GEORGE H. COXE
Eine Minute zu spät
Roman
Apex Crime, Band 99
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
EINE MINUTE ZU SPÄT
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Das Buch
Der Kunstmaler Lloyd Farnsworth pflegt seine Honorare durch Erpressungen aufzubessern. Seine zahlreichen Freundinnen scheint das nicht zu stören - umso mehr jedoch deren Ehemänner.
Wen wundert es, dass er eines Tages mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden wird? Auch Kent Murdock, Foto-Reporter beim Bostoner Courier, hat so etwas erwartet - nur nicht, dass man ausgerechnet ihm den Mord in die Schuhe schieben würde...
Der Roman Eine Minute zu spät von George H. Coxe (* 23. April 1901 in Olean/New York; † 31. Januar 1984 in Old Lyme/Connecticut) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1969.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
EINE MINUTE ZU SPÄT
Erstes Kapitel
Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass Kent Murdock im Zorn zugeschlagen hatte. Das Bemerkenswerte daran war, dass es in der Öffentlichkeit geschah. Und obwohl der Tat der Vorsatz fehlte, obwohl sie ein Akt der Selbstverteidigung war, bestand doch kein Zweifel daran, dass es sich um eine rein persönliche Angelegenheit handelte.
Seit er vor mehreren Jahren die alleinige Verantwortung für den Bilderdienst und das Fotoarchiv des Courier übernommen hatte, lag ihm mehr daran, seine Abteilung in Schwung zu halten und die anfallenden Aufträge an die richtigen Leute zu verteilen, als sich selbst mit schussbereiter Kamera unters Volk zu mischen; trotzdem gab es hin und wieder Gelegenheiten, bei denen er persönlich in Aktion trat. Meistens trieb ihn in solchen Fällen mehr der Wunsch als die Notwendigkeit, am Geschehen teilzunehmen.
Eine solche Gelegenheit hatte sich anlässlich der Unruhen geboten, die vor kurzem im Süden der Stadt ausgebrochen waren; eine andere hatte sich ergeben, als die Dockarbeiter in Streik getreten waren. Beide Male war ihm nichts anderes übriggeblieben, als seine Fäuste zu gebrauchen, um sich vor dem Angriff der Menge zu retten, die in ihrer Erregung alle Kameraleute als lästige Störenfriede und Freiwild betrachtete. Es gab kaum einen Pressefotografen, der nicht zu irgendeiner Zeit einmal gezwungen gewesen war, sich im wahrsten Sinne des Wortes durchzuboxen, um seine Kamera zu retten und sich einen Weg zum strategischen Rückzug zu bahnen.
Doch der Zusammenstoß an diesem Abend im Flamingo-Club fiel nicht in diese Kategorie. Es war ein unglückseliger Zufall, dass er mit der Ehefrau seines Angreifers zusammen war. Rhoda Farnsworth brauchte ihrem Mann nicht darüber Rechenschaft abzulegen, mit wem sie zum Abendessen ausging, da sie in gesetzlicher Trennung von ihm lebte. An diesem Abend nun hatte sie sich Kent Murdock zum Begleiter erkoren. Sie waren seit langer Zeit befreundet. Zu Anfang war ihre Beziehung zueinander zwar nicht unbedingt platonischer Natur gewesen, doch im Laufe der Jahre war sie es geworden. Aus der Jugendliebe hatte sich eine Freundschaft entwickelt, die sich auf gegenseitiges Verständnis, Zuneigung und unausgesprochene gegenseitige Bewunderung gründete.
Der Flamingo-Club war vor einigen Jahren als Lieblingstreffpunkt der sogenannten Gesellschaft in Mode gekommen und hatte sich dank der klugen Leitung des Eigentümers Fred Samuels diesen Status bewahrt. Nur Leute, die wirklich in den oberen Kreisen der Stadt verkehrten, wurden als Mitglied des Clubs aufgenommen und konnten ihn gewissermaßen als zweites Zuhause betrachten. Alle anderen Gäste wurden nur zugelassen, wenn sie zuvor eine Reservierung beantragt hatten und bei der Ankunft eine gründliche Inspektion bestanden, die das Air der Exklusivität aufrechterhalten sollte.
Ansonsten jedoch gab es über den Flamingo-Club nichts zu sagen, was ihn von ähnlichen pseudo-exklusiven Lokalen unterschieden hätte. Die Küche war gut, aber nicht überragend, die Bedienung war ausgezeichnet. Innenausstattung und Einrichtung waren luxuriös und elegant. Vorn, gleich im Anschluss an das mit einem dicken Teppich ausgelegte Foyer, befand sich die Bar mit einer hufeisenförmigen Theke. Danach gelangte man in den großen Speisesaal, der durch eine Mittelwand in zwei Räume mit Tischen und Nischen geteilt wurde. Vom Speisesaal aus konnte man nach dem Abendessen direkt in die intime Tanzbar schlendern, wo eine kleine Band die Gäste unterhielt.
Murdock und Rhoda Farnsworth hatten in einem ruhigen, kleinen Restaurant ganz in der Nähe zu Abend gegessen und waren dann das kurze Stück bis zum Flamingo-Club zu Fuß gegangen, um sich dort bei Kaffee und Cognac noch eine Weile zu unterhalten. Sie saßen in einer Nische in dem Raum zur Linken, als zwischen zehn und elf Uhr Lloyd Farnsworth auftauchte. Murdock sah ihn nicht eintreten. Er hatte geistesabwesend den tanzenden Paaren zugesehen, und Rhoda erzählte ihm über das exklusive Modegeschäft, in das sie ihr Geld investiert hatte, als sie plötzlich mitten im Satz abbrach.
»Oh! Oh!«, sagte sie leise.
Die plötzliche Unterbrechung veranlasste Murdock, sich umzudrehen. In den Worten lag mehr als nur Überraschung, und er sah, dass sie zur Bar hinüberstarrte, einen Ausdruck der Nervosität und Befremdung in den grünen Augen. Gleich darauf wusste er, was diese Reaktion hervorgerufen hatte.
Lloyd Farnsworth, ein großer, breitschultriger Mann mit blondem, wirrem Haar, hielt ein zierliches dunkelhaariges Mädchen am Arm und hatte die andere Hand flach gegen die Brust eines strohblonden Mannes gedrückt, der ebenso groß war wie er, doch schlanker und mehrere Jahre jünger. Sie schienen in eine Auseinandersetzung verwickelt zu sein. Der junge Mann hatte drohend das Kinn vorgeschoben und die rechte Hand zur Faust geballt. Murdock sah, wie der Jüngere mit einer heftigen Bewegung Farnsworths Hand herunterschlug, doch es kam nicht zu Tätlichkeiten, da in diesem Augenblick ein Kellner zwischen die beiden. Kampfhähne trat und eindringlich auf Farnsworth einredete, während er mit beiden Händen gestikulierte. Das dunkelhaarige Mädchen befreite sich von Farnsworth. Lloyd Farnsworth trat einen Schritt zurück und zuckte die Achseln.
»Vielleicht«, meinte Rhoda Farnsworth hoffnungsvoll, »bemerkt er uns nicht. Vielleicht setzt er sich an einen Tisch auf der anderen Seite.«
»Ja, vielleicht«, erwiderte Murdock.
Bei meinem Glück, sagte er sich im Stillen, wird er wahrscheinlich schnurstracks auf unseren Tisch zumarschieren und einen Streit vom Zaun brechen.
Er hatte gehört, dass Farnsworth nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Mexiko zurückgekommen war. Im vergangenen Oktober hatte er ganz plötzlich die Stadt verlassen. Man munkelte, er wäre so fluchtartig abgefahren, weil ihm ein erzürnter Ehemann auf den Fersen gewesen wäre. Niemand jedoch, der mit den Einzelheiten vertraut war, hatte Murdock die Geschichte je bestätigt.
An diesem Abend bekam er ihn zum ersten Mal seit seiner Rückkehr wieder zu Gesicht, und er konnte sogar aus dieser Entfernung sehen, dass der Mann mehr als angetrunken war. Er sah, wie er sich, seine junge Begleiterin am Ellbogen fassend, nach links wandte. Noch hatte er Murdock nicht bemerkt, doch er winkte einigen Bekannten zu, während er durch den Gang schritt.
Er war ein erfolgreicher und in dieser Gegend recht bekannter Kunstmaler, ein Stammgast in teuren Restaurants und Nachtlokalen. Ursprünglich hatte er seine Laufbahn als Zeichner und Illustrator angefangen und hatte sich dann, als Illustrierte und Werbeagenturen sich mehr und mehr der Farbfotografie zuwandten, als Porträtmaler einen Namen gemacht.
Man sagte ihm nach, dass er in betrunkenem Zustand beleidigend und ausfallend zu werden pflegte, doch bisher schien er bei seinen Zusammenstößen mit anderen immer Glück gehabt zu haben. Die Beleidigten hatten es stets vorgezogen, sich mit einer Entschuldigung zufriedenzugeben anstatt Anzeige gegen ihn zu erstatten und damit zu riskieren, in einen öffentlichen Skandal verwickelt zu werden. Er war auch seiner Frau gegenüber hin und wieder tätlich geworden, sogar nach der gesetzlichen Trennung, und Rhoda hatte ihn schließlich angezeigt. Ein Richter, der nicht mit sich spaßen ließ, hatte ihm dreißig Tage Gefängnis mit Bewährung aufgebrummt und ihm klargemacht, dass er hinter Gittern landen würde, wenn er noch ein einziges Mal aus der Rolle fallen sollte.
Jetzt hatte er Murdock endlich entdeckt. Er riss die schon leicht glasigen Augen auf und verlangsamte den Schritt. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, und er ließ seine Begleiterin los, die sich bei näherem Hinsehen als ein lebhaft wirkendes junges Mädchen mit guter Figur und jungenhaft hübschem Gesicht entpuppte. Die großen dunklen Augen, von langen Wimpern beschattet, blickten neugierig und nichtsahnend. Das glatte schwarze Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel offen über die Schultern.
»Sieh da, sieh da!« bemerkte Farnsworth, als er vor der Nische stehenblieb.
Murdock stand auf. Er warf einen Blick auf das Mädchen. Er hatte das Gefühl, sie zu kennen, doch er wusste im Moment nicht, wer sie war. Dann musterte er Farnsworth mit Argwohn und Wachsamkeit. Die Stimme klang ruhig, wenn auch ein wenig schleppend. Sein Grinsen war herausfordernd, die Augen funkelten angriffslustig und boshaft.
»Guten Abend, Lloyd.«
»Wenn die Katze aus dem Haus ist«, stellte Farnsworth fest und blickte aus zusammengekniffenen Augen auf seine Frau hinunter, »dann tanzen die Mäuse, was? Na, damit ist’s jetzt vorbei. Ich bin wieder da, und ich muss sagen, die Gesellschaft, in der du dich bewegst, mein Kind, gefällt mir nicht recht. Hast du was dagegen, wenn wir uns zu euch setzen?«
»Sehr viel sogar, Lloyd«, erwiderte Rhoda müde. »Sei nett und such' dir deinen eigenen Tisch, ja?«
»Und was haben Sie dazu zu sagen, Murdock?«
Murdock hielt nach Fred Samuels Ausschau, der, wie er wusste, die Lage mit der höflichen Bestimmtheit klären würde, die keiner seiner Gäste ungestraft missachtete. Doch Samuels war nirgends zu sehen. Im Augenblick war nicht einmal ein Ober in der Nähe.
Farnsworth hatte die Stimme noch nicht erhoben. Die Gäste an den Nebentischen hatten nur kurz die Köpfe gedreht, als Farnsworth an den Tisch getreten war, und hatten sich dann wieder ihrer Unterhaltung zugewandt. Nichts ließ vermuten, dass irgendetwas Ungewöhnliches geschehen würde.
»Ich bin der Ansicht, wir sollten uns nach Rhodas Wünschen richten, finden Sie nicht?« versetzte Murdock. »Ein andermal vielleicht.«
»Komm, Lloyd«, sagte das dunkelhaarige Mädchen und zupfte ihn am Ärmel.
Er schüttelte sie ab, starrte Murdock weiterhin unverwandt an. Er schwankte jetzt leicht, das Gewicht seines Körpers von den Fersen auf die Zehenspitzen verlagernd. Einen Augenblick standen sich die beiden Männer schweigend gegenüber. Farnsworth war größer, er überragte Murdock um gut sechs Zentimeter und musste an die zwanzig Kilo mehr wiegen; doch um die Mitte herum war er schwammig, und das früher markante Gesicht wirkte schlaff und aufgedunsen. Die graue Hose war an den Knien ausgebeult, und die sportliche Jacke aus grobem, braunem Tweed passte nicht in diese Umgebung.
Murdock hingegen trug einen gut geschnittenen, dunkelgrauen Anzug mit gestreifter Krawatte. Das mit Grau gesprenkelte Haar war sauber gekämmt. Das Gesicht mit klaren, ein wenig eckigen Zügen war ausdruckslos, doch die dunklen Augen blieben wachsam, und der schlanke, durchtrainierte Körper war gespannt.
Er suchte nach einem Aufschub, gleich von welcher Seite er ihm gewährt werden würde. Er hasste öffentliche Auftritte jeder Art, und ihm war bewusst, wie unerfreulich und peinlich die Szene für Rhoda sein musste. Er fühlte sich in die Enge getrieben hilflos und hoffte noch immer, dass Farnsworth sich entschließen würde weiterzugehen. Einen Moment lang ließ sich die Hoffnung noch aufrechterhalten; dann jedoch sah er, wie sich die Züge seines Gegenübers verzerrten. Lloyd Farnsworth bohrte ihm seinen Zeigefinger in die Brust.
»Ich kenne meine Pappenheimer«, erklärte Farnsworth, offenbar nicht geneigt, sich abwimmeln zu lassen. »Sie und Rhoda. Sie hatten sie schon vernascht, bevor ich sie überhaupt kennengelernt habe, was?« Als er den unterdrückten Ausruf der Empörung von seiner Frau hörte, fügte er hinzu: »Und wie ist es jetzt?«
Murdock, angeekelt und wütend über die geschmacklose Bemerkung, packte Farnsworth am Handgelenk und schob die Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger von sich weg. Dann ließ er sie los. Zorn und Abscheu wallten in ihm auf, und es kostete ihn Anstrengung, beherrscht zu sprechen.
»Machen Sie keine Szene«, sagte er so ruhig er konnte. »Nehmen Sie sich zusammen, Lloyd. Kommen Sie, lassen Sie uns in Frieden.«
»Ich tu’, was mir passt.«
Farnsworth versetzte Murdock einen scharfen Stoß gegen die Schulter. Die Wucht des Stoßes riss Murdock herum. Einen Moment verlor er das Gleichgewicht, dann fing er sich. Noch einmal blickte er sich nach Hilfe um.
Was dann geschah, kam völlig unerwartet, weil es in diesen Rahmen einfach nicht passte. Es hätte anders ausgehen können, wenn Farnsworth nicht großmäulig seine Absicht kundgetan hätte. Das zierliche dunkelhaarige Mädchen an seiner Seite zupfte ihn wieder am Arm.
»Bitte, Lloyd!«
Er ignorierte sie.
»Aber zuerst«, erklärte er mit hämischer Stimme an Murdock gewandt, als hätte es überhaupt keine Unterbrechung gegeben, »werde ich dafür sorgen, dass Sie diesen Abend nicht vergessen.«
Noch während er sprach, holte er zum Schlag aus, die zur Faust geballte Hand leicht angewinkelt. Murdock sah den Schlag kommen, doch der Tisch, der vor ihm stand, drückte gegen seine Schenkel, und die gepolsterte Bank hinter ihm schränkte seine Bewegungsfreiheit ein.
Es gelang ihm nicht, schnell genug den Arm zu heben, um sich zu decken, doch er fuhr ein Stück zurück und wandte den Kopf zur Seite. Der Faustschlag streifte seinen Mund, doch er schmerzte beinahe mehr, als wenn er ihn voll getroffen hätte. Murdock war immer ein reaktionsschneller Kämpfer gewesen, und was er jetzt tat, entsprang einem instinktiven Reflex und war vielleicht - in der Rückschau - bedauerlich.
Es war ein guter Konterschlag, schnell und automatisch.
Unter anderen Umständen, wenn Farnsworth weniger getrunken gehabt hätte, wenn er auf den Gegenschlag gefasst gewesen wäre, dann wäre Murdocks Reaktion vielleicht nicht so wirkungsvoll gewesen. Es war kein niederschmetternder Schlag, konnte es gar nicht sein, da Murdock ja eingeengt war und nicht ausholen konnte. Doch der Schlag war gut platziert und kam rasch.
Farnsworth stürzte. Er sackte nicht zusammen wie ein Mann, der einen Knock-out erhalten hat, sondern kippte einfach nach rückwärts und landete auf seinem Hinterteil. Sein Kopf und sein Oberkörper schwangen noch weiter nach rückwärts, schlugen gegen den Tisch hinter ihm, so dass dieser umstürzte. Das junge Paar, das dort saß, wurde nicht verletzt. Der junge Mann stand auf, als Farnsworth zu seinen Füßen landete, doch das Mädchen fiel seitlich, ganz langsam wie im Zeitlupentempo, vom Stuhl.
Glücklicherweise war sie so vernünftig, nicht zu schreien. Sie blickte sich verwirrt um, und dann half ihr Begleiter ihr schon auf die Beine.
Murdock hatte den Atem angehalten. Jetzt stieß er geräuschvoll die Luft aus. Der kurze Zusammenstoß hatte sich beinahe lautlos abgespielt, und ein rascher Blick zeigte ihm, dass nur wenige Gäste auf das Geschehen aufmerksam geworden waren. Er sah, wie Farnsworth die Hände auf den Boden stützte und sich aufrichtete. Der boshafte Ausdruck auf seinem Gesicht war einem Ausdruck verdatterter Benommenheit gewichen, der zu fragen schien, was denn eigentlich geschehen wäre. Alle Angriffslust schien-Farnsworth verlassen zu haben.
Fred Samuels, in Begleitung eines gutaussehenden jungen Mannes mit dunklem Haar, hatte sich inzwischen der Gruppe zugesellt. Der junge Mann trug die gleiche Kleidung wie die Oberkellner des Clubs - maßgeschneiderten Smoking mit Nelke im Knopfloch. Doch seine Aufgabe war eine andere. Sie bestand darin, unerwünschte Gäste diskret, aber erbarmungslos zu entfernen. Er demonstrierte seine Tüchtigkeit, noch ehe Farnsworth wusste, wie ihm geschah.
Lloyd Farnsworth war noch damit beschäftigt, sich den Staub von den Kleidern zu klopfen, als eine feste, unnachgiebige Hand seinen Arm umfasste. Eine kühle Stimme flüsterte ihm einige kaum vernehmbare Worte zu, der Zugriff der Hand wurde fester, und schon war Farnsworth auf dem Weg zum Foyer. Es ging alles sehr schnell und sehr unauffällig.
Farnsworth hatte sich kaum drei Schritte entfernt, als sich Fred Samuels an das dunkelhaarige junge Mädchen wandte, das nicht recht zu begreifen schien, was hier eigentlich vor sich ging. Sie fügte sich ohne Widerspruch Samuels’ wohlgemeinten Ratschlägen und ließ sich von ihm zur Bar führen. Über die Schulter hinweg gab Samuels Murdocks Kellner seine Anweisungen.
»Keine Rechnung für Mr. Murdock, Emil«, bemerkte er. »Bringen Sie den Herrschaften noch einen Drink.« Dann lächelte er Murdock flüchtig zu und sagte: »Tut mir leid«, ehe er sich mit dem jungen Mädchen entfernte.
Murdock war nicht anzusehen, ob er die Bemerkung aufgenommen hatte. Sein Gesicht war erhitzt und gerötet. Die dunklen Augen blickten ein wenig verwirrt. Er empfand keine Befriedigung über den raschen und wirkungsvollen Gegenschlag, mit dem er Farnsworths Angriff abgewehrt hatte; er war noch immer peinlich berührt von der Szene und fragte sich, ob er mit Farnsworths plumper Herausforderung nicht auch auf andere Weise hätte fertigwerden können.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er noch immer stand und dass die wenigen Gäste, die auf den Vorfall aufmerksam geworden waren, ihn neugierig beobachteten. Er riss sich aus seinen Überlegungen und setzte sich.
Rhoda sah ihn nicht an, als er sich wieder neben ihr niederließ.
»Tut mir leid«, murmelte er.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich finde, du hast dich glänzend aus der Affäre gezogen. Was sonst hättest du denn tun können? Er hat ja zuerst zugeschlagen.«
»Ja, aber wenn ich ihn vielleicht einfach am Arm festgehalten hätte und...«
»Er ist ein ganzes Stück größer als du und auch kräftiger. Wenn du versucht hättest, ihn nur festzuhalten, wäre es zu einem Ringkampf gekommen.« Sie klopfte ihm leicht auf die Hand und sagte mit Wärme: »Nein, du hast dich ganz richtig verhalten. Schadenfreude ist zwar kein schöner Zug, aber ich muss gestehen, dass es mir direkt gutgetan hat, zusehen zu können, wie Lloyd mal seine eigene Medizin schlucken musste. Er hat es weiß Gott nicht anders verdient. - Hier.«
Er blickte auf und sah, dass sie einen Zipfel ihres Taschentuchs in ihr Wasserglas getaucht und zu einer kleinen Kompresse zusammengedrückt hatte. Erst jetzt spürte er das Brennen an seinem Mundwinkel.
Doch sie gab nicht nach.
»Du blutest.«
Er wischte sich mit der Hand über die Lippen und sah die Blutspuren.
»Das ist doch nicht der Rede wert.«
»Aber man sieht es. Oder willst du die Narbe unbedingt zur Schau stellen? Komm, halt das feuchte Taschentuch auf die Wunde und drück ein bisschen. Dann wird es gleich aufhören zu bluten. Und wenn du es nicht tust«, setzte sie energisch hinzu, »dann werde ich es tun.«
Er sah ein, dass seine störrische Ablehnung albern war, nahm das Taschentuch, das sie ihm entgegenhielt, und presste es auf die Wunde an seinem Mundwinkel. Er drehte die Hand so, dass es aussah, als stützte er lediglich sein Kinn in die Hand.
Dann ließ er seinen Blick prüfend und aufmerksam über die Tische schweifen, die sich in diesem Teil der Bar befanden. Es beruhigte ihn, feststellen zu können, dass sich keine Bekannten in dem Lokal aufhielten. Doch dann erstarrte er plötzlich. An einem Tisch ziemlich weit hinten, ganz in der Nähe der Tür, saßen drei Gäste. Murdock gewahrte nur verschwommen den einen der beiden Männer und das blonde Mädchen neben ihm. Der andere Mann, ein schmächtiger Mensch mit schütterem Haar und dunkelgeränderter Brille blickte ihm direkt ins Gesicht. Jetzt, als er merkte, dass er Murdocks Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, grinste er, hob spöttisch eine Braue und zuckte leicht die Achseln.
Das Erkennen, die Begegnung der Blicke lösten in Murdock Schreck und Befremdung aus. Er wusste nicht, wie lange Jay Brennan schon hier war. Er hatte ihn nicht hereinkommen sehen, doch er war sicher, dass Brennan Zeuge des Auftritts geworden war. Das war umso unerfreulicher, als Brennan seit Jahren eine Klatschspalte für das Bulletin schrieb, die sich Erlebtes und Erlauschtes betitelte und sich mit Geschehnissen und kleinen Skandalen befasste, die von den Beteiligten, hauptsächlich Angehörigen der »guten Gesellschaft»:, lieber geheimgehalten worden wären.
Murdock kannte ihn schon seit der Zeit, als er noch Polizeireporter gewesen war. Freunde waren sie zwar niemals gewesen, doch es hatte auch keine Feindschaft zwischen ihnen bestanden. Das war nicht weiter verwunderlich, da die Pressefotografen dafür bekannt waren, dass sie am liebsten unter sich waren und ihre Beziehungen zu den Berichterstattern sich eigentlich auf das rein Berufliche beschränkten. Murdock konnte sich vorstellen, wie die Szene auf Brennan gewirkt haben musste. Ganz automatisch hob auch er die Augenbrauen und erwiderte das Achselzucken mit einer hilflosen Handbewegung.
Nicht einen Augenblick zweifelte er daran, dass dem Auftritt in der Spalte der nächsten Ausgabe wenigstens ein Absatz gewidmet sein würde. Es war noch Zeit genug, die Notiz im Morgenblatt unterzubringen. Der Vorfall an sich war kaum der Rede wert, und Murdock und Rhoda konnten sich auch nicht zur Prominenz der Stadt rechnen, doch Lloyd Farnsworth, Playboy und Maler schöner Frauen - das war ein fetter Happen, den Brennan sich nicht entgehen lassen würde. Murdock wusste, dass es sinnlos gewesen wäre, den Kolumnisten zu bitten, den Zwischenfall zu vergessen.
Brennan war ein Zeitungsmann, bei dem der Beruf an erster Stelle stand. Er berichtete über alles, was er für geeignet hielt, das Interesse seiner Leser zu fesseln, so dass sie ihm und dem Bulletin auch weiterhin die Treue bewahren würden.
Murdock konnte also nur hoffen, dass Rhoda nicht zu den Lesern des Bulletin gehörte. Doch selbst diese Möglichkeit war nur ein schwacher Trost, wenn er daran dachte, dass sie fast jeden Nachmittag in der Boutique verbrachte. Ihre Kundinnen würden es sich nicht entgehen lassen, ein wenig zu klatschen.
»Willst du noch einen Kognak?«
»Nein danke, lieber nicht«, erwiderte sie. »Ich finde, wir können jetzt mit Anstand nach Hause gehen. Wir sind lange genug hier geblieben, um zu beweisen, dass uns dieser unerfreuliche Zwischenfall nicht in Panikstimmung versetzt hat.«
Sie nahm ihm das Taschentuch aus der Hand, während sie sprach, und stopfte es in ihre Handtasche. Er half ihr in ihre Nerzjacke und legte dem Kellner ein Trinkgeld auf den Tisch.
Sie glitt hinter dem Tisch hervor, den er ein wenig zur Seite gerückt hatte, und ging ihm voraus, schlank und aufrecht, den Kopf hoch erhoben. Er folgte ihr, die Augen starr geradeaus gerichtet. Im Foyer wartete Fred Samuels auf sie, um sich zu entschuldigen. Murdock entschuldigte sich ebenfalls, meinte, es wäre alles so rasch gegangen, dass er gar nicht Zeit gehabt hätte zu überlegen.
»Ich habe Farnsworth schon zweimal gewarnt«, berichtete Samuels. »Jetzt werde ich ihn endgültig hinauswerfen. Soll er sich ein anderes Betätigungsfeld suchen.«
Murdock, der schon auf dem Weg zur Tür war, drehte sich unvermittelt um.
»Kennen Sie das Mädchen, mit dem er hier war?«
Samuels schüttelte den Kopf.
»Wenn ich mich recht erinnere, war sie in letzter Zeit zweimal mit ihm hier. Aber niemand scheint sie zu kennen. Warum?«
»Kurz nachdem Farnsworth gekommen war, sah ich zufällig zur Bar hinüber. Es hatte ganz den Anschein, als wollte er sich mit einem blonden jungen Mann anlegen - ein großer, schlanker Bursche. Zum Glück mischte sich einer Ihrer Kellner ein. Der junge Mann schien das Mädchen zu kennen.«
»Ja, ich glaube, ich weiß, wen Sie meinen. Gutaussehender Junge, ungefähr die gleiche Größe wie Farnsworth, aber schlanker? Ja, die beiden gerieten sich vor einer Woche oder so schon einmal in die Haare. Nicht hier, in irgendeinem anderen Lokal. Leider soll der Junge dabei den Kürzeren gezogen haben. Er heißt Paul Wordell, ist bei seinem Onkel beschäftigt, einem Börsenmakler. Sie wissen schon, Carswell und Johnson.«
Während der Fahrt zu Rhoda Farnsworths Wohnung waren Murdock und die junge Frau ungewohnt schweigsam. Sie saß, in ihre Jacke vermummt, in der Ecke des Sitzes und starrte vor sich hin, während Murdock, den Blick auf die Straße gerichtet, sich seinen Gedanken überließ.
Er war ursprünglich mit Rhodas Bruder befreundet gewesen, war ihr zum ersten Mal begegnet, als sie noch ein langbeiniger, ungelenker Backfisch gewesen war, beinahe zehn Jahre jünger als er. Jahre später, als seine eigene Ehe in die Brüche gegangen war, hatte er eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, mit Rhoda einen neuen Anfang zu machen, doch die Vernunft hatte gesiegt, und er hatte sich seine Träume aus dem Kopf geschlagen. Es war nicht der Altersunterschied gewesen, der ihm zu schaffen gemacht hatte; zu jener Zeit war Rhoda bereits volljährig gewesen und hatte über eigenes Vermögen verfügt. Er wusste, dass sie bei Vollendung ihres dreißigsten Lebensjahres weitere Gelder ausgezahlt bekommen würde, und er fürchtete, dass er mit dem bescheidenen Gehalt, das er damals verdiente, nicht in der Lage sein würde, ihr ein Leben zu bieten, wie sie es gewohnt war.
Er hatte ihr niemals einen Heiratsantrag gemacht, und aus der romantischen Jugendliebe hatte sich allmählich eine solide und dauerhafte Freundschaft entwickelt, für die sie beide dankbar waren. Selbst nachdem sie Lloyd Farnsworth geheiratet hatte, trafen sie sich hin und wieder zu einer Plauderstunde beim Mittagessen, immer ganz offen und unverhohlen, ohne je den geringsten Versuch zu machen, ihre Freundschaft zu verheimlichen. Als dann ihre Ehe mit Farnsworth immer schwieriger wurde, als sich die Zerwürfnisse häuften, schien sie einen Menschen zu brauchen, dem sie ihr Herz ausschütten und von dem sie Rat und Hilfe erwarten konnte. Meistens war sie diejenige, die ihn um eine Zusammenkunft bat, und so war es auch an diesem Abend gewesen.
Sie hatte ihn am Nachmittag angerufen und gefragt, ob er für sie Zeit hätte. Sie brauchte ein ruhiges, gemütliches Abendessen und einen Drink, hatte sie erklärt. Endlich hätte sie sich zu einem Entschluss durchgerungen, den sie schon längst hätte fassen sollen, und sie hätte einige Fragen, die sie gern mit ihm besprechen wollte. Da er ihr bester Freund und Ratgeber sei, nähme er es hoffentlich nicht übel, dass sie sich wieder einmal an ihn wendete.
Murdock hatte ihr ohne Zögern versprochen, sich mit ihr zu treffen, doch aus irgendeinem Grund war sie den ganzen Abend nicht auf die Frage zu sprechen gekommen, die sie mit ihm hatte erörtern wollen. Beim Abendessen hatten sie alten Erinnerungen nachgehangen, und Rhoda hatte keine Anstalten gemacht, zur Sache selbst zu kommen.
Als Murdock dann die Rechnung bezahlt hatte, da hatte sie bemerkt, sie hätte wirklich einen triftigen Grund dafür gehabt, ihn aus dem Haus zu locken. Sie hatte vorgeschlagen, noch irgendwo einen Kognak zu trinken und in aller Ruhe zu sprechen. Farnsworths Auftauchen jedoch hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht, und Murdock war klar, dass eine Diskussion über die Probleme, die sie zu bedrängen schienen, auf ein andermal verschoben werden musste. Der gleiche Gedanke musste ihr durch den Kopf geschossen sein, als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufsperrte.
»Nun sind wir doch nicht dazu gekommen, miteinander zu reden«, meinte sie. »Ist es dir recht, wenn ich dich demnächst wieder anrufe?«
»Natürlich.«
»Ich meine, schon sehr bald.«
Sie stand ihm gegenüber, beinahe so groß wie er mit hohen Absätzen; schlank, aber nicht mager, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Die grünen Augen ruhten flüchtig auf seinem Mund und erwiderten dann seinen Blick der Bewunderung und Wärme.
»Heute Abend muss ich vorsichtig sein.«
Murdock spürte, was sie damit sagen wollte. Seit langer Zeit schon beschränkten sich ihre Beweise gegenseitiger Zuneigung auf den unter Freunden üblichen Gute-Nacht-Kuss. Jetzt legte sie ihm die Arme um den Hals und hob, als er die Hände leicht auf ihre Hüften drückte, den Kopf zu ihm auf. Er spürte die weiche Biegsamkeit ihres Körpers, als sie sich gegen ihn lehnte.
»Die Platzwunde an deinem Mund ist sicher schmerzhaft«, meinte sie. »Ich werde mich also heute Abend mit einem zarten Kuss zufriedengeben.«
Zweites Kapitel
Eine Vorahnung, wie sich dieser Tag entwickeln würde, meldete sich, als Murdock am nächsten Morgen ins Badezimmer ging, um sich zu rasieren. Ein Blick in den Spiegel genügte ihm. Der Zusammenstoß mit Lloyd Farnsworth hatte unübersehbare Spuren hinterlassen. Sein Mundwinkel war merklich geschwollen. Die kleine Platzwunde hatte sich zwar geschlossen, doch ein Stück seiner Oberlippe hatte sich bläulich verfärbt.
Eine Frau hätte mit Puder und Lippenstift und einigem Geschick diese Spuren vertuschen können, doch als Mann waren ihm solche Mittel nicht zugänglich.
Ein flüchtiger Blick auf die Morgenausgabe des Bulletin, die vor seiner Wohnungstür lag, bestätigte seine Befürchtungen vom vergangenen Abend. Jay Brennan hatte es sich nicht nehmen lassen, über den Zwischenfall im Flamingo-Club zu berichten. Wie gewöhnlich hatte er keine Namen genannt. Die Leserschaft würde von selbst erraten, wer der bekannte Pressefotograf, der prominente Maler und seine von ihm getrennt lebende Frau waren. Der Bericht war in Brennans üblichem Telegrammstil geschrieben und meldete, dass der prominente Maler nach einem kurzen Schlagwechsel zu Boden ging und daraufhin ob seiner Aggressivität für immer aus dem exklusiven Club verbannt worden war.
Murdock fluchte leise, doch mit ungewohnter Heftigkeit vor sich hin und warf die Zeitung in eine Ecke. Er beschloss, an diesem Morgen lieber in seiner winzigen Küche das Frühstück einzunehmen und nicht wie sonst in das kleine Restaurant zu fahren, wo man ihn womöglich auf den Vorfall hin ansprechen würde. Während er missmutig seinen Kaffee trank, fragte er sich, warum Farnsworth nicht wenigstens statt der Lippe sein Auge hatte treffen können. Dann hätte er die Spuren des Kampfes hinter einer Sonnenbrille verbergen können.
Doch nach einigen scherzhaften Bemerkungen der Pressefotografen, die in sein kleines Büro kamen, um sich ihre Aufträge für diesen Tag zu holen, gewann sein Humor die Oberhand. Die geschwollene Lippe wurde zum Mal der Heldenhaftigkeit. Jene Anrufe der Freunde, welche die Identität des bekannten Pressefotografen erraten hatten, wurden mit Aplomb und einem wachsenden Gefühl der Befriedigung beantwortet.
Wyman, dem Chefredakteur, und Cleary, dem Lokalredakteur, musste er sein erfolgreich bestandenes Abenteuer Schlag um Schlag schildern. Andere, die Farnsworth kannten und von seinen Eskapaden wussten, beglückwünschten ihn mit Bewunderung und einem Anflug von Neid, und jene, die Murdock aushorchen wollten, fertigte er mit einem belustigten und gespielt überheblichen Kein Kommentar ab.
Doch das Gefühl der Euphorie sollte, wie sich bald herausstellte, von kurzer Dauer sein. Als es Zeit zum Abendessen geworden war, hatte Murdock genug. Still und heimlich machte er sich davon und aß in wohltuender Einsamkeit in einem kleinen, dämmrig beleuchteten Restaurant, das sich auf Fischgerichte spezialisiert hatte. Zwei Martinis trugen dazu bei, ihm die Welt wieder in einem rosigeren Licht erscheinen zu lassen, und er verzehrte mit Genuss seine Muscheln, die gekochte Seezunge und den frischen, gemischten Salat.
Es war schon nach neun Uhr, als er das Restaurant verließ. Nach einem Blick zum sternenbesäten Himmel beschloss er, zu Fuß nach Hause zu gehen. Er wohnte kaum einen Kilometer vom Redaktionsgebäude des Courier entfernt und richtete sich in der Wahl seines Transportmittels je nach Lust, Laune und Gegebenheiten.
Wenn er plante, nach Arbeitsschluss noch auszugehen, nahm er im Allgemeinen seinen eigenen Wagen. Wenn irgendein unerwartetes Ereignis es ihm unmöglich machte, nach Redaktionsschluss gleich nach Hause zu fahren, oder wenn ein plötzlicher Wetterumschwung eintrat, dann nahm er sich einfach ein Taxi oder benutzte einen der Geschäftswagen, die den Reportern und Fotografen zur Verfügung standen. Ansonsten ging er meistens zu Fuß. Und so kam es, dass er allein und wehrlos war, als der Räuber sich auf ihn stürzte.
Gerade war er von der Marlborough Street abgebogen. Er hatte keine Ahnung, dass er verfolgt wurde. Selbst später, als er Gelegenheit hatte, gründlich über die Ereignisse nachzudenken, gelang es ihm nicht, sich darüber klarzuwerden, ob der Mann ihm schon von dem Restaurant aus gefolgt war oder ob er irgendwo im Schatten der Häuser einem zufälligen Opfer aufgelauert hatte.
Auf dem dunklen Bürgersteig vor ihm ging kein Mensch. Auf der Straße fuhr kein Auto. Die einzige Warnung war das Geräusch plötzlicher rascher Schritte hinter ihm. Im gleichen Augenblick, als er das Geräusch vernahm und sich umdrehen wollte, legte sich ein Arm in harter Umklammerung um seinen Hals, riss ihn nach hinten, so dass er das Gleichgewicht verlor.
Dann traf ein wuchtiger Faustschlag ihn hinter dem Ohr. Der muskulöse Arm hielt noch immer eisern seinen Hals umschlungen. Er wusste, dass der Mann, der ihn überfallen hatte, groß und kräftig sein musste.
Der Hut fiel ihm vom Kopf, und Murdock ließ absichtlich seinen Körper erschlaffen. Er wand sich ein wenig, während der andere sich bemühte, ihn noch fester zu packen. Voller Erbitterung winkelte er seinen Ellbogen an und stieß ihn seinem Angreifer in den Magen. Er hörte das Grunzen der Überraschung und des Schmerzes. Doch dann traf ein weiterer harter Schlag seinen Hinterkopf.
Diesmal begann der Bürgersteig gefährlich zu schwanken, und die schattigen Umrisse der Häuser zu beiden Seiten der Straße verschwammen vor seinen Augen. Er erinnerte sich der großen Anzahl nächtlicher Überfälle, die in letzter Zeit verübt worden waren, und der Empörung, die dies sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den Stadtvätern ausgelöst hatte.
Dann hörte er eine heisere, flüsternde Stimme.
»Na, tut’s gut, mein Junge?«, fragte die Stimme hämisch.
Dann sackte er zu Boden, und ein Fußtritt in die Rippen raubte ihm den Atem, noch ehe er sich zur Seite wälzen konnte.
»Los, steh auf, dann exerzieren wir das Ganze gleich nochmal durch«, zischte die Stimme, und Hände griffen nach ihm. Er wurde hochgezogen. Blindlings schlug er um sich, wütend und gereizt, doch ganz ohne Kraft.
Mit bitterer Ironie dachte er einen flüchtigen Moment lang an die unzähligen Fernsehspiele, die er gesehen hatte, und in denen der Held mit unglaublicher Widerstandskraft Schlag um Schlag seines Gegners einsteckte, um schließlich den K.o.-Schlag zu führen und ohne ein gekrümmtes Haar aus dem Kampf als Sieger hervorzugehen.
Doch er war bereits benommen. Ein weiterer Schlag genügte, um ihn wieder zu Boden zu schicken. Diesmal jedoch traf ihn der erwartete Fußtritt nicht. Plötzlich flammte von irgendwoher Licht auf, und der Mann rannte davon.
Murdock hob den Kopf, rappelte sich langsam und mühsam hoch, bis er auf allen vieren war. Hinter sich hörte er das Brummen eines Motors. Ein Auto näherte sich aus der Marlborough Street. Die Scheinwerfer hüllten ihn ein, als er unsicher aufstand. Im grellen Strahl der Lichter erhaschte er einen flüchtigen Blick auf seinen flüchtenden Angreifer.
Der Mann hatte inzwischen die Straßenecke erreicht. Er rannte schnell. Doch ehe er abbog, drehte er sich noch einmal um. Er schien etwa von der gleichen Größe zu sein wie Lloyd Farnsworth. Aber damit hörte die Ähnlichkeit auf. Murdock konnte nur das Profil unter dem schmalkrempigen Hut erkennen, die Züge waren indessen so klar umrissen, dass sie sich ihm einprägten wie eine Fotografie. Er sah die schwere, kantige Kinnpartie und das eingeschlagene Nasenbein. Dann war der Mann verschwunden. Die Autos hatten angehalten, und ein Taxichauffeur eilte über die Straße, seinen Fahrgast im Schlepptau.
Man fragte ihn, was geschehen sei und wie er sich fühle. Der Taxichauffeur nannte ihn beim Namen. Murdock erinnerte sich düster an ihn und glaubte sich zu entsinnen, dass er Harry hieß. Doch ehe er die Frage beantworten konnte, rief eine andere Stimme seinen Namen. Er drehte sich um und erkannte den hochgewachsenen, mageren Mann, der aus der schwarzen Limousine hinter ihm gestiegen war.
»Oh! Hallo, Mr. Thatcher«, sagte er. »Sie sind gerade im richtigen Moment hier aufgetaucht.«
»Offenbar ein bisschen zu spät«, versetzte Thatcher trocken.
»Ja«, bestätigte der Taxifahrer und erging sich mit unverhohlenem Genuss in einer Flut wüster Beschimpfungen über die nächtlichen Räuber im Allgemeinen und diesen im Besonderen. »Wenn wir nur eine Minute eher gekommen wären, dann hätten wir den Kerl geschnappt. Ich hab’ ihn nur flüchtig gesehen, aber ich glaube, ich kenne ihn irgendwoher... Alles in Ordnung, Mr. Murdock? Wir könnten Sie zu einem Arzt bringen.« Er warf einen Blick auf seinen Fahrgast, der schweigend neben ihm stand. »Natürlich nur, wenn Ihnen das recht ist, Mister.«
Murdock nahm seinen Hut, den der Fahrer vom Boden aufgehoben hatte. Er betastete sein Gesicht, fand weder Schrammen noch Abschürfungen. Er empfand eigentlich auch keinen Schmerz. Lediglich sein Kopf machte ihm zu schaffen. Er stellte jetzt fest, dass er tatsächlich nur ein einziges Mal von vorn geschlagen worden war. Alle anderen Hiebe hatten ihn von hinten und von der Seite getroffen. Er befühlte seinen Kopf und entdeckte hinter dem Ohr eine empfindliche Beule. Seine Kleider waren nicht zerrissen, wenn auch sein rechtes Knie etwas schmerzte.
»Ich nehme ihn mit«, entschied Thatcher. »Er ist ein Freund von mir.« Damit fasste er Murdock am Arm und zog ihn zu seinem Wagen. »Wohin soll ich Sie bringen? Zu einem Arzt, oder wollen Sie lieber bei der Polizei Anzeige erstatten?«
Bennett Thatcher war einmal einer der besten Strafverteidiger der Stadt gewesen. Die Anwaltsfirma, der er angehörte - Chatfield, Lowell
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: George H. Coxe/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx/123rf.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Mechtild Sandberg und Christian Dörge (OT: An Easy Way To Go).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2020
ISBN: 978-3-7487-4501-3
Alle Rechte vorbehalten