WILSON TUCKER
DIE LETZTEN UNSTERBLICHEN
- Galaxis Science Fiction, Band 24 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE LETZTEN UNSTERBLICHEN
Prolog
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Das Buch
Vor zwölftausend Jahren stürzte das Raumschiff über der Erde ab. Sechs Mitglieder der dreihundertköpfigen Besatzung blieben am Leben. Sie durchstreiften die Erde - die Insel im All, auf der sie gelandet waren.
Sie wurden Könige und Propheten. Sie halfen mit, Kulturen zu gründen und zu zerstören.
Sie wurden als Halbgötter verehrt und als Schwarze Magier verfolgt. Schließlich starben auch sie, weil ihnen fehlte, was sie zum Überleben nicht mehr fanden: schweres Wasser.
Sie starben - bis auf zwei: Carolyn und Gilbert.
Sie stammen von derselben Rasse ab und sind doch so verschieden. Carolyn verkörpert das Böse. Sie schreckt vor keinem Verbrechen zurück, um ihre Absicht zu verwirklichen: die Rückkehr zum Planeten ihrer Herkunft. Gilbert dagegen hat sich damit abgefunden, auf der Erde zu bleiben. Er sieht seine Aufgabe darin, die skrupellosen Pläne seiner Artgenossin zu vereiteln...
Die letzten Unsterblichen von Wilson Tucker (geboren am 23. November 1914 in Deer Creek, Illinois; gestorben am 6. Oktober 2006 in Saint Petersburg, Florida) erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
DIE LETZTEN UNSTERBLICHEN
Prolog
Er sank durch schwarze, farblose Leere, der es noch an ausreichender Substanz mangelte, um sie mit dem Begriff Himmel näher bezeichnen zu können. Wie eine winzige Motte sah er aus, als er sich drehend und langsam überschlagend auf den Planeten zu schwebte. Eine fremde Sonne und ihm unbekannte Sternbilder schienen wie in einem großen Kaleidoskop um ihn zu kreisen.
Er hatte die Schiffskatastrophe überlebt.
Ein Stück von ihm entfernt trudelte ein weiterer Körper auf den fernen Planeten zu. Aber der Raumanzug war aufgerissen, sein Besitzer tot. Er war zu langsam gewesen, hatte kein Glück gehabt und das zerstörte Schiff nicht rechtzeitig verlassen. Jedes Mal, wenn er bei seinen Drehbewegungen den Raumanzug zu Gesicht bekam, sah er im Licht der Sonne, dass der Körper buchstäblich explodiert war.
Er kannte den toten Begleiter nicht. Wahrscheinlich war es ein Mitglied der Mannschaft, das im Augenblick der Katastrophe gerade dienstfrei gehabt hatte und davon überrascht worden war. Unfälle dieser Art waren so selten, dass im Schiff keine Schutzanzüge getragen wurden. Schwerelos schwebten beide auf diesen namenlosen Planeten zu, der in einen matten bläulichen Dunst gehüllt zu sein schien.
Hatten außer ihm noch andere überlebt?
Das Schiff war schon lange nicht mehr vorhanden. Es war wie eine ausgebrannte Rakete auf den Planeten hinabgestürzt, bei Eintritt in die bläulich grüne Atmosphäre verbrannt. Er hatte nur wenige Sekunden Zeit gehabt, das Schiff verlassen zu können. Das Heulen der Alarmsirenen war untergegangen im knirschenden Dröhnen, als der Meteorit die Hülle des Schiffes getroffen und den Antriebsraum durchschlagen hatte. Bei der ersten Erschütterung des Aufpralls hatte er seinen Raumanzug angezogen und dicht gemacht. Das war eine rein instinktive Reaktion gewesen. An eine ernste Gefahr hatte er in diesem Augenblick allerdings nicht gedacht. Erst als er sich seiner Frau zugewandt hatte, die in einer der Kojen lag, war ihm das Ausmaß der Katastrophe klar geworden. Nach dem ersten Schritt in ihre Richtung hatten die Sirenen zu heulen begonnen, und die Angst hatte ihn gepackt, sie würde ihren Raumanzug nicht schnell genug schließen können. Zwischen dem zweiten und dritten Schritt war das Schiff durch die im Antriebsraum im Heck hervorgerufene Explosion an den Nähten geborsten. Der Meteorit hatte es an seiner verwundbarsten Stelle getroffen. Das große Sternenschiff war verloren.
Die meisten Passagiere und Besatzungsmitglieder waren in die Leere des Raumes hinausgeschleudert worden. Dort hatten sie zwischen den Trümmern und der ausgelaufenen Kühlflüssigkeit der Energieaggregate um ihr Leben gekämpft.
Er wusste, dass seine Frau sich hatte retten können, dass sie noch lebte. Sie hatten eine intime Ehe geführt, und jeder kannte die Zukunft des anderen. Sie hatte gebadet und wollte gerade zu Bett gehen, als sich die Katastrophe ereignete. Er hatte sie zuletzt gesehen, als sie in der Koje versuchte, liegend ihren Rettungsanzug dicht zu machen. Der Meteorit hatte das Schiff durchschlagen und seine Bahn durch das All fortgesetzt. Das zerstörte Schiff war weitergeschossen, durch den Zusammenstoß von seinem ursprünglichen Kurs abgelenkt, und in der Atmosphäre des Planeten verglüht. Der grelle Flammenschein war wie ein Lichtblick für ihn gewesen. Der Planet hatte also wenigstens eine Atmosphäre.
Er und sein stummer Begleiter näherten sich dem Planeten sehr viel langsamer als das Schiff. Er schloss die Augen, um ihn nicht ständig sehen zu müssen. Wo mochte seine Frau sein? Wo waren die anderen Überlebenden?
Als er spürte, dass er in die obersten dünnen Luftschichten des Planeten eindrang, öffnete er die Augen wieder. Schwaches, diffuses Licht umgab ihn. Er merkte, wie sein Anzug auf die veränderte Umgebung reagierte.
Der Raumanzug des Toten tauchte in seinem Gesichtskreis auf, und er wandte den Blick nach unten zu dem Planeten, weil er den Anblick nicht mehr ertragen konnte. Er streckte die Beine aus und legte die Füße aneinander, damit die Energie in den beiden Metallschuhen konzentriert der Anziehungskraft des Planeten entgegenwirken konnte und sein Sturz gebremst wurde. Die Sonne und dieses Planetensystem kannte er nicht. Als Passagier des Schiffes hatte er sich nicht im Einzelnen dafür interessiert, wo sie sich gerade aufhielten. Es war Zufall, dass der Meteorit sie gerade in diesem Teil des Alls getroffen hatte. Die Welt da unten würde also zahllose Geheimnisse bergen. Helle und dunkle Flecken zeichneten sich auf der gewölbten Oberfläche ab. Er schloss daraus, dass es Landgebiete und Meere sein mussten. So sehr er sich auch anstrengte, keine Lichtpunkte auf der Nachtseite des Planeten zeigten an, dass es dort eine Stadt gab oder andere Hinweise auf zivilisierte Lebensformen. Vielleicht befand er sich noch zu weit oben. Möglich war auch, dass die Lichtquellen dort unten relativ schwach waren.
Bei dieser Überlegung berührte er instinktiv den Gürtel, der die Notrationen enthielt. Dann blickte er noch einmal zu seinem leblosen Begleiter hinüber. Auf diesem Planeten Nahrung zu finden, würde kein großes Problem sein. Die Beschaffung geeigneten Wassers, fürs Überleben von ungeheurer Wichtigkeit, konnte allerdings wesentlich schwieriger werden. Die Seen, die er von oben erkennen konnte, waren nutzlos ohne geeignete Aufbereitungsanlagen. Ausreichende Mengen von Regenwasser würden schwer zu sammeln sein, und auch das war unter Umständen kaum genießbar. Es wäre also gut, wenn er sich die Notrationen des Toten besorgte.
Als Schiffbrüchiger musste er versuchen, unter Ausnützung aller Möglichkeiten am Leben zu bleiben. Unter diesen Umständen wäre es durchaus vertretbar, einem Toten etwas wegzunehmen. Die Kühlflüssigkeit aus dem Antriebsraum war leider verloren. Die hätte ausgereicht, ihn für lange Zeit am Leben zu erhalten.
Die Atmosphäre wurde dichter. Er wollte in jedem Fall vor der Leiche unten sein, um die Notrationen bergen zu können. Die Landflächen hatten inzwischen Konturen bekommen. Er rechnete sich aus, in welchem Gebiet er ankommen würde. Zur einen Seite hin lag ein weites Meer im Licht der untergehenden Sonne. Er suchte nach der Küste.
Seine Gedanken kehrten zu seiner Frau zurück. Wo mochte sie sein? Fiel auch sie auf diesen Planeten unter ihm hinab? Gab es noch weitere Überlebende? Würde er sie auf dem Planeten finden? Er würde sie in der unendlichen Weite des Gebietes suchen müssen. Der Planet wurde immer größer, während er herunterkam.
Eine lange Zeit verging, bevor er die Beine grätschte, um die Fallgeschwindigkeit zu bremsen. Sein Anzug blähte sich auf wie ein Ballon, um die Wucht des Aufschlags zu mildern. Er kam über einer sandigen, einsamen Küste herunter.
Erstes Kapitel
Cummings war aus Washington gekommen. Er verschränkte die Finger seiner Hände über einem dicken Stoß von Berichten, die mit der Schreibmaschine geschrieben waren, und blickte zu dem Lichtfleck hinüber, der durch das Fenster hereinfiel. Es war Sommer, und das Fenster stand offen. Der Verkehrslärm drang nur gedämpft herein. Das Fleckchen Sonnenlicht auf dem Fußboden schien Cummings zu faszinieren. Wie hell es w.ar, und wie langsam es sich bewegte. Der überstürzte Flug von Washington nach Knoxville hatte ihn aufgeregt. Das Fliegen schlug bei ihm immer auf das Herz und den Magen. Von dem Lichtfleck ging etwas Beruhigendes aus, ein Gefühl des Friedens und der Vertrautheit.
Der andere Mann in dem kleinen Büro schwieg. Er wartete darauf, dass sein Vorgesetzter das Wort ergriff.
Cummings ließ den Lichtfleck nicht aus den Augen, bis sich seine Aufregung etwas gelegt hatte. Dann sagte er: »Es war unnötig, Dikty, mir in diesem Zusammenhang das Urlaubsgesuch vorzulegen. Sie müssten mich eigentlich besser kennen.«
Dikty nickte. Es stimmte, was sein Chef sagte.
»Ja, ich weiß. Aber ich wollte Ihnen diesen Ausweg offenlassen, für den Fall, dass Sie jemand anderen auf die Sache ansetzen wollen. Ich gebe es ungern zu, aber das ist das erste Mal, dass ich mit einer Sache nicht fertig werde.« Er zeigte resigniert auf den Stoß Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen. »Alles, was darin steht, weiß ich über diesen Fall, und trotzdem weiß ich gar nichts.«
»Also ein schwieriger Fall«, sagte Cummings, fast im Selbstgespräch.
»Ja, ein schwieriger«, gab Dikty zu. »Ich stehe vor einer Wand. Jeder Mensch ist irgendwann und irgendwo geboren. Aber nicht dieser Mann - wie es scheint.«
Der Abteilungschef reagierte mit einem matten, schnellen Lächeln. Es war keine Spur von Freude darin. Eine flüchtige Lippenbewegung nur, sonst nichts. »Ich bin froh, dass Sie wie es scheint gesagt haben.«
»Eine weitere Möglichkeit, die ich offenlasse.« Dikty wusste, dass er mit dieser Erklärung auch nicht weiterkam. »Ich nehme an, dass er tatsächlich geboren wurde.« Die Stimme des Mannes klang bitter. »Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen, daher weiß ich, dass er existiert. Dass ihn der Klapperstorch gebracht hat, daran glaube ich schon lange nicht mehr. Der Mann muss Vater und Mutter gehabt haben, muss das Kind uns unbekannter Eltern gewesen sein. Irgendwo und irgendwann muss er auf die Welt gekommen sein.« Er breitete in einer Geste der Ratlosigkeit die Hände aus. »Aber wo? Die fragliche Person war eines Tages ganz plötzlich da, so plötzlich, wie ich mit dem Finger schnippe, und seither gibt es sie.«
Cummings starrte auf das Fleckchen Sonnenlicht. Mit den gefalteten Händen strich er über den vor ihm liegenden Bericht.
»Und wann war das? Tag und Jahr?«
»Am 8. März 1940.«
Der Abteilungschef schloss die Augen. Dikty glaubte einen kurzen Augenblick lang, eine Spur von Bewegung in dem sonst ausdruckslosen Gesicht seines Vorgesetzten erkannt zu haben. Nach einer kurzen Pause begann Cummings wieder zu sprechen.
»Sagt Ihnen dieses Datum irgendetwas?«
»Es ist der Geburtstag meines Enkels. Sonst nichts.«
Cummings zögerte die Antwort hinaus. Er schien nachzudenken. »An diesem 8. März feierte die Hölle auf Erden Geburtstag. Möglich, dass es ein paar Tage früher oder später war. Man könnte dieses Datum auch als Geburtstag unserer Organisation bezeichnen. Denn damals machte man die ersten Pläne für den Aufbau eines geheimen Sicherheitsdienstes. Am oder um den 8. März 1940 herum rief der Präsident die Forschungsabteilung für Landesverteidigung ins Leben. Aus ihr ist die Abteilung Manhattan District hervorgegangen und unsere Organisation.«
»Ich hatte immer geglaubt, Manhattan District habe am Anfang gestanden«, bemerkte Dikty.
»Nein.« Cummings öffnete die Augen und blickte auf den Lichtfleck, der sich inzwischen ein Stück weiter über den Boden bewegt hatte. »Davor gab es etwas anderes. Seit 1939. Den Namen habe ich vergessen. Ist auch nicht wichtig, denn die Arbeit der Gruppe litt von Anfang an unter Geldknappheit und Mangel an Unterstützung durch die richtigen Instanzen. Aber das war der eigentliche Gründungstag der Hölle auf Erden. 1940 entstand daraus unsere Forschungsabteilung. Aus dieser wiederum, ein Jahr später, das Büro für Forschung und Entwicklung. Alle zusammen gingen dann im Manhattan District auf. Das war 1942.« Er seufzte. »Jetzt haben wir also schon mehr Geburtstage als wir zählen können. Manchmal kann man es der Öffentlichkeit wirklich nicht verübeln, dass sie mit dem Durcheinander, das in Washington herrscht, nicht zurechtkommt.«
»Und welches ist Ihrer Meinung nach der Geburtstag, auf den es uns besonders ankommt?«
»Ja, welcher?« Cummings zuckte mit den Schultern, aber er hob den Blick nicht von dem Fleckchen Sonnenlicht. »Es hängt alles davon ab, welchen Tag man feiern möchte, wenn man überhaupt einen feiern will. Im Juli 1945 wurde in der Wüste von Nevada die erste Atombombe gezündet. Aber die Leute, die sie gebaut haben, setzen den eigentlichen Geburtstag drei Jahre früher an.«
»Drei?«
Cummings nickte. »Im Dezember 1942 fand die erste echte Kettenreaktion statt. Ihrer Meinung nach kam die Hölle an diesem Tag auf die Welt. Ich selbst kann nicht sagen, ob man dieses Datum in Stein meißeln und den Tag feiern soll, oder ob man es lieber vergessen sollte. Ich glaube, es war eine genauso üble Sache wie die Erfindung des Schießpulvers. Nun ja, daran ist nichts mehr zu ändern.« Jetzt erst hob er den Blick und schaute seinen Untergebenen an. »Uns interessiert der 8. März 1940. Die von uns observierte Person tauchte an diesem Tag zum ersten Mal auf.«
Dikty nickte. »Anscheinend.«
»Ja, anscheinend.«
»Zwei Jahre später kam er hierher nach Knoxville«, berichtete Dikty nach einer Weile weiter. »Warum gerade zu diesem Zeitpunkt, weiß ich nicht. Als man damit begann, das Gelände für das Kernforschungszentrum von Oak Ridge zu vermessen, war unser Mann bereits auf der Szene erschienen und hatte sein Büro eröffnet.« Und mit einer Spur von Bitterkeit fügte er hinzu: »Jedenfalls nannte er es so. Und es befand sich zufällig nur zwei Querstraßen von unseren Büros entfernt. Wie gefällt Ihnen das?«
Cummings lächelte wieder, matt und humorlos, ein kaum wahrnehmbares Kräuseln der Lippen. »Nicht schlecht. Und Ihnen?«
»Dass er sich so dicht in unserer Nähe eingenistet hat?«
»Dass er uns wieder einmal zuvorgekommen ist. Wir kamen erst Monate später hierher, als man in Oak Ridge bereits mit dem Bau begonnen hatte. Aber sehen wir uns doch einmal alle Daten und Orte gleichzeitig an. Am oder um den 8. März 1940 herum geschahen drei Dinge - von der Geburt Ihres Enkels einmal ganz abgesehen. Erstens: In Washington beschloss die Regierung den Bau der Atombombe. Viel Geld wurde in die Forschung gesteckt. Zweitens: Die Regierung erkannte die Notwendigkeit eines streng geheimen Sicherheitsdienstes, um die Leute zu bewachen, die die Bombe zu bewachen hatten. Ein verstecktes, geheimes Rädchen im Getriebe. Und schließlich drittens: Unsere Verdachtsperson taucht zum ersten Mal in der Öffentlichkeit auf. Drei Dinge, die gleichzeitig geschahen. Ziehe ich daraus meinen Schluss, komme ich zu dem Ergebnis, dass er gewusst haben muss, und zwar schon einige Zeit vorher, was am 8. März 1940 geschehen würde. Sein Auftauchen war darauf abgestimmt.«
»Aber an diesem Tag war er in Miami gesehen worden«, wandte Dikty ein.
»In diesem Fall hätten sie anscheinend sagen müssen. Genau gesagt, hat man ihn am 8. März 1940 in Miami gefunden. Er kaufte einen Wagen und beantragte eine Fahrerlaubnis. Von diesem Tag an war er sozusagen aktenkundig. Seine Überwachung war schwierig, ich weiß. Typisch für die Bürokraten, alte Akten dreißig Jahre lang aufzubewahren. Aber dieser Tatsache haben wir unseren ersten Erfolg zu verdanken. Wir haben jedoch keinen Hinweis darauf gefunden, was er tat, bevor er diesen Wagen kaufte.«
»Richtig, und an diesem Punkt haben alle versagt. Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass der Mann vor diesem Datum, also vor dreißig Jahren, überhaupt existierte. Ich weiß es, ich habe mich selbst davon überzeugen können.« Wieder klang seine Stimme bitter.
»Wir wissen also«, fuhr Cummings fort, »dass er am selben Tag, als in Washington die denkwürdigen Beschlüsse gefasst wurden, in Florida war. Gut. Und dann kommt dieser Mann ins schöne Tennessee nach Knoxville, kurz bevor die Regierung etwa dreißig Kilometer von der Stadt entfernt den Bau des Kernforschungszentrums beginnt. Zwei Jahre hat er also gebraucht, um von Florida hier heraufzukommen. Zeit scheint ihm also nichts auszumachen. Betrachtet man diese Ereignisse unabhängig voneinander, ist nichts Verdächtiges daran festzustellen. Deshalb sagte ich ja auch vorhin, er ist uns irgendwie wieder zuvorgekommen. Er kam vor uns hierher, um jeden Verdacht von Vornherein auszuschließen.«
Dikty hing mehr in seinem Sessel, als dass er saß, und starrte aus dem offenen Fenster. »Alle diese Überlegungen erscheinen mir ziemlich phantastisch.«
»Zugegeben.« Der Abteilungschef nickte bedächtig, aber sein Blick war wieder auf den Fußboden geheftet. »Und aus diesem Grund können Sie Ihr Urlaubsgesuch zerreißen. Ich weiß genau, mit welchen Problemen Sie sich herumzuschlagen haben, und ich erkenne Ihre Leistungen durchaus an. Erzählen Sie mir etwas über ihn.«
Dikty zog eine alte Pfeife aus seiner Jackentasche und zeigte mit dem Stiel auf den Bericht auf dem Schreibtisch. »Es steht alles drin...«
»Ich möchte es nicht lesen. Ich möchte es aus Ihrem Munde hören, Ihre Eindrücke, Meinungen, einfach alles.« Er schlug mit den verschränkten Händen auf den Bericht. »Dies ist nur ein trockener Bericht, den Sie Ihrer Sekretärin diktiert haben. Ich höre mir viel lieber Ihren mündlichen Bericht an. Erzählen Sie mir also von dem Mann.«
Dikty zögerte, bevor er sagte: »Er hat mir das Leben gerettet.«
»Ja. Beschreiben Sie ihn ruhig als den Mann, der Ihnen das Leben gerettet hat. So will ich es von Ihnen hören.«
Dikty stopfte seine Pfeife und zündete sie an. Dichte Rauchwolken schwebten zur Decke.
»Es ist jetzt etwa anderthalb Jahre her - Sie erinnern sich, wir hatten gerade den Fall McKeown abgeschlossen. Meine Frau und die Enkelkinder kamen mit dem Zug, und ich wollte sie abholen, hatte mich aber verspätet. Ich hatte während des Essens die Zeit ganz aus dem Auge verloren. Ich rannte aus dem Restaurant, als ich den Zug schon kommen hörte.« Dikty machte eine Pause. Die Erinnerung war noch so stark wie damals. »Ein Stück entfernt parkte ein Taxi. Ich rannte darauf zu. Bis zum Bahnhof war es nicht mehr weit. Wenn sich der Taxifahrer beeilte, würde ich es vielleicht noch schaffen.
Ich war noch etwa zwanzig Meter vom Taxi entfernt, als mir zum ersten Mal die Frau auffiel, eine ganz alltägliche Person, mit vielen Päckchen und Tüten im Arm. Sie lief ebenfalls auf das Taxi zu, fest entschlossen, noch vor mir dort zu sein. Es war nicht der richtige Augenblick, mich als Kavalier zu erweisen.
Ich brauchte den Wagen, weil ich rechtzeitig am Bahnhof ankommen wollte. Ich lief also weiter. Und ich hätte es auch geschafft - zum Taxi zu kommen -, wenn er mir nicht in den Weg getreten wäre. Ich hatte ihn gar nicht bemerkt. Plötzlich war er da. Genau vor mir. Ich streckte die Hände aus, um nicht mit dem Körper gegen ihn zu prallen, und er tat dasselbe. So standen wir eine, zwei Sekunden lang voreinander, er und ich mit ausgestreckten Händen. Ich fand mein Gleichgewicht schnell wieder, er dagegen zeigte sich ziemlich unbeholfen. Als wir uns schließlich aus dem Clinch gelöst hatten, lief ich um ihn herum, aber die Frau bestieg gerade das Taxi. Und gleich darauf fuhr es davon.«
»Na und?«, fragte der Abteilungschef.
»Das Taxi fuhr sehr schnell. Schon an der nächsten Kreuzung stieß es mit einem Benzintankwagen zusammen. Beide Fahrzeuge gingen in Flammen auf.«
Schweigen senkte sich über das Büro. Der Flecken Sonnenlicht war über den Fußboden weitergekrochen. Es war früher Nachmittag. Der Verkehrslärm war etwas abgeflaut. Durch die geschlossene Bürotür drang das Klappern einer Schreibmaschine herein. Der gedämpfte Verkehrslärm und das Schreibmaschinenklappern waren für eine ganze Weile die einzigen Geräusche im Raum.
»Und was ist aus unserem Mann geworden?«
»Keine Ahnung«, entgegnete Dikty. »Als ich nach dem Zusammenstoß meine Fassung wiedererlangt hatte, lief ich zurück in das Restaurant, um die Feuerwehr anzurufen. Nachdem ich auf die Straße zurückgekehrt war, suchte ich nach dem Mann. Er war verschwunden. Eine gute Viertelstunde muss vergangen sein, bevor ich mich wieder an meine Frau erinnerte. Ich nahm ein anderes Taxi - den Fahrer ermahnte ich, langsam zu fahren - und begegnete ihr im Bahnhof, wo sie mich schon erwartete. Sie weinte.«
»Weinte?«
»Ja. Sie benahm sich sehr seltsam, als sie mich erblickte. Unsere Begrüßung war - nun ja, sehr liebevoll. Erst später erfuhr ich den Grund. Die Nacht zuvor hatte sie geträumt, ich sei ums Leben gekommen. Bei einem Autounfall. Und als ich bei ihrer Ankunft nicht am Bahnhof war, glaubte sie...«
Cummings nickte. »Ja.«
»Dies war mein erstes Zusammentreffen mit unserer Verdachtsperson. Erst einige Monate später sah ich ihn wieder, als ich von Ihnen den Auftrag erhielt, Ermittlungen gegen ihn einzuleiten. Sein Name sagte mir nichts, und ich fing routinemäßig ganz von vorn an. Er hat ein kleines Büro in diesem Gebäude dort gemietet«, sagte Dikty und zeigte durchs offene Fenster. »Sein Geschäft ist offensichtlich sehr klein. Er bezeichnet sich auch nicht als Privatdetektiv. Auf der Bürotür stehen lediglich sein Name und das Wort Ermittlungen. Die Polizei hat ihm eine erforderliche Lizenz ausgestellt, einen Waffenschein hat er nicht beantragt. Seit seinem Auf tauchen vor dreißig Jahren war er nicht ein einziges Mal in eine unsaubere Sache verwickelt. Bei der Polizei weiß man nichts Nachteiliges über ihn zu berichten. Freunde scheint er allerdings auch nicht zu haben. Er scheint ein Einzelgänger zu sein, der sich jedoch peinlich genau an die Spielregeln hält.«
Dikty stellte fest, dass seine Pfeife ausgegangen war. Er zündete sie wieder an.
»Als ich ihn sah, fiel mir sofort ein, dass dies der Mann war, dem ich es zu verdanken hatte, nicht in dieses Taxi gestiegen zu sein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich dies alles für einen glücklichen Zufall gehalten. Ich hatte angenommen, er sei mir versehentlich und völlig unbeabsichtigt in den Weg getreten - bis ich mit den Ermittlungen gegen ihn etwas weitergekommen war. Da erschien mir die Sache in einem ganz anderen Licht. Den Grund könnte ich Ihnen nicht nennen, aber nachdem ich sein Gesicht eine Weile studiert hatte, erkannte ich, dass er mir an diesem Tag absichtlich in den Weg getreten war, um mir das Leben zu retten.« Dikty legte die Hand gegen die Stirn. »Ich habe keine Erklärung dafür, warum ich das annehme. Aber ich bin fest davon überzeugt.«
»Ich will es Ihnen glauben«, sagte Cummings.
»Wenn ich ihm unter anderen Umständen begegnet wäre, zufällig auf der Straße oder in einer Bar, dann wäre ich nie auf den Gedanken gekommen. Dann wäre es mir nie eingefallen, dass unsere erste Begegnung etwas anderes als reiner Zufall gewesen sein könnte. Ich hätte ihn wahrscheinlich zu einem Drink eingeladen, ihm die Hand geschüttelt, mich überschwenglich bedankt und mich lächerlich gemacht. Aber da Sie mich auf den Mann angesetzt hatten, reagierte ich natürlich ganz anders. Das überraschte mich selbst. Da ich Ermittlungen gegen ihn anzustellen hatte, zog ich den vielleicht voreiligen Schluss, dass unser erstes Zusammentreffen gar kein Zufall gewesen war. Und daraus wiederum schloss ich, dass dieses Zusammentreffen beabsichtigt gewesen war. Er hat mir absichtlich das Leben gerettet - und in böser Absicht wird er es wohl kaum getan haben.
Er ist sehr groß, mindestens zehn Zentimeter größer als ich. Gut über einsachtzig groß würde ich sagen. Sein Haar trägt er kurz geschnitten. Es ist hellbraun, fast dunkelblond.« Dikty blickte seinen Vorgesetzten an. »Er sieht wie ein Ägypter aus.«
»Was?«
»Wie ein Ägypter. Gebräunte Haut, als habe er die meiste Zeit seines Lebens im Freien verbracht. Aber keine von der Sonne gegerbte Haut, wie man sie bekommt, wenn man sich lange in der Wüste aufhält oder auf windigen Ebenen. Ich fand seine Augen ungewöhnlich. Die Hornhaut ist gelb. Das findet man nicht selten bei Menschen aus dem fernen oder dem mittleren Osten. Daher meine Annahme, es könne sich um einen Ägypter handeln. Seine physische Kondition ist ausgezeichnet. Er sieht stattlich aus und wiegt etwa hundertfünfundsiebzig Pfund. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass er immer auf dem Sprung sei, stets kampfbereit, ohne jedoch aggressiv zu wirken. Wahrscheinlich betätigt er sich sportlich. Er erschien mir wachsam und jederzeit auf alles gefasst zu sein.
Trotzdem wirkt er gelassen und ruhig. Verheiratet scheint er nicht zu sein. Er fährt einen zwei Jahre alten Wagen und wohnt in einem gemieteten Haus am Stadtrand, knapp zwei Kilometer vom Campingplatz entfernt. Das Haus ist nicht groß und steht allein. Alles wirkt natürlich und männlich, nur eben ein bisschen anders als bei anderen Leuten. Er hat keinen Garten, keine Haustiere. Er besucht niemand und empfängt auch keinen Besuch. Freundinnen scheint er nicht zu haben. Ich habe mir die Post angesehen, die er bekommt, bevor sie zugestellt wurde. Nichts außer technischen Zeitschriften und Büchern. Seine Abende sind so ereignislos wie die Tage. Manchmal geht er in die Bücherei, ab und zu ins Kino. Bisweilen geht er in der Stadt spazieren. Die meiste Zeit jedoch ist er allein zu Hause. Ganz der Typ eines Bücherwurms. Er hat noch weniger Kontakt zur Stadt als die Leute auf dem Campingplatz.«
»Sie haben sein Alter noch nicht erwähnt«, bemerkte Cummings.
»Nein, das habe ich nicht.« Mit gerunzelter Stirn blickte Dikty seinen Vorgesetzten an. »Als er bei der Polizei seine Lizenz beantragte, gab er sein Alter mit einunddreißig Jahren an.«
Cummings nickte. »Und heute ist er wie alt?«
»Er wirkt wie einunddreißig.«
Cummings’ Bemerkung war ironisch gemeint: »Wie es scheint.«
»Sagen Sie mir eins. Warum ermitteln wir gegen ihn? Womit hat es angefangen?«
Cummings konzentrierte sich wieder auf das Fleckchen Sonnenlicht. Er schien fasziniert davon zu sein.
»Eine ganz alltägliche Sache«, antwortete er endlich. »Jemandem war aufgefallen, dass er jede Fachzeitschrift, die im freien Teil unserer
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Wilson Tucker/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Szarfan/Christian Dörge.
Cover: Szarfan/Christian Dörge/apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Otto Kühn (OT: The Time Masters).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 06.04.2020
ISBN: 978-3-7487-3479-6
Alle Rechte vorbehalten