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Leseprobe

 

 

 

 

PETER SAXON

 

 

DER DESORIENTIERTE MANN

- 13 SHADOWS, Band 45 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

Prolog 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Epilog 

 

Das Buch

 

Sein linkes Bein schmerzte sehr. Er schob seine Finger an seinem Körper entlang, um sein Bein zu kratzen.

Aber es gab nichts zu kratzen!

Sein Gehirn schien sich zu überschlagen. Sie hatten sein rechtes Bein amputiert! Oder? Nein, sein linkes Bein.

War es nun sein rechtes oder sein linkes Bein?

Kenn Sparten drückte sein Kinn fest gegen die Brust, streckte den Kopf hoch gegen die Fesseln, mit denen sie ihn angebunden hatten. Er konnte an seinem Körper entlangsehen, nachdem er die Bettdecke weggezogen hatte.

Kenn starrte auf seinen ausgestreckten Körper. Es war ein beinloser Rumpf. Die Hüften, die einst über seinen mächtigen, muskulösen Beinen gewesen waren, waren perfekt verheilt und zeigten keine Spur eines operativen Eingriffs; es gab keine Narben.

Kenn Sparten begann zu schreien.

 

Der Roman DER DESORIENTIERTE MANN (1967) von Peter Saxon (= Stephen Frances und W. Howard Baker) wurde im Jahr 1970 unter dem Titel SCREAM AND SCREAM AGAIN (Regie: Gordon Hessler) verfilmt. Der deutsche Verleihtitel war DIE LEBENDEN LEICHEN DES DR. MABUSE. In den Hauptrollen spielten Vincent Price, Christopher Lee und Peter Cushing.

Eine deutsche Erstveröffentlichung des Romans erfolgte 1972 in der Reihe LUTHERS GRUSEL-HORROR-CABINET unter dem exzentrischen Titel DER IRRE.

DER DESORIENTIERTE MANN erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  Prolog

 

 

Das kalte, blaue Licht der Straßenlampen lag über dem grauen Pflaster und den sauber geschnittenen Hecken. Aber das Licht in den Fenstern der Häuser der Vorstadt war gelb, warm und anheimelnd. Auch die Leute aus den Fenstern milderten die starre Strenge des kalten Lichts der Straßenlampen: die Stimmen aus dem Fernsehgerät... das Zirpen einer Gitarre... das Lachen von Kindern.

Es war ein angesehener Wohnbezirk, in dem die Gedanken und die Gewohnheiten der Menschen so sauber und ordentlich waren wie die Gartenwege und die Einfriedungen der Blumenbeete.

Viele Straßen der Vorstadt mündeten an dem großen Sportfeld, dem Freizeit- und Erholungszentrum: auf den Tennisplätzen flogen die Bälle, junge Leute in weißen Anzügen liefen über das Grün der weiten Rasenfläche, man hörte das Klicken eines hölzernen Balles vom Hockey-Feld, und die Geräusche mischten sich mit dem gleichmäßigen Summen der Insekten.

Aber jetzt war es Nacht. Und das Sportzentrum ein riesiges, dunkles Becken, in dem Schrecken und Drohung lauerten.

Und aus der Dunkelheit kam ein sanfter, zischender Laut, als Etwas, das größer als ein Haus war, für den Bruchteil einer Sekunde rötlich aufleuchtete und dann verschwand, während ein geisterhafter blauer Schimmer zurückblieb. Und irgendetwas bewegte sich in diesem Schimmer.

Etwas, das nicht menschlich war...

Das DING war gekommen.

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Schweitzer wusste, dass er Angst vor Konradi hatte; manchmal gestand er es sich ein. Er wusste, dass es dumm war, denn er war Konradis Vorgesetzter, und er bekleidete seine Stellung in der DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK viel länger als der ältere Mann. Er war nicht nur der Vorgesetzte Konradis, er war seinem Untergebenen auch überlegen, aber...

Schweitzers Furcht hatte begonnen, als Konradi aus Berlin zurückgekommen war. Als er vor drei Jahren in Marsch gesetzt worden war, war er ein fröhlicher, glücklicher und unschuldig lächelnder Dummkopf gewesen, von dem niemand ahnen konnte, dass er ein Spion war. Aber dann hatte man Konradi zurückbeordert, und Schweitzer konnte nicht verstehen, wie sehr sich der Mann verändert hatte. Aber er fühlte, dass der harmlose, fröhliche Konradi zu einer Gefahr geworden war.

Obgleich Schweitzer Angst hatte, war er kein Feigling; er sah den Dingen ins Auge. Er hatte Konradi, seinen Untergebenen, in sein Büro bestellt.

Der sanft lächelnde, pausbäckige Mann saß Schweitzer gegenüber und musterte ihn eindringlich aus seinen großen, blassblauen Augen. Sein helles Haar war an den Seiten und im Nacken kurz geschnitten, und das Fleisch seines Genicks lag über dem Kragen.

Schweitzer fragte direkt: »Was war in Berlin los?«

Konradi sah erstaunt auf und spreizte die Finger in offensichtlicher Bestürzung.

»Sie haben sich verändert«, sagte Schweitzer kühn.

»Ein Mann braucht sich äußerlich nicht zu verändern, um doch anders zu werden. Sie sind nicht mehr derselbe Mann, den ich nach Berlin schickte, Konradi. Was ist passiert?«

Die blassblauen Augen zwinkerten nervös, und um die Lippen spielte ein leises Lächeln. Er senkte den Blick und betrachtete seine Hände.

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich bin Konradi. Sie kennen mich doch?«

Schweitzer starrte eine Weile seinen Untergebenen an, dann seufzte er: »In Ordnung, Konradi, vergessen wir es!« Er klopfte mit den Fingerspitzen auf ein paar Papierbogen, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen.

»Das ist Ihr Bericht über Schneider«, sagte er. »Es ist ein guter Bericht. Sie haben hart gearbeitet, um diese Informationen zu bekommen. Ich frage mich aber, wie es möglich ist, in so kurzer Zeit so viel über irgendjemanden herauszubekommen. Ich glaube, Konradi, ich muss Ihnen über diesen Report einige Fragen stellen. Kommen Sie doch zu mir, damit wir den Bericht gemeinsam durchgehen können.«

Der lange Zeigefinger Schweitzers lief von Zeile zu Zeile des maschinengeschriebenen Berichtes, während Konradi über seine Schultern mitlas.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Schweitzer und wies stirnrunzelnd auf eine Passage. »Wie konnten Sie etwas von dieser Unterhaltung wissen? Sie müssen übermenschliche Kräfte haben!«

»Sie fand statt«, sagte Konradi ruhig. Ein seltsamer Schimmer lag in seinen blauen Augen, aber als Schweitzer aufsah, war nichts davon zu sehen.

»Erklären Sie es, Konradi«, befahl Schweitzer. Seine Stimme war schärf.

»Natürlich«, sagte Konradi beflissen. »Würden Sie das hier bitte lesen!« Er wies mit einem Zeigefinger auf einen Absatz, und als Schweitzer las, näherte Konradi seine linke Hand dem Rücken seines Vorgesetzten.

Die Finger der plumpen Hand glichen Schweinewürstchen. Aber plötzlich krümmten sich die Finger und lagen wie die Klauen eines Adlers auf Schweitzers Genick. Die Finger drückten zu, und Schweitzer erstarrte; er öffnete den Mund zu einem letzten Schrei, und dann schienen sich seine Lippen bis zum Zahnfleisch zurückzuziehen.

Erst nach ein paar Sekunden lockerte Konradi seinen Griff, und Schweitzer fiel wie eine Puppe auf seinen Schreibtisch, die eine Hand riss das Tintenfass um, und seine linke Wange lag auf dem Löschpapier. Über das Papier floss die Tinte, bis sie seine Wange erreichte. Sie breitete sich aus und lief über die bläulichen Lippen. Schweitzer war tot.

Konradi hob die schlaffe Hand hoch, nahm den maschinengeschriebenen Bericht an sich und ging aus dem Zimmer; leise schloss er die Tür hinter sich.

Eine Stunde später wurde Konradi in das Zimmer des Majors befohlen. Der Major war ein weißhaariger Mann, der mehr aus Tradition und Gewohnheit auf seinem Posten geblieben war als durch das Wohlwollen des neuen Regimes.

»Konradi«, sagte Major Heinrich kurz, »Sie wissen wohl, was passiert ist?«

Konradi sagte: »Ja, Herr Major.« Sein Blick hatte sich nicht verändert. »Herr Schweitzer starb plötzlich in seinem Büro.«

»Es ist ein schwerer Schlag für uns.«

»Ja, Herr Major.«

»Schweitzer war ein guter Mann.«

»Das war er wirklich, Herr Major.«

»Ein sehr verständnisvoller und sympathischer Mann!«

»Ja, Herr Major.«

»Er war noch einer aus der alten Schule... von früher...«

»Ja, Herr Major.«

Der Major sah seinen Untergebenen an. »Sie haben immer gute Dienste für die Abteilung geleistet, Konradi. Sie sind gehorsam, untergeben, und Sie haben in Berlin Ihre Pflichten treu und loyal erfüllt.«

»Besten Dank, Herr Major.«

»Ich nehme an, Sie wissen, was ich sagen will, Konradi.«

»Ich hoffe, Herr Major.«

»Herr Schweitzer ist tot. Er war ein guter Mann, aber irgendjemand muss ihn ersetzen.«

Konradi stand auf, und sein dickes Gesicht glich einem Cherubin. »Sie können mit mir rechnen, Herr Major Heinrich. Ich werde Ihnen stets zu Diensten sein.«

Der Major gab einen Seufzer der Erleichterung von sich. »Das ist es, was ich erwartete«, sagte er offen. Er schwieg, holte tief Luft und fügte dann im amtlichen Ton hinzu: »Herr Konradi, im Namen der DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK ernenne ich Sie zum Leiter der Geheimpolizei in meinem Befehlsbereich.«

»Herr Major, ich danke Ihnen für die große Ehre. Ich versichere Ihnen, dass ich meinem Lande nach besten Kräften dienen werde.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

In dem Augenblick, als Major Heinrich von der DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK Konradi zum Abteilungsleiter beförderte, erwachte ein junger Mann namens Kenn Sparten irgendwo in England.

Er erwachte ziemlich plötzlich. Einen Augenblick war nichts, aber im nächsten Augenblick war er hellwach, er lag auf dem Rücken und starrte gegen eine weiße Decke. Aber sein Gehirn schien noch nicht zu arbeiten, und es dauerte eine gewisse Zeit, bis er verstand, dass er bei Bewusstsein war. Seine Gedanken liefen kreuz und quer, und er kam sich wie ein Blinder vor, der durch ein Zimmer gehen wollte, in dem er niemals gewesen war.

Wo war er?

Was war das für ein Ort? Ganz langsam erkannte er seine Umgebung.

Da war zuerst die weiße Decke. Dann, darunter, die weißen Wände. Und dann die weiße Bettdecke, die er sah, als er den Kopf mühsam ein wenig hob.

Ein Krankenhaus?

Hatte er einen Unfall gehabt?

Die Anstrengung des Denkens ermüdete ihn. Er schloss die Augen, und plötzlich erinnerte er sich daran, dass sein Name Kenn Sparten und dass er ein Leichtathlet war, ein Langstreckenläufer. Und dann? Was weiter? Er versuchte, sich zu konzentrieren, aber alles, was ihm einfiel, war eine Straße am frühen Morgen, nass vom Tau, und er sah sich selbst die Straße entlanglaufen, seine Laufschuhe schlugen laut auf den Asphalt, sein Trikot und seine Laufhose waren schweißnass, und seine Wadenmuskeln und die Mus- kein an seinen Oberschenkeln begannen zu schmerzen, es war wie immer, wenn der tote Punkt kam.

Wie lange war das her? Ihm schien nur eine kurze Zeit vergangen zu sein. Was hatte sich dann ereignet?

Versuch, dich zu erinnern, Kenn!

Er lief auf einer breiten Straße... sie stieg ein wenig an... zu beiden Seiten der Straße waren hohe Bäume... Vögel sangen... und das feuchte, frisch gemähte Gras roch gut...

Er sah alles kristallklar vor sich. Er konnte noch die Vögel singen hören, er roch noch feuchte Erde und seinen Schweiß, er glaubte, noch das Rauschen seines Blutes zu vernehmen.

Und dann...! Und dann - nichts! 

Nur eine weiße Decke und weiße Wände.

Er öffnete die Augen und versuchte, in sich aufzunehmen, was er sah.

Aber außer dem Bett, auf dem er lag, war nichts in diesem Zimmer. Ein dickes Band, oder was es war, fesselte ihn so fest auf das Bett, dass er nur mühsam den Kopf und den Hals heben konnte, um zu sehen, wo er war.

Sein rechtes Bein schmerzte. Aber als er versuchte, sein Bein zu bewegen, merkte er, dass es ebenfalls gefesselt war. Er konnte die Hände bis zu seinem Gesicht heben, aber er konnte sie nicht weiter bis zu seiner Taille am Körper hinunterbewegen.

Nach einer Weile wurde er ärgerlich; die Stille ärgerte ihn! Er begann zu schreien. Er schrie laut und lange, aber niemand hörte ihn. Er fragte sich verzweifelt, ob das wirklich ein Krankenhaus war oder nicht, als er erleichtert hörte, dass jemand die Türklinke herunterdrückte und dass die Tür geöffnet wurde. Eine Krankenschwester kam in sein Blickfeld.

Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Es war ein Krankenhaus. Dann starrte er die Krankenschwester an, die eine seltsame, weiße Uniform trug. Ihre pechschwarze Haut schien sie noch weißer zu machen. Er hatte niemals zuvor so weiße Kleider und eine so vollkommen schwarze Flaut gesehen.

Und hatte niemals zuvor ein so schönes Mädchen wie diese Krankenschwester gesehen. Aber ihr schönes Gesicht war seltsam unbewegt, als sie sich über ihn beugte, um das Bett geradezuziehen. Ihre schokoladenbraunen Augen waren absolut ausdruckslos, sie schienen nicht mal seinen Blick zu bemerken.

»Was ist los?«, fragte er. »Was für ein Krankenhaus ist das?«

Sie schien seine Worte gar nicht zu hören. Es schien, als sei sie taub. Aber er wusste, dass sie es nicht sein konnte, denn sie war ja auf sein Schreien hin gekommen. Und so fragte er sie laut und eindringlich: »Schwester, wo bin ich? Was ist passiert? Wie bin ich hierhergekommen?«

Sie ignorierte ihn, bückte sich und verschwand augenblicklich aus seinem Gesichtsfeld und tauchte erst nach wenigen Augenblicken wieder auf. Eine Plastikröhre wurde zwischen seine Lippen gesteckt, und eine warme, gutschmeckende Flüssigkeit floss in seinen Mund. Er schluckte automatisch wie ein Baby, das die Flasche bekam.

Die Krankenschwester beobachtete, wie er trank, und nahm dann die Röhre weg. Er konnte dann sehen, dass sie sich umdrehte, um das Zimmer zu verlassen. Verzweifelt streckte er seine Hand aus und ergriff sie am Handgelenk.

»Bitte!«, flehte er. »Sagen Sie mir, was los ist! Ich muss wissen...«

Er war schwächer, als er gedacht hatte, denn, obwohl er mit aller Kraft ihre zarten Handgelenke gepackt hatte, hatte sie nicht die geringste Schwierigkeit, wieder freizukommen.

»Machen Sie meine Hände los«, bat er. »Sie sind gefesselt oder festgebunden. Und mein Bein schmerzt mich wie die Hölle - es macht mich verrückt...«

Er spürte, dass sie irgendetwas tat, aber schon war sie wieder aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Er hörte, dass die Tür geöffnet und geschlossen wurde. Verwirrt legte er sich zurück, Schweiß auf der Stirn. Er hoffte verzweifelt, dass alles nur ein schlechter Traum sei.

Doch obwohl über allem ein Hauch von Unwirklichkeit lag, obgleich er sich nicht konzentrieren konnte, hatte er die feste Überzeugung, dass alles wirklich geschah.

Die gutschmeckende Flüssigkeit hatte ihn beruhigt. Sie hatte ihn sogar etwas schläfrig gemacht. Und so nahm er ohne Freude wahr, dass seine Hände frei waren. Er streckte die Hände nach unten, um sich am rechten Bein zu kratzen.

Er versuchte, sich am rechten Bein zu kratzen.

Aber das rechte Bein war nicht mehr da! Natürlich war das Unsinn, stellte er schläfrig fest. Er schlug die Bettdecke zurück und schob sie zur Seite, er drückte mit großer Anstrengung sein Kinn auf die Brust und beugte den Hals nach vorn, so dass er an seinem Körper entlang nach unten sehen konnte.

Er sah sein linkes Bein: Es war glatt, muskulös und braungebrannt.

Aber er hatte nur ein Bein! Und es war ihm, als hätte er nie mehr als ein Bein gehabt. Seine tastende Hand sagte ihm, dass sein rechtes Bein nicht mehr da war. Es war sauber aus der Hüfte herausgetrennt worden; und als er über das Fleisch seiner Hüfte strich, dort, wo das Bein einmal gewesen war, war alles ausgezeichnet verheilt, er spürte nicht einmal eine Narbe.

Er war zu schläfrig, um erschreckt oder verstört zu sein. Es war alles ein Alptraum - und bald würde er ganz wach sein. Nur ein Alptraum konnte so unlogisch sein. Er musste seit langem im Krankenhaus liegen - seit langer Zeit, denn ein Heilprozess bei einer solchen Amputation dauerte sehr lange.

Seine Augenlider begannen zu flattern, als der Schlaf wieder nach ihm griff. Aber selbst als er schlief, störte das ständige Jucken an seinem nicht existierenden Bein seinen Schlummer.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Harold Lake war neunzehn Jahre alt; er ging gern zu Fuß nach Hause, wenn er abends aus dem Kino kam. Als er den Kirchturm von Clapham Common erreichte, war es zehn Minuten vor elf. Und da er auf der anderen Seite neben der Gemeindewiese wohnte, beschloss er, sie zu überqueren und nicht die Straße zu benutzen, die um die Wiese bis zu seiner Wohnung verlief. Das Gras war weich, von vielen Füßen heruntergetreten, und er war überrascht, wie schnell ihn die Dunkelheit verschluckte, und wie schnell sich die Straßenlampen hinter ihm zu immer kleiner werdenden Lichtflecken verwandelten.

Da er in der Nähe der Gemeindewiese wohnte, glaubte er, sie gut zu kennen, aber in einer so dunklen Nacht war es leicht, vom Weg abzukommen. Plötzlich war er in den Büschen, die man vor die hohen Bäume gepflanzt hatte, und versuchte, wieder seinen Weg zu finden.

Da stieß er gegen irgendetwas Weiches, Nachgebendes und fiel hin. Unwillkürlich streckte er die Handflächen aus und spürte, dass er sich an den scharfen Kieselsteinen verletzte.

Er stand auf und wischte sich die schmutzigen Handflächen mit seinem Taschentuch ab und versuchte, in der Dunkelheit den Gegenstand zu erkennen, über den er gestrauchelt war.

Er tastete vorsichtig mit seinem Fuß danach und entdeckte, dass es irgendein Sack war. Vielleicht war es Abfall, vielleicht war es auch ein toter Hund.

Er rauchte nicht, aber es fiel ihm ein, dass er ein Streichholz als Zahnstocher benutzt hatte, und er suchte so lange in seinen Taschen, bis er es fand. Er strich es an seiner Schuhsohle an, und aus dem Zischen entwickelte sich eine helle, gelbe Flamme.

Er hielt das brennende Streichholz über den Kopf und starrte auf den sackähnlichen Gegenstand.

Dann ließ Harold Lake das Streichholz fallen und rannte davon, so schnell er konnte, während er laut schrie.

 

Detective Chief-Superintendent Keene war in Scotland Yard, als der Anruf aus Clapham kam. In dieser Nacht war wenig Verkehr auf der Straße, und ein schneller Polizeiwagen brachte ihn innerhalb von zwanzig Minuten in die kleine Gemeinde.

Die lokale Polizei hatte bereits das Gebiet abgesperrt und Scheinwerfer aufgestellt. »Wir haben nichts verändert, Superintendent«, versicherte ihm der Polizeiinspektor.

Detective Chief-Superintendent Keene nickte, während seine grauen Augen die Szene betrachteten, die im hellen Licht der starken Scheinwerfer lag.

Das Mädchen war ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt und lag auf dem Rücken, ihre Beine waren gespreizt und ihre Kleider zerrissen. Und die Kleider und das weiße Fleisch waren mit Blut bespritzt. Es war ein hübsches Mädchen - es war eines gewesen. Keenes Augen verengten sich, als er auf die klaffende Wunde an ihrer Kehle starrte. Der Hieb musste mit solcher Kraft und Wildheit ausgeführt worden sein, dass er ihren Kopf fast von ihrem Körper getrennt hatte; er hatte die Halsschlagader durchschnitten, Blut musste sich wie eine Fontäne ergossen haben; ein glänzender, dunkelroter Fleck war auf dem schwarzen Boden.

Der Superintendent seufzte tief auf. Dann winkte er seinen Leuten zu. »In Ordnung. Arbeiten Sie so schnell wie möglich. Es könnte regnen.« Er wandte sich an den Inspektor. »Wer hat sie gefunden?«

Der Inspektor wies mit dem Kinn auf irgendeine Straße. »Ein junger Mann auf seinem Heimweg. Er ist da drüben in einem der Polizeiwagen. Es scheint so, als sei er in der Dunkelheit darüber gestolpert und mächtig erschrocken.« Er fügte hinzu: »Ich bin nicht überrascht.«

»Wir wollen mit ihm sprechen«, sagte Keene, und die beiden Männer gingen zu dem Wagen hinüber, in dem Harold Lake wartete.

 

Zwei Stunden später brachte man die Leiche weg. In der Zwischenzeit hatten scharfäugige Detektive nach Fingerabdrücken gesucht, waren Dutzende von Blitzlichtaufnahmen gemacht worden, hatte man das Pflaster nach Fußabdrücken untersucht und die genaue Lage der Leiche festgestellt. Die Arbeit wurde ruhig und augenscheinlich von erfahrenen Männern getan, während uniformierte Polizisten Mühe hatten, die Neugierigen von dem abgesperrten Gebiet fernzuhalten. Mit dem beginnenden Morgenlicht und dann den ganzen Tag hindurch, würden Dutzende Polizisten das ganze Gebiet nach Spuren absuchen.

Detective Chief-Superintendent Keene saß hinter dem Schreibtisch eines lokalen Polizeireviers und untersuchte die billige, kunstlederne Handtasche, die man neben dem Mädchen gefunden hatte. Eine Geldbörse fand er, eine Zehn-Shilling-Banknote, etwas Kleingeld und ein Rückfahrt-Billett von Crawden. Er fand einen Kamm, ein kleines Parfümfläschchen, ein gebrauchtes Taschentuch, einen Lippenstift, eine Nagelfeile und verschiedene andere unwichtige Dinge. Was ihn am meisten interessierte, war eine Postkarte von Southend, und am Poststempel sah er, dass sie vor einigen Tagen aufgegeben worden war. Er las: »Möchtest du nicht lieber auch hier sein? Verbringen eine wunderbare Zeit. Herzlichst, Mabel.«

Die Postkarte war an Miss Jean Dexter in Crossways, Harper's Lane, Crawden, adressiert.

Keene fragte: »Wie weit ist Crawden entfernt?«

Ein uniformierter Polizist sah auf einer Karte nach. »Es ist in Sussex, Sir«, sagte er. »Zweiundvierzig Meilen.«

Keene erhob sich. »Gehen wir«, sagte er müde. Er rieb mit den Knöcheln seine geröteten Augen.

Sergeant Cradley, sein Assistent, hatte einen Telefonanruf erledigt. Nun legte er auf und kam zu dem Superintendenten, und er hatte einen etwas mürrischen Zug auf seinem jungen, frischen Gesicht.

»Was ist los?«, fragte Keene scharf.

»Es ist Sir Wardley-Jordan, Sir. Er ist krank. Er hat Fieber, und Lady Wardley-Jordan sagt, er müsse für einige Tage im Bett bleiben...«

»Dann sehen Sie sich nach jemand anderem um«, zischte Keene. »Wir können es uns nicht leisten, Zeit zu verschwenden - bei einem solchen Fall zählt jede Minute. Ich will sofort eine Autopsie haben.«

»Aber Sir Wardley-Jordan ist unser offizieller Pathologe, und wenn...«

»Ich kümmere mich nicht darum, wer die Autopsie macht, die Hauptsache ist, dass sie gemacht wird«, sagte Keene kurz angebunden. Er ging zur Tür und sagte über die Schulter zurück: »Ich will den Bericht unverzüglich haben... verstehen Sie? Mann, nun machen Sie mal endlich los!«

Die Bemerkung traf Sergeant Cradley, denn er war ein gewissenhafter Mann. Er biss sich auf die Lippe, dann dachte er ein paar Minuten nach. Schließlich griff er nach dem Telefon. Ein paar Augenblicke später sprach er mit Sir Thomas Beding.

 

Sir Thomas Betling war gerade mit seiner Tochter Vicky und ihrem Verlobten, David Pine, einem Arzt, aus der Covent Garden Opera zurückgekehrt.

David hatte unter Sir Thomas studiert, und er hatte einen großen Respekt vor dem älteren Mann. Beide hatten sich immer schon gemocht, und die guten Beziehungen waren stärker geworden, als David sich mit Sir Thomas' Tochter verlobt hatte.

David war auf einen Gute-Nacht-Drink eingeladen worden, und während der Butler die Gläser über einer Spiritusflamme erwärmte und den Brandy einfüllte, läutete das Telefon. Es war Sergeant Cradley.

Sir Thomas unterhielt sich einen Augenblick lang, dann legte er den Hörer auf. Er wandte sich mit einem schiefen Lächeln an David.

»Die erhöhte Temperatur unseres guten Freundes Wardley-Jordan kostet mich meine Nachtruhe«, sagte er. Er fuhr mit den Fingern durch sein weißes Haar. »Scotland Yard braucht dringend einen Autopsie-Befund. Ein Mädchen ist ermordet worden...«

Vicky schauderte.

»Wie schrecklich. Heute Abend?«

Er nickte. »Ich versprach Wardley-Jordan, dass ich die Stellung für ihn halten würde. Nun muss ich gehen.«

David sagte: »Sie werden einen Assistenten benötigen...«

Sir Thomas lächelte. »Mein lieber Junge, ich denke nicht im Traum daran, dich in diese Sache mit hineinzuziehen. Ich werde jemanden kommenlassen, der Dienst hat.«

»Nein, lassen Sie mich das machen. Ich wäre froh, wenn ich Ihnen helfen könnte«, sagte der junge Mann bescheiden.

Sir Thomas zuckte mit den Schultern. »Sehr gut. Du kannst uns hinfahren, dann brauchen wir den Chauffeur nicht schon wieder aus dem Bett zu holen...«

Er läutete, und als der Butler eintrat, sagte er: »Ich muss noch einmal weg, Charles, würden Sie mir bitte meinen Instrumentenkoffer aus der Praxis holen?«

»Sicher«, sagte der Mann und ging hinaus.

Vicky wandte sich zur Tür. »Ich werde eine Thermosflasche mit Kaffee füllen«, sagte sie. »Wahrscheinlich werdet ihr später etwas Warmes nötig haben.«

Als sie gegangen war, wandte sich Sir Thomas an David. Er schaute mit gerunzelter Stirn in sein Brandy-Glas und sagte ruhig: »Es ist ein lausiger Job, David. Man vermutet eine Vergewaltigung. Jemand hat dem Mädchen den Hals durchgeschnitten - der Sergeant sagt, dass der Kopf fast vom Körper getrennt ist.«

»Wieder so ein verdammter Sexualverbrecher?«

»Es sieht so aus. Je länger man lebt, desto verzweifelter wird man über die Menschheit. Manchmal erscheint einem das Ausmaß menschlicher Brutalität unfassbar.«

David sah ihn nachdenklich an. »Sie müssen in Ihrem Leben eine ganze Menge grauenhafter Dinge gesehen haben, nicht wahr, Sir?«

»In der Tat, das habe ich«, sagte Sir Thomas grimmig. »Es gab eine Zeit, als die Schlagzeilen in den Zeitungen immer und immer wieder Morde verkündeten. Erinnerst du dich an Jack the Ripper und die schrecklichen Dinge, die er tat? Er hatte einen Greuel gegen Prostituierte und tötete sie auf eine geradezu unglaubliche Weise. Sogar heutzutage, in diesen aufgeklärten Zeiten, sind immer noch Ungeheuer unter uns, die Jack the Ripper in den Schatten stellen; der einzige Unterschied ist, dass Jack the Ripper noch ein ungeheures Aufsehen erregte, während heutzutage Morde ja fast alltäglich sind. Sogar eine Sache wie die heutige wird höchstens einen Tag lang Gesprächsthema für die britische Öffentlichkeit sein.«

Charles kam mit Sir Thomas' Koffer zurück, und die beiden Männer leerten ihre Gläser. Dann kam Vicky aus der Küche und schraubte den Deckel auf eine Thermosflasche. Sie sah betrübt aus, als sie sie ihrem Vater gab.

Es wird nicht zu spät werden, nicht wahr?«, fragte sie.

»Ich will mir alle Mühe geben«, sagte er, aber seine Worte klangen nicht gerade überzeugend. Aus dem, was Sergeant Cradley ihm am Telefon gesagt hatte, schloss er, dass es eine der schmutzigsten Affären sein würde, die ihm jemals untergekommen war.

 

Das Licht aus den mächtigen Scheinwerfern des Polizeiautos glitt über die offenen Tore und über den Namen Crossways und erhellte dann den Kiesweg. Der Motor summte leise, Kies knirschte unter den Reifen und flog ratternd gegen die Schutzbleche, als der Wagen den gewundenen Weg hinauffuhr und schließlich auf einem Parkplatz anhielt.

Das große Haus war in georgianischem Stil erbaut und hatte eine breite, mit Geländer versehene Terrasse. Große Säulen waren über den Eingangstüren, umgeben von Efeu, das sich bis zum zweiten Stock hinaufwand. Nirgendwo war ein Lichtschimmer, aber Detective Chief-Superintendent Keene gab nicht auf. Er winkte mit dem Kopf den Männern zu, ihm zu folgen, überquerte die Terrasse, bis er an die große Tür kam, und drückte seinen Daumen fest auf den Klingelknopf.

Sie warteten in der Dunkelheit unter den Säulen und hörten den lauten Ton der Klingel, der die Stille der Nacht und die Ruhe des Hauses unterbrach.

Immer wieder drückte Keene auf den Klingelknopf, bis man plötzlich Geräusche in dem aufgeschreckten Haus vernahm. Lichter flammten auf, irgendwo wurde eine Tür geöffnet, schlurfende Schritte näherten sich. Riegel wurden zurückgezogen und die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Stephen Frances/W. Howard Baker/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx/123rf.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: N. N. (OT: The Disoriented Man).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 25.05.2020
ISBN: 978-3-7487-4306-4

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