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Leseprobe

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE (HRSG.)

 

 

DUNKLE BEGEGNUNG

- 13 SHADOWS, Band 46 -

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

William F. Nolan: DUNKLE BEGEGNUNG 

Ray Cummings: LEICHEN 

Ernst Heyda: FEUER 

Robert Louis Stevenson: MARKHEIM 

Doris Grünning: DAS TESTAMENT 

Thornton Bell: DIE DAME LIEBT KATZEN 

August Derleth: KINGSRIDGE 214 

 

Das Buch

 

Als das weiße Laken über seine Augen gebreitet wurde, rasten seine Gedanken. Wohin würden sie ihn bringen? Was, wenn sie ihn in einen Sarg legen und den Deckel schließen würden? Er spürte, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Panik ihn um seinen Verstand bringen würde, das einzige, was in ihm noch lebte. Die folgenden Minuten wurden zum Fegefeuer seines Lebens. Seine Sinnesorgane vermittelten ihm in tadelloser Funktion den Rausch des Entsetzens, ohne dass er auch nur ein Glied seines Körpers zur Gegenwehr einsetzen konnte. Er hörte die Gespräche der Männer und den tödlichen Befehl des Totengräbers. Er sah den Buckligen über sich, als dieser die Bahre zum Sarg schob, und sah die Hände des Hageren, der sich vergeblich abmühte, dem Toten die Augen zu schließen.

Nur fühlen konnte er nichts, gar nichts...

 

Die Anthologie DUNKLE BEGEGNUNG, herausgegeben von Christian Dörge, enthält sieben ausgewählte Erzählungen von William F. Nolan, Ray Cummings, Ernst Heyda, Doris Grünning u. a. und erscheint in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  William F. Nolan: DUNKLE BEGEGNUNG

 

 

Er sah die Rothaarige im ersten Augenblick, als er die Hotelbar betrat. Sie saß allein am Ende der Theke und hatte einen Drink vor sich - und er wusste, wer sie war. Das hautenge schwarze Kleid erzählte die Geschichte. Das Kleid und das schwache, einladende Lächeln, das sie ihm schenkte.

Williard Broun begegnete einen Augenblick lang ihren Augen, dann sah er wieder weg und atmete schwer, er versuchte den Hass zu kontrollieren, der plötzlich in ihm war.

Nein, dachte er, nicht heute Abend. Nicht hier in dieser Stadt. Nein. Nein...

»Und was darf ich Ihnen geben, Sir?«

Williard Broun sah in das lächelnde Gesicht des Barmannes. »Nun... einen Whisky, bitte.«

Der Barmann verschwand.

Nicht an sie denken, sagte er zu sich. Er sah auf seine manikürten Hände auf der polierten Platte der Theke, dann hob er den Blick und sah in den Spiegel hinter der Bar. Ja, sie beobachtete ihn. Sie hatte einen Lippenstift in der Hand und zog ihre Lippen nach, aber er konnte ihre wissenden Augen sehen, die ihn über den goldenen Rand der Puderdose beobachteten. Im nächsten Augenblick würde sie an ihm Vorbeigehen und ihn leicht mit dem engen schwarzen Kleid berühren. Und dann würde er sie bitten, sich hinzusetzen; er würde anfangen, sich mit ihr zu unterhalten und...

»Hey, Mister«, sagte der Barmann. »Ihr Wechselgeld!«

»Behalten Sie es«, zischte Williard Broun und ging schnell von der Bar weg. Er sah sie nicht an, als er an ihr vorbeiging, aber er konnte fast das dünne kalte Lächeln auf ihrem Gesicht fühlen.

Als er die Carondelet Street entlang ging, war die Luft feucht und schwer, typisch für einen Juli in New Orleans, warme Luft, die vom Golf kam.

Er mochte diese Stadt. Er war jetzt seit zwei Tagen hier, er war durch das enge französische Viertel gegangen, hatte im Court of two Sisters gegessen, war mit der Algiers-Fähre über den braunen Mississippi gefahren, war unter den riesigen Bäumen des Stadtparks spazieren gegangen. Es war alles so schön.

Nun ging er zur City zurück, zur Canal Street, an dunklen Läden und hohen eisernen Balkonen vorbei, die Hände in den Taschen seines weißen Leinenrocks. Und während des Gehens erinnerte er sich an ein Mädchen namens Abbe in Chicago - an ein schlankes Mädchen mit einem fröhlichen Klang in der Stimme; es klang wie Musik, wenn sie sprach. Aber sie war wie die anderen gewesen; billig, leichtfertig, natürlich hatte sie sterben müssen. Sie hatten spät am Abend im Schatten des El gestanden, als ihre fröhliche Stimme plötzlich verstummt war und sie gegen seine Brust getaumelt war. Er konnte die Wärme ihres Körpers und den kalten, festen Griff des Messers spüren. Nachdem er die Klinge gereinigt hatte, hatte er das Messer einem Zeitungsjungen geschenkt, der dankbar dafür gewesen war; das Messer des Jungen war alt, und der Griff war zerkratzt. Er erinnerte sich daran, wie der Junge gelächelt hatte. Und er dachte an Irene: laut und vulgär, mit abgestandenem Whisky in ihrem Atem. Er hatte sie in einer St. Louis-Bar aufgelesen, und sie waren zu seinem Apartment gegangen. Irene mit ihrem üppigen, rosafarbenen Körper und der rauen Stimme hatte Geld gewollt. Aber sie war diejenige gewesen, die bezahlen musste. Die Rothaarige in dem Hotel würde wie Irene sein: zuerst nett, dann weniger nett.

Ein Taxi fuhr vorbei, die Rücklichter leuchteten wie zwei rote Augen, als der Wagen zur Canal Street fuhr.

Seit Linda waren nun fast zwei Wochen vergangen. Sie war Kellnerin in einer Bar namens Al’s gewesen. In der Nähe der Eisenbahnschienen in einer dieser kleinen sonnigen Städte in Texas. Züge schossen auf ihrem Weg durch das Land vorbei, donnernde eiserne Geschosse, staubige Fenster, und die Teller und die Tassen sprangen hoch. Wie hatte er diese Züge gehasst, die durch die Nacht polterten, während er versuchte, sich mit Linda zu unterhalten, sie zu verstehen. In den Kurven hatte der Zug geschrien, und er hatte die Augen geschlossen, bis er nichts mehr hörte. Und schließlich hatte Linda wie der Zug geschrien, lang und hoch. Und dann war sie still gewesen - still wie jene Stille, wenn der Zug verschwunden war...

Nein, dachte Williard Broun, Schluss! Nicht mehr daran denken. Nicht heute Nacht. Nicht heute Nacht.

Vor ihm lag, breit und hell erleuchtet, die Canal Street. Etwas weiter konnte er die Bourbon Street sehen, mit all den leuchtenden Neonlichtern, mit der Versuchung vor den Lokalen, die alle Arten von Vergnügen versprachen.

Williard Broun ging auf die gelben, roten und grünen Lichter zu, seine Tritte hallten von dem Pflaster wider, sein Mund war trocken. Ein Highball würde schmecken, dachte er; er würde sehr gut schmecken.

Er ging mit der Menschenmenge die enge Straße der Bourbon Street hinunter, an Prima’s 500, der Sho-Bar und Stormy’s vorbei. Die Pförtner vor den Restaurants und Klubs gestikulierten und winkten und hielten die Flügeltüren zu einem Blick auf die Stripteasemädchen auf der Bühne geöffnet.

»Kommen Sie ’rein, Sir! Kommen Sie ’rein! Die schönsten Mädchen auf der Bourbon Street. Sie brauchen nur ’reinzukommen. Die Show geht immer weiter.«

Er ignorierte ihre lauten Aufforderungen, er ging an ihnen vorbei, er hatte es nicht eilig. Die Straße war laut und voller Menschen. Der Jazz war ihr König; Dutzende von lauten Bands schickten ihre verrückte Musik in die Bourbon Street, und der scharfe, süße Klang der Trompeten übertönte die Trommeln, die Klaviere, sie klangen klar wie Eis in einem Shaker.

Schließlich betrat er einen Klub am Ende der Straße, ohne zu wissen, wie er hieß. Die Kellnerin beugte sich zu ihm herunter, durch das rauchbeladene Halbdunkel, und fragte nach seinen Wünschen.

»Ginger High«, sagte Williard Broun, und sie ging weg.

Auf der Bühne bewegte sich eine große Blondine in einem kurzgeschnittenen roten Kleid zu den Tönen einer einzelnen Trompete. Williard Broun beachtete sie nicht.

»Allein, Honey?«, sagte eine Stimme neben ihm.

Er warf einen kalten Blick auf das Mädchen, das sich auf den leeren Stuhl an seinem Tisch gesetzt hatte. Es war eine jener pausenfüllenden Stripperinnen. Sie hatte ein starkes Make-up, ihre harten Augen lagen unter falschen Wimpern, das Glitzern des engen Kleides erzählte ihre Geschichte.

Er schüttelte den Kopf. »Ich brauche keine Gesellschaft.«

»Aber, hör’ mal, Honey...« - sie drückte sich an seine Schulter.

»Gehen - Sie - weg«, sagte Williard Broun böse und dehnte seine Worte.

»Nun, okay!« Sie erhob sich und schwankte zur Bar.

Ein schwitzender, fetter Mann mit einer Hornbrille grinste und nahm ihre Hand.

Narr, dachte Williard Broun. Kannst du denn nicht sehen, was sie ist? Kannst du denn nicht sehen, wie billig und verrottet sie alle sind...

Er fühlte den Schweiß unter seinem Leinenanzug, er spürte wieder die Dunkelheit in sich. Er kippte seinen Drink und ging schnell hinaus.

Draußen tönte die Musik noch durchdringend und nicht mehr so gut; er war müde. Schlaf; das war es, was er brauchte. Er musste ins Hotel gehen und sich ins Bett legen. Ja, das würde gut sein; das musste er tun.

Und dann sah er das Mädchen. Er blieb auf der Canal Street stehen und wartete, dass Rot zu Grün wurde, und da saß sie allein auf der langen Holzbank an der Bushaltestelle. Jung, nicht mehr als neunzehn oder zwanzig. Und hübsch. Sehr hübsch und nett in dem leichten Sommerkleid. Sie trug das Haar kurz; es war dunkel und glänzend, es passte zu ihrer hellen Haut. Ihre Brüste waren voll und fest unter dem dünnen Kleid, und ihre schlanken Beine verjüngten sich bis zu wundervollen Fesseln.

Ein schönes Mädchen, dachte Williard Broun, ein wirklich schönes Geschöpf.

Nun, dann sprich doch mit ihr! Frag' sie irgendetwas! Ihre Stimme muss nett sein. Geh’ hin...

»Entschuldigen Sie, Miss«, sagte er und lächelte sie warm an. Sie sah auf, ihre Augen glänzten in einem tiefen Blau.

»Ja?«

»Ich bin hier fremd in der Stadt, und ich kenne mich mit dem Bus-Fahrplan nicht aus. Ich finde den Fahrplan nicht - und ich frage mich, wie oft sie um diese Nachtzeit fahren.« Seine Stimme war aufrichtig und warm, sein Lächeln freundlich. Sie verdächtigt mich nicht, dachte Williard Broun; sie verdächtigen mich nie.

»Nach Mitternacht nicht mehr so oft«, sagte sie lächelnd. »Der nächste dürfte in etwa vierzig Minuten kommen.«

»Oh, besten Dank.«

»Bitte. Ich helfe gern einem Fremden«, sagte sie und senkte die Augen. Sie hatte die Frage beantwortet, es gab nichts mehr zu sagen.

Sie hatte eine Stimme wie Abbe, dachte Williard Broun, musikalisch und froh wie Abbe. Aber sie war nicht wie Abbe und all die anderen. Nicht dieses Mädchen. Er war absolut sicher.

Die anderen waren sich alle gleich gewesen; schwach, leichtfertig und billig. Nicht so gut, wie seine Mutter gewesen war. Sie glichen alle seiner Stiefmutter und immer, wenn er eine von ihnen umgebracht hatte, dann hatte er sie umgebracht, immer wieder und immer wieder und immer wieder.

»Zigarette?«, fragte Williard Broun und setzte sich auf die Bank.

»Ich rauche nicht«, sagte sie wieder lächelnd. »Aber besten Dank.«

Er zog den Zigarettenrauch tief in seine Lungen. »New Orleans ist sicherlich eine aufregende Stadt, nicht wahr?«

»Ich bin hier auf gewachsen«, sagte das Mädchen, »und ich liebe die Stadt immer noch mehr als jede andere auf der Welt.«

Sie wurde vertrauter, zuerst zögernd, dann immer mehr. Williard Broun war ein gut aussehender Mann mit offenem, ehrlichem Gesicht, dem man sofort vertraute. Sein Lächeln war anziehend und ansteckend.

»Ich komme von St. Louis«, erzählte er ihr. »Aber dort ist es zu schmutzig, es gefällt mir nicht. Ich mag Städte wie diese.«

Williard Broun fragte sich, was sie wohl tun würde, wenn er sie bat, mit ihm einen Drink zu nehmen. Natürlich würde sie nein sagen. Sie war nicht der Typ, der mit Fremden etwas trank. Sie würde nein sagen.

Aber sie tat es nicht.

»Nur einen«, lächelte sie, »weil es so heiß ist, und weil wir beide für einen Augenblick Zeit haben, wenn wir uns beeilen.«

Sie vertraut mir, dachte er und nahm ihren Arm. Sie hält dich für einen freundlichen, harmlosen Burschen, der allein in einer fremden Stadt ist. Oh, sie wird nicht mit dir in ein Hotel gehen. Dieses Mädchen nicht. Sie wird etwas trinken und dann zum Bus gehen, und du wirst sie niemals Wiedersehen. Niemals.

 

»Und sie saßen hier in diesem Gebäude, General Jackson und der Pirat Lafitte, und sprachen über die Schlacht von New Orleans.« Sie wies auf eine enge hölzerne Treppe. »Dort oben ist ein besonderer Raum, in dem sie sich trafen.«

Er saß mit ihr in der Bar des Old Absinthe House, und sie erzählte ihm die Geschichte der Bourbon Street und des französischen Viertels. Sie trank ihren zweiten Highball, ihr Gesicht war gerötet und erregt, als sie ihm die berühmten Plätze und die Leute beschrieb.

»Dies ist eine der ältesten Bars der Stadt«, sagte sie. »Mark Twain pflegte hierher zu kommen, Könige, Präsidenten und eine ganze Menge Leute.«

»Es ist sehr aufregend«, sagte er. »Hier müssen mindestens zehntausend Visitenkarten an den Wänden sein.«

»Jeder Mann hinterließ seine Karte«, sagte sie und gestikulierte zu den Wänden und zur Decke, die mit weißen Papierkarten bedeckt waren. »Haben Sie eine Visitenkarte?«

»Es tut mir leid«, lächelte er.

»Dann werden wir eine Serviette nehmen«, sagte sie und glättete eine auf dem Bar tisch. »Eine Menge Leute machen das. Oh, entschuldigen Sie!«

»Bitte? Was ist?«

»Wir haben uns einander noch nicht einmal vorgestellt. Hier, ich werde meinen Namen auf schreiben, und dann können Sie Ihren Namen auf schreiben.«

Mit sauberer präziser Handschrift schrieb sie: Anne Ferrar. Dann schob sie ihm die Serviette zu und gab ihm ihren Füllhalter. Er schieb: Frank Boutell und gab ihr den Halter zurück.

»Fein«, sagte sie. »Hey, Frank!«

»Hey, Anne!« Sie lächelten einander an. Er beobachtete sie, wie sie das weiße Papierstück zu einer Säule brachte, und dachte: Wird sie mit mir ins Hotel gehen, wenn ich sie darum bitte? Noch zwei Drinks und sie wird genug haben. NEIN... sie wird es nicht tun. Sie ist nicht wie alle die anderen.

»Da«, Anne kicherte und setzte sich wieder hin. »Nun sind wir in einer gewissen Beziehung unsterblich.«

Er legte seine Hand über die ihre. »Ich fürchte, wir verpassen unseren Bus.«

»Was macht’s? Wir nehmen den nächsten. Ich habe so viel Spaß hier, Frank!«

»Ich bin froh«, sagte er. »Noch einen Drink?«

»Sicher. Warum nicht!«

Noch zwei und ihr Kopf würde an seiner Schulter liegen, ihr dunkles Haar würde seine Wange berühren; der Duft ihrer sauberen Haut war süß...

Williard Broun begann sie zu hassen. Er dachte an Abbe und Irene und Linda und all die anderen. Jetzt gehörte Anne dazu.

Anne war nicht anders.

»Hören Sie, ich habe eine gute Idee«, sagte er. »Wollen wir nicht mit einem Taxi durch New Orleans fahren?«

»Aber - das ist doch schrecklich teuer, Frank?«

»Ich kann es mir leisten«, versicherte er ihr. »Wollen wir jetzt gehen, Anne?«

Sag’ nein, klang warnend eine Stimme in ihm, denn dies ist deine letzte Chance. Anne Ferrar. Weigere dich!

»Okay«, lächelte sie. »Aber nicht zu weit. Ich möchte nicht, dass Sie Ihr ganzes Geld ausgeben.«

»Warten Sie hier«, sagte er und drückte ihren Arm. »Ich werde uns ein Taxi besorgen.«

 

Der Taxifahrer war ein kleiner Mann mit scharfen Augen in einem Mausgesicht, dem nichts entging. Er war lange in seinem Beruf und weise geworden, und er fuhr langsam und war bedacht, seine beiden Passagiere nicht zu stören.

Anne hatte einen Arm um Williard Brouns Taille gelegt, sie saß auf dem weichen Ledersitz eng an ihn gepresst, sie zeigte mit der freien Hand auf Sehenswürdigkeiten, ihre Stimme war leicht und klar.

Ein Sommerregen hatte begonnen, und die nächtlichen Gebäude glitzerten, wenn die Scheinwerfer ihre Wände trafen.

Sie fuhren die Rampart Street hinauf, an der alten Kirche von St. Anthony vorbei, durch Claiborne bis hin zu den dunklen Wassern des Mississippi.

»Mögen Sie es nicht, wenn der. Regen auf das Wasser fällt?«, fragte sie ihn. »Mich fasziniert es. Alle diese schweren kleinen Tropfen, die wie Kugeln das Gesicht des Flusses zerreißen.«

»Ich hasse den Regen«, sagte er, seine Stimme war hart und langsam. »Meine Stiefmutter bestrafte mich immer, und dann musste ich nackt stundenlang im Regen draußen stehen. Barfuß und weinend, und der Wind erstickte meine Schreie. Manchmal war mein Körper so kalt und gefühllos, dass ich den Regen nicht mehr auf meiner Haut spürte.«

»Wie schrecklich!«, rief Anne. »Aber - Sie hätten doch Lungenentzündung kriegen und sterben können!«

»Sie hoffte, ich würde das«, keuchte Williard Broun, als er sich an die kalten dunklen Augen seiner Stiefmutter erinnerte. »Sie hasste mich immer, vom ersten Tag an, als sie unser Haus betrat, weil ich das Kind meines Vaters und nicht ihr Kind war.«

»Und was war mit Ihrer wirklichen Mutter?«

»Tot. Sie starb, als ich sieben war. Sie war eine wirkliche Lady. Eine wundervolle, saubere, anständige Person und nicht wie...« Sein Gesicht verhärtete sich. »Nicht wie die Frau, die mein Vater heiratete.«

Anne drückte seine Hand. »O Frank!«

Der Regen ließ nach, Nebel kam auf, und die gelbe Scheibe des Mondes leuchtete durch die dunklen Wolken.

Küss sie, sagte sich Williard Broun, denn sie will es. Sie will, was sie alle wollen. 

Los!

Als er seine Lippen auf ihren Mund presste, wagte sie nicht, ihm Widerstand zu leisten. Sie strich mit ihren Fingern über seine Haare und murmelte etwas unter seiner Berührung.

»Hör’ zu, Anne«, flüsterte er und streichelte ihren Hals. »Wie war’s, wenn wir unsere Rundreise abbrechen und einen Nachttrunk in meinem Hotel nehmen würden? Die Bar ist noch geöffnet. In Ordnung?«

Sie nickte und seufzte. »In Ordnung, Frank.«

 

Die Bar war voller Menschen, und er nahm das Risiko auf sich, mit Anne gesehen zu werden. Wenn man ihre Leiche in seinem Zimmer fand, konnte es eine Menge Zeugen geben, die sie zusammen gesehen hatten. Aber was machte das alles schon? Wenn man sie fand, war er verschwunden wie Rauch im Wind. Sie würden ihn niemals finden.

Er führte sie zu einer kleinen, ruhigen Nische in der Ecke, weit weg von den Lichtern.

»Weißt du, dass du ein netter Junge bist, Frank?«, sagte sie ihm, ihre Hände legte sie über die seinen auf dem Tisch. »Du bist wirklich ein sehr netter Junge.«

Und du bist eine Hexe, antwortete eine Stimme in Williard Broun, eine Hure. Und du wirst für das, was du bist, sterben. 

Er sah auf und sah die Rothaarige wieder, die er früh am Abend getroffen hatte. Sie saß immer noch am Ende der Bar und beobachtete ihn durch den raucherfüllten Raum.

Du bist nicht besser als sie, Anne Ferrar. Nicht besser als dieser Tramp dort an der Bar.

»Salud!«, prostete er und hob sein Glas hoch.

Die Gläser klangen aneinander, Anne kicherte. Sie setzte unsicher ihr leeres Glas auf den Tisch.

»Hier geht’s zu wie in einem Zirkus«, sagte er und fuhr mit seinen Lippen über ihr Ohr. »Nehmen wir den Fahrstuhl und fahren in mein Zimmer. Wir können uns dort unterhalten, und ich kann einige Drinks mixen.«

Sie nickte und lächelte mit halb geschlossenen Augen. Die Rothaarige sah ihm nach, als sie die Bar verließen.

 

»Hier sind wir, Darling«, sagte er, als sie sicher in seinem Zimmer waren. »So bequem wie zu Hause.«

»Es ist nett«, lächelte sie und hängte sich an seinen Arm. »Wirklich schön und nett.«

»Martini?«

Sie ließ sich auf die Couch fallen, und er bemerkte, dass ihr Kleid weit über die Knie hinaufgerutscht war. »Ja«, lächelte sie. »Und meinen sehr trocken, bitte.«

Sieh dich an, klagte sie seine innere Stimme an. Dein Lippenstift ist verschmiert, deine Haare hängen im Gesicht, die Hälfte deiner Oberschenkel ist entblößt. Nun, Anne, jetzt siehst du aus, wie du wirklich bist. Es wird ein Vergnügen sein, dich umzubringen.

Er ging zum Radioapparat und stellte ihn an. Die Klänge der Barkarole fluteten durch das Zimmer. Während er zwei sehr trockene Martinis mixte, pfiff er zu der Musik.

»Besten Dank, Sir«, sagte sie, als er ihr das Glas gab.

»Auf das Leben«, sagte Williard Broun und hob sein Glas hoch, »und auf die anständigen Leute.«

Sie tranken, sie strahlte ihn mit ihren großen blauen Augen an.

Oh, sie ist clever, dachte er, so verdammt clever. Sie spielt das unschuldige Mädchen und führt mich an der Nase herum, ich soll glauben, sie sei anders.

Er würde bei Anne nicht das Messer nehmen. Ein Messer würde viel zu schnell sein, viel zu sauber für sie. Sie verdiente einen langsameren Tod - einen, den sie sehen und schmecken und fühlen konnte.

Williard Broun sah auf seine beiden Hände, die um das dünne Glas vor ihm gekrampft waren. Harte, quadratische Fingernägel. Ja, sie würden seinen Job leicht machen. Die Hände würden es perfekt machen.

Er rutschte auf der tiefen Couch näher zu ihr, er legte eine seiner Hände auf ihre Schulter, er liebkoste mit der anderen ihre Wange. »Du bist ein bemerkenswertes Mädchen, Anne Ferrar. Weißt du das?«

»Hmmmmm...« Sie schnurrte wie eine Katze und kuschelte sich an ihn, ihre warmen Brüste drückten sich gegen seine Brust. Sie wartete darauf, dass er sie küsste.

Seine rechte Hand bewegte sich über ihre Schulter zu ihrem weichen Hals. Lässig glitten seine Finger über die samtweiche Haut. Nun brauchte er nur noch die linke Hand hochzuheben - langsam, ganz langsam, um sich mit der anderen Hand zu vereinigen.

Ihre Augen waren geschlossen, sie hatte den Kopf wartend zurückgelegt.

Dunkel wurde es im Kopf von Williard Broun. Und eine Stimme aus dieser Dunkelheit sprach mit ihm. Fang’ an, befahl die Stimme. Schließe deine Finger.

Seine beiden Hände ruhten jetzt leicht auf ihrem schlanken weißen Hals. Er presste die beiden Daumen gegeneinander, fast unbewusst liebkosten seine Finger immer noch ihre Haut.

Los, flüsterte die Stimme.

Jetzt!

Die starken Hände Williard Brouns begannen sich zusammenzuziehen...

Und lösten sich. Anne Ferrar weinte.

»Aber - was ist denn?«, fragte er verstört und erschreckt.

»Ich - es tut mir leid, Frank, aber ich kann nicht. Ich kann das nicht tun.«

»Was meinst du?«

»Ich... ich will nicht, dass du mich liebst.« Sie sah mit Tränen in den Augen zu ihm auf. »Wenn du mich jetzt fickst - heute Nacht nein, es würde alles falsch sein. Es wäre billig und schmutzig, und ich will nicht, dass es so schmutzig zwischen uns ist, Frank. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, warum ich mit dir hierhergekommen bin, in dieses Zimmer, aber ich schwöre dir, ich habe so etwas noch nie in meinem Leben gemacht. Aber - die Drinks... die Wärme .. die Taxifahrt... und du bist so nett zu mir und...«

Sie legte das Gesicht in die Hände und schluchzte.

Die Dunkelheit in Williard Broun verschwand; seine Finger entspannten sich.

»Du - du verstehst mich doch, nicht wahr, Frank? Bitte?«

»Ja, Anne«, sagte er ruhig. »Ich verstehe dich.«

 

Als sie auf die Straße vor das Hotel kamen, regnete es wieder. Er half ihr in ein Taxi, er schloss die Tür und nahm ihre Hand durch das offene Fenster. »Ich fühle mich - wie eine Närrin«, sagte sie.

»Das solltest du nicht«, sagte er. »Du hast das richtige getan, Anne.« Er küsste sie auf die Lippen, sie waren jetzt kalt, der Regen rann, und plötzlich fühlte er sich so wohl wie seit langen Jahren nicht mehr.

»Du hast meine Adresse und meine Telefonnummer«, sagte sie. »Wirst du mich bald anrufen, Frank?«

»Bald«, erwiderte er. »Ich verspreche es dir.« Er nickte dem Fahrer zu, und das Taxi fuhr los, die Reifen zischten auf der nassen Straße. Annes blasses Gesicht, am Hinterfenster des Wagens, wurde kleiner und verschwand schließlich in der Dunkelheit.

Er stand lange auf der Straße, er sah, wie die Rücklichter verschwanden, dann ging er ins Hotel zurück.

Das Mädchen stand neben dem Eingang, das Neonlicht beleuchtete ihr rotes Haar.

»Erinnern Sie sich an mich?«, sagte sie. »Aus der Bar?«

»Ja«, sagte Williard Broun und ging näher auf sie zu. »Ich erinnere mich an Sie. Nehmen wir einen Drink?«

 

 

 

 

  Ray Cummings: LEICHEN

 

 

I

 

Der junge Kent Cavendish lag im Sterben.

In dem düsteren kleinen Pensionszimmer herrschte lastende Stille. Ich hockte bewegungslos in einer Ecke und sah zu dem Bett hinüber, in dem Kent lag und Anne, meine Schwester, bei ihm wachte. Er schien kaum noch atmen zu können, sein Gesicht war so weiß wie das Kissen, auf dem es ruhte. Anne schluchzte leise vor sich hin. Das war das einzige Geräusch in dem Sterbezimmer.

Das Leben geht seltsame Wege. Vor vier Tagen hatte Kent Cavendish noch in der Blüte seiner Jugend gestanden, in der Kraft seiner fünfundzwanzig Jahre - ein lachender, blonder Hüne. Er war mein bester Freund und der Verlobte meiner Schwester.

Und jetzt lag Kent im Sterben. Nichts konnte ihn retten, denn die Ärzte waren machtlos, obwohl sie alles versucht hatten, was in ihren Kräften stand, und nichts hatte Erfolg gehabt. Ich räkelte mich auf meinem Stuhl, denn ich hatte mich schon seit Stunden kaum gerührt, und Anne hatte dort am Bett die ganze Nacht gesessen. Nun dämmerte es schon; wir konnten die Sterne beim ersten fahlen Licht verblassen sehen. Jeden Augenblick konnte Dr. French zurückkommen, aber auch er konnte nichts mehr tun.

Kent war von einer seltsamen, rätselhaften Krankheit befallen. Vor ein paar Tagen war Anne und mir sein eigenartiges Verhalten auf gefallen. Er schien völlig aus dem Gleichgewicht und verstört zu sein.

Ich erinnerte mich daran, dass ich ihn lachend gefragt hatte: »Kent, was ist denn bloß los mit dir?«, und in seinem Blick hatte Angst gestanden und noch etwas anderes, Unerklärliches. Er hatte keine Antwort gegeben, sondern nur die Stirn gerunzelt und sich dann abgewandt.

Ein paar Tage lang benahm er sich so seltsam, dann, nach einer Zeit der Mattigkeit, die ihn plötzlich befiel, lag er schon in diesem tödlichen Koma. Ich hatte getan, was ich konnte, und alle in Frage kommenden Ärzte konsultiert. Das Herz war sehr schwach und sehr langsam; Stimulantien hatten keinerlei Wirkung gezeigt. Es wurde stündlich langsamer und schwächer, und zur gleichen Zeit sank die Bluttemperatur. Es war, als ob sein Körper und seine Organe, ohne krank zu sein, also bei bester Gesundheit austrocknen würden.

Das Koma war jetzt fast kataleptisch. Sein Atem war so schwach, dass man ihn kaum noch wahrnahm, der Puls war fast nicht mehr zu fühlen. Medizinische Einzelheiten! Ich musste daran denken, wie bedeutungslos und unzulänglich die Wissenschaft sein kann angesichts des großen Mysteriums.

Das Licht des frühen Tages war etwas heller geworden. Es war vier Uhr - die Stunde, von der Dr. French gesagt hatte, dass dann die Kräfte eines Menschen auf ihrem tiefsten Punkt angelangt sind, deshalb um diese Zeit meistens der Tod kommt... Anne weinte immer noch leise, und ich ging auf Zehenspitzen zu ihr hinüber und murmelte ihr etwas Tröstliches zu. Sie war völlig aufgelöst, ihr Gesicht bleich durch den Mangel an Schlaf. Ihre langen schwarzen Flechten hatten sich aufgelöst und fielen unbemerkt auf ihre Schulter herab.

So saßen wir, als die Dämmerung ins Zimmer kroch und Kents Gesicht sichtbar machte. Es war wie eine Maske, die Augen waren geschlossen, die Lippen leicht geöffnet. Dieses Gesicht, dieser Körper, der so still unter dem Laken lag, war nur noch Hülle, und irgendwo darin machte sich Kent Cavendish bereit für seinen Abgang.

Ich murmelte: »Anne, jetzt geht er fort!«

Die Augenlider schienen zu flattern. Und dann, ganz plötzlich, schlug er die Augen auf. Ich starrte in die Augen meines Freundes. Was mochte wohl hinter diesen Fenstern seiner Seele vorgehen?

»Anne! Er - er geht.«

Ich hielt den Atem an und drückte meine Schwester eng an mich. Wir sahen die Veränderung, die der Tod auf seinem Gesicht bewirkte, und wir wussten beide, dass es das Ende war. Annes Schluchzen war verstummt, vor Ehrfurcht und Schrecken, und auch sie hielt den Atem an.

Die Augen blieben offen stehen. Vielleicht war ein Licht in ihnen gewesen, dass nun plötzlich nicht mehr da war. Welche Veränderung auch mit ihm vorgegangen war, ich wusste, dass mein Freund gegangen war.

Anne fing wieder an zu weinen, und ein wilder, verzweifelter Schrei brach aus ihr heraus. »Oh, Kent, Kent, mein Liebling, ich will nicht, dass du stirbst, ich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx/123rf.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Ernst Heyda und Hella Unruh (Original-Zusammenstellung).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 25.05.2020
ISBN: 978-3-7487-4308-8

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