IRVING A. GREENFIELD
DER HORROR-TRIP
- 13 SHADOWS, Band 43 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER HORROR-TRIP
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Das Buch
Die Erkenntnis trifft Roger Andrews wie ein Blitzschlag: Durch Umstände, die er nicht kennt, ist er in eine andere Epoche versetzt worden.
Er hält den Beweis in Händen, dass er im Jahr 2150 als der Neurochirurg Dr. Paul Klee lebte. Doch jetzt – Anno 1692 – gilt er als der Schullehrer Roger Andrews und wohnt in Salem, einem kleinen Ort, in dem der Hexenwahn ausgebrochen ist.
Roger Andrews gerät in den Strudel der Gewalt. Er muss um sein Leben kämpfen, denn man beschuldigt ihn, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben. Und er muss jenes furchtbare Geheimnis ergründen, das noch immer auf ihm lastet...
Der Roman DER HORROR-TRIP (1976) des US-Schriftstellers Irving A. Greenfield wurde in Deutschland erstmals im Jahre 1981 veröffentlicht (als Band 444 der Reihe VAMPIR-HORROR-ROMAN).
DER HORROR-Trip erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Horror-Reihe 13 SHADOWS aus dem Apex-Verlag, die ganz in der Tradition legendärer Heftroman-Reihen wie GESPENSTERKRIMI und VAMPIR-HORROR-ROMAN steht.
DER HORROR-TRIP
Erstes Kapitel
Erst gegen Morgen hatte es aufgehört zu schneien, und das Land lag bis zum Horizont wie unter einem dicken gleißenden Leichentuch. Der Mann auf der Smith Hill kniff die Augen zusammen, weil die Sonne ihn blendete, und starrte auf die Häuser und Hütten des Dorfs Salem. Er hieß Roger Andrew.
Andrew war vor zwei Wintern aus Maine nach Salem gekommen, um die Schule zu übernehmen. Damals war John Cheever erkrankt, Andrew sollte ihn vertreten, aber Cheever hatte sich immer noch nicht erholt, und so war aus der vorübergehenden eine Beschäftigung auf Dauer geworden.
Für die Farmer und die übrigen Einwohner von Salem Village war Andrew ein Fremder geblieben. Er war größer und breiter als die anderen Männer, ausgenommen Goodman Argall, der in der Stadt Salem vier Meilen weiter östlich eine Werft betrieb, und er trug einen Bart, während die meisten Männer glattrasiert waren. Seine Haare waren schwarz und reichten ihm bis auf die Schultern, seine Nase erinnerte an einen Adlerschnabel, und seine Brauen waren ungewöhnlich buschig.
Während die Leute von Salem die Windpockenepidemie, an der die Jüngsten und die Ältesten starben und die den Überlebenden grässliche Narben zufügte, als Strafe des Himmels erklärten und in der Kirche um Gnade flehten, war Andrew Realist. Die Leute empfanden auch die wachsenden Schwierigkeiten mit den Indianern als göttliche Strafe, und der Reverend ließ bei jeder Gelegenheit seine quäkende Stimme erschallen und verkündete, der Zorn des Allmächtigen wäre provoziert worden, da ständig mehr Gläubige sich der Kirche und dem Gotteswort entzogen. Andrew war entschlossen, sich seine Skepsis nicht anmerken zu lassen. Er war nicht unzufrieden mit dem Schicksal, das ihn in diesen Winkel von New Jerusalem verschlagen hatte, das die Menschen der Massachusetts Bay Colony am Rand der Wildnis erschaffen wollten.
Nachdenklich wandte er sich vom Anblick der grauen Häuser im Tal unter sich ab und spähte nach Westen, wo die Sonne tief über den Bergen stand. Hinter den Bergen dehnte sich Land, das noch kein Weißer betreten hatte. Das Land gehörte den Indianern, und im Vergleich dazu waren die Städte und Dörfer sogar die Metropole: Boston nicht mehr als Staubkörner. Die Weißen hatten Angst vor dieser unendlichen Weite. Sie wähnten, von dort könnten finstere Mächte über sie hereinbrechen, um sie zu vernichten. Sie empfanden bereits die Hügel, die Salem Village auf drei Seiten umzingelten - nur im Osten war das Tal offen - als Bedrohung.
Andrew fürchtete weder die Hügel noch die Wildnis. Er fürchtete lediglich, eines Tages Salem verlassen zu müssen und dann ernstlich in Schwierigkeiten zu geraten. Er war nicht abergläubisch, aber er nahm die innere Stimme, die ihn vor einer solchen Zukunft warnte, bitter ernst.
Die Schatten der kahlen Bäume wurden länger, der Himmel über dem Meer im Osten nahm eine bleierne Färbung an. Andrew ging langsam zum Dorf hinab. Er kam an einer der Farmen vorbei, am Hoftor stand eine junge Frau. Andrew hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Anscheinend erwartete die Frau es von ihm, aber er fand nicht die richtigen Worte. Er ging schnell weiter.
Im Zentrum des Dorfs blieb er stehen. Er bedauerte jetzt, die Frau nicht angesprochen zu haben. Er hatte den Verdacht, dass sie seinetwegen am Tor gelehnt hatte; sie hatte ihn angesehen, wie ein Mädchen einen guten Freund ansieht. Er war davon überzeugt, ihr noch nie begegnet zu sein, trotzdem wusste er, dass sie verwitwet war und Maude Bowin hieß.
Er überlegte, woher er ihren Namen kannte und wieso sie wahrscheinlich seinetwegen an die Straße gekommen war, doch ihm fiel keine Erklärung ein. Schließlich gab er auf und trat in Ingersolls Ordinary. Er wollte etwas essen und sich einen Whisky gönnen.
Zweites Kapitel
Am Morgen stellte er fest, dass sich das Schulhaus nicht dort befand, wo es eigentlich hätte sein müssen, nämlich in der Ipswich Road. Tatsächlich stand es Wand an Wand mit seiner Unterkunft, ohne dass auch nur ein einziger Mensch in Salem Village ein Wort darüber verlor. Andrew ahnte nicht, wann und weshalb diese Veränderung stattgefunden hatte. Meistens wurden Entscheidungen, die das Leben der Bevölkerung betrafen, im Versammlungsgebäude, das zugleich als Kirche diente, offen diskutiert, und häufig zogen sich diese Diskussionen wochen- und monatelang hin, wobei die Richtigkeit eines Gesichtspunkts selten den Ausschlag gab. Wichtiger war die Beharrlichkeit der einen oder anderen Partei. Die Einwohner dieses neuen Zion waren halsstarrig wie die Patriarchen im Alten Testament und noch streitsüchtiger. Das Gesetz diente ihnen ausschließlich als Instrument ihrer persönlichen Machtentfaltung, und folgerichtig prozessierte beinahe jeder gegen jeden. Im Allgemeinen ging es um Lappalien, aber manchmal stand mehr auf dem Spiel, zum Beispiel Landbesitz, und nur selten waren die Gegner mit einem Gerichtsurteil zufrieden, nicht einmal, wenn sie gewonnen hatten. Regelmäßig hatten sich die Sieger einen triumphaleren Erfolg erhofft, während die Unterlegenen auf Revanche sannen.
Andrew nahm die veränderte Situation kommentarlos zur Kenntnis, und Minuten später hatte er die frühere Lage der Schule aus seinem Gedächtnis verdrängt. Er stieß die Tür auf und trat in das leere Klassenzimmer. Er kümmerte sich um das Feuer in dem steinernen Kamin und vergewisserte sich, dass die Stühle und Tische in der richtigen Reihenfolge standen: vorn die kleinen für die jüngeren Kinder, weiter rückwärts die großen. Er war allein für den gesamten Unterricht zuständig, vom Alphabet bis zur Geometrie. Allerdings kamen für die anspruchsvolleren Fächer nur Söhne wohlhabender Väter in Betracht. Die übrigen Schüler wanderten ins Berufsleben ab, sobald sie halbwegs lesen, schreiben und rechnen konnten.
Andrew ging vors Haus und läutete die Schulglocke. Der Himmel war mit grauen Wolken bedeckt, und die Luft war so kalt, dass der Atem sich in Dampf verwandelte. Nach und nach trudelten die Kinder ein, einige laut und mit Gelächter, andere mit deutlichem Missvergnügen, wieder anderen - die älteren - mit einer steifen Würde. Andrew beschäftigte sie: die Oberstufe mit Geographie, die Mittelstufe mit Kopfrechnen, die Unterstufe mit einem Lesebuch.
Gegen Mittag schickte er die Kinder nach Hause, holte sich von nebenan Hut und Mantel und ging über die Straße zu Ingersoll. Nach dem Essen um ein Uhr war er wieder in seiner Schule, wenig später kehrten auch die Kinder zurück. Abermals Kontinente, Ziffern, läppische Texte. Als Thomas Heine, der zehnjährige Nachzügler eines Farmers, der schon fünf verheiratete Kinder hatte, sich mit dem großen Einmaleins plagte, fing es an zu schneien. Andrew trat zum Fenster und blickte hinaus.
»Es schneit«, sagte er abwesend. »Der Wind ist stärker geworden.«
Thomas Haine lachte albern, Andrew achtete nicht darauf. Er starrte auf die weißen Flocken und spürte ein tiefes Unbehagen. Der Schnee erinnerte ihn an etwas, das sich nicht in Worte fassen ließ. Jedes Mal wenn er zupacken wollte, verschwand es wie hinter einem Nebel. Gedankenlos ging er zur Tafel, griff sich ein Stück Kreide und zeichnete zwei große Kreise. Er deutete die Konturen der Erdteile an und wandte sich zu den Schülern um.
»Hier ist Europa«, sagte er tonlos und zeigte mit dem Finger. »Diese riesige Fläche ist Russland, die Gelehrten streiten sich, ob es zu Europa gehört oder nicht, und wir werden diesen Streit jetzt nicht klären. Weiß einer von euch, wo China liegt?«
Ann Putnam hob die Hand, Andrew nickte.
»China liegt neben Europa«, verkündete sie.
Andrew war mit dieser wenig präzisen Antwort zufrieden, er zeichnete China ein. Er forderte die Klasse auf, die Lage Nordamerikas zu beschreiben.
»Auf der anderen Seite des Meeres«, erklärte der älteste Schüler, »gegenüber von England. Aber Sie haben Amerika nicht so gemalt, wie es im Buch abgebildet ist..
»Ja.« Andrew besah sich seine Skizze. Die Konturen des nordamerikanischen Kontinents auf der Tafel wichen in der Tat erheblich von denen im Lehrbuch ab. Im Augenblick hätte er nicht sagen können, warum er sie anders dargestellt hatte. »Vielleicht bin ich klüger als das Buch.«
Die Kinder lachten. Andrew teilte Europa in Staaten ein, beschriftete Afrika, Südamerika und die Gewürzinseln. Abigail Williams erkannte Westindien wieder, ein anderes Kind die Hudson Bay. Andrew fügte den Nordpol hinzu, trat zwei Schritte zurück und betrachtete die beiden Erdhälften. Sein Werk gefiel ihm nicht; etwas fehlte. Spontan ging er noch einmal zu der Tafel und zeichnete unten in jede Erdhälfte einen Halbkreis ein und schrieb: Antarktis.
»Was ist das?«, fragte einer der älteren Jungen.
Andrew drehte sich nicht zu ihm um.
»Das steht doch, was es ist«, sagte er leise wie zu sich selbst. »Sie ist da, sie ist ganz im Süden der Welt...«
»In meinem Buch nicht!«, sagte der Junge energisch.
Andrew erwachte wie aus einem Traum. Er wandte sich zu dem Jungen um und fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. Er warf die Kreide aufs Pult und lachte verlegen.
»Eines Tages wird sie auch in den Büchern sein«, sagte er. »Wir werden es erleben.«
Die Klasse schwieg. Andrew starrte wieder ins Schneegestöber, das eine hypnotische Wirkung auf ihn auszuüben schien, die Kinder hatte er vergessen. Endlich meldete Ann Putnam sich noch einmal zu Wort. Sie wollte wissen, wo Jerusalem lag. Andrew ging zu der Tafel und bezeichnete Jerusalem mit einem Kreuz.
Der seltsame Schwebezustand, in den das Schneetreiben ihn versetzt hatte, hielt bis spät in die Nacht an. Ruhelos marschierte Andrew in seinem Zimmer auf und ab und achtete nicht darauf, dass im Kamin das Feuer herunterbrannte und Kälte sich ausbreitete; er zermarterte sich das Gehirn nach einer Antwort auf eine Frage, die zu formulieren er nicht imstande war. Nach einer Weile ließ er sich am Tisch auf einen Stuhl fallen, aß Speck und Brot und spülte beides mit einem Schluck Whisky hinunter, dann fing er systematisch an zu suchen, ohne zu ahnen, wonach er suchte. Er durchstöberte die Truhe, die noch aus Maine stammte, aber sie enthielt nur Wäsche und Kleider. Er kramte in den beiden Schränken und durchwühlte die Schubladen einer Kommode. Was immer er suchte, es musste in dieser Hütte zu finden sein, dessen war er ganz sicher. Er zweifelte nicht daran, dass er es mitgebracht hatte. Schließlich kroch er auf Händen und Knien zum Bett und langte darunter und berührte mit den Fingerspitzen einen ledernen Gegenstand. Er zog ihn hervor und stellte fest, dass der Gegenstand eine Arzttasche war. Noch einmal griff er unters Bett und beförderte ein dickes Tagebuch zum Vorschein.
Er schleppte die Tasche und das Buch zum Tisch. Er war davon überzeugt, dass Tasche und Buch ihm gehörten. Auf dem Anhänger der Tasche und auf der Titelseite des Buchs stand ein Name: Paul Klee.
»Paul Klee«, flüsterte er. »Paul Klee...«
Er ging zum Kamin, fischte ein Stück Glut heraus und steckte eine zweite Kerze an. Missvergnügt stellte er fest, dass sein Gehirn nicht richtig funktionierte, sonst hätte er die zweite Kerze an der ersten anzünden können. Er steckte die Kerze in einen Leuchter und klappte das Buch auf.
Mechanisch setzte er sich wieder an den Tisch auf den Stuhl, der ein wenig zu klein für ihn war wie alles in diesem Haus, sogar die Balkendecke war zu niedrig. Wenn er stand, musste er den Kopf einziehen. Er. sah sich um und wunderte sich, dass er plötzlich seine Umgebung zur Kenntnis nahm, als wäre er nicht längst an sie gewöhnt. Er starrte dorthin, wo die wenigen Möbel standen. Das Licht reichte nicht so weit, trotzdem wusste er, dass sie da waren, dann atmete er tief ein, schlug die letzte Eintragung im Buch auf und las.
Montag, 15. Februar 2150: Eine entsetzlich unruhige Nacht, schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als ein Somintab zu nehmen, dennoch fürchterliche Träume, an die ich mich indes jetzt bei Tageslicht nicht mehr erinnern kann. Ich hätte nicht herkommen sollen, hier sind zu viele Leute. Ein anderes historisches Gehege wäre vorteilhafter gewesen.
Andrew las die wenigen Zeilen immer wieder, dann stand er auf und ging zum Kamin und starrte in die Glut. Er war also Paul Klee, zugleich war er Roger Andrew, wenigstens hier in Salem Village. Er sagte einige Male den Namen Paul Klee vor sich hin. Endlich gab er sich einen Ruck, nahm ein kupfernes Tintenfass und eine frisch angespitzte Gänsefeder vom Kaminsims und kehrte an den Tisch zurück. Er setzte sich, tauchte die Feder in die Tinte und schrieb.
Montag, 15. Februar 1692: Alle übrigen Eintragungen in diesem Buch stammen aus dem Jahr 2150 und betreffen mein Leben zu jener Zeit. Die vorhergehende Eintragung habe ich erst heute Morgen gemacht, und zwar mit einem sogenannten Chemiestift, den Francis mir geschenkt hat, als ich im Januar aus dem Psychological Reorientation Center kam.
Er legte die Gänsefeder aus der Hand und überlegte, dann blätterte er weiter vorn im Tagebuch, um die Richtigkeit der Datumsangabe zu überprüfen. Er hatte sich nicht geirrt, er hatte den Stift am 7. Januar erhalten. Er schrieb weiter.
Offenbar ist mein Gedächtnis zuverlässiger, als ich bisher annahm, obwohl ich jetzt einen anderen Beruf ausübe und einen anderen Namen habe.
Abermals dachte er nach. Ihm dämmerte, dass sein Erinnerungsvermögen nur teilweise intakt war. Er wusste nicht mehr, was geschehen war, ehe man ihn ins Reorientation Center geschickt hatte, und auch die Erlebnisse im Center waren bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Er hatte den Verdacht, dass er von diesen Erlebnissen träumte. Er tauchte den Kiel in die Tinte und kritzelte hastig wie in Panik.
Ich gelte in dieser Siedlung als der Schullehrer Roger Andrew, aber früher war ich der Neurochirurg Dr. Paul Klee. Mir ist weder der Mechanismus dieser Transformation verständlich, noch begreife ich, wie ich von einer Epoche in eine andere versetzt worden bin. Vermutlich habe ich den Ort - nämlich die Marblehead Historical Preserve, zu der die Stadt Salem gehört - nicht verlassen. Die grundlegenden Arbeiten von Dr. Tollar und seinen Schülern haben experimentell bewiesen, dass Menschen wie ich, die an einem sogenannten Zeitverschiebungs-Syndrom leiden, schwerer zu beeinflussen sind als Individuen, die in einer Gesellschaftsordnung voller ständiger Wechsel leben können, ohne innerlich Schaden zu nehmen; denn was heute Tatsache ist, kann bekanntlich morgen schon als Fiktion gelten und umgekehrt. Die Wahrheit ist relativ - doch darauf möchte ich lieber nicht eingehen.
Jedenfalls habe ich auf solche Manipulationen empfindlich reagiert, nicht einmal Drogen haben geholfen, deswegen wurde ich in ein Reorientation Center in der Nähe von Philadelphia gebracht. Nach drei Monaten intensiver psychologischer Behandlung wurde ich als brauchbar befunden, wieder in die Gesellschaft integriert zu werden. Das war Anfang Januar. Vor zwei Wochen hatte ich einen heftigen Anfall von Schüttelfrost. Sobald er vorüber war, telefonierte ich mit dem Koordinator meines Distrikts und erhielt die Erlaubnis, die Marblehead Historical Preserve aufzusuchen, die zu den zahlreichen Gehegen gehört, welche die Regierung unterhält, um den Bürgern eine Möglichkeit zu verschaffen, aus unserer hektischen Zeit wenigstens vorübergehend und scheinbar in einen vergleichsweise ruhigen Abschnitt der Geschichte zu flüchten.
In Marblehead und Sturbridge wird die Epoche des kolonialen New England kultiviert, in Williamsburg und Jamestown ist es der koloniale amerikanische Süden; im Mittelwesten und im Westen sind weitere solche Gehege der Föderation, aber über Einzelheiten bin ich nicht informiert. Staatsfeinde nennen die Gehege den Archipel Gulag der Föderation, in Anspielung an den Titel eines Buchs über Gefangenenlager, die im zwanzigsten Jahrhundert Russland angeblich überzogen haben.
Tatsächlich sind unsere historischen Gehege keine Straflager. Sie sind eine Art Sanatorien, wo Menschen wie ich Gelegenheit haben, ausgeglichener zu werden und den Lebensschock zu überwinden. In Marblehead tragen wir Kleidung wie unsere puritanischen Vorfahren, wir haben das gleiche Essen und eine ähnliche Umwelt. Hier werden ganze Familien eingewiesen, einige bleiben Monate oder sogar Jahre, aber die meisten kehren nach wenigen Tagen geheilt zurück. Natürlich werden wir auch psychologisch behandelt, aber diese Kuren sind Lappalien im Vergleich mit denen, die im Reorientation Center praktiziert werden. Dort arbeiten die Mediziner mit Elektroschocks, Hypnose und sogar Gehirnschrittmachern, die unter der Schädeldecke eingesetzt werden.
Andrew überflog, was er zu Papier gebracht hatte, überlegte einen Augenblick und fügte noch einen Absatz hinzu. Er ärgerte sich über den plumpen Federkiel, die klumpige Tinte und das flackernde Kerzenlicht. Er hatte den Verdacht, dass er sich an dieses Leben so schnell nicht gewöhnen würde.
Ich bin als erwachsener Mensch in dieses Dasein getreten, und den Tag meiner Ankunft kann ich nur vermuten. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich damit abzufinden, dass ich durchalten muss, bis ich eine Gelegenheit erhalte, wieder in meine eigene Zivilisation zu gelangen. Zum Glück bin ich nicht so nackt und hilflos, wie ich vor fünf unddreißig Jahren in diese Welt geboren wurde. Ich verfüge über Kenntnisse - und über meine Arzttasche mit Instrumenten, Medikamenten und Drogen. Außerdem habe ich dieses Tagebuch. Leider hat Frances’ Chemiestift mich nicht in diese Vergangenheit begleitet, aber man kann nicht alles haben.
Drittes Kapitel
Er erwachte, als in der Nähe ein Hahn krähte. Im Osten wurde der Himmel grau. Klee alias Andrew wälzte sich aus dem Bett und tappte barfuß zum Kamin. Ehe er schlafen gegangen war, hatte er noch einige Holzscheite aufgelegt. Sie waren im Laufe der Nacht zu Asche zerfallen, und unter der Asche war noch ein wenig Glut. Vorsichtig blies er hinein, stapelte Reisig darauf und wartete, bis es Feuer fing. Nach seinem besten Wissen und Gewissen war dies sein zweiter Tag in Salem, weiter reichte sein Gedächtnis in diesem Abschnitt der Historie nicht zurück - doch bewies dies natürlich nichts. Er hatte festgestellt, dass sämtliche Leute in Salem Village ihn kannten - wie er viele von ihnen kannte möglicherweise hatte es also einen Lehrer Andrew wirklich gegeben. Vielleicht war er vor zwei Jahren aus Maine hierher übersiedelt, und er, Klee, hatte seine Identität angenommen. Oder war dies alles schiere Spekulation?
Er dachte ernsthaft darüber nach, dann grinste er kläglich. Auch in seiner neuen Identität hatte er die lästige Angewohnheit, sich den Kopf zu zerbrechen, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen und nichts als gegeben hinzunehmen.
»Wirst du es denn nie lernen...?«, fragte er sich rhetorisch.
Er nickte mechanisch, weniger aus Überzeugung als zur Tarnung. Er hatte sich diese Geste im Psychological Reorientation Center angewöhnt, weil er sich dadurch stundenlange Verhöre hatte ersparen können. Die Verhöre waren aus seiner Erinnerung getilgt worden, seine Reaktion darauf war ihm geblieben.
Als es draußen so hell war, dass er die kahlen Äste der Akazie vor dem Fenster erkennen konnte, zog er schnell Hose, Socken und Schuhe an, wusch sich mit kaltem Wasser, stieg in sein Hemd und bereitete das Frühstück: Tee mit Schwarzbrot und Butter. Später vervollständigte er seinen Anzug und trat vor die Tür.
Mittlerweile hatte sich die Sonne über den Horizont geschoben, und der Himmel war stahlblau. Aus den Schornsteinen ringsum stieg weißer Rauch, der Boden war gefroren. Im Pfarrhaus ertönten die Stimmen von Reverend Parris, seiner neunjährigen Tochter Elizabeth und seiner elfjährigen Nichte Abigail Williams. Sie flehten um Vergebung für ihre Sünden.
Andrew blickte zum Parris-Haus, das knapp hundert Meter weiter unten an der Straße lag, ein stabiles Gebäude aus Feldsteinen mit einem geduckten Dach. Parris war Priester geworden, nachdem er in allen anderen Berufen, in denen er sich versucht hatte, gescheitert war. Dank seiner Erziehung war seine Tochter dumm vor Angst, im Gegensatz zu Abigail. Die war kalt und funkelnd wie ein Tresorschlüssel.
Die Stimmen im Pfarrhaus wurden lauter und schriller. Der Reverend schimpfte, die beiden Mädchen jaulte. Andrew zuckte mit den Schultern und wollte eben in seine Unterkunft zurückgehen, als er verstand, was Parris schrie. Er blieb stehen.
»Der Satan hat sie verführt, oh, Gott!«, brüllte. Parris. »Hilf ihnen, oh, Herr! Hilf diesen beiden unschuldigen Lämmern und befreie sie von dem Bösen!«
Die Mädchen kreischten gellend und verstummten, abermals meldete Parris sich zu Wort.
»Oh, Gott!«, donnerte er. »Der Satan hat sie gepackt, er ist in sie gefahren. Hilf mir! Hilf mir!!«
Einen Augenblick später wurde die Tür des Pfarrhauses aufgerissen, der Reverend erschien auf der Schwelle. Er ruderte heftig mit den Armen und rief die Einwohner des Dorfs zusammen, ihm beim Kampf gegen den Versucher beizustehen. Andrew rannte zu ihm, aus anderen Häusern strömten Menschen und schlossen sich ihm an.
»Da sind sie!«, wetterte Parris und deutete nach drinnen, wo die Kinder sich auf dem Boden wälzten. »Das fügt der Satan ihnen zu!«
Die Mädchen wanden sich wie in Krämpfen. Ihre Gesichter waren verzerrt, die Augen weit aufgerissen. Sie hatten Schaum vor dem Mund. Andrew vermutete, dass sie einen hysterischen Anfall hatten, aber er durfte nichts sagen, ohne sich zu verraten.
Parris richtete sich zu seiner ganzen beachtlichen knochigen Größe auf, blickte blauäugig blitzend in die Runde und schüttelte die Fäuste. Er atmete tief und zufrieden ein und wandte sich an die Umstehenden.
»Ich habe euch gewarnt!«, erklärte er. »Immer wieder habe ich darauf hingewiesen, dass mitten unter uns, mitten in dieser Kolonie, im Herzen von Salem Village der Teufel umgeht, aber ihr habt nicht auf mich hören wollen. Jetzt sind meine Tochter und meine Nichte von ihm besessen!«
Hinter ihm an der Tür erschien seine Frau und brach in Tränen aus. Sie war dick und verhärmt, die Haare hingen ihr ins Gesicht.
»Der Teufel ist hier!«, beteuerte Parris noch einmal. »Wir müssen ihn ausräuchern!«
»Wir müssen beten«, meinte einer der umstehenden Männer. »Nur durch unsere Gebete können wir diesen bedauernswerten Kinder helfen.«
Die übrigen Männer stimmten zu, einer von ihnen empfahl, den dreiundzwanzigsten Psalm aufzusagen. Parris gab das Zeichen zum Einsatz, die Männer und Frauen vor der Tür murmelten den Psalm, Andrew ertappte sich dabei, dass er den Text kannte, obwohl er sich damit nie befasst hatte. Die Mädchen hörten auf, sich auf dem Boden zu wälzen, und ihre Gesichter wurden glatt und friedlich. Parris half ihnen auf die Beine und befragte sie streng. Weder Elizabeth noch Abigail wussten, was mit ihnen geschehen war, jedenfalls behaupteten sie von nichts zu wissen.
Die Gaffer vor dem Pfarrhaus zerstreuten sich, nur Andrew blieb noch einen Augenblick stehen. Er hörte, wie Parris den Mädchen androhte, sie am Abend vor der gesamten Gemeinde eindringlich zu befragen.
Am Nachmittag zogen wieder schwere graue Wolken auf, die Luft roch nach Schnee. Andrew schickte die Schüler nach Hause, da ein sinnvoller Unterricht nicht möglich war. Die älteren Kinder wünschten lediglich über den Teufel zu diskutieren, der auf so wunderbare Weise in Elizabeth Parris und Abigail Williams gefahren war, und die jüngeren hockten duckmäuserhaft auf ihren Stühlen und schielten immer wieder furchtsam zur Tür.
Einer der größeren Jungen hatte sich nach Andrews Meinung über den Teufel erkundigt. War Andrew ihm je begegnet, und hatte er schon einmal eine Hexe gesehen?
»In Maine ist es für den Teufel und für Hexen zu kalt«, hatte Andrew erwidert. Er hatte keine andere Wahl, als sich einigermaßen elegant aus der Affäre zu ziehen. »Dort ist
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Irving A. Greenfield/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Pixabay/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Karl Heinz Poppe (OT: To Savor The Past).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 18.03.2020
ISBN: 978-3-7487-3214-3
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