JAMES H. CHASE
Satan in Satin
Roman
Apex Crime, Band 87
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
SATAN IN SATIN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Das Buch
Wer Cora in die Hände fällt, ist so gut wie tot.
So tot wie Crispin in dem einsamen Gartenhaus; wie Sydney unter dem U-Bahn-Waggon; wie Little Ernie in dem dunklen Torweg.
Und immer noch reißen sich die Männer darum, für Cora in den Tod zu gehen. Auch George, der Träumer, ist Wachs in ihren Händen. Ihr zuliebe wird er ein Gangster, wird zum Schrecken von Soho.
Bis er eines Tages vor dem blutigen Bündel steht, das einmal sein bester Freund war: Leo.
Leo, den Cora noch nie hatte leiden können...
Der Roman Satan in Satin von James H. Chase (* 1906 in London; † 1985 Corseaux/Schweiz) erschien erstmals im Jahr 1946; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1967.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
SATAN IN SATIN
Für Sylvia.
Erstes Kapitel
Sie waren alle da - Capone, Dillinger, Nelson, Karpis und Charlie Lucky. Sie hielten die Pokerkarten in den Händen. Vor jedem lag ein Haufen Chips. Über dem Tisch, auf dem Whiskyflaschen und Gläser kaum mehr Platz hatten, hing tief eine Lampe mit grünem Schirm. Ihr kaltes Licht fiel auf die Gesichter der Männer.
Im Schatten, fast unsichtbar durch die Schwaden von Zigarettenrauch, standen mehrere Männer; kleine Männer, mit Augen, die glitzerten wie nasse Steine; Männer, mit harten dunklen Gesichtern.
Die Gruppe am Tisch und die Männer im Schatten erstarrten, als George Fraser den Raum betrat. Wenige Schritte vom Tisch entfernt blieb er stehen, die Hände in den Taschen, das Kinn vorgeschoben, die Augen kalt und drohend.
Keiner sprach; keiner rührte sich.
»Wenn einer von euch Sperenzchen macht«, sagte George Fraser nach langem Schweigen, »kann er sich die Radieschen von unten besehen.«
Sehr langsam, sehr vorsichtig legte Capone seine Karten auf den Tisch. »Hallo, George«, flüsterte er heiser.
George Fraser musterte ihn mit eisigem Blick. Wenige Männer nur hätten die Kaltblütigkeit besessen, sich allein in dieses Hinterzimmer zu wagen, um fünf der gefährlichsten und mächtigsten Gangster entgegenzutreten. Doch George Fraser hatte keine Nerven.
»Die Zeit ist reif«, stellte er schneidend fest. »Ihr Burschen habt hier lange genug das Regiment geführt. Damit ist endgültig Schluss. Von heute an gilt hier nur noch mein Wort, und ich dulde keine Einmischung.«
Wieder folgte eine lange Pause. Dann blickte Dillinger mit zornfunkelnden Augen auf. »Wer sagt das?«, knurrte er.
Georg Fraser lächelte. »Ich«, erwiderte er kalt und ätzend.
Dillinger schnaubte vor Wut. Seine Hand flog zur Hüfttasche. Capone, der neben ihm saß, packte ihn hastig am Handgelenk. Sein Gesicht war grau vor Furcht.
»Bist du lebensmüde?«, rief er. »Gegen Fraser hast du keine Chance.«
Dillinger versuchte fluchend, sich aus Capones Umklammerung zu befreien. Der Tisch schwankte, und eine Whiskyflasche fiel klirrend zu Boden, wo sie in tausend Scherben zersprang.
»Lass ihn, Al!«, befahl Fraser. »Wenn er's unbedingt so haben will, braucht er seine Hände.«
Capone streifte George Fraser mit einem Blick unverhüllten Entsetzens. Das bleiche, unbewegte Gesicht und die eiskalten Augen entnervten ihn. Stolpernd, hastig, entfernte er sich von Dillinger.
»Passt auf«, schrie er. »Fraser wird schießen.«
Die Männer am Tisch stießen ihre Stühle zurück und sprangen auf, während einige der schattenhaften Gestalten im Hintergrund sich zu Boden warfen. Dillinger allein blieb am Tisch sitzen und starrte George Fraser aus wutblitzenden Augen an.
»Okay, Johnny«, forderte ihn Fraser in spöttischem Ton auf. »Zieh! Worauf wartest du noch?«
Langsam stand Dillinger auf. Mit dem Fuß schleuderte er seinen Stuhl zur Seite, dann duckte er sich.
»Hundert Dollar, dass ich fünf Schuss anbringe, noch ehe du deine Knarre gezogen hast«, höhnte George Fraser. Lässig stand er da. Seine Hände hingen locker zu beiden Seiten seines Körpers herab.
Dillinger stieß einen Fluch aus. Blitzschnell fuhr seine Hand zur Waffe. Und plötzlich lag eine schwere, kurzläufige Automatic in George Frasers Faust. Der Raum dröhnte vom Widerhall der Schüsse.
Mit weit aufgerissenen, blinden Augen stürzte Dillinger zu Boden.
»Guten Morgen, Mr. Fraser«, sagte Ella und stellte eine Tasse dünnen Tee auf den Nachttisch. »Habe ich Sie aufgeweckt?«
»Hm?«, fragte George Fraser und blickte geistesabwesend zu Ella auf, die in ihrem blauen Kittel, mit dem lächerlichen Häubchen auf dem fahlbraunen Haar, vor ihm stand. »Ach du meine Güte! Sie haben mich ganz schön erschreckt, Ella. Ich hab' Sie gar nicht gehört.«
»Ich räum' ein bisschen auf«, erklärte Ella und zog die Jalousie hoch.
George Fraser schloss, vom Strahl der Morgensonne geblendet, die Augen und seufzte. Schade. Er würde das Hinterzimmer verlassen müssen, den Geruch nach Pulver, die entsetzten Gesichter Capones, Nelsons, Karpis' und Charlie Luckys verbannen müssen. Erst wenn Ella gegangen war, konnte er seine Geschichte weiterspinnen.
»Meinetwegen«, sagte er und setzte sich auf. »Aber machen Sie möglichst keinen Krach. Ich hab' einen Brummschädel.«
Ella sah ihn hoffnungsvoll an. »Haben Sie gestern Abend wieder etwas Tolles erlebt?«
George widerstand der Versuchung, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen und Ella mit einem wildromantischen Bericht über die Abenteuer des vergangenen Abends zu unterhalten. Erst am Tag zuvor hatte er ihr eine Geschichte erzählt, die alles bisher Dagewesene übertroffen hatte; er fürchtete jetzt, durch einen schwächeren Versuch den glänzenden Eindruck zu verpatzen.
»Ich darf jetzt noch nichts erzählen«, erklärte er. »Später vielleicht. Im Augenblick ist es streng geheim.«
Ella war enttäuscht. Fast jeden Morgen, vorausgesetzt, er hatte keinen Kater, schlug George sie mit seinen blutrünstigen Erzählungen über Revolvermänner, Gangster und ihre Liebchen in Bann. Er hatte sie alle gekannt, als er noch in den Staaten gelebt hatte. Sein Name war berühmt und berüchtigt bei den Herren der Unterwelt, und er hatte genug Abenteuer erlebt, um ein Dutzend Bücher schreiben zu können.
Diese Geschichten, die George so zungenfertig erzählte, waren alle die Ausgeburten seiner ungewöhnlichen Phantasie. Er war niemals in den USA gewesen, hatte nie in seinem Leben einen Gangster zu Gesicht bekommen. Doch seit Jahren verschlang er gierig die amerikanischen Revolverheftchen, hatte sich jeden Gangsterfilm angesehen, der jemals produziert worden war, und sich auf diese Weise ein erstaunliches Wissen über die amerikanische Verbrecherwelt angeeignet, die ihn bis zur Besessenheit faszinierte.
Wie so viele Menschen, die sich in ihre eigene, geheime Welt zurückziehen, litt George unter einem starken Minderwertigkeitskomplex. Sein ganzes Leben hatte es ihm an Selbstvertrauen gefehlt; was er auch angefangen hatte, war in seinen Augen von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.
Dieser Minderwertigkeitskomplex war die unmittelbare Folge der Behandlung, die ihm in seiner Kindheit von seinen Eltern widerfahren war. Seine Eltern – Varieté-Künstler - hatten sich kein Kind gewünscht, und als er zur Welt gekommen war, hatten sie ihn als eine Belastung empfunden. Sie ließen es ihn spüren, und sobald er kein Säugling mehr war, gaben sie ihn bei einem ältlichen Ehepaar in Pflege. Das Paar, dem es nur darum ging, das magere Einkommen aufzubessern, war zu alt für ein so kleines Kind, und es dauerte nicht lange, bis George sich klar wurde, dass sie ihn nur als unvermeidliches Übel betrachteten.
Das Dasein eines Unerwünschten machte aus George einen ungewöhnlich schüchternen und empfindsamen Menschen. Als er älter wurde, zog er sich immer mehr in sich zurück und kapselte sich ab. Er schloss keine Freundschaften, hatte nie jemanden, bei dem er sein Herz ausschütten, mit dem er über seine Wünsche und Hoffnungen sprechen konnte. Um Einsamkeit und Unsicherheit zu bekämpfen, vertiefte er sich in Geschichten über Abenteuer und Gewalt, wobei er sich stets mit dem Helden der Erzählung identifizierte.
Eine Zeitlang hatte sich George Fraser damit begnügt, in seinen Träumen die Rolle des Gangsters zu spielen. Doch die Bilder, die seine Phantasie ihm vorgaukelte, wurden so lebendig und erregend, dass er sich anderen mitteilen musste.
Vorsichtig hatte er begonnen, die Wirkung seiner Vorstellungen an Ella zu erproben, und war glücklich, in ihr eine dankbare Zuhörerin zu finden.
Ella war tief beeindruckt, obwohl George Fraser wahrhaftig nicht der Mensch war, der bei anderen einen nachhaltigen Eindruck hinterließ. Er war groß und kräftig und ungelenk. Sein Teint war gelblich blass, die Augen blau und traurig. Trotz seiner Körpergröße konnte er seine Schüchternheit nicht vertuschen. Wenn ihn jemand ansprach, schoss ihm die Röte ins Gesicht, er erstarrte vor Verlegenheit und vermied es peinlich, der Person, die das Wort an ihn gerichtet hatte, ins Gesicht zu sehen.
Trotz seiner linkischen Art jedoch war Ella von den Geschichten, die er ihr zu erzählen hatte, fasziniert. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, dass er sie belügen könnte.
Und doch war es so. Bis vor vier Monaten war George Fraser in Wirklichkeit Bankangestellter gewesen. Vor zehn Jahren, als er siebzehn gewesen war, hatte er bei dieser Bank als Lehrling angefangen und hätte nichts dagegen gehabt, bis zu seiner Pensionierung dort zu bleiben. Doch es sollte anders kommen.
Eines Abends hatte er kurz vor Geschäftsschluss ein Gasthaus besucht und dort die Bekanntschaft eines auffallend gekleideten Mannes gemacht, der offensichtlich bereits den ganzen Abend in dem Lokal verbracht hatte. Dieser Fremde hatte in einer Anwandlung von Menschenfreundlichkeit George einen todsicheren Tip für das Pferderennen gegeben, das am folgenden Tag um zwei Uhr gelaufen werden sollte.
George war keineswegs eine Spielernatur; er interessierte sich nicht für Pferderennen, doch es schmeichelte ihm, dass sein Trinkkumpan ihn für einen Sportsmann hielt. Er beschloss, die Wette zu wagen. Das Pferd siegte überlegen, und George erhielt von einem verärgerten Buchmacher zwanzig Pfund. Leider kam er danach zu dem voreiligen Schluss, er könnte sich beim Pferderennen ein Vermögen verdienen. Es dauerte nicht lange, bis er bis zum Hals in Schulden steckte. In seiner Not wandte er sich an einen Geldverleiher. Als er dessen Wucherzinsen nicht bezahlen konnte, hörte die Bank von der Sache. George wurde entlassen.
Zwei Wochen lang war er arbeitslos und musste bald erfahren, dass niemand es für empfehlenswert hielt, einen Bankangestellten einzustellen, der aus zweifelhaften Gründen an die Luft gesetzt worden war. Georges Aussichten waren nicht rosig. Er rannte sich die Hacken ab, um eine Stellung zu finden, und als er schließlich nahe daran war, die Hoffnung aufzugeben, war er bei dem Verlag World-Wide Publishing Company untergekommen. Er hatte mit beiden Händen zugegriffen, als man ihm die Stellung als Vertreter bot, obwohl ihn der Gedanke schreckte, von Haus zu Haus wandern zu müssen, um den Leuten das vierbändige Werk Mehr Wissen für Ihr Kind aufzuschwatzen.
George besaß keinen Funken Vertrauen in sein Verkaufstalent. Doch er schöpfte etwas Mut, als er mit Edgar Robinson bekannt gemacht wurde, dem das Gebiet, in dem er künftig tätig sein sollte, unterstand. Robinson, ein selbstsicherer Mensch mit schwarzem Haar und fleckigem Teint, versicherte George, es wäre ein Kinderspiel, die Bücher an den Mann zu bringen; keiner der Vertreter seines Gebiets brächte wöchentlich weniger als zehn Pfund nach Hause.
Eine Woche später versuchte George zum ersten Mal sein Glück und stellte fest, dass Robinsons Behauptungen nichts als Geschwätz gewesen waren. Am Ende der Woche hatte er ganze drei Pfund und zehn Shilling verdient. Doch er wusste, dass er wenig Aussicht hatte, eine andere Stellung zu finden. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als durchzuhalten.
Es versetzte Georges Stolz täglich einen neuen Schlag, von Tür zu Tür gehen zu müssen. Zu Beginn machte ihm seine Schüchternheit schwer zu schaffen. Off pflegte er so lange vor einem Haus zu stehen, um seinen Mut zusammenzuraffen, dass die Leute argwöhnisch wurden. Einmal hatte eine alte Dame sogar die Polizei angerufen. Viele Leute schlugen ihm kurzerhand die Tür vor der Nase zu, während andere ihn unhöflich und herablassend behandelten. George litt Qualen, und es gab Augenblicke, in denen er so deprimiert war, dass er nicht mehr aus noch ein wusste. Er verkroch sich noch mehr in sich selbst, flüchtete in seine Welt des Abenteuers und der Gewalttätigkeit, um sein schwer angeschlagenes Selbstbewusstsein aufzurichten.
Während Ella das Zimmer säuberte, trank George den dünnen Tee.
»Haben Sie Leo heute Morgen schon gesehen?«, fragte er, nur um etwas zu sagen.
»Er hat sich irgendwo verkrochen«, meinte das Mädchen gleichgültig. Sie machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung über Georges Wortkargheit an diesem Morgen. »Das Vieh hat doch vor jedem Menschen Angst, außer vor Ihnen, Mr. Fraser. An Ihnen scheint es wirklich einen Narren gefressen zu haben.«
Georges Gesicht hellte sich auf. »Ja, Tiere mögen mich«, versetzte er schlicht. »Der arme Leo. Dem ist es sicher nicht gut ergangen, als er noch klein war.«
Ella schnaubte verächtlich.
Sobald sie verschwunden war, glitt George aus dem Bett und öffnete die Tür einen Spalt. Dann holte er sich seine Zigaretten von der Kommode und legte sich wieder hin. Jeden Morgen, wenn Ella gegangen war, lehnte er seine Tür an und wartete auf Leo.
Als George in die Familienpension eingezogen war, hatte Leo vor ihm ebensolche Angst gehabt wie vor allen anderen. Sobald ein Mensch sich ihm näherte, war der Kater blitzschnell verschwunden, um sich irgendwo zu verkriechen.
George hatte das Tier leidgetan. In einem Augenblick der Selbsterkenntnis hatte er gesehen, wie sehr Leo ihm selbst glich. Der Kater war groß und kräftig, doch ebenso scheu wie George. Der Mann hatte Verständnis für die Furcht des Tieres vor Fremden und beschloss, sein Vertrauen zu gewinnen.
Zwei Monate lang warb George geduldig um Leos Zuneigung. Er kaufte Fisch und ließ ihn unter seinem Bett stehen. Er vergaß niemals, sein Zimmer langsam und ohne Lärm zu betreten, und wenn der Kater in seiner Anwesenheit einmal ins Zimmer schlich, verhielt er sich stets reglos. Es dauerte lange, bis Leo so viel Zutrauen gewonnen hatte, dass er überhaupt im Zimmer blieb. Und selbst dann noch pflegte er auf und davon zu rennen, sobald sich George ihm näherte. Doch Georges Geduld war unerschöpflich, und schließlich war es ihm gelungen, gut Freund mit dem Kater zu werden.
Es war eine Stunde des Triumphs für George gewesen, als das Tier sich zum ersten Mal von ihm hatte streicheln lassen. Er war nicht nur stolz auf seinen Erfolg; aus seinem Mitleid wurde tiefe Liebe zu der Katze, die ihm half, endlose Stunden der Einsamkeit und Langeweile zu vertreiben. Leo war sein einziger Freund, das einzige Wesen, an das er seine verdrängte Liebe verströmen konnte.
Während er an die Katze dachte, spürte er plötzlich ein Gewicht auf seinem Bett. Er schlug die Augen auf und sah Leo, der sich auf der Bettdecke streckte und ihn ansah. Er war ein großer schwarzer Hauskater mit riesigen gelben Augen.
»Heut hab' ich nicht lange Zeit, alter Junge«, sagte George und strich ihm über den Kopf. »Ich muss arbeiten. Komm her, leiste mir ein bisschen Gesellschaft.«
Er zog die Katze neben sich, strich mit zarten Fingern über das seidenweiche Fell, zufrieden und glücklich, dankbar für das Zutrauen des Tieres, das sich seiner Liebe nicht verschloss.
Zweites Kapitel
Zehn Minuten vor eins betrat George die Bar des King's Arms. Er schritt zu seinem Stammplatz am Ende der langen Bartheke und lehnte sich an die Wand.
»Wie geht's?«, erkundigte sich Gladys, das Barmädchen, mit einem freundlichen Lächeln und schenkte George ein Glas Bier ein.
George tippte sich an den Hut und lächelte zurück. Er mochte Gladys gern. Er kam gern in das King's Arms und fühlte sich geschmeichelt, wenn Gladys ihm sein Bier hinstellte, ohne dass er es ausdrücklich bestellt hatte. Ihre kleinen Aufmerksamkeiten gaben ihm das Gefühl, als ein besonderer Gast betrachtet zu werden, fühlte sich in dem Lokal wie zu Hause.
»Mir geht's gut«, erwiderte er. »Nach Ihrem Befinden braucht man ja nicht zu fragen. Sie sehen immer hübsch aus.« Er bezahlte sein Bier. »Wie machen Sie das nur?«
Gladys lachte. »Das macht die Arbeit«, bemerkte sie mit einem Blick in den großen Spiegel hinter der Bar. »Ach, gestern Abend war übrigens Mr. Robinson hier. Wer ist denn sein neuer Freund? Ein junger Kerl, blass, mit einer Narbe. Er war noch nie hier.«
George schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Robinson gabelt immer neue Bekanntschaften auf. Anscheinend kann er seine eigene Gesellschaft nicht ausstehen.« Er zwinkerte.
»Na, ich weiß nicht«, meinte Gladys und wischte die Theke ab.
»Der Bursche sah jedenfalls übel aus. Ich hab' gleich die Gänsehaut gekriegt.«
»So was.« Georges blaue Augen weiteten sich.
»Ja, bei dem ist irgendetwas faul. Ich möchte ihm nicht im Dunklen begegnen.«
»Ach, kommen Sie«, sagte George ein wenig neugierig. »Das bilden Sie sich ein.«
Das Trommeln ungeduldiger Finger auf der Theke erinnerte Gladys, dass sie ihre Pflichten vernachlässigte.
»Ich komme gleich wieder«, erklärte sie. »Mr. Henry wartet. Der hat's immer eilig.«
George nickte verständnisvoll. Während Gladys sich entfernte, vertiefte er sich in seine eigenen Gedanken.
Wenig später zupfte ihn Edgar Robinson am Ellbogen.
»Wie geht's, wie steht's? Sie sehen ja noch ganz verkatert aus. Haben Sie die Nacht durchgemacht?«
George zwinkerte und seufzte. »Guten Morgen«, sagte er.
Robinson nahm die Brille mit den dicken Gläsern ab und polierte sie. Seine Augen waren klein und stechend. »Seien Sie nett und spendieren Sie mir was«, wandte er sich mit einem strahlenden Lächeln an George. »Ich hab' mein Geld zu Hause vergessen.«
George musterte ihn ohne Begeisterung. »Also, was soll's denn sein?«
Robinson setzte seine Brille wieder auf und blickte sich um. »Ein Whisky wär' nicht schlecht«, erklärte er. »Aber da es Ihr Geld kostet, begnüge ich mich mit einem Bier.«
George winkte Gladys.
»Was ist denn los?«, erkundigte sich Robinson. »Sie sind heute so still. Sind Sie krank?«
»Mir geht's gut«, versetzte George kurz. Er empfand keine Sympathie für Robinson, wenn er ihn auch in beruflicher Hinsicht bewunderte.
»So ist's richtig«, stellte Robinson mit seinem breiten Grinsen fest. »Immer auf Draht, sonst geht's Geschäft nicht.« Er verzog den Mund zu einem zuckersüßen Lächeln, als Gladys zu ihnen trat. »Hallo, mein Kind. Sie werden von Tag zu Tag hübscher. George, wie würde Ihnen ein kleines Techtelmechtel mit Gladys gefallen?«
George senkte unbehaglich die Lider. Derartige Bemerkungen waren ihm peinlich, und Robinson brachte ihn mit seinem losen Mundwerk in weiblicher Gesellschaft immer in Verlegenheit.
»Ach, seien Sie still«, brummte er und fügte, ohne Gladys anzusehen, hinzu: »Bringen Sie ihm ein Bier.«
Als Gladys sich entfernte, starrte Robinson ihr nach und zwinkerte dann George zu. »Die wär' genau meine Kragenweite«, erklärte er. »Meinen Sie, da ist was zu machen?«
»Geben Sie's auf«, knurrte George ungeduldig. »Können Sie denn nicht fünf Minuten an etwas anderes als an Frauen denken?«
Robinson maß ihn mit einem spöttischen Lächeln. »Sie sind ein komischer Kauz, George. Das schlimme ist, dass Sie voller Komplexe stecken. Sie haben Angst vor der Liebe.«
George steckte sich eine Zigarette an, räusperte sich und zog einen großen Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts hervor.
»Also«, sagte er ablenkend, »sehen wir mal nach, was es zu tun gibt.«
Robinson blickte auf die Liste von Adressen nieder.
»Na schön. Sind Sie immer noch in Wembley? - Ach übrigens, George«, sagte er dann. »Beinahe hätte ich's vergessen - ich hab' einen neuen Vertreter engagiert. Sie nehmen ihn unter Ihre Fittiche.«
»Sie meinen, ich soll ihn anlernen?«, fragte George eifrig.
Robinson nickte. »Genau«, bestätigte er. »Er ist neu im Geschäft, und Sie sind ja jetzt schon ein alter Hase. Da dachte ich, Sie könnten mir 'n bisschen Arbeit abnehmen.«
»Aber natürlich«, erwiderte George. Er war glückselig, dass Robinson ihm das zutraute. »Wer ist der Neue?«
»Er heißt Sydney Brant. Ein komischer Kerl, aber vielleicht macht er sich ganz gut.« Robinson warf einen Blick auf die Uhr über der Theke. »Er muss gleich kommen. Nehmen Sie ihn heute Nachmittag mit, wenn Sie die Schulen besuchen. Na, Sie wissen ja, was Sie zu tun haben.«
»Sie können sich auf mich verlassen«, erklärte George und richtete sich mit einem neuen Gefühl der Wichtigkeit auf.
Er winkte Gladys und bestellte sich ein Sandwich. »Möchten Sie auch eines?«, fragte er Robinson.
»Jetzt nicht«, lehnte Robinson ab. »Ich bin eben erst aufgestanden.«
Während George sein Sandwich aß, füllte sich die Bar allmählich. Ein junger Mann mit wirrem, strohblondem Haar drängte sich durch die Menge. Irgendetwas an diesem Menschen erregte sofort Georges Aufmerksamkeit. Auf der rechten Wange hatte er eine tiefrote Narbe - eine Brandnarbe. Der Verband musste erst vor kurzem abgenommen worden sein. Sein Gesicht war von einem Ausdruck bitterer Verachtung beherrscht, und in den harten graublauen Augen stand kalte Ablehnung.
Der junge Mann - er konnte höchstens ein- oder zweiundzwanzig sein - trat auf Robinson zu und stellte sich vor ihn hin, ohne ein Wort zu sagen.
»Ah«, rief Robinson. »Da sind Sie ja. Das hier ist George Fraser, einer meiner besten Vertreter. George, das ist Sydney Brant. Ich habe Ihnen schon von ihm erzählt.«
George errötete vor Freude, dass Robinson ihn als »einen seiner besten Vertreter« vorgestellt hatte, doch als sich sein Blick mit dem Brants traf, spürte er ein seltsames Unbehagen. Dieses ausdruckslose Gesicht, die gleichgültige Haltung Brants verwirrten ihn.
»Guten Tag«, sagte er und wandte den Blick ab. »Mr. Robinson bat mich gerade, Ihnen am Anfang ein bisschen unter die Arme zu greifen. Ich werde mein Bestes tun.«
Brant starrte ihn gleichmütig an und schwieg.
»Sie werden schon feststellen, dass unser alter George Ihnen allerhand beibringen kann«, verkündete Robinson.
Warum sagte der Bursche nichts? dachte George. Er starrte in sein Glas und blickte dann unvermittelt auf.
»Mr. Robinson möchte, dass wir beide Zusammenarbeiten«, sagte er. »Wir - wir könnten heute Nachmittag anfangen.«
Brant nickte. Seine Augen wanderten zu Robinson, dann zurück zu George. Er schien noch immer der Ansicht, dass ein Kommentar seinerseits überflüssig war.
»Einen Besseren als George hätten Sie gar nicht erwischen können«, erklärte Robinson, dem die Schweigsamkeit des jungen Mannes sichtlich auf die Nerven fiel. »Wir werden schon einen Klassevertreter aus Syd machen, nicht wahr, George?«
»Nennen Sie mich nicht Syd«, sagte der junge Mann mit leiser, schneidender Stimme. »Ich heiße Brant.«
Robinson bleckte lächelnd die Zähne, doch seine Augen verrieten Bestürzung. Unbehagliche Stille trat ein.
»Kommen Sie«, brach George das Schweigen, »trinken Sie etwas. Was möchten Sie?«
Brant zuckte die Schultern. »Ich trinke nicht«, gab er zurück. »Aber eine Limonade wäre nicht schlecht.«
»Eine Limonade für Mr. Brant«, rief George Gladys zu.
Das Mädchen füllte ein Glas und stellte es vor Brant hin. Wieder herrschte verlegenes Schweigen. Robinson trank sein Bier aus, wischte sich mit der Hand über die wulstigen Lippen und rutschte vom Hocker.
»Also, ich gehe jetzt«, verkündete er. »Habe noch verschiedenes zu erledigen.« Er wandte sich mit seinem strahlenden Lächeln an Brant. »Ich lasse Sie unter Georges Obhut zurück. Waidmannsheil!« Sein automatisches Lächeln trübte sich ein wenig, als er Brants höhnischen Blick auf seinem Gesicht spürte. Er hob grüßend die Hand und bahnte sich einen Weg zur Tür.
George starrte ihm voller Bewunderung nach. »Der Mann versteht sein Geschäft«, stellte er überschwenglich fest. »Sie können mir glauben, er ist einer der besten Vertreter, denen ich je begegnet bin.«
Brant trank einen Schluck Limonade und schnitt eine Grimasse.
»Er lebt von der Dummheit der anderen«, versetzte er höhnisch. »Er schröpft seine Vertreter, und die sind blöde genug, sich das gefallen zu lassen.«
Georges Sinn für Gerechtigkeit erwachte. »So ist es nun einmal im Geschäft. Er hat uns ausgebildet, da ist es nur normal, dass wir ihm eine kleine Provision zahlen. Wenn er uns nicht die Verbindungen beschaffen würde, könnten wir gar nichts verkaufen.«
Das bleiche Gesicht verzog sich spöttisch. »Was nennen Sie eine kleine Provision?«
»Er hat's Ihnen doch auch gesagt, oder?«
»Klar, ich weiß, was er mir erzählt hat. Aber was hat er Ihnen gesagt?«
George stellte sein Glas nieder. »Robinson erhält von uns zehn Prozent unserer Einnahmen. Das ist schließlich nur fair. Wir bekommen ein Pfund pro Auftrag und zahlen Robinson zwei Shilling. Das kann man doch wohl kaum schröpfen nennen.« Er musterte Brant begierig. »Robinson bildet uns aus und teilt uns unser Gebiet zu. Zwei Shilling ist nicht viel.«
Brant warf den Kopf zurück, ärgerlich, gereizt. »Und wieso sind Sie so sicher, dass die Firma nicht mehr als ein Pfund pro Auftrag zahlt?«
George starrte ihn fassungslos an. Er ahnte, dass er im Begriff war, eine höchst unangenehme Entdeckung zu machen, eine Entdeckung, die er scheute. »Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte er unbehaglich.
»Die Firma zahlt für jeden Auftrag dreißig Shilling. Deshalb besteht Ihr Freund und Helfer Robinson darauf, dass alle Aufträge über ihn laufen. Er knöpft Ihnen nicht nur zwei Shilling ab, er streicht noch zusätzlich zehn Shilling ein. Ich habe nämlich die Firma angerufen und mich erkundigt, wie hoch meine Provision ist, wenn ich meine Aufträge direkt einschicke.«
George empfand plötzlich Hass gegen diesen jungen Mann. Warum hatte er ihn nicht in Frieden lassen können? Er hatte Robinson vertraut. Sie waren gut miteinander ausgekommen. Robinson war sein einziger Bekannter gewesen, hatte ihn gelobt und ihm Verantwortung übertragen. George dachte an all die Aufträge, die er an ihn weitergeleitet hatte, und kam sich jämmerlich betrogen vor.
»Aha«, sagte er nach einer langen Pause. »So ist das also.«
Brant leerte sein Glas. »Ich dachte, Sie hätten das längst spitzgekriegt«, meinte er mit seiner leisen Stimme.
George ballte die Fäuste. »Der niederträchtige Kerl«, rief er aus und bemühte sich, eine rachsüchtige Miene aufzusetzen. »Der würde in den Staaten sein blaues Wunder erleben.«
Brant lächelte vor sich hin. »Stammen Sie da her?«
»Ja«, versicherte George, der seine Chance gekommen sah, sich neues Ansehen zu verschaffen. »Aber das ist schon eine ganze Weile her. Ich glaube, ich bin leichtsinnig geworden. Wenn ich mir vorstelle, dass ein billiger kleiner Gauner von Robinsons Schlag mir das Fell über die Ohren ziehen konnte! Kelly müsste das hören. Der würde mir schön die Leviten lesen.«
Das schmale, kühle Gesicht blieb unbewegt. »Kelly?«
George hob sein Glas und trank. Das Bier schmeckte warm und abgestanden. Ohne Brant anzusehen, sagte er: »Ja - Frank Kelly. Ich hab' früher für ihn gearbeitet.«
»Kelly?« Brants Züge waren gespannt. »Der Gangster, meinen Sie?«
George nickte. »Klar«, versicherte er und spürte, wie ihm eine Blutwelle ins Gesicht schoss. »Der gute alte Frank. Hat Pech gehabt, der arme Kerl.« Er stellte sein Glas nieder und steckte sich eine Zigarette an, um seine Verwirrung zu verbergen. »Aber das ist natürlich lange her.«
Brants schmaler Mund zuckte. »Aber jetzt, da Sie Bescheid wissen, werden Sie doch Robinson nicht ungeschoren davonkommen lassen?«
George erkannte plötzlich die Falle, die er sich selbst gestellt hatte. Wenn er vor Brant nicht völlig das Gesicht verlieren wollte, musste er seine Rolle bis zum Ende spielen.
»Worauf Sie sich verlassen können«, versetzte er grimmig.
»Gut«, erklärte Brant, und seine Augen blitzten schadenfroh.
»Dann kann ich mir die Mühe sparen. Sie wissen, wie Sie mit ihm umspringen müssen.«
»Ich werde ihn lehren, mich an der Nase herumzuführen«, knurrte George unglücklich.
»Ich komme mit«, verkündete Brant. »Ich möchte dabei sein, wenn Sie ihm Bescheid stoßen.«
George schüttelte den Kopf. »Überlassen Sie das lieber mir«, widersprach er schwach. »Womöglich krieg' ich einen Wutanfall. Den Anblick möchte ich Zeugen ersparen.«
»Ich komme trotzdem mit«, beharrte Brant. »Meinetwegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«
Sie sahen einander an. George fühlte seinen Widerstand unter dem Starren, zwingenden Blick Brants dahinschmelzen.
»Okay«, murmelte er widerstrebend. »Sie können mitkommen.«
Eine lange Zeit schwiegen beide. Dann sagte George: »Ich schlage vor, wir machen uns jetzt an die Arbeit. Sind Sie soweit?«
Brant nickte und richtete sich auf. »Heute Abend wird's interessant«, bemerkte er und folgte George zur Tür.
Drittes Kapitel
George Fraser sprach wenig, während er mit Brant nach Wembley fuhr. Er wollte über das nachdenken, was Brant ihm gesagt hatte.
Wenn es stimmte, dann hatte ihn Robinson um mindestens zwanzig Pfund betrogen. Trotzdem hatte er keine Ahnung, was er Robinson am Abend sagen sollte. Wenn Brant nicht gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich gar nicht den Mut aufgebracht, auch nur ein Wort über diese Sache zu verlieren. Doch jetzt musste er wegen dieses unangenehmen Störenfrieds versuchen, das Gesicht zu wahren.
Als die Untergrundbahn in Wembley hielt, sprang George erleichtert auf. Er war froh, endlich etwas zu tun zu haben. Er wusste weder, was er von Brant halten, noch wie er Robinson am Abend gegenübertreten sollte. Er vertrieb die unangenehmen Gedanken und schritt neben seinem Gefährten zum Ausgang.
»Zuerst müssen wir zur Radlett-Schule«, erklärte er, während sie über die High Road gingen. »Wir müssen Namen und Adressen der Kinder erfahren, die die verschiedenen Schulen besuchen. Das ist nicht ganz einfach, weil die Lehrer nicht daran denken, uns zu unterstützen. Manche sind zwar ganz hilfsbereit, aber die meisten betrachten einen Vertreter mit Misstrauen. Wir müssen die Lehrer dazu bringen, unsere Formulare an die Kinder zu verteilen, damit wir ihre Namen und Adressen erfahren und später, wenn wir die Formulare eingesammelt haben, die betreffenden Familien aufsuchen können. Klingt ganz einfach - aber Sie werden schon sehen, was das für ein Theater ist.«
Brant war schweigend und mit unbewegtem Gesicht neben George her geschritten, er schien überhaupt nicht zuzuhören. George war verärgert über diese Gleichgültigkeit, und er war froh, als sie die Schule erreichten. Jetzt würde der unfreundliche Kumpan an seiner Seite merken, dass man bei den Leuten nur etwas erreichen konnte, wenn man ihnen Honig ums Maul strich.
Vor dem Schultor blieb er stehen und deutete auf das Schild an der Tür.
»Da«, sagte er, darauf bedacht, dass auch Brant dieses geheime Unbehagen spüren sollte, das er empfand. »Vertretern und Händlern ist der Zutritt verboten. Wir können nur etwas erhoffen, wenn wir uns mit dem Schuldirektor gut stellen.«
Brant schwieg. Er streifte George mit einem Blick spöttischer Verachtung.
George stieß die Tür auf und betrat den langen Gang, der nach irgendeinem Desinfektionsmittel und Bohnerwachs roch. Er eilte Brant voraus zum Büro des Direktors.
Der Direktor blickte auf und runzelte die Stirn.
»Guten Tag, Mr. Pickthorn«, begrüßte ihn George in dem herzlichen Tonfall, den er immer annahm, wenn er arbeitete. »Ein herrlicher Tag heute, nicht wahr? Viel zu schön, um in der Stube zu sitzen. Aber wir müssen ja alle arbeiten.« Er stand vor dem Schreibtisch, leicht vorgebeugt, freundlich und jovial, nur darauf bedacht, kein Missfallen zu erregen.
Es hatte George Zeit und Anstrengung gekostet, seine Schüchternheit gegenüber Fremden zu überwinden, doch er glaubte jetzt zu wissen, wie er die Leute zu nehmen hatte, und hoffte, Brant würde sich davon entsprechend beeindrucken lassen.
Pickthorn lächelte und nickte. »Ja, ein wunderbarer Tag.« Dann wanderte sein Blick zu Brant, und alle Freundlichkeit wich aus seinem Gesicht. Hastig wandte er die Augen ab.
Da haben wir's, dachte George triumphierend. Hoffentlich lässt du dir das eine Lehre sein, du arroganter Bursche. Es zahlt sich nicht aus, den Überlegenen zu spielen.
»Da ich gerade vorbeigekommen bin, Mr. Pickthorn«, fuhr er hastig
fort, »wollte ich gern die Formulare mitnehmen, die ich gestern hiergelassen habe.«
»Sie sind leider noch nicht ausgefüllt«, erklärte der Direktor, wobei er mit unnötiger Sorgfalt Bleistifte und Kugelschreiber in seiner Schreibschale nebeneinanderreihte.
George spürte, dass seine Zuversicht plötzlich wie weggeblasen war. »Nun, das macht nichts«, versetzte er mit einem starren Lächeln. »Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben. Dann komme ich eben morgen noch einmal vorbei.«
Mr. Pickthorn spielte noch immer mit seinen Bleistiften.
»Ich fürchte, das hat keinen Sinn. Die Bücher sind natürlich gut, aber Sie wissen wohl, der Schulrat ist dagegen, dass die Schulen von Vertretern aufgesucht werden. Ich möchte solchen Vertreterbesuchen keinen Vorschub leisten.« Er öffnete eine Schublade und zog einen Stapel Formulare heraus. »Es tut mir leid«, sagte er, während er die Papiere über den Schreibtisch schob. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen...«
»Sehen Sie«, sagte George, als sie wieder auf der Straße standen. »So ein verdammtes Pech. Er hat mir hoch und heilig versprochen, die Formulare zu verteilen. Naja, da sieht man's wieder. Keine Adressen für heute Abend. Es hat keinen Sinn, den Leuten das Haus einzurennen, wenn man nicht mal weiß, ob sie Kinder haben.«
»Also, was jetzt?«, erkundigte sich Brant gleichgültig.
George unterdrückte nur mit Mühe seinen Zom. Er zog seine Liste mit den Schulen heraus und überflog sie. »Wir müssen zur Sherman-Schule«, erklärte er dann.
»Okay«, erwiderte Brant. »Hoffentlich brocken Sie uns da nicht wieder so eine Suppe ein.«
George starrte ihn an. »Sie können gut kritisieren«, rief er wütend. »Wenn Sie meinen, dass Sie Ihre Sache besser machen, dann versuchen Sie's doch.«
»Mach' ich«, versicherte Brant, »wenn Sie wieder alles verpfuschen.«
George wollte seinen Ohren nicht trauen. Er war so verblüfft, dass er kein Wort hervorbrachte. Schweigend marschierten die beiden Männer die Straße hinunter.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: James H. Chase/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/123rf.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Mechtild Sandberg (OT: More Deadly THan The Male).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2020
ISBN: 978-3-7487-3622-6
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