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Leseprobe

 

 

 

 

WILSON TUCKER

 

 

ZEIT-BOMBE

- Galaxis Science Fiction, Band 28 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

ZEIT-BOMBE 

Erstes Kapitel  

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel  

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

 

Das Buch

Die Ursache der Explosionen war unbekannt, aber es lag ihnen ein Schema zugrunde, das allein schon genügte, alle in Angst und Schrecken zu versetzen: Sie ereigneten sich in regnerischen Nächten; sie traten nur in geschlossenen Räumen auf; jede erwies sich als eine Folge der vorhergehenden; betroffen waren die Anführer der radikalpatriotischen Vereinigung der Söhne Amerikas; der Ausgang einer jeden war tödlich - und sie hinterließen keine Spuren.

Da weder Spuren noch Hinweise vorhanden waren, die zum Täter hätten führen können, gab es nur eine Hoffnung: Man musste versuchen, ihn am Tatort zu fassen. Doch auch das schien unmöglich - denn wie stellt man einen Verbrecher, der offensichtlich in der Lage ist, durch Raum und Zeit zu reisen, um seine Opfer zu ermorden, Tage vor dem Eintritt ihres Todes?

 

Zeit-Bombe von Wilson Tucker (geboren am 23. November 1914 in Deer Creek, Illinois; gestorben am 6. Oktober 2006 in Saint Petersburg, Florida) erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

  ZEIT-BOMBE

 

 

 

 

 

  

  

  Erstes Kapitel

 

 

A

 

Neben dem Inspizientenstand, außer Sichtweite der Kameras und der Studiogäste, hielt ein grinsender Bühnenarbeiter in einem weißen Arbeitsanzug ein Schild in die Höhe, auf dem mit weißer Kreide geschrieben stand: vier Millionen. Der Bühnenarbeiter wartete so lange, bis der Star des Abends das Schild erblickt hatte. 

Der große, zappelige Komiker, der vor der Kamera und dem Publikum seine Possen riss, bewegte sich unauffällig ein paar Schritte zur Seite, um die Mitteilung zu lesen. Dann nickte er und wandte sich mit einem noch breiteren, glücklicheren Lächeln wieder seinem Publikum zu. Vier Millionen Geräte waren eingeschaltet. In vier Millionen Wohnstuben leuchtete an diesem Dienstagabend sein Gesicht auf. Und vor jedem Gerät saßen gebannt die Zuschauer, zwei, drei, vier Leute vor jedem Gerät? Acht Millionen, zwölf Millionen, sechzehn Millionen Menschen sahen ihm zu! Er ließ die übertrieben geschminkten Augenbrauen auf- und niederhüpfen, und die Studiogäste brüllten und applaudierten. 

Das elektronische Ortungsgerät im Sendestudio hatte registriert, dass fast vier Millionen Geräte dieses Programm empfingen. Nur ein paar wenige Tausend weniger als vier Millionen. Der Computer log nicht. 

 

Der Bühnenvorhang ging auf und gab den Blick frei auf eine große schwarze Kiste, die eine bizarre Maschine darstellen sollte. Sie war mit einem wirren Durcheinander von Skalen, Zahnrädern, Hebeln und Schaltern bemalt: ein mechanischer Alptraum aus der Werkstatt eines Verrückten.

Der Komödiant kam auf die Bühne gehinkt. Er stellte einen uralten Mann dar, der sich nur noch mit Hilfe eines Stockes fortbewegen konnte. Der Rücken war gekrümmt, die Hand auf die Hüfte gestützt, um den Zustand des Alters besser darzustellen, und bei jedem Schritt schien es, als müsse er über den langen weißen Vollbart stolpern. Er schlurfte zur Tür der Kiste, klopfte ängstlich dagegen und wartete, bis das Gelächter im Zuschauerraum abgeklungen war. Dann öffnete er die Tür und verschwand in der Kiste. Sogleich erzeugten die Bühnenarbeiter hinter den Kulissen einen Höllenlärm. 

Eine Sirene heulte, der Motor eines Schwertransporters röhrte, Funken und Blitze zuckten hinter der Kiste auf, und das ganze Gebilde hüpfte und schüttelte sich wie bei einem Erdbeben. Als der Krach und das Durcheinander ihren Höhepunkt erreicht hatten, flog eine zweite Tür der Kiste auf, und der Komödiant trat heraus, jung, groß und kerzengerade, und nur mit einem Windelhöschen bekleidet. Im Licht der Bühnenscheinwerfer schimmerte seine Haut rosig. 

»Bäh, bäh«, sang er mit Babystimme. »Mein Papi hat mir eine Zeitmaschine gekauft!«

Acht, zwölf, sechzehn Millionen Kretins hielten sich den Bauch und kreischten vor irrem Vergnügen.

 

 

B

 

Der Mann in mittleren Jahren beugte sich über den Schreibtisch und schlug mit der Faust wütend auf einen Stoß von Konstruktionsplänen. Dann stieß er den Stuhl zurück und ging quer durch den Raum. Der große Fernsehschirm war in die Wand des Büros eingebaut. Mit einer heftigen Bewegung schaltete er das Gerät aus, und das Bild verschwand. Einige tausend Kilometer entfernt, in Hollywood, registrierte der Computer einen Zuschauer weniger. Hollywood ignorierte diese Tatsache.

Der verärgerte Zuschauer wandte sich von dem Bildschirm ab und ging durch den Raum zu einem offenen Fenster. Die Nacht an diesem Dienstag war schwarz wie Tinte; Regen lag in der Luft. In der Ferne wetterleuchtete es, und leiser Donner drang herüber. Der Mann blickte zum drohenden Himmel hinauf, dann auf die Lichter der Stadt. 

Er verließ das Fenster und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Er zog den Stuhl heran und setzte sich. Geistesabwesend strich er über seinen Schnurrbart, der halbmondförmig war und seine Oberlippe fast völlig verbarg. Der Mann war ebenso altmodisch wie sein Schnurrbart, und er schätzte die Vergangenheit mehr als die Gegenwart. Seine Pfeife mit dem großen Kopf war schwarzbraun vom Alter, und das Haar über dem alt wirkenden Gesicht zeigte deutlich Spuren von Grau.

Er beschäftigte sich wieder mit dem Schaltschema. Mit dem kurzen Zeigefinger folgte er den eingezeichneten Schaltkreisen. Nach einer Weile blickte er wieder auf den stummen, dunklen Bildschirm.

Die leise Stimme des alten Mannes war wie ein böses Grollen.

»Der blöde Hund.«

 

 

C

 

Es regnete in Strömen.

In der Stadt Springfield im Bundesstaat Illinois erschütterte ein mächtiger Explosionsknall die Regennacht. Der feurige Widerschein zuckte über den regennassen Himmel, und der Regen war machtlos gegen die tobende Feuersbrunst.

Die Schockwelle warf Lieutenant Danforth aus dem Bett. Instinktiv landete er auf den Füßen. Er wusste nicht, was geschehen war. Er hielt sich am Kopfende des Bettes fest und schüttelte schlaftrunken den Kopf. Sobald er klar denken konnte, gaukelte ihm seine Phantasie roten Feuerschein und zur Erde zurückfallende Trümmer vor. Ziegelsteine, Balken, Glasscherben. In einem Winkel seines Bewusstseins bildete sich die Frage: Wie viele hatte es diesmal erwischt? 

Er griff nach den Kleidungsstücken und begann sich anzuziehen. Seine Stimmung war so düster wie die Nacht. Das kleine Kommunikationsgerät auf seinem Nachttisch begann leise zu summen. Er griff danach.

»Danforth«, meldete er sich. »Ich hab’s gehört. Ich komme.«

Die männliche Stimme am anderen Ende sagte: »Üble Sache, Lieutenant.« Dann wurde die Verbindung unterbrochen. 

Danforth hörte die Sirenen der Löschzüge durch die Nacht heulen. Dazwischen das Auf und Ab der Polizeisirenen. Eine üble Geschichte - für ihn. Das wusste sogar der Polizeifunker und bemitleidete ihn. Diese Explosion hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Man würde ihn und seine Mitarbeiter in die Wüste schicken. 

 

 

D

 

Fast fünfzehntausend brüllende Männer und Frauen füllten das Fußballstadion am Stadtrand von Atlanta im Bundesstaat Georgia. Mehrere Tausende drängten sich auf dem Rasen. Die Rednerplattform lag in grellem Scheinwerferlicht. Auf der Plattform befanden sich einige Männer, und einer von ihnen winkte der heulenden Meute mit gönnerhafter Geste zu.

»Ben!«, brüllten sie alle. »Ben! Ben!« 

Der Mann auf der Plattform verschränkte die Hände über dem Kopf und schüttelte sie wie ein Boxer im Ring nach einem gewonnenen Kampf.

 

 

E

 

Nur gelegentlich blickten der Mann und die Frau in dem gedämpft beleuchteten Wohnzimmer auf den Bildschirm in der gegenüberliegenden Wand. Es war kein großer Schirm und auch kein Gerät neuesten Modells, was auf untergeordnete Bedeutung schließen ließ. Für diese beiden Menschen gab es Interessanteres im Leben als das Fernsehen. Die von ihnen bevorzugte Zerstreuung und Unterhaltung lag auf einem kulturell höheren Niveau. Der Schirm war so angebracht und gerahmt, dass er in ausgeschaltetem Zustand wie ein Bild wirkte. 

»Du bist am Zug«, sagte der Mann.

Die Lautstärke war so schwach eingestellt, dass sich die Stimme des Komödianten wie ein Bellen aus weiter Ferne und das irre Gelächter der Studiogäste wie ein Hintergrundgeräusch anhörten. 

Zufällig blickte die Frau auf den Schirm.

»Gilbert...«

Schweigend sahen sie zu, wie der Possenreißer die Nummer mit der Zeitmaschine abzog. Zusätzlich eingespieltes Gelächter vom Band diente dazu, die Zuschauer zu Hause noch stärker zu stimulieren.

Die Abscheu, die Gilbert empfand, hörte man seiner Stimme an. »Und für so etwas wird der Kerl auch noch bezahlt.« ,

»Und Zuschauerpost wird er ebenfalls bekommen. Mir tut er fast leid«, sagte seine Frau.

Gilbert blickte wieder auf den Schirm und lachte leise. »Wenn Gedanken töten könnten...« 

Seine Frau nickte. »Deswegen tut er mir ja auch leid. Eines Tages ist es vielleicht so weit, dass Gedanken töten können, dass sie ihn auf der Bühne erreichen und ihm das Herz anhalten. Dann stirbt der Narr, aber sein Souffleur entkommt.« 

»Shirley, du liest meine Gedanken! Genau dasselbe habe ich auch gedacht. Diese Nummer ist arrangiert, als Köder gedacht.«

»Köder«, wiederholte sie. »Überall werden Köder ausgestreut. Von unbekannten Leuten, die selbst im Dunkeln bleiben.«

»Ach ja«, sagte Gilbert nachdenklich. »Der Unbekannte hinter den Kulissen, an dessen Fäden Narren wie der da tanzen.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung auf den Bildschirm. »Die Welt besteht nur noch aus Komplotten und Intrigen. Menschheit, wohin gehst du?«

»Ich gehöre auch dazu«, sagte seine Frau, »und ich liebe die Menschheit! Tu nicht so überlegen, sonst denunziere ich dich bei der

Partei und sage, du seist gar kein Mensch.«

Gilbert Nash lachte und griff über das Schachbrett nach seiner Frau.

»Und du wirst mit mir hängen, als Mitverschwörerin. Wie heißt das doch bei euch? Mitgegangen, mitgehangen?«

 

 

F

 

Mr. Ramsey blickte stumm auf den Fernsehschirm. Sein Interesse galt der sogenannten Zeitmaschine. Er hörte das alberne Geschwätz des Komödianten und das Gelächter der Studiogäste. Sein Ausdruck veränderte sich nicht. 

Mit der Fernsteuerung schaltete er auf einen anderen Kanal. Der eine Studiocomputer registrierte eine Abschaltung, ein anderer eine Einschaltung. Die Massenszene im Fußballstadion füllte den Bildschirm. Die Lautsprecher gaben das Brüllen und Schreien naturgetreu wieder. Mr. Ramsey sah zu und schwieg.

Der Telepath kam vor dem Zeitreisenden.

Einige wenige nachdenkliche Menschen machten sich Gedanken, wie das Ergebnis möglicherweise ausgesehen hätte, wenn die Reihenfolge anders gewesen wäre.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Lieutenant Danforth von der Sicherheitspolizei des Bundesstaates Illinois, dessen Abteilung für Sprengstoffdelikte zuständig war, stieß die Tür seines Büros auf und betrat den Raum, ohne Licht zu machen. Er zog die Dunkelheit dem Lichte vor. Nachdem er sich in den Drehsessel hinter seinem Schreibtisch gesetzt hatte, wandte er sich dem Fenster zu und blickte auf das dunkle Rechteck der Nacht. Es regnete unvermindert stark. An einigen Stellen seines Regenmantels war die Nässe bis auf die graugrüne Uniform gedrungen. Seine Gedanken und seine Stimmung waren so düster wie die Wolken jenseits des Fensters. 

Er starrte aus dem Fenster und fragte sich wohl zum tausendsten Mal, wo das alles enden sollte. Seine Zukunft, sowohl im privaten wie auch beruflichen Bereich, erschien ihm in einem sehr düsteren Licht.

Im ganzen Gebäude herrschte eine bedrückende, angespannte Atmosphäre. Alles schien darauf zu warten, dass etwas geschah. Mit der Sicherheit langjähriger Übung griff Danforth in der Dunkelheit über den Schreibtisch nach einer Reihe von Knöpfen. Eine Signallampe leuchtete bernsteinfarben auf und warf verzerrte Schatten an die Wand. 

»Danforth hier«, sagte er laut.

Eine körperlose Stimme schien ihm aus der Luft über dem Schreibtisch zu antworten. Es war die Stimme des Funkers, die er vor einer Weile zu Hause über sein Kommunikationsgerät vernommen hatte.

»Immer dasselbe, Lieutenant. Zerstörung vollkommen, wie üblich; Ursache unbekannt, auch wie üblich. Vor siebzehn Minuten in der South Kingman 205. Sie wissen, wer dort wohnt.« Die Stimme war flach und interesselos. »Es wird nach Überlebenden gesucht.« 

Danforth schloss die Augen. Er wusste, wer dort lebte - gelebt hatte, bis vor siebzehn Minuten. Simon Oliver, Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten; Simon Oliver, der große Parteivorsitzende. 

»Haben Sie den Captain benachrichtigt?«

»Nein. Ich kann ihn nicht auffinden. Er ist weder in seinem Büro noch zu Hause. Daher rief ich Sie an.«

»In Ordnung. Ich übernehme den Fall, bis Sie ihn ausfindig gemacht haben. Sonst alles wie üblich?«

»Ja. Ein Stadtpolizist machte die Meldung. Er war gerade auf seiner Runde, ungefähr drei Häuserblocks von der Unglücksstelle entfernt, als es geschah. Er fand zwei junge Leute auf der Straße. Beide von den Trümmern verletzt. Es heißt, der Mann habe das Mädchen heimbegleiten wollen.«

»Im Regen?«

»Sie behaupten es. Sie befinden sich jetzt im Memorial Hospital unter Bewachung. Der Polizist rief die Feuerwehr, erst dann seine Vorgesetzten. Diese schickten einen Krankenwagen und benachrichtigten uns. Drei Mann und die Fotografen brachen hier vor neun Minuten auf. Ich habe für Sie einen Wagen bereitstellen lassen.«

»In Ordnung«, wiederholte Danforth. »Ich komme sofort.«

Er unterbrach die Verbindung. Zögern und Dunkelheit lasteten in dem Raum, bevor er den zweiten Knopf niederdrückte. Er fuhr sich durch das kurzgeschnittene Haar und versuchte, seine Stimme so unpersönlich klingen zu lassen wie die soeben vernommene.

»Mr. Ramsey. Ein weiteres Attentat, vor siebzehneinhalb Minuten in der South Kingman 205. Simon Oliver, Staatssekretär. Vollkommene Zerstörung, Ursache unbekannt - wie immer. Suche nach Überlebenden eingeleitet.« Er sprach, als säße ihm der andere Mann am Schreibtisch gegenüber. »Captain Redmon ist nicht erreichbar, und so habe ich bis auf weiteres das Kommando übernommen. Spezialisten und Kameraleute befinden sich bereits am Tatort. Ich selber fahre gleich hin und bringe Ihnen die Aufnahmen, sobald sie fertig sind. Irgendwelche sonstigen Befehle?« 

Die körperlose Stimme Mr. Ramseys enthielt einen eigenartigen, melodischen Unterton und wirkte irgendwie beruhigend.

»Lieutenant!« 

»Ja?«

»Sagen Sie vorläufig nichts, bis wir die Aufnahmen haben. Captain Redmon befand sich in jenem Haus!«

Danforth presste vor Überraschung die Lippen aufeinander. 

Der Tod seines Vorgesetzten machte ihn automatisch zum Leiter der Spezialabteilung für Sprengstoffattentate. Eine zweifelhafte Ehre. Er erkannte, dass seine neue leitende Stellung von sehr kurzer Dauer sein würde. Vielleicht bis zum Sonnenaufgang morgen früh - höchstens. Und dann würde er auf der Straße stehen, ein Opfer von verängstigten Parteiführern. 

Aber Captain Redmon lag tot unter den Trümmern des Hauses. War sein Besuch dort rein privater Natur gewesen, oder hatte er vergattert werden sollen, als der Laden in die Luft flog? Seltsam war die Sache auf jeden Fall. Simon Oliver war ein großes Rad in der Parteimaschinerie - eine Einladung zum Abendessen brauchte nicht unbedingt etwas anderes als eine freundliche Geste gewesen zu sein. Andererseits war Simon Oliver auch der Einpeitscher der Partei - dass er gerade einen für Sprengstoffattentate zuständigen höheren Polizeibeamten zu sich eingeladen hatte, konnte kein Zufall gewesen, sondern mit der Absicht erfolgt sein, diesem die Leviten zu lesen. 

Mr. Ramseys Stimme unterbrach Danforths Gedanken.

»Das ist alles, Lieutenant.« 

Danforth antwortete: »Ja, Sir«, und schaltete ab. Das Signallämpchen ging aus, und er saß im Dunkeln und dachte nach. In der Ferne heulten die Sirenen.

Der Telepath kam vor dem Zeitreisenden. Das wusste jeder. Einen Apparat, der die Zeitreise ermöglichte, gab es nicht, noch nicht. Aber es lag etwas in der Luft. Es war schon so greifbar nahe, dass die Leute ihre Witze darüber machten oder mit Unterschriftenaktionen dagegen protestierten. Die Werbung, von einigen fortschrittlichen 

Unternehmen angekurbelt, pries die Vorzüge der Zeitreise. Zeitungen und Zeitschriften druckten Artikel über ihre mutmaßlichen Vor- und Nachteile. Die Illustratoren stellten die Maschine als Kasten, Fahrrad oder Taucherglocke dar. Die Kabarettisten nahmen sich des Themas auf ihre Weise an. Einige Tageszeitungen brachten den uralten Roman von H. G. Wells in Fortsetzungen. Im Kongress wurde darüber debattiert. Ein Elektrokonzern rechnete damit, in etwa fünf Jahren das erste Modell auf den Markt zu bringen - jedenfalls hatte das ein Firmensprecher behauptet. Die Polizei dagegen hoffte, dass es in fünfhundert Jahren erst der Fall sein würde. 

Das Hauptwerk des besagten Konzerns lag in einer ländlichen Gegend, und die einfachen Leute dort behaupteten, Direktoren der Firma würden bereits mit einem Prototyp Ausflüge weiß der Teufel wohin machen. Andere wiederum wiesen darauf hin, dass es Gottes Absicht nicht gewesen sein könne, dem Menschen ein solches Instrument in die Hand zu geben, sonst hätte er die Entwicklung des Menschen von vornherein rückläufig angelegt. Auf Drängen der Militärs schickte die Regierung eine Gruppe von Beobachtern in das Werk. Und ein Streit entstand um die Frage, welcher Gewerkschaft die Leute angehören sollten, die die Maschine letztlich bauen würden. 

Aber, und das sagte jeder, es sei ein Glück, dass der Telepath vor dem Zeitreisenden gekommen war. Wäre die Reihenfolge anders gewesen, hätte das entstehende Durcheinander die Arbeit der Polizei unmöglich gemacht. Eine Zeitmaschine in den richtigen Händen könnte und würde alle Schiebungen und Ungerechtigkeiten aufdecken; in den falschen Händen würde sie unbeschreibliches Unheil anrichten. Es wäre unmöglich, den Mantel der Zeit über die Sünden der Vergangenheit zu decken. Der Gedanke, in der Zeit spionieren zu können, war furchterregend. 

Deshalb hatte sich die Polizei in kluger Voraussicht der Mitarbeit aller Telepathen, soweit deren Fähigkeit bekannt geworden waren, versichert und diese ausgebildet. Warum nicht? Man wollte für den Zeitpunkt vorbereitet sein, wo allen, die es nötig hatten, ein neuer Fluchtweg offenstehen würde. Aber es gab nur wenige Telepathen, und die meisten von ihnen zeigten wenig Begeisterung für die Ziele der Polizei. Die Geburtenrate bei Telepathen war winzig klein, und so kam es, dass die Sicherheitspolizei des gesamten Staates Illinois nur über einen einzigen Telepathen verfügen konnte. 

Mr. Ramsey.

Lieutenant Danforth rieb mit den Händen über die Hosenbeine und stand auf. Mit sicheren Schritten durchquerte er das dunkle Büro und ging hinaus. 

Mr. Ramseys Gesichtsausdruck blieb unverändert. 

 

Die Polizei hatte die Unglücksstätte abgesperrt und hielt eine beträchtliche Menschenmenge zurück, die sich trotz des Regens ansammelte. Lieutenant Danforth verließ seinen Wagen und bückte sich unter den Seilen der Absperrung durch, um sich seinen Weg durch ein Gewirr von Feuerwehrschläuchen zu bahnen. 

Der Sitz des Staatssekretärs war eine respektable Villa gewesen - mit ungefähr achtzehn bis zwanzig Räumen, vermutete Danforth. Er war nie im Innern des Gebäudes gewesen und hätte auch nicht erwartet, es je zu betreten, wenn es weiterbestanden hätte. Er war kein fanatischer Mitläufer und auch kein Politiker. Simon Oliver und seine Partei bedeuteten ihm nichts. Jetzt waren die Trümmer von achtzehn oder zwanzig Räumen über eine weite Fläche verstreut. Einige der Trümmerstücke waren auf die Straße gefallen, andere lagen auf den Dächern der Nachbarhäuser. Feuerwehrleute richteten Leitern auf, um sie herunterzuholen. Alles in allem, dachte Danforth, war es doch ein ziemlicher Aufwand. 

Er kletterte über die Trümmer auf das zu, was einst eine Ecke des Hauses gewesen war. Ein Fotograf stand dort, einen schützenden Schirm über seine Chrono-Kamera haltend.

Danforth fragte sich, ob die leise surrende Kamera ihren Zweck auch erfüllte. Niemand würde das sicher wissen, bis die Filmkassette abgelaufen und in den Entwickler gelegt worden war. Chrono-Kameras waren in der Theorie eine bemerkenswerte Einrichtung: man drehte eine Wählscheibe, stellte die richtigen Objektive ein und überließ den Rest der Kamera. Diese vermochte einige Minuten in die Vergangenheit zurückzugreifen und festzuhalten, was geschehen war. Wenn also der Fotograf die ungefähre Zeit der Explosion wusste und den Ort rasch genug erreichte, konnte er seine Kamera einstellen und den Ablauf der Geschehnisse in rückläufiger Entwicklung aufnehmen. Allerdings stimmten bei manchen Ergebnissen Theorie und Praxis nicht überein. Es konnte also auch im vorliegenden Fall geschehen, dass auf dem Film überhaupt nichts zu sehen war. 

An verschiedenen Punkten des Gartens hatten sich weitere Kameraleute aufgestellt. Auch auf der Straße hatte sich einer mit Stativ und Kamera postiert, die mit einem Weitwinkelobjektiv das verflossene Geschehen einzufangen versuchte.

Der Kameramann hörte ihn kommen und sah sich um.

»Hallo, Lieutenant - Sie sind spät dran.« 

»Ich habe geschlafen«, sagte Danforth.

»Geschlafen? Um diese Zeit?« Er blickte auf die Uhr. »Das muss schön sein. Die Nacht hat ja noch nicht einmal begonnen.« 

»In meinem Fall begann sie bei Sonnenuntergang; ich brauchte den Schlaf. Habe die letzte Nacht durcharbeiten müssen.«

Der Kameramann nickte. »Wohl wegen der Aufregung in der Festhalle? Ich habe am Morgen davon gehört. Falscher Alarm, oder?«

»Er war falsch«, stimmte Danforth zu. »Jemand hatte angerufen und eine Bombenwarnung durchgegeben. Wir durchkämmten das Gebäude vom Keller bis zum Dachgeschoss. Eine Bombe wurde nicht gefunden, aber die Leute dort hatten vor lauter Angst die Hosen voll.« 

»Es soll Feuer ausgebrochen sein.«

»Das geschah später. Wir ließen die Halle räumen, während wir das Gebäude durchsuchten; es müssen über tausend Menschen gewesen sein, und wir trieben sie auf die Straße hinaus. Als die Leute wieder hineinströmten, zündete jemand eines der von einer Seite zur anderen gespannten Spruchbänder an. Ich befand mich noch dort. Über tausend Söhne Amerikas führten sich auf, als wären sie alle miteinander vom Veitstanz erfasst. Jemand muss den Feuermelder betätigt haben, und die Feuerwehrleute beendeten die Kundgebung.« 

»Das hätte ich gern sehen wollen!« Der Kameramann begann laut zu lachen. »Den Brüdern gönne ich es, wenn ihnen mal tüchtig eingeheizt wird.«

»Ich auch. Aber passen Sie auf, dass das keiner hört.« Der Lieutenant blickte sich um. »Sonst sind Sie plötzlich Ihren Job los und sitzen auf der Straße.« 

»Ein wahres Wort! Aber unter uns gesagt, Lieutenant, ich habe noch keinen von Bens Anhängern getroffen, der mir sympathisch gewesen wäre. Das sind doch alles arrogante Angeber, wenn nicht schlimmeres. Vor zwei Jahren wollte meine Frau, dass ich mich den Söhnen Amerikas anschließe. Ich hatte keine Lust.« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Der politische Zirkus war ihr egal - sie wollte einfach mit dabei sein und am Vereinsleben teilnehmen. Die Picknicks, Kaffeekränzchen und Konzerte hatten es ihr angetan. An den Gruppenreisen nach Chicago wollte sie sich beteiligen. Die meisten Frauen in unserer Nachbarschaft sind Mitglieder, und sie wollte nicht abseits stehen.« 

»Die ziehen ja auch alle Register. Stellen es so dar, als ob es eine Auszeichnung sei, dazuzugehören.«

»Gewiss. Bereits die Kinder tragen Abzeichen: Ich bin für Ben, und mein Vater ist ein Sohn Amerikas. Wenn man nicht dazugehört und seinen Kindern nicht eine Handvoll Abzeichen gibt, so grämen sie sich, weil alle anderen Kinder in der Straße eins haben. Dummköpfe!« 

Danforth lächelte zustimmend. »Sie würden sich besser fühlen, wenn Sie letzte Nacht dabei gewesen wären. Auf dem Spruchband stand Wir sind für Ben, und Ben ist für uns. Aber Ben vermochte die Zusammenkunft trotzdem nicht zu retten.« 

Der Kameramann schaute auf die Uhr und wischte einen Wassertropfen von seiner Kamera. »In sieben Minuten ist alles vorbei«, sagte er.

»Ich nehme den Film gleich mit.«

»Gut. Geben Sie uns eine Viertelstunde Zeit, und Sie können das Zeug haben. Die fertige Arbeit wird am Morgen auf Ihrem Schreibtisch liegen...«. Er verstummte, um den Lieutenant anzublicken, bemüht, seine aufkommende Verlegenheit zu unterdrücken. 

Danforth führte den Gedanken für ihn zu Ende. »Wenn ich am Morgen immer noch im Amt bin. Was ich bezweifle.«

»Tut mir verdammt leid, Lieutenant.« 

»Machen Sie sich keine Sorgen.« Danforth ging mit einem Achselzucken darüber hinweg und beugte sich vor, um in die Linse der Kamera zu blicken. »Wenn ich am Morgen nicht da bin, geben Sie die Aufnahmen Mr. Ramsey.« 

Der Kameramann rief: »Tun Sie das nicht! Ihr Atem wird sich an der Linse niederschlagen und sie verschleiern.« Mit einem Zipfel seiner Jacke wischte er über das Glas. »Dieses Dreckwetter verpfuscht alles. Erwarten Sie nicht zu viel von den Aufnahmen.« 

»Tut mir leid.«

Der Kameramann rückte den Regenschirm zurecht und blickte wieder auf die Trümmer des Hauses. »Ziemlich großer Kasten, nicht wahr?«

»Es war mal einer.« Danforth lächelte freudlos. »Und selbst der Trümmerhaufen ist noch eindrucksvoll.« Er trat mit dem Fuß gegen ein Mauerstück und empfand so etwas wie Befriedigung, als es umstürzte.

Die Männer vom technischen Hilfswerk kletterten über die Trümmer, auf der wenig aussichtsreichen Suche nach Opfern. Sie würden noch nicht einmal eine abgetrennte Hand oder ein Bein finden, um eine Identifizierung der Opfer vornehmen zu können. Die Explosion verwischte alle Spuren und ließ der Polizei nur eine Hoffnung, dass die Zeitkameras zeigen würden, wer sich zum Zeitpunkt der Explosion in dem Haus befunden hatte. 

»Lieutenant, ich habe eine Theorie.« 

Danforths kurzes Lächeln war bitter. »Theorien haben alle. Und wie lautet Ihre?«

»Sechsmal ist das schon passiert, stimmt’s?«

»Sechs Bombenattentate in sechs Wochen, ja. Zwei in Chicago, eins in Peoria und drei hier in der Stadt. Und wir sind keinen einzigen Schritt weitergekommen.« 

»Betrachten Sie die Sache mal so: Jedes Mal ist ein Großkopferter von der Partei dabei draufgegangen. Hab ich recht? Egal, ob der Kerl in der Regierung saß oder nicht, er war in jedem Fall einer von Bens engsten Vertrauten. Zahlreiche andere Parteimitglieder begleiteten ihn auf seiner Himmelfahrt. Bis hierher stimmt’s doch, oder?« 

»Ja.«

»Gut. Und jetzt komme ich zum Kern der Sache. Zielscheibe der Anschläge sind in jedem Fall Bens Anhänger. Gelegentlich trifft es auch Außenstehende, wie heute Nacht, aber das dürfte reiner Zufall sein. Es ist das Pech dieser Leute, dass es sich so ergab. Und letzte Nacht gab jemand in der Halle, wo sich die Söhne Amerikas versammelt hatten, Bombenalarm. Passiert ist allerdings nichts.« 

»Verträgt sich auch das mit Ihrer Theorie?«

»Gewiss. Als Folge dieses Zwischenfalls trafen sich heute Nacht einige von der Parteiführung hier in Olivers Haus. Leute, die gestern auf der Versammlung nicht anwesend waren. Da

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Wilson Tucker/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Szarfan/Christian Dörge.
Cover: Szarfan/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Otto Kuehn und Peter Mathys (OT: Time Bomb/Tomorrow Plus X).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 29.05.2020
ISBN: 978-3-7487-4366-8

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