Cover

Leseprobe

 

 

 

 

ADRIAN DOYLE

&

TIMOTHY STAHL

 

 

BLUTVOLK, Band 27:

Ein Hüter erwacht

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autoren 

 

Was bisher geschah... 

 

EIN HÜTER ERWACHT 

 

Vorschau auf BLUTVOLK, Band 28: TEMPEL DER UNSTERBLICHEN 

von ADRIAN DOYLE und TIMOTHY STAHL 

 

Glossar 

 

Das Buch

Als die Wasser der Sintflut vor Jahrtausenden versiegten, überlebten nicht nur die Menschen in Noahs Arche. Auch die Dunkle Arche überstand die Fluten – und mit ihr jene finstere Wesen, die von den Menschen als Götter verehrt wurden.

Doch wie für die Menschheit war die Sintflut auch den Blutsaugern ein Neubeginn. Nur jeweils einer von ihnen erwachte fortan aus totenähnlichem Schlaf, um für tausend Jahre mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire auf Erden zu verbreiten. So lange, bis sein Nachfolger das Amt übernahm.

Landru war der letzte dieser Hüter. In seine Zeit fielen der Verlust des Kelches und der Niedergang der Vampire.

Doch nun – regt sich neues, untotes Leben in den Resten der Dunklen Arche...

 

BLUTVOLK – die Vampir-Horror-Serie von Adrian Doyle und Timothy Stahl: jetzt exklusiv als E-Books im Apex-Verlag.

Die Autoren

 

Manfred Weinland, Jahrgang 1960.

Adrian Doyle ist das Pseudonym des deutschen Schriftstellers, Übersetzers und Lektors Manfred Weinland.

Weinland veröffentlichte seit 1977 rund 300 Titel in den Genres Horror, Science Fiction, Fantasy, Krimi und anderen. Seine diesbezügliche Laufbahn begann er bereits im Alter von 14 Jahren mit Veröffentlichungen in diversen Fanzines. Seine erste semi-professionelle Veröffentlichung war eine SF-Story in der von Perry-Rhodan-Autor William Voltz herausgegebenen Anthologie Das zweite Ich.

Über die Roman-Agentur Grasmück fing er Ende der 1970er Jahre an, bei verschiedenen Heftroman-Reihen und -Serien der Verlage Zauberkreis, Bastei und Pabel-Moewig mitzuwirken. Neben Romanen für Perry-Rhodan-Taschenbuch und Jerry Cotton schrieb er u. a. für Gespenster-Krimi, Damona King, Vampir-Horror-Roman, Dämonen-Land, Dino-Land, Mitternachts-Roman, Irrlicht, Professor Zamorra, Maddrax, Mission Mars und 2012.

Für den Bastei-Verlag hat er außerdem zwei umfangreiche Serien entwickelt, diese als Exposé-Autor betreut und über weite Strecken auch allein verfasst: Bad Earth und Vampira.

Weinland arbeitet außerdem als Übersetzer und Lektor, u. a. für diverse deutschsprachige Romane zu Star Wars sowie für Roman-Adaptionen von Computerspielen.

Aktuell schreibt er – neben Maddrax – auch an der bei Bastei-Lübbe erscheinenden Serie Professor Zamorra mit.

 

 

Timothy Stahl, Jahrgang 1964.

Timothy Stahl ist ein deutschsprachiger Schriftsteller und Übersetzer. Geboren in den USA, wuchs er in Deutschland auf, wo er hauptberuflich als Redakteur für Tageszeitungen sowie als Chefredakteur eines Wochenmagazins und einer Szene-Zeitschrift für junge Leser tätig war.

In den 1980ern erfolgten seine ersten Veröffentlichungen im semi-professionellen Bereich, thematisch alle im fantastischen Genre angesiedelt, das es ihm bis heute sehr angetan hat. 1990 erschien seine erste professionelle – sprich: bezahlte - Arbeit in der Reihe Gaslicht. Es folgten in den weiteren Jahren viele Romane für Heftserien und -reihen, darunter Jerry Cotton, Trucker-King, Mitternachts-Roman, Perry Rhodan, Maddrax, Horror-Factory, Jack Slade, Cotton Reloaded, Professor Zamorra, John Sinclair u. a.

Besonders gern blickt er zurück auf die Mitarbeit an der legendären Serie Vampira, die später im Hardcover-Format unter dem Titel Das Volk der Nacht fortgesetzt wurde, und seine eigene sechsbändige Mystery-Serie Wölfe, mit der er 2003 zu den Gewinnern im crossmedialen Autorenwettbewerb des Bastei-Verlags gehörte.

In die Vereinigten Staaten kehrte er 1999 zurück, seitdem ist das Schreiben von Spannungsromanen sein Hauptberuf; außerdem ist er in vielen Bereichen ein gefragter Übersetzer. Mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt er in Las Vegas, Nevada.

  Was bisher geschah...

 

 

Lilith Eden, Tochter eines Menschen und einer Vampirin, wird von der Urmutter aller Vampire benutzt, um deren Versöhnung mit Gott in die Wege zu leiten. Nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hat und der Fluch von der Ur-Lilith genommen wurde, sendet Gott eine Seuche auf die Erde, die alle Sippenoberhäupter infiziert und von ihnen auf die Vampire und Dienerkreaturen überspringt. Sie sterben, als sie ihren Blutdurst nicht mehr löschen können. Lilith erhält den Auftrag, die verbleibenden Oberhäupter zu töten.

Als sich durch das Sterben der Vampire das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse auf der Erde verschiebt, wird Gabriel geboren, eine Inkarnation Satans. Erst ist sich der Knabe, der rasch heranwächst, seiner Identität nicht bewusst, doch schließlich erkennt er seine Aufgabe: ein Tor zur Hölle zu öffnen, das von der Bruderschaft der Illuminati vor den Toren Roms im Kloster Monte Cargano bewacht wird. Letztlich scheitert das Vorhaben – nicht zuletzt durch Lilith Eden, die gemeinsam mit ihrem ärgsten Feind Landru durch das Tor in die Hölle – eine Dimension, die durch den Fall des Engels Luzifer entstand – gerissen wird.

Bei ihrer Flucht aus den Gefilden der Hölle werden Liliths und Landrus Persönlichkeit gelöscht. Während Salvat, Führer der Illuminati und in Wahrheit der Erzengel Michael, in einer verzweifelten Aktion den Klosterberg sprengt und das Tor somit versiegelt, können die beiden entkommen. Sie wissen nichts mehr über ihr früheres Leben; nicht einmal, dass sie Vampire sind!

Über Landrus Tarnidentität Hector Landers finden sie erste Spuren. Die seinen weisen nach Paris, die ihren nach Sydney. So trennen sich ihre Wege. In Frankreich wird Landru mit seiner dunklen Vergangenheit konfrontiert und erfährt als erster die Wahrheit über sich. Auf der anderen Seite der Erdkugel findet Lilith den Ort ihrer Geburt, wird aber von der dortigen Macht nicht mehr erkannt. Schließlich greift Moskowitz sie auf, ein Kollege von Liliths ehemaliger Freundin Beth MacKinsay. Von ihm hofft Lilith mehr über sich zu erfahren – doch Moskowitz kennt ihre wahre Identität nicht und weiß auch nicht, dass sie Beth unter einem verderblichen Einfluss vor Monaten getötet hat.

Derweil kommt es in Paris zur Begegnung zwischen der Werwölfin Nona und Landru. Landru erkennt seine Geliebte nicht - ein mörderischer Kampf entbrennt, aus dem Nona als Verliererin hervorgeht und flieht. Da sucht Gabriel, der ebenfalls den Untergang von Monte Cargano überlebt hat, Landru auf und bietet ihm einen Pakt an, den Landru nicht ablehnen kann. Der Knabe gibt ihm seine verlorenen Erinnerungen zurück. Daraufhin folgt Landru Nona und erfährt von ihr, dass sie im Dunklen Dom war, der Heimstatt der ersten Vampire. Der Dom ist zerstört – aber sie spürte eine mächtige Präsenz. Irgendetwas geht dort vor...

EIN HÜTER ERWACHT

 

 

 

   

 

Prolog

 

Und der Herr ... sprach in seinem Herzen:

Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen

um der Menschen willen...

1. Buch Mose, Kap. 8, Vers 21

 

 

In Sumer hatten sie den Menschen als Götter gegolten.

Sie selbst hatten sich »die Hohen« genannt.

Und tatsächlich waren sie Geschöpfe von ganz besonderer Art, deren wahres Wesen indes nur einem einzigen Menschen bekannt war: ihrer Mutter Lilith, Adams erstem Weib.

Heimlich war die Brut einst, ganz am Anfang der Zeit, ihrem Leib entschlüpft, und um sie vor dem Zugriff Gottes zu schützen, hatte Lilith ihre Geheimen Kinder in die Zukunft dieser gerade erst geschaffenen Welt geboren und ihnen auf den Weg hinaus in die Zeit Kräfte gegeben, die sie von allen Menschen dort unterschieden und über sie erhoben. Ihr göttlicher Status in jener Zeit fußte auf eben jener Macht, und Liliths Kinder nutzten sie weidlich – unbarmherzig und rücksichtslos.

Anum, Ea, Schamasch, Ischtar und wie sie alle hießen – sie schwangen sich auf zu Herrschern über das Volk im Lande Sumer. Angst neigte den Menschen die Köpfe in scheinbarer Ehrfurcht; Opfer wurden den Göttern dargebracht, die sich vom Blute der Bedauernswerten nährten.

Als die alles verschlingende Flut nahte, wurde auch den Hohen diese Kunde zugetragen. So ließen sie ein riesenhaftes Schiff zu ihrer Rettung erbauen, ganz in der Art, wie der alte Noah es tat. Und obgleich Bauweise und selbst Details einander glichen, bestand doch ein Unterschied zwischen beiden Schiffen – einer, der nicht mit dem Auge zu sehen, sondern allenfalls zu erahnen und mit einem tieferen Sinn zu erspüren war: Noahs Arche trug den Keim für neues Leben in mannigfaltiger Art in die Zukunft, war Hoffnung selbst; im Schiff der Hohen jedoch überdauerte allein Grausamkeit die Zeit der Flut, und es war, als atme ihr Holz all jene Gewalt, die sich in ihrem Schutz verbarg, als bösen Odem, der sich darumlegte wie eine schwarze Aura. Vielleicht nannten die Hohen Wesen ihr Gefährt deswegen die Dunkle Arche...

Als die Wasser nach vielen Tagen und Nächten endlich versiegten, erreichte die Dunkle Arche ebenso wie die Noahs jenen gewaltigen Berg, den man auch heute noch Ararat nennt. Doch ankerte das Schiff der Hohen nicht am Fels – sondern darin!

Eine Grotte, nah am Gipfel gelegen, nahm die Dunkle Arche auf, verschlang das monströse Schiff wie das Maul eines Ungeheuers. Im hohlen Herzen des Berges kam die Arche der Hohen zur Ruhe – und veränderte sich. Verschmolz mit dem Fels des Ararat. Holz und Stein wurden eins, und es erwuchs aus dieser Verbindung das vielleicht größte Geheimnis dieser Welt – und eines, das nie ein Mensch lüften sollte.

Der Dunkle Dom war entstanden, und darin sanken die Hohen Wesen in tiefen Schlaf, ein jeder in einer eigenen Kammer. Denn zugleich war dies auch die Geburtsstunde der Hüter. Ihre Bestimmung war es seitdem, ein eigenes Volk zu begründen unter den Menschen und es anzuleiten und zur Herrschaft zu führen über jene, die ihm fortan Werkzeug und Nahrung in einem sein sollten.

Noch aber verstrich lange Zeit, ehe der erste der Hüter erwachte. Erst als draußen der Boden bereit war, verließ er die Heimstatt im Ararat und ging hin, um seine unheilige Saat auszubringen.

Tausend Jahre genügten ihm, ein Volk zu erschaffen, das er die Alte Rasse hieß.

Die Menschen aber gaben ihm einen anderen Namen.

Vampire...

 

 

Lange vor Christus...

Die Nacht war von schwüler Wärme, und die Luft quoll wie zähflüssig durch die Fensteröffnungen der Lehmbauten, kaum atembar, weil sie die Gerüche und Dämpfe der Stadt von draußen hereinspülte.

Das Keuchen des ineinander verwundenen Paares klang wie das Röcheln Sterbender, und Schweiß hüllte ihre Leiber wie in die Schwaden eines heißen Bades.

Nicht einmal in Nächten wie diesen konnte Keret von Moira lassen, trotzdem ihm die Hitze jeden Stoß seines Beckens zur Qual geraten ließ. Ihr süßer Duft und Geschmack jedoch, die er mit Nase und Zunge von ihrer Haut nahm, gierig wie ein Ertrinkender, der nach dem allergeringsten Tröpfchen lechzte, vergalten ihm alle Anstrengung.

Die feuchte Wärme ihres Schoßes umschmiegte sein Glied gleich einem Futteral. Keret wand sich wie in Krämpfen auf Moiras nacktem Leib, den sie so fest an ihn presste, als wollte sie mit ihm verschmelzen, ganz und gar und für alle Zeit.

»Lass mich«, stöhnte er, als er sich aus ihr zurückziehen wollte, um sich noch nicht in sie verströmen zu müssen. Doch ihre Schenkel wanden sich schlangengleich um sein Gesäß, trieben seinen Pfahl in ihre Grotte. Glutheiß wie Lava schoss es in Keret empor. Jede Ader im Leibe schien ihm unter der Macht des kochenden Blutes zu platzen. Moira erwiderte jeden seiner Laute und drängte ihr Becken immer fester gegen das seine, bis er einen süßen Tod zu sterben meinte und sich beinahe schon gewaltsam aus der Klammer ihrer herrlich samtenen und doch so kräftigen Beine befreite.

Völlig ermattet, erschöpft und keuchend sank er neben ihr aufs Lager.

Vier, allenfalls fünf Atemzüge lang gönnte Moira ihm Ruhe. Dann spürte er die sanfte Berührung ihrer Finger von neuem an seinem Schaft. Im ersten Moment wollte er sich ihr entziehen, doch ein Blick in Moiras Gesicht genügte, Kraft und Lust in ihm aufs Neue zu wecken.

Der volle Mond goss sein Licht durch das Fenster über ihrem Nachtlager. Moiras Haut schimmerte wie Alabaster, und die makellose Glätte unter Kerets streichelnden Händen kam dem Vergleich noch zugute.

Er lächelte, tief berührt. Und sehr glücklich.

Moira war die Schönste der Stadt, in seinen Augen jedenfalls, und dass sie sich ihm zum Weibe geschenkt hatte, konnte er mit Worten und Gedanken nicht genug vergelten. Seine nie versiegende Lust auf sie sollte Moira ein Zeichen sein, wie sehr er sie liebte und begehrte. Und überdies konnte er schlicht nicht anders, als sie zu wollen – immer und immer wieder und zu jeder Zeit. Wie durch ein Wunder hatte die Geburt ihrer Kinder Moiras Körper nichts von seinem wunderbaren Reiz genommen. Im Gegenteil, die Schwangerschaften schienen ihre Rundungen vollendet zu haben, wie die Hände eines geschickten Künstlers.

Ein Blick, oft sogar nur der Gedanke an Moira genügte, um Kerets Blut in Wallung zu bringen.

Ihr anmutiges Antlitz, ihr leises Lächeln entschwanden nunmehr seinem Blick. Ihr dunkler Schopf kam auf Höhe seiner Lenden zur Ruhe, wie ein Schleier breitete sich ihr Haar dort aus, als gelte es zu verhüllen, was Moira tat.

Aller Lust und neu erstehender Leidenschaft zum Trotz schmerzte ihn die Berührung ihrer Lippen nach dieser langen Nacht. So bedeutete er Moira, über ihn zu kommen. Erst saß sie rittlings auf seinem Becken, doch er zog sie höher, bis sie nahe genug war, dass er sie mit Lippen und Zunge liebkosen konnte.

Moira wand sich und sank schließlich zurück, massierte sich selbst die vollen Brüste und rieb deren dunkle Knospen, während Keret nicht innehielt, der Geliebten Freuden zu spenden.

Und dann – war es vorbei! Von einem Lidschlag zum nächsten. So plötzlich, dass Keret schier erschrak.

Hatte er eben noch Moiras im Mondlicht blasse Haut mit Alabaster verglichen, so schien sie nun mit einem Mal tatsächlich ganz und gar daraus zu sein. Erstarrt, wie versteinert lag sie auf ihm, und sie schien ihm um vieles schwerer, als sie es wirklich war. Das Atmen bereitete ihm noch ärgere Mühe denn zuvor.

»Was ist?« Keret presste die Worte über die Lippen.

Zwei, drei Atemzüge lang regte Moira sich noch immer nicht. Eisiges Entsetzen sackte Keret in alle Glieder. War sie –?

Nein!

Keret keuchte, erst erschrocken, dann erleichtert, als Moira sich doch endlich rührte. Sie wandte den Kopf, richtete den Blick ins Dunkel des Raumes, wohin das Licht des Mondes nicht mehr reichte und sich im Finstern die Türöffnung verbarg. Der Vorhang aus gläsernen Perlen, Muscheln und anderem Zierrat klirrte ganz leise in einem trägen warmen Windhauch, der durchs Fenster hereinwehte.

»Still!« zischte Moira, und Keret verbot sich selbst den Atem daraufhin. Moira lauschte sichtlich angestrengt ins Nichts, und er tat es ihr nach. Indes ohne etwas wahrzunehmen, das nicht steter Teil der Nächte gewesen wäre – Stimmen aus der Ferne etwa, und die Geräusche einer Stadt überhaupt, die zu keiner Zeit recht zur Ruhe kam.

»Was ist?« fragte Keret ein weiteres Mal. Der Schrecken ließ von ihm ab, hinterließ jedoch Beunruhigung wie als Echo seiner schwindenden Präsenz.

»Hast du nichts gehört?« fragte Moira leise.

»Nein, was...«

»Da war etwas«, stieß Moira überzeugt hervor. Als wäre sie erst jetzt wieder Herr ihres Körpers, glitt sie hastig von Keret und entschwand nackt ins Dunkel.

Er folgte ihr hinaus in das nicht überdachte und winzige Karree, das den Innenhof ihres Hauses darstellte und wo sich zugleich auch der größte Teil ihres Familienlebens abspielte. Von hier aus führten die Türen zu den wenigen weiteren Kammern ab.

Keret sah Moira in jene Öffnung eintauchen, hinter der ihr Jüngster schliefen.

Die Hitze der Nacht schien mit einem Mal wie fortgeblasen. Eine Kälte, wie Keret sie nie zuvor am eigenen Leib verspürt hatte, trat an deren Stelle und ließ ihn schaudern bis ins Mark – noch bevor Moiras spitzer Schrei sein Herz schier gefrieren ließ!

Im Nachhinein vermochte Keret sich nicht mehr daran zu erinnern, den Raum überhaupt betreten zu haben. Er stand unvermittelt dort, wie von fremder Macht hineingetragen, und unfähig, auch nur das kleinste Glied zu rühren.

Das Nachtlager der Kammer – war verlassen.

Moira schluchzte. Erstickt hörte Keret den Namen ihres jüngsten Sohnes heraus.

»Tithonos...«

Nach einer Weile trat Keret an das Fenster des Zimmers. Die Stadt draußen war im Mondenschein ein Gewirr aus Licht und kantigen Schatten. Ein Stück die Straße hinab jedoch –

Keret gab sich nur zu bereit dem Glauben hin, einer Täuschung erlegen zu sein.

Und im nächsten Moment sah er sie denn auch schon nicht mehr – die beiden schattenhaften Gestalten, die eine dritte, um vieles kleinere mit sich in die Nacht führten...

Keret ahnte wohl, was geschehen war. Nun hatte es also auch seine Familie getroffen. Aber wie die anderen, deren Schicksal Keret nunmehr teilte, würde er nichts unternehmen wegen des Verschwindens seines Sohnes; nicht einmal in Gedanken war er willens, von Raub zu reden.

Moira trat neben ihn. Der Schweiß war auf ihrer Haut erkaltet, und als sie sich nun gegen Keret drückte, klebten sie fast aneinander, als wollte das Ereignis dieser Nacht sie für alle Zeit noch enger aneinanderbinden.

»Was wird mit ihm geschehen?« flüsterte Moira heiser.

Keret schluckte hart. Das Sprechen bereitete ihm Mühe, und seinen Worten fehlte die wahre Überzeugung.

»Es wird ihm wohl ergehen«, sagte er. »An nichts wird es unserem Sohn mangeln.«

Sein Blick wanderte hinauf zum höchsten Ort der Stadt. Die Nacht schlug ihn ein in ihren dunklen Mantel, den das Mondlicht nicht durchdrang.

Kerets Stimme sank zu einem Flüstern, in dem ein ganz vager Hauch von Ehrfurcht klang.

»Die Götter haben ihn zu sich genommen...«

 

 

In derselben Nacht, in dieser Stadt – nur wenig später

Eines Menschen Auge musste hier nahezu blind sein. Die Lichter waren so sparsam gesetzt wie Sterne an einem verhangenen Nachthimmel, und so erhellten sie den Ort kaum, sondern vertieften seine Finsternis eher noch.

Doch die elf Kinder, die in der Mitte des Raumes zusammengetrieben worden waren, kannten keine Furcht, nicht vor der Dunkelheit, und auch ihr ungewisses Schicksal ängstigte sie nicht. Jene, die die Kinder – keines von ihnen älter als im vierten Jahr – an diesen Ort gebracht hatten, aus den Häusern und Hütten ihrer Eltern heraus entführt, hatten ihnen alle Angst genommen und ihren Willen gebrochen, sodass sie nun gehorsam, teilnahmslos dastanden und der Dinge harrten, die ihnen in dieser Nacht bestimmt waren.

Ihren Entführern indes genügte das wenige Licht sehr wohl zum Sehen. Ihr besonderer Blick bestrich alles mit rötlichem Glanz, wie von frischem Blut. In manchem Augenpaar funkelte mühsam bezwungene Gier nach dem Blute eben dieser Kinder, doch es war ihnen tabu.

Dennoch waren die Kinder schon dem Tode geweiht. Noch in dieser Nacht sollten sie sterben, um dann jedoch zu neuem Leben zu erwachen. In der Obhut derer, die sie unter allen Kindern der Stadt ausgewählt hatten, würden sie aufwachsen, viel schneller als jedes gleichaltrige Menschenkind, und alsbald

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Adrian Doyle/Timothy Stahl/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2020
ISBN: 978-3-7487-4517-4

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