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Leseprobe

 

 

 

 

JAMES E. GUNN

 

 

DIE GEISTERSTUNDE

- 13 SHADOWS, Band 44 -

 

 

 

Drei Novellen

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

1. ABIGAIL, DIE HEXE (The Reluctant Witch) 

2. DIE SCHAUMGEBORENE (The Beautiful Brew) 

3. DIE ZAUBERKÜNSTLER (The Magicians) 

 

Das Buch

 

Wenn Abigail sich ärgert, fliegen Tische und Stühle. Matt Wright verliebt sich in dieses Mädchen, doch als er merkt, was er sich eingehandelt hat, ist es zu spät. Bald darauf wachsen ihm graue Haare, denn Abigail verfügt über ein zweites Ich...

 

Jerry Blitz bildet sich einiges darauf ein, dass seine Brauerei ein gutes Bier herstellt. Eines Tages aber erblickt er im Bierschaum eine wunderschöne Nixe, und er zweifelt an seinem Verstand. Zunächst sieht nur Jerry das Mädchen im Schaum, doch bald werden es mehr und mehr...

 

Mit allerlei Tricks hat Gabriel es geschafft, in einen magischen Kreis einzudringen. Er soll jemanden finden, von dem nur er weiß, dass er falsche Namen benutzt und ein Meister in der Kunst der Verwandlung ist. Doch die Hexe Ariel durchschaut seine Rolle, und bald erkennt er, welch ein eiskaltes Biest sie ist...

 

Die  Sammlung DIE GEISTERSTUNDE (1970) des US-Schriftstellers James E. Gunn wurde in Deutschland erstmals im Jahre 1977 veröffentlicht (in der Reihe VAMPIR-HORROR-STORIES).

DIE GEISTERSTUNDE erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht. 

  1. ABIGAIL, DIE HEXE (The Reluctant Witch)

 

 

Matt traute seinen Augen nicht. Der Reifen sauste davon.

»Stop!«, schrie er und rannte hinterher.

Wie aus Schadenfreude machte der Reifen einen Satz in die Luft, kam wieder auf und rollte noch schneller über die Straße. Nach ungefähr hundert Metern hatte Matt den Reifen eingeholt und warf ihn auf die Seite. Und da lag er dann. Matt beäugte ihn misstrauisch. Der Schweiß lief ihm über den Rücken.

Lachte da jemand? Matt sah hoch. Außer dem jungen Ding, das barfuß über die staubige Straße schlurfte, keine Menschenseele.

Matt wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn. Die Hitze dieses Junitags in Missouri war eine Zumutung. Und dann noch die Autopanne. Matt rollte den Reifen zu seinem Wagen zurück.

Mit rechten Dingen ging das nicht zu. Matt hatte extra auf einer geraden Strecke angehalten, um den platten Reifen auszuwechseln. Er hatte den Ersatzreifen aus dem Kofferraum geholt und auf die Straße gelegt. Und plötzlich hatte sich der Reifen aufgerichtet und war davongerollt, als ginge es einen steilen Abhang hinunter.

Ausgerechnet auf dieser verdammten Nebenstraße hatte es passieren müssen, keine zwanzig Meilen von der Hütte entfernt. Aber er hatte sich ja in die Einsamkeit zurückziehen wollen und Guys Angebot dankend angenommen. Die Jagdhütte war ihm als ideales Plätzchen vorgekommen. Er brauchte absolute Ruhe, um das Buch zu schreiben. Wenn er allerdings seine Zeit damit vertrödeln musste, primitivste Existenzprobleme zu lösen, dann sah das schon wieder weniger erfolgversprechend aus.

Matt bockte den Wagen auf, schraubte den defekten Reifen ab, nahm ihn herunter und wuchtete den Ersatzreifen auf die Radbolzen. Erleichtert atmete er auf.

Genau in dem Moment bekam er den nächsten Schlag verpasst.

Die Radkappe begann zu tanzen, die Muttern, die er hineingelegt hatte, sprangen heraus und rollten unter den Wagen.

Matt fluchte wie ein Droschkenkutscher.

Tote Objekte mit Eigenleben - das hatte ihm gerade noch gefehlt!

Aber manchen Menschen ging es pausenlos so: der Kuchen fiel ihnen auf den Teppich, die Gläser zersprangen ohne ersichtlichen Grund, ihre Golfbälle flogen ins Dickicht und so weiter und so fort. Und andere wiederum freundeten sich geradezu mit den Gegenständen, die sie umgaben, an.

War das Glück? Oder Geschick? Oder Erfahrung?

Nein, es musste etwas anderes sein.

Gab es Menschen, die derlei Missgeschick geradezu herauf beschworen? Wenn ja, dann gehörte er absolut dazu.

Und wieder Gelächter. Direkt hinter ihm.

Matt fuhr herum. Das Mädchen, das gelacht hatte, war kaum einsfünfundsechzig groß, in einem ausgebeulten, verwaschenen Kleid. Die langen Zöpfe waren mausgrau. Blaue Augen in einem sonst recht langweiligen Gesicht. Matt schätzte sie auf dreizehn.

»Und warum lachst du?«, fuhr Matt die Kleine an.

»Weil Sie so komisch sind«, sagte das Mädchen.

»Findest du!«

Matt unterdrückte seine Wut, kniete sich auf die Straße und sah unter das Auto. Drei Muttern erreichte er, für die vierte musste er sich flach auf den Bauch legen.

Als er sich wieder aufrichtete, war das Mädchen immer noch da.

»Und worauf wartest du noch?«, fragte er unfreundlich.

»Auf nichts«, antwortete die Kleine.

Matt zog die Muttern an, setzte die Radkappe auf und wischte sich die staubigen Hände an der Hose ab.

»Und warum gehst du nicht heim?«, fragte er.

»Weil ich nicht kann.«

Matt ließ den Wagen herunter.

»Warum kannst du nicht?«, fragte er.

»Weil ich ausgerissen bin.« Die Augen wurden feucht, eine Träne rollte über das schmutzige Gesicht.

Bloß kein Mitleid, dachte Matt, packte den Reifen in den Kofferraum und schlug den Deckel zu. Die Sonne sank immer tiefer, und auf dieser miserablen Landstraße brauchte er vielleicht eine geschlagene Stunde für die zwanzig Meilen.

Er setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an. Noch einen schnellen Blick auf die kleine Gestalt, dann legte er den Gang ein.

»Mister! He, Mister!«

Matt streckte den Kopf aus dem Fenster. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«

»Nichts. Sie haben bloß den Wagenheber vergessen.«

Matt zog die Bremse. Er stieg aus, lud den Wagenheber ein und schlug den Deckel ein zweites Mal zu.

»Und wo willst du jetzt hin?«, fragte er.

»Nirgends.«

»Was heißt nirgends? Hast du denn keine Verwandten?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Oder Freunde?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Dann geh wieder heim, wo du hingehörst.«

Er rutschte auf den Sitz und schlug die Tür zu. Das Mädchen ging ihn nichts an. Wenn sie Hunger hatte, würde sie schon nach Hause gehen. Außerdem war er nicht die Caritas.

Er öffnete die Tür.

»Los, steig ein«, rief er.

Nicht in die Erdfurchen zu geraten, war mühsam genug, dass aber das Mädchen obendrein vor Vergnügen auf dem Sitz herumhüpfte und quietschte, ging Matt auf die Nerven.

»Vorsicht!«, sagte er und deutete auf den Aktendeckel mit den Notizen dazwischen. »Da steckt ein Jahr Arbeit drin.«

Er nahm ihn und legte ihn auf die Reiseschreibmaschine, die zwischen einem Sack Mehl und einem Korb mit Eiern auf dem Rücksitz stand.

»Ein Jahr Arbeit?«

»Ja. Für ein Buch, das ich schreibe.«

»Sie schreiben Geschichten?«

»Nein, ein Buch. Ein psychologisches Thema. Über das Phänomen von Poltergeistern und dergleichen.«

»Was sind denn Poltergeister?«

»Unruhestifter.«

»Aha«, sagte das Mädchen, als sei ihm alles klar.

»Das ist natürlich Aberglaube«, sagte Matt. »Als sich die Menschen ungewöhnliche Ereignisse noch nicht erklären konnten, machten sie die Geister dafür verantwortlich. Es gibt keine Geister, die Tische verrücken oder Gegenstände werfen und Krach machen. Wenn so etwas passiert, dann gibt es immer einen logischen Grund dafür, und das werde ich in meinem Buch beweisen. Aber du interessierst dich wahrscheinlich nicht für Bücher.«

»Doch, ich mag Bücher gern.«

»Ich meine wissenschaftliche Bücher.«

»Wenn sie von Geistern handeln schon.«

»Meinetwegen«, sagte Matt gereizt. »Und wo wohnst du?«

Die Fröhlichkeit wich aus ihrem Gesicht. »Ich kann nicht heimgehen.«

»Warum nicht? Sag bloß nicht, weil du ausgerissen bist.«

»Weil mich mein Vater sonst wieder schlägt.«

»Dein Vater schlägt dich?«

»Nicht mit den Fäusten. Wenigstens nicht oft. Er nimmt immer den Gürtel. Schauen Sie.« Sie zog den Rock und das eine Bein eines Schlüpfers in die Höhe, der aus irgendeinem grässlichen Stoff war.

Ein Blick, und Matt sah weg. Auf einem Schenkel ein großer blauer Fleck. Für ein Mädchen von dreizehn auffallend wohlgeformte Beine.

Matt runzelte die Stirn. »Warum schlägt er dich?«

»Weil er bösartig ist.«

»Er muss doch einen Grund haben.«

»Das ist so«, sagte das Mädchen. »Wenn er betrunken ist, schlägt er mich, weil er betrunken ist. Und wenn er nicht betrunken ist, schlägt er mich, weil er nüchtern ist.«

»Und was sagt er dann?«

Sie sah ihn scheu an. »Das kann ich nicht wiederholen.«

»Nein, ich meine, was passt ihm nicht?«

»Ach so!« Sie überlegte. »Dass ich nicht verheiratet bin. Ich soll mir einen kräftigen Kerl angeln, der dann bei uns wohnt und seine Arbeit macht. Ein Mädchen bringt kein Geld heim, sagt er, wenigstens kein anständiges.«

»Aber du bist doch noch zu jung zum Heiraten.«

Sie sah ihn von der Seite her an. »Ich bin sechzehn. Die meisten in meinem Alter haben schon Kinder. Oder wenigstens eines.« Sie runzelte die Stirn. »Heiraten! Heiraten! Als ob ich nicht gern verheiratet wäre. Es ist doch nicht meine Schuld, wenn mich keiner will.«

»Das ist mir ein Rätsel«, sagte Matt spöttisch.

Sie lächelte ihn an. »Sie sind nett.«

Wenn sie lächelte, war sie fast hübsch.

»Wieso kommt es denn nicht zum Heiraten?«, fragte Matt.

»Einmal wegen meines Vaters«, sagte sie. »Mit dem will keiner etwas zu tun haben. Vor allem aber, weil ich eben kein Glück habe.« Sie seufzte. »Mit einem bin ich fast ein Jahr gegangen. Er hat sich dann das Bein gebrochen. Mein nächster Freund ist fast ertrunken, als er in den See gefallen ist. Ich soll daran schuld gewesen sein.«

»Du?«

Sie nickte. »Die Leute sagen, wer mit mir geht, geht mit dem Unglück. Deshalb kommt keiner mehr. Einer hat sogar gesagt, dass er eher einen Puma heiraten würde als mich. Sind Sie verheiratet, Mister...«

»Wright«, sagte Matt. »Matthew Wright. Nein, ich bin nicht verheiratet.«

Sie setzte eine nachdenkliche Miene auf und nickte. »Wright«, sagte sie langsam. »Abigail Wright. Das klingt hübsch.«

»Abigail Wright?«

Sie war die Unschuld in Person. »Habe ich das gesagt?«, fragte sie. »Das ist aber komisch. Ich heiße nämlich Jenkins.«

Matt schluckte. »Du gehst wieder nach Hause«, sagte er streng. »Entweder du erklärst mir den Weg, oder du steigst sofort aus.

»Aber mein Vater...«

»Hast du vielleicht gedacht, ich nehme dich mit?«

»Ja.«

»Das geht nicht. Außerdem gehört es sich auch nicht.«

»Wieso?«

Matt trat auf die Bremse.

»Gut!«, sagte das Mädchen schnell. »An der nächsten Abzweigung bitte rechts.«

 

Hühner flatterten über den Hof. Aus einem Lattenverschlag hörte man das Grunzen von Schweinen. Die jämmerliche Holzhütte mit der Veranda davor war seit Jahren nicht mehr gestrichen worden.

Auf der Veranda saß in einem Schaukelstuhl ein großer, dunkler Mann mit Vollbart und einem Wust von Haaren auf dem Kopf.

»Das ist er«, flüsterte das Mädchen.

Matt war nicht sonderlich wohl in seiner Haut, aber der Vater des Mädchens schaukelte weiter, als würde seine Tochter täglich von Fremden zurückgebracht.

»Da wärst du wieder zu Hause«, sagte Matt leicht nervös.

»Ich. steige aber nicht eher aus, bis ich weiß, ob er mich haut«, sagte das Mädchen. »Reden Sie erst mit ihm.«

»Ich denke nicht daran«, sagte Matt schnell. »Ich habe dich heimgebracht, und das reicht.«

»Sie sind nett und sehen sehr gut aus. Ich sage meinem Vater ungern, dass Sie die Situation ausgenützt haben. Wenn er eine Wut hat, ist er grauenvoll.«

Matt sah Abigail entsetzt an. Als sie den Mund aufmachte, stieß er die Tür auf und stieg aus. Langsam ging er auf die Hütte zu und stellte einen Fuß auf die Veranda.

»Ich«, sagte er, »ich habe Ihre Tochter auf der Landstraße auf gelesen.«

Jenkins schaukelte weiter.

»Sie wollte weglaufen«, sagte Matt. »Ich habe sie zurückgebracht.«

Jenkins schaukelte und schwieg.

Matt machte auf dem Absatz kehrt, ging zu seinem Auto und holte eine Flasche Gin aus dem Handschuhfach.

»Hoffentlich sehe ich dich nie wieder«, sagte er. Er ging zur Veranda zurück. »Mögen Sie einen Schluck?«

Jenkins griff sofort nach der Flasche, setzte sie an und trank fast die Hälfte auf einen Zug.

»Reichlich schwach«, sagte er, dachte aber nicht daran, die Flasche zurückzugeben.

»Ich habe Ihre Tochter wiedergebracht«, sagte Matt. »Und warum?«

»Weil sie nicht wusste wohin. Schließlich ist sie doch hier zu Hause.«

»War«, sagte Jenkins. »Sie ist weggelaufen.«

»Es ist mir klar, dass Mädchen in dem Alter mühsam sind. Ich kann Sie gut verstehen, aber sie ist doch trotzdem Ihre Tochter.«

»Da habe ich meine Zweifel.«

Matt holte tief Luft und startete den nächsten Versuch.

»Ein Zusammenleben erfordert immer Kompromisse. Ihre Tochter reizt Sie sicher manchmal bis aufs Blut, aber sie zu schlagen, damit kommen Sie auch nicht weiter. Wenn Sie zum Beispiel

»Sie schlagen?« Jenkins stand auf und deutete mit der Flasche auf die Tür, die in die Hütte führte.

Wohl oder übel folgte ihm Matt.

»Ich habe sie noch nie geschlagen«, sagte Jenkins und zündete eine Petroleumlampe an. »Aber sehen Sie sich das an.«

In der Mitte des Raumes lag ein umgestürzter Holztisch und streckte drei Beine in die Luft. Das vierte lag daneben.

»Was ist das?«, fragte Matt.

»Das ist noch gar nichts«, sagte Jenkins mit zitternder Stimme. »Sie sollten erst das andere Zimmer sehen.«

»Aber wie... Ich meine, warum?«

»Ich behaupte ja gar nicht, dass Abe es gewesen ist«, sagte Jenkins und schüttelte den Kopf. »Aber wenn sie wütend oder unglücklich ist, dann passiert eben so etwas. Und sie war verdammt unglücklich, wie dieser Duncan ihr gesagt hat, dass er nichts mehr von ihr wissen will. Die Stühle sind in die Luft geflogen und wieder auf den Boden heruntergesaust, der Tisch ist umgestürzt, und es hat Teller und Tassen geregnet. Und schauen Sie sich das an!« Er beugte den Kopf, machte die Haare auseinander und zeigte Matt eine dicke Beule. »Wie der junge Duncan ausschaut, möchte ich nicht wissen.«

Matt starrte den Mann entgeistert an.

»Aber sie schlagen?«, fuhr Jenkins fort. »Ich? Eher würde ich die Hand in ein Schlangennest legen.«

»Wollen Sie damit sagen, dass das alles von allein passiert ist?«

»Genau. Ich würde es ja selbst nicht glauben, wenn es das erstemal gewesen wäre. Aber seltsame Sachen passieren, seit Abe vor fünf oder sechs Jahren in das Alter gekommen ist - Sie wissen schon, was ich meine.«

»Aber das Mädchen ist doch erst sechzehn.«

»Sechzehn?« Er schielte zur Tür und senkte die Stimme. »Sagen sie ihr bloß nicht, dass ich es Ihnen gesagt habe, aber Abe ist eine alte Jungfer. Über achtzehn ist sie!«

Ein Teller sprang von einem Regal und zerplatzte vor Jenkins’ Füßen in tausend Scherben. Er sprang zur Seite und fing an zu zittern.

»Sehen Sie?«, jammerte er.

»Der Teller ist eben runtergefallen«, sagte Matt.

»Nein, verhext ist sie«, sagte Jenkins, rollte die Augen und setzte die Flasche an.

»Vielleicht bin ich ihr nie ein guter Vater gewesen«, fuhr er fort und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Seit ihre Mutter tot ist, ist sie so und hat lauter so merkwürdige Gewohnheiten. Ganz so schlimm war es nicht immer. Ich habe zum Beispiel jahrelang kein Wasser holen müssen. Die Tonne neben der Veranda ist immer voll. Aber seit sie in dem Alter ist, und ihr die Burschen immer schon nach kurzer Zeit nicht mehr gefallen, seitdem hält man es kaum aus mit ihr. Inzwischen lässt sich schon keiner mehr blicken. Alles hüpft und tanzt in der Gegend herum, man traut schon dem Stuhl nicht mehr, auf dem man sitzt. Das geht einem an die Nieren. Man kann schließlich nicht alles aushalten.« Die Augen des Mannes wurden feucht. »Ich habe schon lange keine Freunde mehr. Wenn man bei uns auf dem Land ganz allein ist, dann ist das hart. Noch dazu, wenn man wie ich am Morgen vor Rückenschmerzen oft kaum aus dem Bett kommt. Sehen Sie, Sie stammen aus der Stadt und sehen richtig sympathisch aus. Sie sind gebildet und gefallen Abe. Warum nehmen Sie das Mädchen denn nicht mit? Wenn sie sich zurechtmacht, kann sie ganz passabel aussehen und kochen tut sie prima. Sie brauchen sie ja nicht gleich zu heiraten, wenn Ihnen nicht danach ist.«

Matt war blass geworden. Er schüttelte entsetzt den Kopf.

»Sie sind wohl verrückt«, sagte er. »Sie können Ihre Tochter doch nicht einfach so abgeben wollen.«

Er war schon an der Tür, als sich ihm eine schwere Hand auf die Schulter legte.

»Mister«, sagte Jenkins. »Wenn in unserer Gegend ein Mann mit einem Mädchen länger als zwanzig Minuten allein ist, dann erwartet man von ihm, dass er das Mädchen auf der Stelle heiratet. Sie sind fremd hier, also bestehe ich nicht darauf. Aber als Abe mich verlassen hat, von dem Moment an war sie nicht mehr meine Tochter. Niemand hat Sie gebeten, sie mir wiederzubringen. Die ißt ja mehr als ich.«

Matt griff in die Tasche, zog fünf Dollar heraus und hielt sie Jenkins entgegen. »Hier«, sagte er, »Sie können das Geld sicher brauchen.«

Jenkins widerstand der Versuchung. »Nein«, wehrte er ab. »Das ist die Sache nicht wert. Sie haben sie zurückgebracht und jetzt können Sie sie wieder mitnehmen.«

Matt sah zu dem Mädchen hinaus. Ein Schaudern lief ihm über den Rücken. Er zog noch einmal fünf Dollar aus der Tasche.

Jenkins fing an zu schwitzen. Seine Hand zuckte. Plötzlich griff er nach dem Geld und ließ es in der Hosentasche verschwinden.

»Okay«, sagte er. »Zehn Dollar - da sieht die Sache schon anders aus.«

Matt lief zu seinem Auto, als sei er dem Beelzebub gerade noch einmal ausgekommen. Er riss die Tür auf und setzte sich hinter das Steuer.

»Steig aus«, sagte er. »Du bist daheim.«

»Aber mein Vater...«

»...tut dir nichts.« Matt griff an ihr vorbei und machte die Tür auf. »Adieu.«

Abigail stieg langsam aus. Sie ging um den Wagen herum zur Veranda. Jenkins, der im Türrahmen stand, zog ängstlich den Kopf ein.

»Ekliger alter Kerl«, sagte das Mädchen.

Jenkins zuckte zusammen. Ais Abigail in der Hütte verschwunden war, wollte er die Flasche ansetzen, aber diese machte nicht an seinem Mund halt, sondern stieg weiter in die Höhe und kippte plötzlich um. Der Gin floss Jenkins über den Kopf.

Jenkins fluchte, und Matt ließ den Motor an und brauste los.

Eine optische Täuschung, versuchte er sich einzureden.

Die Blockhütte hätte eigentlich auf Anhieb zu finden sein müssen. Guy hatte Matt den Weg genau aufgezeichnet. Trotzdem fuhr Matt ganze zwei Stunden durch die Gegend und kannte sich schließlich überhaupt nicht mehr aus. Er war müde und sein Magen knurrte.

Zum vierten Mal fuhr er nun schon an einer Blockhütte vorbei, auf die alle Angaben passten. Nur etwas stimmte nicht: es brannte Licht.

Matt entschloss sich, wenigstens zu fragen.

Schon draußen vor der Tür roch er es. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Ausgelassener Speck.

Er klopfte. Vielleicht lud man ihn zum Essen ein.

Die Tür ging auf.

»Sie haben aber lang gebraucht.«

»Nein!«, stöhnte Matt. »Alles, bloß das nicht. Was machst du denn hier? Woher weißt du denn...«

Abigail zog ihn in die Hütte. Alles sah hell, freundlich und sauber aus. Der Fußboden war frisch gescheuert. In einer Ecke stand ein Reisigbesen. Die beiden unteren Betten, die an gegenüberliegenden Wänden standen, waren bezogen. Der Tisch war für zwei gedeckt. Auf dem Herd dampften die Töpfe.

»Mein Vater hat es sich anders überlegt«, sagte Abigail.

»Das finde ich ganz schön hinterlistig«, sagte Matt. »Ich meine, ich habe ihm schließlich...«

»Moment«, fiel ihm Abigail ins Wort und griff in die Tasche ihres jämmerlichen Kleides. »Hier!«

Sie gab ihm zwei zerknitterte Fünfdollarnoten und Kleingeld im Wert von einem Dollar und siebenunddreißig Cent.

»Mehr hat er leider nicht, soll ich ausrichten«, sagte Abigail. »Dafür hat er mir Eier und Speck, Mehl und noch so ein paar Sachen mitgegeben.«

Matt ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Aber du hast doch gar nicht wissen können.«

»Ich war im Finden schon immer groß«, sagte Abigail und strahlte.

»Wie bist du denn hierhergekommen?«

»Geritten.«

Matt streifte den Besen mit einem misstrauischen Blick.

»Mein Vater hat mir den Esel gegeben«, sagte Abigail. »Ich habe ihn wieder heimgeschickt. Er findet den Weg auch allein.«

»Aber du kannst nicht hierbleiben. Unmöglich!«

»Mr. Wright«, sagte Abigail. »Mit leerem Magen soll man keine Entscheidungen treffen - das ist einer der Sprüche von meiner Mutter. Jetzt kommen Sie erst einmal zu sich. Das Essen ist fertig. Sie müssen doch fast am Verhungern sein.«

»Keine Entscheidung treffen!«

Matt konnte nur noch den Kopf schütteln. Er sah zu, wie Abigail auftrug. Dicke Scheiben gebratenen Speck, eine sämige Soße, Maiskolben, frisches Brot, Butter, selbstgemachte Marmelade und dampfenden Kaffee. Abigail hatte rote Backen und machte einen restlos zufriedenen Eindruck. Sie sah fast hübsch aus.

»Ich bringe keinen Bissen hinunter«, sagte Matt.

»Unsinn!« Abigail lud ihm den Teller voll.

Matt schnitt ein Stück Speck ab und steckte es in den Mund. Es schmeckte so köstlich, dass er plötzlich mit einem Appetit aß, als habe er selten etwas Besseres bekommen. Die Soße war ein Gedicht. Alles war so, wie er es mochte.

Als er alles aufgegessen hatte, zündete er sich eine Zigarette an, und Abigail goss ihm Kaffee ein. Matt fühlte sich zufrieden.

»Wenn die Zeit gereicht hätte, hätte ich noch einen Hefezopf gebacken«, sagte Abigail. »Das kann ich gut.«

»Nein!«, rief Matt plötzlich und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Es geht nicht. Du kannst nicht hierbleiben. Was denken denn da die Leute.«

»Das ist doch egal. Mein Vater macht sich bestimmt nichts daraus. Außerdem kann ich ja sagen, dass wir verheiratet sind.«

»Um Gottes willen!«, rief Matt. »Bloß nicht!«

»Bitte, Mr. Wright. Lassen Sie mich doch für Sie kochen und den Haushalt machen. Ich falle Ihnen nicht zur Last, Mr. Wright. Bestimmt nicht.«

»Hör zu, Abigail.« Er nahm ihre Hand. Sie war zart und weich. Das Mädchen stand folgsam neben seinem Stuhl, die Augen zu Boden geschlagen. »Du bist ein nettes Mädchen, und ich mag dich gern. Du kochst phantastisch und wirst einmal eine gute Ehefrau. Du willst dir doch nicht deine Chancen verderben. Du kannst nicht bei mir bleiben. Du musst zu deinem Vater zurück. Und zwar noch heute.«

Alle Fröhlichkeit wich von ihr. »Gut«, sagte sie leise.

Damit hatte Matt nicht gerechnet. Erstaunt stand er auf und ging zur Tür. Das Mädchen folgte ihm. Er spürte fest, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie gingen in die warme Nacht hinaus. Matt machte die Autotür auf und ließ sie einsteigen. Dann setzte er sich hinter das Steuer. Abigail hatte die Schultern hochgezogen und sah ihn nicht an.

Sie tat Matt plötzlich wieder leid. Er kam sich vor, als hätte er ein Kind geschlagen. Das arme kleine Ding, dachte er, riss sich aber im selben Moment zusammen und schüttelte diese Gedanken ab. Bloß nicht weich werden!

Er wollte den Motor anlassen, er sprang jedoch nicht an. Matt versuchte es ein zweites Mal. Der Motor heulte auf und starb wieder ab. Ein dritter Versuch. Ohne Erfolg.

Er sah Abigail misstrauisch an.

Unmöglich, dachte er. Sie war nicht am Auto gewesen. Litt er vielleicht plötzlich an Verfolgungswahn? Er konnte das Mädchen doch nicht für alles verantwortlich machen, was schief ging.

Er gab es auf, bevor die Batterie vollends leer war.

»Gut«, sagte er. »Dann schläfst du eben die eine Nacht hier.«

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: James E. gunn/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Pixabay/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Elisabeth Simon (OT: The Witching Hour).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2020
ISBN: 978-3-7487-3222-8

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