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Leseprobe

 

 

 

 

GEORGE H. COXE

 

 

Das Zimmer

im ersten Stock

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 91

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DAS ZIMMER IM ERSTEN STOCK 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

Wo nahe des Städtchens Surrey der Connecticut River in den Atlantik mündet, leitet Donald MacLaren eine kleine Bootswerft. Das einst friedliche Leben ist turbulenter geworden, seit der reiche Lebemann Oliver Kingsley zwar auf einer Insel im Fluss, aber dennoch in der Nachbarschaft ein Haus gemietet hat und an den Wochenenden dort Hof hält. Seine Angestellten und Freunde sind auch seine Untertanen; Widerspruch erträgt Kingsley nicht, und er liebt es, seine Mitmenschen zu tyrannisieren.

Außer Kingsley und Ackerman sind derzeit Harry Danaher – der Kingsleys Jacht führt –, die Sekretärin Carla Lewis, der Maler Earl Harwell und das Mannequin Lucille Baron zu Gast in Kingsleys Haus. Im ersten Stock des Hauses hält Kingsley außerdem Ruth, seine dritte Gattin, gefangen, nachdem auch sie die Nase voll von ihm hat. In einer Nacht kann Ruth flüchten. Sie bittet MacLaren um Hilfe, der ihr ritterlich beispringt und sich deshalb mit Kingsley schlagen muss, der seiner Frau wütend gefolgt ist. MacLaren wirft seinen Gegner in den Fluss. Am nächsten Morgen ist Ruth verschwunden, und Kingsleys Leiche wird geborgen...

 

Der Roman Das Zimmer im ersten Stock von George H. Coxe (* 23. April 1901 in Olean/New York; † 31. Januar 1984 in Old Lyme/Connecticut) erschien erstmals im Jahr 1959; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DAS ZIMMER IM ERSTEN STOCK

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Die Bootswerft MacLaren erhob sich an einem Ufer der schmalen, unter der Einwirkung der Gezeiten stehenden Bucht, die nahe der Mündung des Connecticut River ins Land einschnitt. Gegenüber lag eine kleine Insel, doch hier, entlang des befestigten Ufers, ständen die beiden geräumigen Bootsschuppen mit ihren Rollen und Slips, der mächtige Kran, das Ausrüstungsdock und die Werkstätten. Auf der rechten Seite, zum Fluss hin, befanden sich die Bootsstege und Anlegeplätze, die im Augenblick, bis auf vier, alle belegt waren.

Der Frühling hatte viel Arbeit gebracht, doch jetzt, da es auf den Juni zuging, stand einer der Bootsschuppen ganz leer, und im anderen lagen nur noch drei Kajütboote, von denen zwei in der folgenden Woche vom Stapel gelassen werden sollten.

Es war schon spät am Nachmittag, und Donald MacLaren legte eine kleine Arbeitspause ein, um sich eine Flasche Limonade aus dem Automaten zu holen, der auf dem Werftgebäude vor dem altertümlichen Fachwerkbau stand; letzterer diente ihm zugleich als Büro, Ausstellungsraum und Sommerquartier.

Stromaufwärts lagen ein Kutter und eine Jolle in der Ausrüstungswerft vor Anker, und MacLaren beobachtete zerstreut, wie der Kran ausschwenkte und der Großmast der Jolle einen Augenblick lang leise hin und her schaukelte, bevor er sich sanft in die Spur senkte. Als die Arbeiter anfingen, die Stütztaue festzuzurren, wurde seine Aufmerksamkeit durch ein sich näherndes Motorengeräusch abgelenkt, und er drehte sich um. Eine Motorjacht war vom Fluss in die Bucht eingelaufen und setzte gerade zum Wenden an. Die Fahrrinne zwischen dem Hauptdock und der Insel war jedoch nur etwa fünfzig Meter breit, und der Mann am Ruder war offensichtlich kein Experte. Er setzte mit der Wendung viel zu dicht am Ufer an, sah dann, dass er nicht herumkommen würde, und drehte gerade noch rechtzeitig bei, um ein Auflaufen zu vermeiden. Gereizte Flüche schallten über das Wasser, dann tauchte ein zweiter Mann aus der Kajüte auf und kam hastig nach vorn gelaufen, um ein Tau aufzurollen, das schon längst hätte aufgerollt werden müssen.

Larry Keats, der Oberschüler, der in seiner Freizeit auf der Werft mitarbeitete, erschien hinter MacLaren in der Tür.

»Junge, Junge«, meinte er. »Das ist aber eine alte Kiste.«

»Kann man wohl sagen«, entgegnete MacLaren. »Du gehst denen wohl am besten ein bisschen zur Hand.«

Die Jacht war etwa zehn Meter lang und machte mit ihrem schmalen, schwarzgeteerten Rumpf und der Kajüte, die ihrem Aussehen nach starke Ähnlichkeit mit einer Zigarrenkiste hatte, einen tollpatschigen Eindruck. Sie hatten keinen Jachtclubwimpel gesetzt, und um den heruntergekommenen Eindruck zu vervollständigen, war überall der Lack abgesplittert, die Metallteile waren verrostet, und der Rumpfanstrich wies frische Kratzer auf.

»He, Sie!«

Der Mann an Deck warf das Tau herüber, Larry legte es um einen Poller, und der Mann fing an, beizudrehen. Die Heckschraube wirbelte das Wasser auf, dann erschien der Rudergänger mit einem Bootshaken und brüllte seinem Maat ein paar Anweisungen zu. MacLaren stellte seine leere Flasche auf den Boden und trat näher, wobei er bemerkte, dass der Mann im Bug auch der Kleidung nach eine echte Landratte war.

Er war groß und breit, hatte schwarzes, gekräuseltes Haar und grobe Gesichtszüge. Er trug eine blaue Kammgarnhose und schwarze Schuhe mit Ledersohlen, die auf das Pflaster einer Großstadt, nicht aber auf ein Schiffsdeck gehörten. Sein Begleiter, der inzwischen den Bootshaken weggelegt hatte und jetzt mit Larry zusammen die Jacht achtern vertäute, war ein kleiner, drahtiger Mann unbestimmbaren Alters. Seine Kleidung, Khakihose, Sweater und Segeltuchschuhe, entsprach schon eher den Gegebenheiten an Bord eines Schiffes; er war nahezu kahlköpfig, hatte flinke, wachsame Augen, doch sein hervorstechendstes Merkmal war eine raue, krächzende Stimme, die auf eine chronische Stimmbanderkrankung hinzudeuten schien.

»Wir werden ungefähr siebzig Liter brauchen«, sagte er zu Larry, während er den Metalldeckel des Treibstofftanks aufschraubte. »Haben Sie Eis?«, setzte er mit einem Blick auf das kleine Kühlhaus hinzu, das in einer Ecke der Werft stand und gerade im Ausbau begriffen war. »Für Sie genügend«, entgegnete MacLaren.

»Nick! Hol uns einen Block, ja? Du weißt ja, wieviel wir ungefähr brauchen... Haben Sie einen Liegeplatz für uns?«, fügte er, zu MacLaren gewandt, hinzu.

»Leider nicht.«

Der kleine Mann antwortete nicht sofort, sondern gab Larry den Füllstutzen zurück und schraubte den Deckel wieder zu. Dann stieg er auf die Kaimauer, zog seine Hose hoch und warf einen flüchtigen Blick auf die Reihe von Anlegeplätzen, die sich bis zum Fluss hinunter erstreckte. Seine kleinen Augen glitten zu MacLaren zurück, und er legte den Kopf schräg.

»Da sind aber doch freie Plätze.«

»Drei davon brauche ich für Boote, die in den nächsten Tagen fertig werden. Der vierte ist für einen Kunden reserviert, der am Montag hereinkommt.«

»Heute ist Mittwoch. Wir wollen spätestens am Samstag wieder auslaufen.« Als ob damit die Angelegenheit erledigt sei, fragte er dann: »Was macht es pro Tag?«

MacLaren unterdrückte ein Lächeln. Die ganze Geschichte machte ihm Spaß, und vor allem amüsiert« ihn der selbstbewusste kleine Mann, der hier so offenkundig nicht in seinem Element war, es aber nicht zugeben wollte. Dann, da wirklich kein Grund vorlag, warum er den Anlegeplatz nicht vermieten sollte, nickte er zustimmend.

»Eins fünfzig. Einschließlich Trinkwasser und Strom, falls Sie sich an die Leitung anschließen wollen.«

Der Kleine zog ein paar zerknitterte Banknoten aus der Tasche und reichte MacLaren einen Fünfdollarschein. »Für drei Tage«, erklärte er. »Die Rechnung für Treibstoff und Eis erledigt Nick.«

Nick war bereits dabei, als der Kleine an Bord sprang. »Okay«, sagte er. »Leinen los.«

»Wo fahren wir hin?«, fragte Nick.

»Ich will auf einem dieser Anlegeplätze festmachen.«

Nick warf seinem Begleiter einen forschenden Blick zu. »So, so - du und wer noch?«

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte es in den Augen des Kleinen belustigt auf. Er grinste MacLaren an, richtete seine nächsten Worte jedoch an seinen Begleiter.

»Die beiden werden uns helfen. Na los, mach schon!«

MacLaren blinzelte Larry zu, und sie schritten nebeneinander an dem Ausstellungsraum vorbei, umgingen das Schwimmdock, das sich mit dem Steigen und Fallen der Flut hob und senkte, und schlenderten dann die Kaimauer entlang bis zu dem ersten freien Anlegeplatz. Bis sie auf den Steg hinausgetreten waren, liefen die Maschinen der Jacht bereits mit voller Kraft zurück, und die Beschriftung auf dem Hintersteven wurde sichtbar. Annabelle III las MacLaren, bevor er merkte, dass das vergessene Beiboot in Gefahr war, gegen die Uferpfähle gequetscht zu werden.

Er hielt die Hände trichterförmig an den Mund und schrie den beiden an Bord eine Warnung zu. Der kleine Schiffer fing nun seinerseits an zu brüllen, und Nick hastete nach achtern, wobei er sich krampfhaft an der Reling festhielt. Er beugte sich hinunter, um das Beiboot loszumachen, bekam endlich das Bootstau zu fassen und rannte damit nach vorn. Irgendwie gelang es ihm, das Tau am Bug an einer Klampe festzumachen, dann eilte er wieder nach achtern, um die Leine ans Ufer zu werfen. Ungeschickt, aber ohne größere Sachbeschädigung wurde die Jacht an ihren Liegeplatz manövriert. MacLaren überließ es Larry, sie fachgerecht zu vertäuen, und ging zum Hauptdock zurück. In diesem Augenblick bog ein schwarzer Mercedes um die Ecke und hielt vor dem Haus an.

Der Wagen gehörte Oliver Kingsley, dem Besitzer des Hauses auf der gegenüberliegenden Insel. Neben ihm saß eine blonde Frau, die MacLaren noch nie gesehen hatte. Auf der anderen Seite stieg eben Neil Ackerman, Kingsleys Anwalt, aus dem Wagen und drückte mit dem Daumen auf einen Klingelknopf an MacLarens Büro.

Als Kingsley vor einem Jahr das Haus auf der Insel gekauft und umgebaut hatte, ließ er. drüben eine kleine künstliche Bucht anlegen und einen Steg bauen, um einen Anlegeplatz für seine 15 m lange Jacht zu gewinnen. Gleichzeitig hatte er MacLaren um Erlaubnis gebeten, ein Unterwasserkabel legen zu dürfen, das auf der Insel an zwei Klingeln angeschlossen war, eine davon am Steg, für den Fall, dass Harry Danaher, sein Bootsführer, gerade auf der Jacht beschäftigt war, die andere im Salon. Als nun Kingsley und seine blonde Begleiterin ausstiegen, sah MacLaren, wie Danaher drüben aus der Haustür trat und über die flache Insel zum Ufer hinunterging.     

Kingsley und Ackerman begrüßten ihn. Als MacLaren ihren Gruß erwiderte, blickte die blonde Frau zu ihm hin, und er konnte, sie genau betrachten. Sie war hochgewachsen, geschmeidig und wirkte in ihrem enganliegenden Reisekostüm und der Nerzstola auffallend elegant. Sie musterte ihn mit unverhülltem Interesse, ohne dabei aufdringlich oder frech zu erscheinen, und obwohl sie für MacLarens Geschmack zu schlank war, sah er doch, dass die Art, wie sie Lippenstift und Lidschatten aufgetragen hatte, und der Schnitt ihres kurzen Haares in gewissem Sinn ein Höchstmaß an Vollendung darstellten. Mit einem Wort, sie machte den Eindruck einer verwöhnten, anspruchsvollen Frau, doch das war nicht weiter verwunderlich, wenn man Charakter und Vermögenslage ihres Gastgebers in Betracht zog.

Ackerman, ein schlanker, eleganter Mann Ende der Dreißig, hatte offenbar ihren Blickwechsel bemerkt und stellte MacLaren das Mädchen als Lucille Baron vor, ehe er einen Hutkoffer und ein kleines Reiseköfferchen der gleichen Farbe und von gleichem Leder aus dem Wagen hob. Kingsley trat neben Lucille, während Danaher mit einem Boot vom gegenüberliegenden Ufer ablegte und den kleinen Außenbordmotor anließ. Kurz darauf legte er mit einer eleganten Wendung längsseits des Schwimmdocks an und verstaute die Koffer, die Ackerman ihm hinunterreichte, sorgfältig im Boot. Nachdem das blonde Mädchen eingestiegen war, wandte sich MacLaren an Kingsley.

»Und was ist mit dem Wagen?«

Kingsley drehte sich langsam um; auf seinen Lippen lag ein leichtes Lächeln, doch seine Augen blickten kalt. Er war ein bis zwei Jahre jünger als Ackerman, etwa 1.90 m groß, und sein Körper war massig, aber noch nicht' schwammig oder fett. Sein Gesicht, durch übermäßigen Alkoholgenuss leicht aufgedunsen, war doch regelmäßig in seinen Zügen, und er sah noch immer sehr gut aus. Außerdem zeichnete er sich durch eine geradezu ungeheuerliche Anmaßung aus, die nicht ausschließlich auf seinen Reichtum zurückzuführen sein konnte, sondern das Produkt jahrelanger Übung sein musste.

»Was soll damit sein?«                                           

MacLaren ließ sich, um nicht die Beherrschung zu verlieren, mit seiner Antwort eine Weile Zeit. Er sah sich nach dem Mercedes um, der mit offenen Türen auf der Werft stand. Er hatte Kingsley gleich zu Anfang auf dem asphaltierten Parkplatz hinter dem Büro zwei Abstellplätze vermietet, einen für den Mercedes, den zweiten für den Kombiwagen, und es bestand ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen ihnen, demzufolge Kingsley zwar bis zur Pier fahren konnte, um sein Gepäck auszuladen, den Wagen jedoch dort nicht stehenlassen durfte. Als MacLaren ihn nun mit ruhiger Stimme daran erinnerte, entgegnete er von oben herab: »Die Schlüssel stecken, Mac. Parken Sie ihn doch selbst.«

Wieder ließ MacLaren einige Zeit verstreichen, bis er Antwort gab. Er war ein junger Mann von neunundzwanzig Jahren, mit kantigem Gesicht, durchtrainiertem Körper und geschmeidigen Bewegungen. Er war nur wenige Zentimeter kleiner als Kingsley, aber dreißig Pfund leichter. Er trug sein dichtes dunkles Haar mäßig lang, um seinen Mund lag ein gutmütiger Zug, und er neigte nach Temperament und Charakter nicht dazu, leicht in Wut zu geraten. Seine Kleidung bestand aus verschossenen Khakihosen, einem offenen Hemd und der Sonnenbräune, die niemals völlig von seinem Gesicht und seinen Armen wich. Nun heftete er die dunkelblauen Augen mit ruhigem Blick auf Kingsley,

»Schön«, meinte er. »Aber ich habe Ihnen schon beim letzten Mal gesagt, dass ich ihn dann abschließen und den Schlüssel innen steckenlassen würde.«

Harry Danaher hustete. »Ich fahre ihn weg.«

Kingsley drehte sich um, zögerte einen Augenblick und meinte schließlich achselzuckend: »Meinetwegen, Harry, wenn Sie noch mal zurückkommen wollen. Sie müssen nicht, das wissen Sie; aber zuerst bringen Sie uns hinüber.«

Während MacLaren dem schwerbeladenen kleinen Boot nachsah, das sich langsam auf das gegenüberliegende Ufer zu bewegte, hallte von der anderen Seite der Insel ein abgehacktes, Stakkato-artiges Geräusch herüber, das er als das Knallen einer Kleinkaliberpistole erkannte. Er hatte es schon öfter gehört; offenbar schoss Carla Lewis wieder einmal mit der 6.25er Woodsman, die er sie hin und wieder hatte benutzen sehen, auf Blechbüchsen. Während er zerstreut der Knallerei zuhörte, wanderten seine Blicke unwillkürlich zu dem Eckzimmer auf der Rückseite des Hauses und blieben an den geschlossenen Fensterläden haften.

Er hatte sich schon früher öfters über dieses Zimmer den Kopf zerbrochen, und auch jetzt begann seine Einbildungskraft, ohne dass er es wollte, zu arbeiten. Er blieb gedankenversunken stehen, bis Danaher zurückkam und in den Mercedes stieg, und als der Wagen um die Hausecke zum Parkplatz hin verschwand, rief er sich die Frage wieder ins Gedächtnis zurück, die er dem Mann vor einigen Tagen, als ihn die Neugier wieder einmal plagte, gestellt hatte.

Er war immer gut mit Danaher ausgekommen, denn sie besaßen beide ein gemeinsames Interesse, die Schifffahrt, doch bei der Gelegenheit war die Antwort des anderen so ausweichend gewesen, dass MacLaren die Fruchtlosigkeit aller weiteren Vorstöße in dieser Richtung klargeworden war.

»Wieso sind dort eigentlich die Läden vorgelegt, Harry?«, hatte er gefragt.

Und Danaher, ein wetterharter Mann mit fuchsroten Haaren und breitem Gesicht, hatte die massigen Kinnladen vorgestreckt, einen flüchtigen Blick zu dem Eckzimmer hinübergeworfen und die Hand mit einer unbestimmten Gebärde durch die Luft geschwenkt.

»Keine Ahnung, Mac«, hatte er gesagt, ohne ihn anzusehen.

»Vielleicht versteckt er-dort die Leichen von denen, die er in all diesen Nachtclubs zusammenschlägt.«

MacLaren hatte die Anspielung verstanden, denn Kingsley war bekannt für seine Raufhändel, über die gelegentlich sogar die Presse berichtete. Als Danaher nun um die Hausecke bog und auf das Boot zuging, dankte ihm MacLaren dafür, dass er den Wagen weggefahren hatte.

»Gern geschehen«, entgegnete Danaher. »Kanns Ihnen nicht übelnehmen, dass Sie böse geworden sind. Er ist, weiß Gott, kein sehr umgänglicher Mann, aber er zahlt gut, und solange er mich in Frieden lässt, kann ich's schon bei ihm aushalten.«

MacLaren sah ihm nach, wie er ablegte und den kleinen Außenbordmotor anließ. Das Boot nahm Kurs auf die Insel, und wieder glitten MacLarens Blicke unwillkürlich zu den geschlossenen Fensterläden. Während er noch dastand, kam ihm plötzlich eine Idee: Er wandte sich um und blickte stromaufwärts, an den Docks und dem Kran vorbei, zum Haus MacLarens, das auf einer leichten Anhöhe stand, von hier aus hatte man einen Blick über die Werft, die Bucht und den Fluss. Fünfzig Meter dahinter, auf dem höchsten Punkt der Anhöhe, stand ein kleines Sommerhaus, und in einem der beiden Schlafzimmer im ersten Stock verbrachte ein zeitweilig arbeitsunfähiger Mann den größten Teil seiner Rekonvaleszenz-Zeit damit, das Leben und Treiben auf der Werft und auf dem Fluss zu beobachten. MacLaren war schon vorher einige Male auf den Gedanken gekommen, dass ihm vielleicht Sam Willis über jenes geheimnisvolle Zimmer Auskunft geben könnte, doch er hatte jedes Mal zu viel zu tun gehabt, um der Sache nachzugehen.

Ihm wurde plötzlich bewusst, dass ringsherum auf der Werft tiefe Stille herrschte und seine Leute offenbar für heute Feierabend gemacht hatten. Er wusste nicht, wo Larry Keats war, und war gerade im Begriff, zum Büro hinüberzugehen, um ihn zu bitten, ein Auge auf die Werft zu haben, als er bemerkte, dass der Amateurschiffer namens Nick über die Pier auf ihn zukam. Er lutschte an seinem Finger und spuckte alle paar Schritte aus.

»He, Captain!«, rief er ihm entgegen. »Haben Sie ein Pflaster für mich?«

»Ich denke schon, Nick«, entgegnete MacLaren. »Kommen Sie rein.«

Er schritt voraus in das rotgetünchte Fachwerkgebäude, das ursprünglich ein Wohnhaus gewesen war. Durch das Herausnehmen der Zwischenwände im Erdgeschoss war ein Ausstellungsraum entstanden, der gegenwärtig einige Außenbordmotoren verschiedener Größen, zwei kleine Beiboote, einen Ankerstock, der MacLaren in Kommission gegeben war, und eine Reihe von Holzgestellen und Schränken enthielt, in denen alle möglichen Ersatzteile und Ausrüstungsgegenstände für den Schiffsbedarf aufbewahrt würden. Im Hintergrund des Raumes führte eine Treppe zu der Dreizimmerwohnung im ersten Stock, in der MacLaren während des Sommers lebte, um jederzeit erreichbar zu sein, falls man ihn brauchte. Auf der linken Seite befand sich das kleine Büro mit dem altmodischen Rollpult, das seinem Vater gehört hatte, zwei zerkratzten Aktenschränken, zwei Stühlen und einer abgenutzten Couch.

»Haben Sie sich geschnitten?«, fragte er, als Nick hinter ihm ins Büro trat.

Der Mann nickte und streckte die rechte Hand aus, wobei ein zentimeterlanger Schnitt auf der Innenseite des Mittelfingers sichtbar wurde.

»Mit einem Büchsenöffner.«

MacLaren forderte ihn auf, sich zu setzen, zog die untere Schublade des einen Aktenschrankes auf und entnahm ihr eine Metallkassette, die einen kleinen Verbandskasten enthielt. Er holte ein Päckchen Verbandsmull, ein zwei Zentimeter breites Pflaster und ein Fläschchen Jodtinktur heraus. Da der Schnitt stark blutete, wies er Nick an, zunächst den Verbandsmull auf die Wunde zu pressen; dann ging er rasch in die Toilette nebenan, um sich die Hände zu waschen.

Während ihm Nick die Hand mit der Innenfläche nach oben entgegenstreckte, entfernte MacLaren den Verbandsmull und betupfte die Wunde rasch mit Jod. Dann presste er mit Daumen und Zeigefinger die Wundränder zusammen, legte das Pflaster auf und zog die Klebenden mit geschicktem Griff um die Finger. Nick, der die ganze Prozedur mit beifälligen Blicken beobachtet hatte, untersuchte den Verband genau.

»Gefällt Ihnen dieser Betrieb?«, fragte er dann.

»Welcher Betrieb?«

»Na, dieser ganze Bootskram und so?«

»Sie fahren zum ersten Mal auf einem Boot, wie?«, fragte MacLaren.

»Allerdings!«, brummte Nick. »Jungfernfahrt sozusagen.«

»Wenn Sie sich ein bisschen damit beschäftigen, würden Sie sicher auch bald Spaß daran finden.«

»Vielleicht«, meinte Nick. »Aber ich kann mir Dinge vorstellen, mit denen ich mich lieber beschäftigen würde... Jedenfalls, vielen Dank. Das Pflaster sitzt prima.«

MacLaren rief ihm nach, wenn er am nächsten Morgen vorbeikommen wollte, würde er ihm gern einen frischen Verband anlegen. Dann räumte er den Verbandskasten wieder in die Schublade und schloss die Bürotür hinter sich. Als er zur Pier zurückkam, kletterte Nick bereits an Bord der Annabelle III, und Larry Keats war eifrig damit beschäftigt, das Sägemehl und die Holzreste, die beim Umbau des Kühlhauses abgefallen waren, säuberlich auf einen Haufen zu kehren. Wieder wanderte MacLarens Blick zu dem Haus drüben auf der Insel, und diesmal beschloss er, der Idee, die ihm ein paar Minuten zuvor gekommen war, nun endlich nachzugehen. Er rief Larry zu, er, sei in zehn bis fünfzehn Minuten wieder zurück, drehte sich um und stieg zu dem Haus hinauf, das, zweihundert Meter entfernt, auf der Anhöhe über der Werft stand.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Der nächste Weg zum Haus MacLaren führte stromaufwärts an den Docks entlang, doch es war einfacher und bequemer, die Straße zu benutzen, die von dem asphaltierten Parkplatz hinter dem Büro ausging. Diesen Weg schlug MacLaren nun ein, und drei Minuten später stand er vor dem massiven, mit grauen Schindeln gedeckten Haus, das sein Vater vor dreißig Jahren gebaut hatte.

Vor zwei Jahren hatte eine fortschreitende Arthritis seinen Vater gezwungen, die Leitung der Bootswerft abzugeben, und seitdem lebten seine Eltern vom ersten Oktober bis Mitte Juni in Florida. Sein Vater hatte es ihm damals völlig freigestellt, ob er die Leitung der Werft übernehmen wolle oder nicht. Er hatte einen guten Posten in einer Firma von Schiffsbauarchitekten in New York gehabt, doch selbst damals wollte er immer eines Tages nach Surrey ziehen und die Großstadt hinter sich lassen.

Als er nun auf der Verandator der Haustür stand und über die stille Werft zu seinen Füßen zum Fluss hinüberblickte, war er sehr froh, dass er sich zu diesem Schritt entschlossen hatte. Denn er war in der Werft groß geworden, hatte während seiner Schul- und Semesterferien in ihr gearbeitet, hatte miterlebt, wie sie wuchs und sich ausdehnte, und wusste, welches Glück er hatte, sein gutes Auskommen bei einer Arbeit zu finden, die ihm Freude machte.

Diese philosophischen Lebensbetrachtungen beschäftigten ihn noch ein paar Sekunden lang, dann wandten sich seine Gedanken jedoch wieder wie hypnotisiert dem geheimnisvollen Eckzimmer des weißen Inselhauses zu. Das Zimmer hatte drei Fenster, zwei auf der Rückseite, die von hier oben aus sichtbar waren, und eines auf der Seite, die dem Büro unten auf der Werft zugewandt lag. Er wusste, dass Kingsleys Jacht vor fast drei Wochen eingelaufen war, doch es war bereits so dunkel gewesen, dass er nicht hatte erkennen können, wer an Bord war.

Eines wusste er allerdings mit Bestimmtheit: Noch eine Woche vor Kingsleys Ankunft waren an allen Fenstern im Haus die Läden: geschlossen gewesen. Während Kingsleys Abwesenheit sah drüben auf der Insel ein philippinisches Hausmeisterehepaar nach dem Rechten, und der Mann hatte während jener Woche nacheinander sämtliche Fensterläden bis auf die des Eckzimmers heruntergelassen. Einmal hatte MacLaren das Fenster sogar durch ein Fernglas beobachtet, und ihm war gewesen, als hätte er eine Bewegung hinter den Läden wahrgenommen.

Als er nun ans Geländer trat und zu dem kleinen Landhaus hinaufsah, das dicht hinter seinem Elternhaus auf der Anhöhe stand, sagte ihm sein gesunder Menschenverstand, dass ihn die ganze Sache eigentlich nichts anging. Eine innere Stimme flüsterte ihm zu, dass seine Neugier im Grunde nur auf seiner starken Abneigung gegen Oliver Kingsley beruhte, doch da er sich nun schon einmal entschlossen hatte, überquerte er den Hof, schlüpfte durch eine Lücke in der Hecke und stand gleich darauf unter einem halboffenen Fenster im ersten Stock des kleinen Hauses.

»Sam«, rief er. »Bist du oben?«

»Verdammt noch mal, selbstverständlich bin ich oben. Wo soll ich denn sonst sein?«

Die Haustür öffnete sich direkt in den Wohnraum, und als sich MacLaren die Füße abgestreift hatte, durchquerte er das Zimmer und stieg die Treppe hinauf, die zum ersten Stock führte. Das, Schlafzimmer war unordentlich und bot einen wenig erfreulichen Anblick. Sein Bewohner saß, das rechte Bein auf einen Stuhl gestützt, in einem Sessel am Fenster. Der neue Gipsverband am Fuß wirkte leicht und bequem - kein Vergleich zu dem, den der Arzt zu Anfang angelegt hatte, als Sam vor ein paar Wochen mit dem Fuß unter eine Walze gekommen war und sich den Knöchel gebrochen hatte.

»Na, du alter Simulant, wann fängst du denn endlich wieder an zu arbeiten?«, fragte MacLaren.

Sam Willis schnitt ein böses Gesicht, was ihm bei seiner angeborenen Reizbarkeit auch ohne alle Anstrengung gelang. Obwohl noch nicht Sechzig, war er der älteste Angestellte auf der Werft, ein hagerer Mann mit einem ausgemergelten Gesicht, langer Nase, wässrigen blauen Augen und nur noch wenigen Haaren auf dem Kopf. Er war anmaßend, jähzornig, eigensinnig und streitsüchtig. Außerdem war er habgierig und geizig, ein notorisch gerissener Geschäftsmann, der freiwillig nichts herausrückte, nicht einmal Worte, wenn er es vermeiden konnte. Ungeachtet all dieser negativen Eigenschaften war er jedoch ein hervorragender Handwerker, der auf allen Gebieten des Schiffsbaus bestens beschlagen war und überall einspringen konnte. Er hatte MacLaren schon als kleinen Jungen in die Lehre genommen und ihm im Laufe der Zeit manch wertvolle Ratschläge und Tips gegeben.

Dies war vermutlich auch der Grund, dass die beiden Männer eine seltsame Zuneigung verband, obwohl dies ein Außenstehender, wenn er sie zusammen sprechen hörte, niemals vermutet hätte. Sie verstanden sich, und MacLaren hatte deshalb, was die Fehler und Schwächen seines ehemaligen Lehrmeisters anbelangte, immer ein Auge zugedrückt. Auch in diesem Falle hatte er ihm, obwohl Willis seit seinem Unfall Krankengeld bezog, den Differenzbetrag zwischen diesen Bezügen und seinem normalen Gehalt aus eigener Tasche bezahlt. Auf diese Tatsache bezogen sich auch seine nächsten Worte.

»Ich habe einen Fehler gemacht.«

»Du hast schon massenhaft Fehler gemacht.«

»Wenn ich dich mit dem Krankengeld sitzengelassen hätte, wärst du schon längst wieder zur Arbeit gekommen.«

»Jaja«, spöttelte Willis. »Du hast wohl völlig vergessen, welche Schmerzen ich ausgestanden habe, was? Ich hätte mein volles Gehalt plus Krankengeld kriegen müssen.«

Während der Alte sprach, sah sich MacLaren im Zimmer um. Sein Blick wanderte von dem Kleinkalibergewehr, das innerhalb von Willis’ Reichweite an der Wand lehnte, und der Krücke daneben zu dem Tisch auf der anderen Seite, auf dem sich Zeitschriften und broschierte Romane häuften. Daneben lagen zwei Feldstecher, einer davon ein Zeiss-Nachtglas, das Willis nach dem Krieg einem Reserveoffizier der Marine billig abgekauft hatte, und eine Dose Schnupftabak. Willis hatte sich nämlich, da in vielen Teilen einer Werft das Rauchen nicht gestattet ist, im Laufe der Jahre das Schnupfen angewöhnt. In einem Papierkorb aus Drahtgeflecht lagen drei leere Bierdosen, und der Kühlapparat am Boden enthielt einen Vorrat an vollen, noch ungeöffneten Dosen.

MacLaren, der vom Fußende des Bettes zum Fenster an der Längsseite des Zimmers gegangen war, blickte nachdenklich zur Insel hinüber. Ihm war eben wieder eingefallen, dass es eine Zeit gegeben hatte, zu der die Insel keine Insel im eigentlichen Sinn des Wortes war. Der ursprüngliche Erbauer des Hauses, das nun Kingsley bewohnte, hatte nämlich einen vielleicht zehn bis fünfzehn Meter langen Damm errichten lassen, der die Insel mit dem Festland verband. Im Lauf der Jahre hatten jedoch Regengüsse und der starke Wellengang den ganzen Damm bis auf einige der größten Felsblöcke, die das Fundament bildeten, weggespült. Nun bedeckten Sand und Schlick die Blöcke und füllten die Spalten. Bei Ebbe war es aber immer noch möglich, während ein oder zwei Stunden zu Fuß hinüberzugehen, vorausgesetzt, dass man sich nicht daran störte, etwas Sand und Schlick in die Schuhe zu bekommen.

In diesem Augenblick jedoch wies nichts darauf hin, dass ein solcher Damm je existiert hatte, und MacLaren wandte sich an Willis.

»Hast du eigentlich Kingsleys Jacht gesehen, als sie von New York herauskam, Sam?«

»Hab’ ich. Ich habe auch die beiden Idioten gesehen, die heute Vormittag hereingekommen sind«, entgegnete Willis.

»Welche beiden Idioten?«

»Na, die beiden, die diese schwarze Kiste hereingebracht haben, die Annabelle III, so heißt sie doch. Die ist ja mindestens vierzig Jahre alt. Und solche Schwachköpfe dürfte man überhaupt auf kein Schiffsdeck lassen«, ereiferte er sich. »Es vergeht ja keine Woche, in der man nicht liest, dass die Küstenwache mal wieder ein halbes Dutzend dieser Sorte hat hereinschleppen müssen - von denen, die kentern und ersaufen, gar nicht zu reden.«

MacLaren stimmte ihm zu, doch im Moment interessierte er sich nur wenig für Willis’ Ansichten über die Annabelle III und ihre seltsame Besatzung; er bat Sam darum lächelnd, nicht abzuschweifen, er hätte ihn ja nach Kingsleys Jacht und nicht nach der Annabelle gefragt.

»Wie viele Leute waren denn an Bord, als sie hereinkam?«

»Woher soll ich wissen, wie viele Leute an Bord waren? Danaher hat bei Nacht festgemacht.«

MacLaren nahm das Zeiss-Glas vom Tisch und drehte es bedächtig in den Händen. »Das ist ein schönes Glas.«

»Kann man wohl sagen, dass das ein gutes Glas ist.«

»Gerade bei Dunkelheit ganz hervorragend. Auf jeden Fall, gut genug, um ein Boot erkennen zu können, das bei Nacht in die Bucht einläuft und an der Insel anlegt.«

»Das heißt noch lange nicht, dass ich die Gesichter erkennen konnte!«    

»Aber du könntest mir doch sagen, wie viele Leute an Bord waren.«

Der gespannte, verschlossene Ausdruck, der auf Sam Willis’ hageres Gesicht trat, war MacLaren wohlbekannt. Willis war streitlustig, aber er liebte es gar nicht, herumkommandiert zu werden, und gab ungern zu, im Unrecht zu sein. Doch in diesem Fall überraschte er MacLaren.

»Vier«, meinte er achselzuckend. »Mehr habe ich jedenfalls nicht gesehen.«

»Männer oder Frauen?«

»Je zwei.«

»Du sagtest, du hättest Danaher gesehen.«

»Das hab’ ich nicht gesagt«, brauste Willis auf. »Aber Danaher ist der Captain, oder? Und wer das Anlegemanöver gemacht hat, kannte sich aus. Außerdem, es ist ja auch ganz egal, oder?«

»Danaher und noch ein Mann«, sagte MacLaren leichthin, ohne auf die Frage einzugehen. »Und zwei Frauen. Eine davon muss Carla Lewis gewesen sein. Aber wer war die andere?« Er legte das Nachtglas auf den Tisch zurück und sagte dann mehr zu sich selbst als zu Willis: »Neil Ackerman ist am nächsten Tag mit dem Mercedes gekommen und Earl Harwell eine halbe Stunde danach mit dem Kombiwagen.«

»Harwell? Ist das der, der draußen auf der Insel herumsitzt und Bilder malt?«

»Ja«, bestätigte MacLaren. »Und wen hast du außerdem drüben gesehen?«

»Eine Menge Leute«, entgegnete Willis. »Kingsley hat in den letzten paar Wochen bestimmt ein halbes Dutzend Gäste gehabt.«

MacLaren, der wusste, dass das richtig war, ließ das Thema fallen. »Sag mal, hast du dir je über dieses Eckzimmer Gedanken gemacht? Das mit den geschlossenen Läden?«

»Manchmal schon.«

»Und was hältst du davon?«

»Gar nichts. Ich hab’ anderes zu tun, als mir darüber den Kopf zu zerbrechen.«

»Quatsch«, meinte MacLaren. »Du sitzt hier jeden Tag von acht Uhr morgens bis zehn Uhr abends. Vielleicht sogar noch länger. Du hast zwei Feldstecher, und du benutzt sie auch. Ich möchte wetten, dass hier in einer halben Meile Umkreis nichts vor sich geht, wovon du nichts weißt.«

Bei dieser Behauptung flog ein schlaues Lächeln über das Gesicht des Alten. »Das könnte schon sein, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich durch diese Läden durchsehen kann. Warum bist du denn überhaupt so höllisch an dieser ganzen Geschichte interessiert?«      

»Ich weiß selbst nicht«, erwiderte MacLaren wahrheitsgemäß. »Pure Neugier wahrscheinlich«, meinte er und wechselte rasch das Thema.

Sam Willis lebte mit seiner verwitweten Schwester zusammen, die ihm in ihrer Freizeit den Haushalt führte. Zurzeit arbeitete sie während der Mittags- und Abendessenszeit als Aushilfskellnerin in der Surrey Inn und kam meistens erst gegen zehn Uhr nach Hause. Um Willis zum Abschied noch ein bisschen aufzuziehen, erkundigte sich MacLaren deshalb nun in unschuldigem Ton:

»Warum behältst du denn Esther nicht hier bei dir, anstatt sie zur Arbeit loszuschicken?«

»Wer schickt sie denn zur Arbeit?«, knurrte Willis entrüstet. »Du«, entgegnete MacLaren und versuchte ein Lächeln zu unterdrücken.

Willis, der bereits drauf und dran schien, eine hitzige Antwort zu geben, besann sich offenbar im letzten Moment eines anderen. Sein Gesicht nahm einen verschmitzten Ausdruck an, und er sah sich mit halbgeschlossenen Lidern zu MacLaren um.

»Wenn du mir bezahlen würdest, was mir von Rechts wegen zusteht«, erklärte er, »brauchte sie überhaupt nicht zu arbeiten.«

»Schon gut, schon gut.« Nun konnte MacLaren das Lachen nicht mehr länger zurückhalten. »Du hast gewonnen, Sam.«

Als er zur Werft zurückkam, sagte er zu Larry Keats, er könne jetzt heimgehen. Dann trat er, da sonst niemand, zu sehen war, ins Haus, schloss die Tür hinter sich ab, durchquerte mit raschen Schritten den Ausstellungsraum und stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf.

Sie bestand aus einem geräumigen Wohnzimmer, dessen Fenster zur Bucht hinausgingen, einem Schlafzimmer mit Bad, von dem aus man einen weiten Ausblick über den Fluss hatte, und einer Küche, die auf der dem Parkplatz zugewandten Seite lag. Dies war MacLarens zweites Zuhause, in dem er zwischen dem 1. Mai und dem 15. September die meiste Zeit verbrachte. Die Möblierung war bequem und zum größten Teil männlich-einfach, doch hier und dort, vor allem im Schlafzimmer, fielen dem Betrachter ein paar typisch weibliche Einrichtungsgegenstände auf.

Das hatte seinen guten Grund. Beim Ausbau der Wohnung hatte man nämlich die Möglichkeit einer eventuellen späteren Untervermietung in Betracht gezogen. Es wohnte auch dann eine Lehrerin hier, die während der Wintermonate in einer anderen Stadt lebte und erst vor kurzem für die restlichen paar Wochen bis Schulschluss in die Surrey Inn umgezogen war. Die Küche war unter Berücksichtigung der Wünsche und Ansprüche einer Frau eingerichtet worden; außerdem hatte man auf der Rückseite des Hauses eine Außentreppe angebaut, die direkt zum Parkplatz hinunterführte, damit die Mieterin ungestört durch das Leben und Treiben auf der Werft ihre Wohnung betreten und verlassen konnte.

MacLaren entledigte sich als erstes seiner Arbeitskleidung und ging dann in die Küche, um sich einen starken Drink zurechtzumachen. Er nahm das Glas mit ins Schlafzimmer und trank einen tüchtigen Schluck, bevor er unter die Dusche trat. Eine halbe Stunde später stand er, in eine graue Flanellhose und ein blaues Jackett gekleidet, erfrischt und in prächtiger Laune wieder in der Kühe und spülte sein leeres Glas aus. Dann mähte er sich auf den Weg zur Surrey Inn, die, etwa zweihundert Meter von der Werft entfernt, auf der anderen Seite der Hauptstraße lag.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Es war kurz vor neun, als MacLaren das Mädchen sah, doch es war zu der Zeit schon so dunkel, dass er anfangs nur eine verschwommene Gestalt wahrnahm, von der er nicht wusste, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Er wusste nur, dass sie von Kingsleys Insel gekommen war.

Er war gegen halb neun von der Surrey Inn zurückgekehrt und hatte als erstes sein Jackett mit einem Wollpullover vertauscht, bevor er zur Werft hinunterging und sich auf die Bank vor dem Haus setzte, wie er es jeden Abend tat. Die einsame Glühbirne im Ausstellungsraum warf einen schwachen Schein über das Werftgelände, doch er hielt es nicht für der Mühe wert, den Scheinwerfer anzudrehen, wie während der Sommersaison. Er stopfte gemächlich seine Pfeife, und nachdem sie zu seiner Zufriedenheit brannte, rauchte er in langsamen Zügen, um Geschmack und Aroma des Tabaks richtig genießen zu können.

Zu seiner Rechten lagen die Boote wie dunkle Schemen - die Eigentümer würden nicht vor Freitag eintreffen -, nur die Annabelle III war erleuchtet, und die Nacht war so still, dass er einige Gesprächsfetzen, die von dort herüberdrangen, verstehen konnte. Anfangs hatte er der Unterhaltung nur wenig Beachtung geschenkt, doch als sich die Stimmen hoben, erwachte sein Interesse nach und nach, und schließlich drangen einige energische und unmissverständliche Worte an sein Ohr, die ihn gespannt aufhorchen ließen.

»Es ist mir piepegal, ob du mitkommst oder nicht.« Das war unverkennbar die raue, krächzende Stimme des Kleinen. »Ich geh jetzt fischen.«

»Na, dann geh doch«, antwortete Nick. »Meinetwegen kannst du ersaufen.«

»Ich ersaufe schon nicht.«

»Und Fische wirst du auch keine fangen.«

»Pfleg' du nur deinen kaputten Finger und saug weiter an der Whiskyflasche. Deine Meinung interessiert mich überhaupt nicht.« Einen Augenblick lang war es still, dann hallten Schritte über das Bootsdeck. Gleich darauf vernahm MacLaren ein hohles Geräusch, als ob Holz gegen Holz schlüge, und er schloss daraus, dass der Fischer jetzt in das kleine Beiboot kletterte. Die Kajütlichter schwankten durch die Gewichtsverlagerung leicht hin und her, dann hörte man das Quietschen der Riemen in den Dollen. Schließlich trat Nick aus der Kajüte; seine Silhouette hob sich deutlich gegen den erleuchteten Hintergrund ab. Als er jetzt zu seinem Gefährten hinunterrief, hatte seine Stimme ihren rechthaberischen Unterton verloren und klang beinahe interessiert.                                       

»Glaubst du wirklich, du fängst etwas, Lew?«

»Wahrscheinlich nicht, aber probieren werd’ ich's jedenfalls.«

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: George H. Coxe/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Hella von Spies und Christian Dörge (OT: Slack Tide).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 27.04.2020
ISBN: 978-3-7487-3832-9

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