen die Scheibe drückte.

Langsam schlenderte er weiter. Seine etwas krummen Beine steckten in hautengen, zerknitterten Röhren, in sogenannten Blue-Jeans, Niethosen aus Texas. Eng schnürte der Hosenbund seine Taille ein. Dadurch kamen der Brustkasten, besonders aber die breiten Schultern, noch mehr zur Geltung. Der große, 18jährige Bursche mühte sich, seinen Schritten einen betont schweren und wiegenden Gang zu geben - nach Cowboy-Art, wie er es in Wildwestfilmen gesehen hatte. Das fand er »schau«, um in seiner Sprache zu reden. Während er dahinschlenderte, hielt er seine Hände fast unbeweglich und ein wenig gekrümmt in der Höhe seiner Oberschenkel. Ähnlich wie es die Cowboys oder Desperados tun, die an dieser Stelle ihre kiloschweren Colts zu baumeln haben... Im Film, versteht sich.

Betont gelassen und umständlich zog er aus der Gesäßtasche einen ramponierten Kamm und fuhr sich damit über seinen geölten und nach Enten-Art geschnittenen schwarzen Haarschopf. Dann öffnete er die ersten drei Knöpfe seines buntkarierten Hemdes und überquerte selbstbewusst und herausfordernd langsam die Sektorengrenze. Der junge Wachtmeister der Volkspolizei blickte ihm mit gemischten Gefühlen nach.

Diese Gewitterstimmung ähnelte der Filmkulisse, die er vor einer halben Stunde gesehen hatte. In diesem Film - er war als knallharter Krimi, als sogenannter Thriller angekündigt, und er trug den reißerischen Titel: Gejagt bis zum bitteren Ende - hatten zwei Gangster während eines Gewitters eine Bank überfallen. Selbstverständlich schwerbewaffnet, mit Maschinenpistolen. Der Donner hatte das Knallen verschluckt, es gab keinen Zeugen, der etwas gehört hätte. Dieser Raubüberfall war eine glatte Sache gewesen. Ehe sich der Kassierer und die im Schalterraum anwesenden Kunden wieder vom Erdboden erhoben hatten, auf den sie sich nach Geheiß der Gangster hinwerfen mussten, waren die Banditen mit ihrem Auto auf und davon. Eine tolle Sache und so einfach, sagte sich der Bursche, der inzwischen an einer Straßenkreuzung angekommen war und dessen Blick nun nachdenklich auf dem Schild Berliner Stadtkontor hängenblieb.

Wirklich, eine tolle Sache, wiederholte er in Gedanken. Hier einfach Vorfahren, den Motor laufenlassen, hineinstürmen und »Hände hoch!« rufen... Na ja - mit einer Maschinenpistole ist das keine Kunst... Er wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken weg. Seine Erinnerung streifte einen anderen Film, den er unlängst drüben gesehen hatte: Saat der Gewalt. Die Jungen darin, etwa so alt wie er, waren auch nicht von Pappe gewesen. Die hatten ihm eigentlich noch mehr imponiert als die Film-Bankräuber. Mit Maschinenpistolen ist’s keine Kunst... Jene Kerle aus Saat der Gewalt erledigten ihre Gegner mit den Fäusten. Und wo einer nicht sogleich zu Boden geboxt werden konnte oder noch nicht ganz erledigt war, da wandten sie den berüchtigten Hammerschlag an. Der Hammerschlag, das war ein furchtbarer Hieb; da wurden beide Hände zusammengepresst, und somit erreichte man die Wirkung einer mächtigen Faust, der niemand widerstehen konnte.

Unbewusst faltete er im Gehen spielerisch die Hände zu dieser mächtigen Faust zusammen und bewegte sie wie eine Ramme auf und nieder. Aber im nächsten Augenblick waren seine Gedanken wieder bei dem Bankräuber-Film. So leicht und so ungefährlich dieser Überfall sich auch für die Gangster abgespielt hatte, so einfach wurden die Banditen dann aber auch am Ende aufgespürt und - wie immer im Film - nach heftigem Feuergefecht von den Detektiven überwältigt. Eigentlich schade, sagte sich der Bursche. Aber es war ja auch ihre Schuld... Warum haben sie sich durch hohe Geldeinsätze in der Spielhölle so verdächtig gemacht. Na ja, das gibt es auch nur im Film, sagte er sich, die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Detektive können auch nur mit Wasser kochen. Mich würden sie so leicht nicht kriegen, dachte er. Ich würde ein solches Ding überhaupt nur allein drehen. Da hat man keinen Mitwisser, und da kann man von niemandem verpfiffen werden... Nicht die allerkleinste Spur würden sie von mir finden...

 

Wenn Leutnant Pohlmann seinen Schachabend hatte, dann blieb er - sofern nichts Dienstliches dazwischenkam - gleich auf der Dienststelle. Erst nach Hause zu fahren, lohnte nicht, dazu war der Heimweg zu weit. Pohlmann wohnte ein ziemliches Stück draußen, am Rande der Großstadt. Also saß er an diesem gewittrigen Spätnachmittag an seinem Schreibtisch im Büro der Morduntersuchungskommission und spielte auf einem kleinen Steckschachbrett eine Weltmeisterschaftspartie von Tal und Botwinnik nach. Manchmal hob er den Kopf und blickte zu Oberwachtmeister Wiesner hinüber, der ihm gegenüber an einem zweiten aneinandergestellten Schreibtisch saß und in einem Buch las.

Oberwachtmeister Wiesner war sozusagen der Famulus des Kriminaltechnikers Leutnant Pohlmann. Der junge Volkspolizist Wiesner hatte sich vor anderthalb Jahren zur Abteilung K gemeldet und war nun inzwischen als »Durchläufer« bei der MUK I gelandet, eben Leutnant Pohlmann beigeordnet worden. Oberwachtmeister Wiesner wollte ursprünglich pünktlich Feierabend machen, noch eine Runde schwimmen gehen; aber er hatte sich in der Mittagspause aus der Bibliothek ein Fachbuch entliehen, nun nach Dienstschluss ein wenig darin geblättert und sich schließlich festgelesen. Was er da über forensische Blutuntersuchung las, war auch so spannend geschrieben wie ein Kriminalroman. Und weil dieses Thema zurzeit auf der Schule für Kriminalistik auf dem Lehrplan stand, machte er sich gleich hierfür Notizen: Zum Auffinden von Blutflecken, besonders auf braunroten dunklen Gegenständen ist die Wasserstoffsuperoxydprobe das beste Mittel. Bei Berührung mit Blut erfolgt eine Katalyse, eine Schaumbildung... 

Leutnant Pohlmann war fraglos mehr als nur ein mittelmäßiger Schachspieler, aber in jedem Fall ein besserer Kriminaltechniker. Nachdenklich starrte er auf die kleinen Schachfiguren. Verzweifelt schüttelte er den Kopf. »Hol’s der Teufel«, brummelte er vor sich hin. Er fand einfach nicht den Sinn dieses falschen Bauernopfers. »Hm...«, sagte er leise in sich hinein, »unmöglich, dass ein Klassespieler wie Tal einen nutzlosen Zug gemacht haben sollte. Dahinter steckt ganz gewiss mehr. Aber was? Mindestens auf vier, fünf, wenn nicht gar mehr Züge ausgeklügelt und vorberechnet. Aber auch nur in der Erwartung, dass der Partner nicht die Absicht merkt, sie durchschaut. Hm, ein Verbrecher glaubt auch, alles perfekt angelegt zu haben oder zumindest, dass er nicht gefasst wird. Ganz bestimmt, sonst würden die Leute erst gar nicht eine Tat begehen. »So etwas Dummes«, sagte Pohlmann nun halblaut. Verdrossen rieb er sich die Stirn. Erstaunt betrachtete er seine Handfläche. Sie war nass vom Schweiß. »Unglaublich«, sagte er jetzt laut und blickte zu dem jungen Genossen Wiesner hinüber. Wiesner hob den Kopf von seinen Notizen und sagte ebenfalls: »Unglaublich!«

»Nicht wahr, wie in einer Sauna!« Pohlmann lächelte.

»Das auch«, erwiderte Oberwachtmeister Wiesner. »Aber Blut ist ein besonderer Saft. Wirklich unglaublich!«

»Ein ganz besonderer Saft«, korrigierte Pohlmann. Er klappte den kleinen Steckschachkasten zu. »Vor allem dann, sobald Blut aus einem Körper tritt, da hinterlässt es nämlich Spuren. Und von da an wird es für uns besonders interessant, mein Lieber.«

Der junge Oberwachtmeister nickte. »Und erst die Bestimmung der Herkunft des Blutes... Es ist ja erstaunlich, dass die Wissenschaftler jahrhundertelang daran herumgeknobelt haben.«

Leutnant Pohlmann wiegte den Kopf. »Tja -, bei der Bestimmung wird’s schon komplizierter. Wenn mich meine Schulweisheit nicht im Stich lässt, dann War es wohl Antony van Leeuwenhoek, der zu seinem Vergnügen mit selbstgeschliffenen Linsen in die Welt der kleinsten Dinge eindrang und dabei als erster mit seinem speculum poll carum die roten Blutzellen des Menschen sah.«

»Stimmt genau! Das war 1673«, sagte Wiesner und lächelte.

Leutnant Pohlmann machte gewollt ein strenges, schulmeisterliches Gesicht. »Und wann, Genosse Wiesner, wurde die Uhlenhuth’sche Methode der Blutuntersuchung, bei der man mit Sicherheit Menschenblut von Tierblut unterscheiden konnte, bei uns in Deutschland für die gerichtliche Praxis eingeführt?«

Oberwachtmeister Wiesner machte ein nachdenkliches und ebenfalls gespielt zerknirschtes Gesicht. »Verzeihung, Genosse Leutnant, soweit bin ich mit dem Stoff noch nicht.«

»Also gut, dann werde ich es Ihnen sagen: 1903 wurde die Uhlenhuth’sche Methode in Preußen eingeführt. Tja, mein Lieber, gelernt ist gelernt.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Noch ein halbes Stündchen, und dann gehe ich in den Kulturraum, wo die Schachfreunde warten. Von Blut will ich heute nichts mehr hören, geschweige denn, welches sehen.«

 

*

 

Es war kurz vor der Ladenschlusszeit, als der Bursche mit seinem Cowboy-Schritt durch jene Straße kam, in der er als Kind gewohnt hatte. Sechs Jahre lag das schon zurück.

Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn, und er wunderte sich insgeheim. Er blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Über die Flamme des Streichholzes blickte er suchend in die Runde. Dort drüben, in dem Haus Nummer elf, war er eines Tages mit seinem Schulfreund Jimmy in einen fremden Keller eingebrochen. Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. Für Zwölfjährige, die sie damals waren, ein munteres Stückchen, dachte er. Sie wollten wieder einmal drüben ins Tageskino gehen, aber sie hatten kein Geld. So fing es an. Die Idee stammte von Jimmy: In Wirklichkeit hieß er Jürgen. Er selbst, Bob - diesen Namen hatte er sich zugelegt -, wollte nicht mitmachen. Angst stand dahinter. Als dann aber Jimmy verächtlich Frosch und Tüte zu ihm sagte, gab er sich einen Ruck. Jimmy sollte nur nicht denken, dass er ein Feigling sei.

Herzklopfend machte er mit, aber was sie dann in dem fremden Keller fanden, hatte sich kaum gelohnt. Die ganze Diebesbeute bestand aus einem zwei Kilo schweren Schraubstock und drei alten Messinghähnen. Das schafften sie zum Trödler in den Westsektor hinüber. Dabei bestand Jimmy wieder auf eine Mutprobe von ihm. Jimmy verlangte, dass er, Bob, den Schraubstock unter der Joppe versteckt hinüberbringen sollte. Auch das machte er, und er erinnerte sich noch gut des beklemmenden Gefühls, das ihn überkam, als er die Sektorengrenze passierte. Hinterher, sie waren knapp zehn Schritte gegangen, gab ihm Jimmy einen Rippenstoß. »Na siehst du, man muss nur Mumm haben, einfach keß sein...«

Der Trödler fragte nicht, woher sie das Zeug hatten, der wog ab - aber auch nicht ganz genau - und drückte ihnen dann ein paar Groschen in die Hand. Es reichte gerade fürs Kino.

»Dass wir so dicht am Westsektor wohnen, ist das Beste, was es gibt«, hatte Jimmy oftmals gesagt. In der Tat, es gab nichts Besseres, wenn man nur an das Schulschwänzen dachte. Keine 150 Meter, und sie waren drüben, außer Sicht ihrer Schulkameraden. Jimmy und er trieben sich gleich von acht Uhr an im Westsektor herum und saßen schon um halb zehn im Kino, bis die Schule aus war.

Über ein Jahr lang, und jede Woche mindestens einmal, manchmal sogar zweimal, schwänzten sie, täuschten sie ihre Mütter und belogen sie den Lehrer. Oh, Jimmy war ausgekocht, der ließ sich einfach von seiner älteren Schwester Entschuldigungszettel schreiben. Auch immer gleich für ihn, Bob, einen. »Dass die das macht«, hatte er verwundert Jimmy gefragt. »Mann, muss sie, was denkst du, was ich von ihr weiß?« Jimmy hatte ihn dabei lauernd angesehen. »Dein Ehrenwort, dass du es niemand sagst!« - »Ehrenwort!« hatte er geantwortet. Jimmy flüsterte durch beide Hände: »Sie schiebt mit Butter und Fleisch. Damit ist vielleicht was zu verdienen, sag’ ich dir...«

Noch nie hatte er sich der Mutter anvertraut, noch nie ihr eines seiner Jungengeheimnisse verraten. Als die Mutter aber an jenem Abend von der Arbeit kam, erzählte er ihr in prahlerischer Art die Schiebergeschichte von Jimmys Schwester. Doch die Mutter zeigte an dieser vertraulichen Geschichte nicht das geringste Interesse. »Komme mir nicht mit solchen Sachen, ich will davon nichts hören«, sagte sie ungehalten. »Was andere Leute machen, geht uns nichts an. Merk dir das!« Gut, wenn das der Standpunkt der Mutter war, dann würde er ihn künftig auch einnehmen.

Eines Tages war der Schwindel mit den gefälschten Entschuldigungszetteln doch herausgekommen. In der Schule gab es eine große Aufregung. Alle Lehrer traten zusammen und berieten, und auch der Abschnittsbevollmächtigte sah sich Jimmys häusliche Verhältnisse näher an. Als sich dann herausstellte, dass Jimmy noch ganz andere Sachen auf dem Kerbholz hatte - unter anderem war er seiner Schwester beim Lebensmittelverschieben behilflich gewesen -, wurde er in die Heimerziehung gesteckt. Und auch er zitterte nicht wenig; denn nur mit knapper. Not kam er daran vorbei. Seine Mutter hatte sich in allzu großer Liebe für ihren Einzigen eingesetzt. Sie stellte sich schützend vor den Dreizehnjährigen. »Was sie da alles gegen meinen Jungen Vorbringen, finde ich reichlich übertrieben«, hatte sie zu dem Lehrer gesagt, der in ihre Wohnung kommen musste, weil sie der Einladung zu einer Aussprache in der Schule nicht Folge leistete. »Ich kann über den Jungen nicht klagen!« Der Lehrer machte Einwände. Sie ließ ihn kaum zu Worte kommen. »Also gut, ich werde ein bisschen mehr auf ihn aufpassen, auch seine Schularbeiten kontrollieren...« Als der Lehrer gegangen war, gab sie dem Jungen einen sanften Katzenkopf. »Ich möchte ein solches Theater in meiner Wohnung nicht noch einmal haben«, sagte sie nur. Er rieb sich die Hände. Er fand seine Mutter prima.

An seinem ungebundenen Leben änderte sich nichts. Die Mutter kümmerte sich trotz des gegebenen Versprechens an den Lehrer weder um seine Schularbeiten noch um seinen neuen Freund Mäcki, der nun an Jimmys Stelle getreten war.

Er warf den Zigarettenstummel, ungeachtet dass jemand hinter ihm gehen könnte, rücklings über die Schulter. Dann spuckte er geräuschvoll aus. Ob Mäcki wirklich von zu Hause davongelaufen ist? Nach Westdeutschland und von da aus nach Australien? Gesagt hatte er es oft, damals, als sie beide die spannende Schmöker-Serie lasen: Abenteuer eines Goldsuchers. 90 Bände waren das; tolle, erregende Geschichten um Gold und Mord.

Er versenkte eine Hand in die Hosentasche und wühlte zwischen einigen Geldmünzen. Dann zog er die Hand heraus und betrachtete die Geldstücke. Es waren nicht ganz drei Mark. Sein letztes Geld, und morgen ist Freitag, Zahltag auf der Baustelle und auch Zahltag bei der Mutter. Auf der Baustelle lag aber diesmal für ihn keine Lohntüte bereit, er hatte nichts verdient, nicht gearbeitet, eine ganze Woche lang gebummelt. Und nun würde er morgen auch nicht der Mutter das übliche Kostgeld hinlegen können. Verdammt, was mache ich nur?

Ihm fiel wieder Mäcki ein. Eines Tages kam Mäcki und brachte von drüben einen Packen neuer Schmöker mit, die ersten Hefte der Jerry-Cotton-Serie. Das Geld dazu hatte Mäcki, wie so oft, von seinem Großvater erhalten, der nur einige Querstraßen weiter im Westsektor wohnte. Jerry Cotton. Jetzt war von Australien nicht mehr die Rede, die Unterwelt von Chicago hatte sie in ihren Bann gezogen. Jerry Cotton hieß ihr Held, der Meisterdetektiv vom FBI. Manchmal aber, wenn die Phantasie mit ihnen durchging, dann erhoben sie die grausamen, gerissenen Gangster zu Helden.

Oh, ja, mit Mäcki könnte man auch Pferde stehlen, genauso wie mit Jimmy, dachte er. Weiß der Teufel, wo die beiden jetzt stecken... Er blickte sich um, als erwarte er, einem von ihnen zu begegnen.

Langsam schlenderte er an dem Haus vorbei, in dem er damals gewohnt hatte. Vor der Tür standen zwei Frauen mit ihren Einhole-Taschen. Er kannte sie beide, er erinnerte sich sogar ihrer Namen. Die Frauen aber erkannten ihn nicht wieder.

Er lächelte geschmeichelt in sich hinein. Es gab keine Zweifel, er hatte in den letzten Jahren mächtig ausgelegt. In dieser Straße gab es kaum jemand, der ihn wiedererkennen würde.

Am Ende der Straße - eine Grünanlage mit alten Lindenbäumen bildete den Abschluss - befand sich das kleine Obst- und Gemüsegeschäft der HO. Ein Eckladen. Auch dort brannte Licht, aber nur eine Lampe im Hintergrund des Ladens. Ihr Schein reichte kaum bis zum Schaufenster. Fünf Kunden standen vor dem Ladentisch: drei ältere Hausfrauen, ein Knabe von etwa zwölf oder dreizehn Jahren und ein noch etwas größerer Junge, der vielleicht fünfzehn Jahre zählen mochte.

Die Tür war eingeklinkt. Die Verkäuferin, eine ältere Frau, hatte jedes Mal, wenn ein Kunde den Laden betrat, gebeten, sie zuzumachen, damit die Hitze von draußen nicht eindringen konnte. Und so war es dann auch in dem Laden angenehm kühl geblieben.

Als der große, breitschultrige Bursche den Laden betrat, krachte gerade wieder ein Donnerschlag. Seine Heftigkeit erschreckte die drei Frauen. Sie traten unwillkürlich einige Schritte näher zum Ladentisch hin. Die Verkäuferin blickte missmutig auf den neuen Kunden. Es war wenige Minuten vor neunzehn Uhr.

»He, du, schließ doch mal die Ladentür ab, sonst werde ich heute überhaupt nicht mehr fertig«, sagte sie zu dem Zwölfjährigen.

Zwanzig Minuten nach neunzehn Uhr rasselte im 33. Volkspolizeirevier das Telefon. Es war jener Apparat, in dem die Leitungen der VP-Notrufmelder des Reviers enden. Der Wachhabende meldete sich. Er hörte ein kurzes, stoßweises Atmen. Der Anrufer musste schnell gelaufen sein; die Worte sprudelten ihm vor Aufregung ungehemmt aus dem Mund. Der Bleistift des Wachhabenden huschte über den Notizblock. Beim Schreiben furchte sich zusehends seine Stirn.

»Ja, das genügt. Danke!«, sagte er und legte den Hörer auf, um in der nächsten Sekunde einen zweiten abzunehmen. Damit war er mit der Funkwagen-Einsatzstelle verbunden, und bald darauf schnarrte schon im »Toni 16« der Funkfernsprecher. Der Fahrer blickte flüchtig von der Seite her in das Gesicht des Streifenführers. Er las darauf Spannung ab. Auch die üblichen Worte »verstanden, Ende« stieß der Genosse Streifenführer diesmal hastiger hervor. Kaum dass er den Hörer in die Gabel eingehängt hatte, sagte er: »Schnell zur Gleimstraße! - Raubüberfall auf eine HO-Verkäuferin! - Ein Eckladen! - Obst und Gemüse...«

»Täter gefasst, bekannt? Einer, oder mehrere?«, fragte eine Stimme hinter ihm.

Der Streifenführer wandte sich den beiden anderen Genossen im Wagen zu. »Keine Ahnung. Alles, was wir bis jetzt wissen, ist, dass die Verkäuferin kurz nach Viertel acht von einem Bürger hilflos aufgefunden wurde. Der Mann kam an dem Laden vorbei, blickte zufällig durchs Schaufenster und sah die Verkäuferin am Boden liegen: zusammengeschlagen, blutüberströmt. Der Mann rannte sofort zum nächsten VP-Notruf.«

 

Am Tatort sah es inzwischen so aus, wie es sich Volkspolizisten, ganz zu schweigen von Kriminalisten, nicht ärger vorstellen können: Leute drängten sich vor der Ladentür oder umlagerten die Schaufenster. Einige Bürger waren im Laden, standen herum und sahen neugierig, aber auch bedauernd, auf das Opfer, um das sich zwei Männer bemühten. Man hatte die Verletzte - aus einer Kopfwunde sickerte Blut - auf einen Stuhl gesetzt. Alle redeten auf sie ein, fragten, verwirrten sie. Die Frau schüttelte benommen und stöhnend den Kopf.

Der Schubkasten mit der Ladenkasse, der zuvor auf dem Boden gelegen hatte, stand auf dem Ladentisch. Daneben lag eine Menge Kleingeld, das Übereifrige zusammengesucht und ebenfalls auf den Tisch gelegt hatten. Einer der Anwesenden wog in seiner Hand eine blutbefleckte leere Seltersflasche, offensichtlich das Tatwerkzeug. Dieser Tatort war, wenn es nicht doch noch eine unberührte Spur des Verbrechers gab, ein Trümmerhaufen, mit dem die Kriminalisten kaum etwas Brauchbares anzufangen wussten.

Als der Funkwagen vorfuhr, quoll es aus dem Ladeneingang. Der Streifenführer von Toni 16 und seine beiden Genossen betraten nacheinander durch eine Gasse Neugieriger die HO-Verkaufsstelle. Vorsichtig, wie sie das nicht anders kennen, blieben die Volkspolizisten hinter dem Ladeneingang stehen. Der nächste Blick und einige Worte jener beiden Männer, die sich um die Überfallene mühten, sagten ihnen alles.

»Es fehlt nur noch, dass jemand das Blut aufgewischt hätte«, knurrte grimmig der Streifenführer.

Draußen rauschte plötzlich Regen nieder, und es

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 19.06.2020
ISBN: 978-3-7487-4637-9

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