JEAN BRUCE
Todesgrüße von Mr. X
Agent OSS 117 – Band 1
Vier Romane in einem Band
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
1. EIN NEUER BOSS FÜR KALKUTTA (Lila De Calcutta)
2. ROULETTE MIT EINEM KILLER (OSS 117 Au Liban)
3. TODESGRÜSSE VON MR X (Tortures)
4. MR. SMITH VERGIBT EINEN JOB (Valse Viennoise Pour OSS 117)
Das Buch
Nur eine Handvoll Männer wussten, dass seine Tage gezählt waren: Er musste sterben. Und darauf bauten sie ihren tollkühnen Plan auf. Sie gaben ihm Informationen, die kein anderer Agent vor ihm erhalten hatte. Dann spielten sie ihn geschickt in die Hände ihrer Gegner. Sie brauchten nur noch zu warten, dass der Todeskandidat sein Geheimnis preisgeben würde.
Und als alles verloren schien, holten sie OSS 117...
1949 schuf der französische Schriftsteller Jean Bruce (eigentlich Jean Alexandre Brochet, * 22. März 1921; † 26. März 1963) den CIA-Agenten Hubert Bonisseur de La Bath (alias OSS 117) – bis 1963 schrieb er 87 OSS-117-Romane; zwischen 1956 und 1971 wurden acht dieser Romane erfolgreich verfilmt: International gilt Hubert Bonisseur de La Bath als ebenso populär wie James Bond, Lemmy Caution oder Kommissar Maigret.
Der Apex-Verlag veröffentlicht die OSS-117-Romane von Jean Bruce als durchgesehene Neuausgaben und macht diese erstmals seit fünfzig Jahren wieder in Deutschland verfügbar. Der vorliegende erste Band enthält die spannenden und mitreißenden Agenten-Thriller Ein neuer Boss für Kalkutta, Roulette mit einem Killer, Todesgrüße von Mr. X und Mr. Smith vergibt einen Job.
1. EIN NEUER BOSS FÜR KALKUTTA (Lila De Calcutta)
Erstes Kapitel
Christopher W. Lemmon lenkte seinen Wagen langsam über den dunklen Platz. Er hielt auf die Stelle zu, wo er immer zu parken pflegte: in die Lücke zwischen dem Austin eines englischen Kollegen und dem Jaguar eines ausländischen Konsuls. Er zog die Handbremse an, stellte den Motor ab und steckte den Zündschlüssel in seine Hosentasche.
Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte zwanzig Minuten vor eins. Lemmon gähnte. Er war müde. Wie jeden Abend hatte er ein paar Whiskys mehr getrunken, als er vertragen konnte.
Er schaltete die Scheinwerfer aus und überlegte sich, dass es eigentlich eine ganz gute Idee wäre, sich eine Freundin zu suchen. Sicher würde ihm eine Frau besser bekommen als die Abende im Club, wo man nichts anderes tun konnte, als mit heimwehkranken Landsleuten Bridge zu spielen und langweilige Gespräche über sich ergehen zu lassen - zwei Dinge, die ihm schon lange auf die Nerven gingen, die er aber dennoch immer wieder von neuem erduldete.
Er nahm einige Zeitungen vom Nebensitz und stieg aus. Mit einem matten Klicken fiel die Wagentür ins Schloss. Wie gewöhnlich ließ er das Auto unversperrt. Man hatte ihm eingeschärft, dass das Benehmen eines Geheimagenten nie Anlass zu irgendeinem Verdacht geben dürfte; danach handelte er, so gut es ging. Unbefangen musste man sein, doch immer auf der Hut. Und unbewaffnet, aber immer abwehrbereit.
Es war stockdunkel, und ein leichter Nebel machte die Finsternis noch undurchdringlicher.
Der Platz war eigentlich nur ein größerer Hof, eingerahmt von mehreren drei- und vierstöckigen Mietshäusern, die alle nicht mehr ganz neu waren. Der Haupteingang zu diesem Platz befand sich auf der Park Street, aber man konnte mit dem Wagen ebenso gut auch von der Royd Street hereinfahren.
Christopher W. Lemmon wohnte seit fast drei Jahren hier, aber er hatte selten erlebt, dass die Straßenbeleuchtung funktionierte. Jedes Mal hatten Diebe noch vor Morgengrauen die Glühbirnen mitgenommen. Es schien in Kalkutta Strolche zu geben, die ihre Sippe vom Verkauf gestohlener Glühbirnen ernährten, denn viele Straßen lagen praktisch immer im Dunkeln. Die Kerle gingen sogar so weit, dass sie ganze Lichtleitungen abmontierten, um an die begehrten Kupferdrähte zu kommen. Der Handel musste recht einträglich sein.
Christopher Lemmon ging auf das Gebäude zu, in dem er wohnte. Er blickte die Fassade hoch - und da sah er es: Das Fenster seines Wohnzimmers war beleuchtet.
Er blieb stehen und überlegte.
Er war heute Morgen kurz nach neun aus dem Haus gegangen. Da hatte er kein Licht mehr gebraucht. Außerdem machte er morgens in seiner Wohnung nie Licht, allenfalls im Badezimmer zum Rasieren.
Die Putzfrau? Sie war eine Hindu und hielt den elektrischen Strom für ein Machwerk des Teufels. Das ging sogar so weit, dass Lemmon eigenhändig den Staub von Schaltern und Lampenschirmen wischen musste, weil sie sich beharrlich weigerte, diese »Zaubergeräte« auch nur anzurühren.
Sein Herz schlug schneller, und er fühlte einen leichten Druck in der Magengegend. Es war ungewohnt. Im Laufe der letzten Jahre war er sicherer geworden, hatte er sich einem gewissen Gefühl der Sicherheit hingegeben. Informationen weiterzuleiten war für ihn eine Beschäftigung wie jede andere geworden, nicht mehr und nicht weniger interessant, nicht mehr und nicht weniger gefährlich als sein eigentlicher Beruf: Importeur und Exporteur.
Er schaute sich um und machte dann ein paar Schritte nach rückwärts. Sein Appartement lag im zweiten Stock. Wenn er noch weiter zurückging, konnte er vielleicht sehen, ob jemand in der Wohnung war.
Mit einem heftigen Ruck stieß er an die gegenüberliegende Hausmauer und blieb stehen. Er vergaß beinahe zu atmen; das beleuchtete Rechteck dort oben jagte ihm plötzlich Angst ein.
Nichts rührte sich weit und breit. Kein Schatten, kein Lebewesen. Vielleicht hatte es sich der Eindringling inzwischen bequem gemacht und wartete in einem Lehnsessel...
Christopher Lemmon wusste nicht, was er von der mysteriösen Sache halten sollte.
Er schrak zusammen, als er irgendwo rechts ein unheimliches Rascheln hörte. Er blickte sich um. Einige geparkte Wagen standen da, größere und kleinere, die er nur nach ihrer dunklen Masse unterscheiden konnte. Er hielt den Atem an und wartete gespannt. Er dachte: es muss der Whisky sein. Etwas streifte sein Bein. Beinahe hätte er geschrien. Doch dann erkannte er, was es war: kämpfende Ratten, die sich wütend ineinander verbissen hatten.
Lemmon versuchte zu lachen, aber es wurde nur ein erbärmliches Krächzen daraus. Ärgerlich zog er sein Taschentuch heraus, um sich den Schweiß abzuwischen, der ihm über das Gesicht rann. Er verstand selbst nicht, wie er nur so verrückt sein konnte, wegen dem Licht, das in seinem Zimmer brannte, an Gefahr zu glauben. Vielleicht war er selbst, ohne es zu merken, beim Hinausgehen an den Schalter gekommen, oder die Putzfrau... Eine unkontrollierte Bewegung. Es gibt ja die verrücktesten Dinge. Er atmete tief durch und löste sich von der Mauer, um nach Hause zu gehen. Schließlich konnte er - vielleicht einer Lappalie wegen - nicht im Freien schlafen.
Er befand sich in der Mitte des Platzes, als er merkte, wie sich seine Rückenmuskeln spannten. Es war sicher schon gute fünfzehn Jahre her, seit er dies das letzte Mal gehabt hatte. Aber er wusste noch genau, wie unfehlbar sein Instinkt auf die Reflexe seines Körpers wirkte. Und schon ließ er sich nach vorn fallen, drehte sich um, packte den Angreifer, der gegen ihn geprallt war, und warf ihn mit einem Schleudergriff hinter sich.
Um sich besser bewegen zu können, ließ der Unbekannte seinen Dolch los, der knapp neben Lemmons Kopf aufs Pflaster klirrte. Der Zusammenstoß war nicht lautlos gewesen. Lemmon ergriff das Messer und sprang auf. Auch der andere hatte sich blitzschnell aufgerichtet. Unbeweglich standen sich die beiden Männer gegenüber. Sie starrten sich einen Augenblick lang schweigend und lauernd an. Lemmon übersah jetzt die Situation. Er war sehr zufrieden mit seiner Leistung.
»Hierher!«, befahl er.
Der Angreifer rührte sich nicht. Er war nackt bis auf ein paar dunkle Shorts, die ihm um die mageren Beine schlotterten. Seine Hautfarbe war in der Dunkelheit kaum zu bestimmen. Lemmon fiel auf, dass sein Schädel völlig kahl war.
»Komm her!«
Mit gezücktem Dolch machte Lemmon zwei Schritte nach vorn. Er fühlte sich völlig sicher. Dieser Zwischenfall erinnerte ihn lebhaft an den Krieg im Pazifik und die Nahkämpfe mit den Japanern. Er glitt noch einen Schritt weiter. Der andere wich zurück, starr wie eine Marionette.
»Na, warte, Bursche, du kommst mir nicht so billig davon!«, zischte Lemmon.
Motorengeräusch ließ ihn innehalten. Ein Auto kam von der Park Street her, schaltete und ging in die Kurve, um in den Platz einzubiegen. Lemmons gespannte Haltung lockerte sich, und er verbarg den Dolch lässig hinter seinem Bein. Ohne es zu wollen, ließ er seinen Gegner für Sekundenbruchteile aus den Augen. Und schon rannte der Unbekannte wie eine gejagte Gazelle im Schutz der parkenden Autos davon.
Christopher Lemmon, der inzwischen im Scheinwerferlicht des näherkommenden Autos stand und geblendet war, musste auf die Verfolgung verzichten. Der Flüchtling hatte auch schon die Royd Street erreicht, und es bestand kaum die Aussicht, ihn jetzt noch einzuholen. Lemmon steckte das Messer in die Tasche und stieg zu seiner Wohnung hinauf.
Die Eingangstür war zweimal versperrt, ganz so, wie er sie am Morgen verlassen hatte. Als er den Schlüssel ins Schloss steckte und ihn umdrehte, dachte er noch einmal daran, wie unnötig es gewesen war, dass er sich so aufgeregt hatte. Dass in seinem Zimmer Licht brannte, konnte wirklich ein Zufall sein, und der kleine Zwischenfall, der sich soeben abgespielt hatte, war wohl nichts anderes gewesen als einer der üblichen Raubüberfälle, wie sie die Polizei von Kalkutta jede Nacht zu Dutzenden registriert.
Er öffnete die Tür, machte im Flur Licht und schloss hinter sich ab. Dann warf er einen flüchtigen Blick in die Küche und ging ins Wohnzimmer. Zum Schluss ging er ins Schlafzimmer.
Nichts.
Er kehrte um, wollte die Wohnung noch ein zweites Mal und genauer durchsuchen. Er schaute in alle Schränke, hinter alle Türen, sah sich in der Küche die Tür zum Dienstbotenaufgang an, doch er entdeckte nichts Besonderes. Nichts ließ darauf schließen, dass jemand in der Wohnung gewesen war.
Immer darauf bedacht, keine auffälligen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, welche die Vermutung nahelegen könnten, er habe etwas zu verbergen, hatte Lemmon sich weder ein Sicherheitsschloss noch eines jener optischen Gläser in der Tür einbauen lassen, durch das man einen Besucher schon auf dem Treppenabsatz erkennen kann, ohne erst öffnen zu müssen. Eigenhändig hatte er innen an der Tür einen schweren Riegel angebracht, den er jeden Abend vorschob, um ruhig schlafen zu können. Tagsüber, wenn er ohnehin nicht zu Hause war, machte er sich nichts daraus, dass jemand bei ihm eindringen konnte. Er bewahrte nie irgendwelche verräterischen Unterlagen bei sich auf.
Er schob den Riegel vor, schloss die Fensterläden und zog die Gardinen zu. Danach holte er sich aus der Küche ein Glas und ein paar Eiswürfel und gönnte sich einen ordentlichen Whisky on the rocks.
Genüsslich trank er einen tiefen Schluck, packte dann sein Glas und ging ins Badezimmer hinüber, um sich die Hände zu waschen. Eigentlich waren seine schmutzigen Hände nur ein Vorwand; er wollte vielmehr in den Spiegel schauen und den Helden bewundern, der er seiner Meinung nach wieder geworden war. Er war stolz und zugleich überrascht, dass seine Reflexe noch nach 15 Jahren so ausgezeichnet reagierten.
»Wenn ich auch nur eine halbe Sekunde gezögert hätte, wäre ich verratzt gewesen«, murmelte er befriedigt und betrachtete voll Sympathie das Bild, das ihm aus dem Spiegel entgegenstrahlte.
45 Jahre alt, den Kopf voll kastanienbraunen Naturwellen (man hielt ihn deswegen meist für einen Engländer), dunkle Augen, betonte Backenknochen, das Gesicht von der Sonne des letzten Urlaubs noch bronzefarben, charmante kleine Fältchen in den Augenwinkeln - das war er, Christopher W. Lemmon, und er fand sich gar nicht so übel.
Langsam trocknete er sich die Hände ab, legte das Handtuch weg und warf noch einen letzten Blick in den Spiegel.
Dann nahm er sein Glas und kehrte wieder in das mit Korbmöbeln eingerichtete Wohnzimmer zurück. Die bleierne Müdigkeit von vorhin war wie weggeblasen. Seine Nerven waren noch immer angespannt von der Aufregung und dem anschließenden Überfall auf dem Platz vor seinem Haus.
Schlagartig packte ihn eine unwiderstehliche Lust, noch einmal wegzugehen. Er konnte zum Beispiel noch einen kleinen Abstecher ins Maxim machen, der Bar im Great Eastern Hotel, wo eine rassige französische Sängerin auftrat, die ihm keineswegs missfiel.
Wie lange hatte er keine Frau mehr im Arm gehabt? Zwei Jahre? Drei Jahre? Er wusste es nicht mehr genau. Sogar den Namen und das Gesicht seiner letzten Geliebten hatte er vergessen.
Er trank sein Glas aus und sagte dann laut zu sich selbst: »Idiot!«
Sicher war es idiotisch. Mit seinen 45 Jahren und - wie sich heute gezeigt hatte - im Vollbesitz seiner Kräfte, war er für eine Frau sicherlich noch recht attraktiv. Soviel er wusste, trat die Französin um ein Uhr zum letzten Mal auf. Aber er war sich nicht ganz sicher.
Warum sollte er nicht dort anrufen und fragen?
Er hob den Telefonhörer ab und wartete auf das Amtszeichen.
Das Telefon war tot. Ungeduldig schüttelte er den Hörer.
»Hallo! Hallo...«
Und dann sah er es: Das Kabel war fein säuberlich abgeschnitten, kurz hinter dem Apparat selbst und über der Schaltdose am Fuß der Mauer. Einige Sekunden lang starrte er ungläubig auf die Bescherung. Die Haut auf seinem Rücken begann zu kribbeln, und er schluckte krampfhaft. Dann suchte er die fehlenden drei Meter Kabel.
Er fand sie nicht. Die Person, welche die Leitung durchschnitten hatte, musste auch gleich den Draht mitgenommen haben.
Blitzartig überfiel ihn ein schrecklicher Verdacht, und er fühlte, wie sich sein Magen dabei zusammenzog. Während er im Büro saß, war jemand hier eingedrungen, hatte das Telefonkabel zerschnitten und dann vergessen, das Licht auszumachen, bevor er sich wieder aus dem Staub machte. Und dann der Überfall. Jetzt war ihm alles klar: man wollte ihn ermorden.
Sicherlich nicht wegen der paar belanglosen Dinge, die man bei ihm hätte finden können. Er behielt nie etwas bei sich. Die Liste der Informanten, ihre Adressen und Telefonnummern hatte er im Kopf; sein Gedächtnis war verlässlicher als jedes Notizbuch. Seine Berichte schrieb er im Büro, als Geschäftsbriefe getarnt und nach einem Code, der regelmäßig alle drei Monate nach einem bestimmten System ausgewechselt wurde. Ein Exemplar seiner Meldung übergab er jeweils einem Angestellten des Konsulats, wo er aufgrund seiner kaufmännischen Tätigkeit täglich ein- und ausgehen konnte, wenn er wollte, ohne dadurch aufzufallen oder Verdacht zu erregen.
Während der drei Jahre, die er nun als ständiger Agent des amerikanischen Geheimdienstes CIA in Kalkutta lebte, war er nie mit einer wirklich wichtigen Aufgabe betraut worden. Wahrscheinlich hielt man ihn in Washington nicht für einen besonders tüchtigen Mann, der Außergewöhnliches zu leisten imstande war. Im Grunde genommen schämte er sich deswegen ein wenig vor sich selbst, doch musste er seinen Vorgesetzten wohl oder übel recht geben, wenn er an seinen letzten Versager dachte: Der Dalai Lama war geflohen, und man wusste nicht, wo er sich befand. Wie alle anderen Bürger auch, hatte er erst durch die Zeitung erfahren, dass sich das Oberhaupt der Tibetaner nur ein paar Kilometer von Kalkutta entfernt aufhielt.
»Aber wer will mich denn umbringen?«
Da gab es wohl diese unglaubwürdige Geschichte, die Wadhwani erzählt hatte und die tatsächlich so nach Märchen klang, dass er sie eigentlich nur aus Pflichtbewusstsein weitergegeben hatte, mit der Note D versehen, der schlechtesten, die es überhaupt gab.
Ein lautes Knacken, das aus der Küche kam, ließ ihn aufspringen. Kalter Schweiß erschien auf seiner Stirn, als er hinüberging in sein Zimmer, um den Colt zu holen, den er in seiner Nachttischschublade aufbewahrte.
Der Colt war nicht mehr da. Lemmon riss sämtliche Schubladen auf und wühlte hastig unter seiner Wäsche, weil er dachte, die Putzfrau hätte in ihrer kindlichen Furcht vor unbekannten Dingen die Waffe vielleicht an einen anderen Platz gelegt. Doch der Revolver war verschwunden. Ein zweites Knacken drang an sein Ohr, ebenso stark und eindringlich wie das erste. Da zog er den Dolch aus der Tasche, den er vorhin seinem Angreifer abgenommen hatte, und schlich zur Küche.
Die Tür des Dienstboteneingangs war in ihrem unteren Teil sonderbar verbogen. Und starr vor Entsetzen sah Christopher Lemmon zwischen Türfüllung und Tür die Spitze eines Brecheisens, das jemand von außen her anhob. Die klassische Methode, der sich seit Jahrhunderten alle Einbrecher der Welt bedienen: man zwängt einen Korken in die so entstandene Ritze, setzt das Brecheisen weiter oben an, platziert einen zweiten Korken und so weiter, bis man schließlich in die Nähe des Schlosses kommt, das dann durch den Druck der Korken gesprengt wird.
Einen Augenblick lang empfand Christopher Lemmon die Methode einfach als eine unerhörte Beleidigung. Seine Furcht und alle Vorsicht vergessend, schrie er dem unsichtbaren Gegner wütend zu: »Hören Sie sofort auf, oder ich schieße!«
Im Nu war das flache Ende des Brecheisens verschwunden. Lemmon hielt den Atem an, um besser hören zu können, was auf der anderen Seite der Tür geschah.
Stille.
Dann räusperte sich jemand auf dem Treppenabsatz, als ob er zu einer Rede ansetzen wollte.
»Ich zähle bis drei, dann schieße ich«, sagte Lemmon. »Eins - zwei - drei...«
In aller Ruhe erschien das Brecheisen wieder unter der Tür, und der Eindringling fuhr, ohne von Lemmons Drohungen beeindruckt zu sein, gemächlich in seiner Arbeit fort. Wieder knackte es unheimlich. Christopher Lemmon fühlte sich verhöhnt. Sein Gegner musste sich sehr sicher fühlen, sonst würde er irgendeine Reaktion zeigen.
Lemmon hatte diese Wohnung gewählt, weil sie zwei Ausgänge besaß. Wenn der Gegner vom hinteren Ausgang her angriff, konnte man immer noch vorn hinaus die Flucht ergreifen und umgekehrt. Sein Entschluss war schnell gefasst. Das Telefon war tot, und er konnte niemand um Hilfe rufen. Und sich hier in der Falle fangen zu lassen wie eine Maus, lag auch nicht gerade in seiner Absicht. Er würde es ihnen schon zeigen.
Entschlossen begab er sich zur Haupteingangstür. Den Dolch fest in der Hand, wollte er gerade vorsichtig den Riegel zurückschieben, als es klingelte.
Da stand jemand vor der Tür und drückte anhaltend auf den Klingelknopf. Von einer verzweifelten Hoffnung getrieben, fragte Christopher Lemmon hastig: »Wer ist da?«
Keine Antwort.
»Wer ist da?«, wiederholte er.
Wieder keine Antwort.
Einige Sekunden verstrichen in absoluter Stille. Darm ein diskretes, kaum hörbares Räuspern. Und wieder das Knacken am Dienstboteneingang.
Da sie offenbar zu mehreren gekommen waren, hatten sie es natürlich nicht versäumt, beide Ausgänge zu besetzen. Das hätte er sich ja denken können. Sie begannen ihre Arbeit am Dienstboteneingang einfach deshalb, weil sie dort keine Störung befürchten mussten.
Lemmon kehrte in die Küche zurück. Er war schweißgebadet, und die Kleider klebten ihm unangenehm auf der feuchten Haut. Er wischte sich mit einem Hemdsärmel übers Gesicht und starrte auf die Tür. Die ersten Korken waren von selbst wieder herausgefallen; der zuletzt eingesetzte befand sich gut einen halben Meter über dem Fußboden. Und wieder bewegte sich das Brecheisen. Die Tür gab ein wenig nach, und Lemmon sah, wie zwei braune Finger einen weiteren Korken, einige Zentimeter über dem vorigen, in den Spalt zwängten.
Lautlos schlich er ganz nahe an die Türfüllung heran und wertete, den Dolch fest in der Hand und bereit, ihn jederzeit losschnellen zu lassen. Das Stahlwerkzeug arbeitete weiter, das Holz knackte, der Spalt an der Tür wurde immer länger, ein Korken fiel herunter...
Lemmon sah eine Fingerspitze und stieß mit aller Kraft zu. Aber er hatte schlecht gezielt. Die Spitze des Dolches bohrte sich tief ins Holz hinein, genau zwei Millimeter neben dem Finger, der sich blitzschnell zurückzog.
Keinerlei Reaktion von Seiten des Gegners. Kein Wort, kein Fluch, nichts. Gerade diese Gleichgültigkeit und die Kaltblütigkeit waren es, die Christopher W. Lemmon von Sekunde zu Sekunde in eine immer heftiger werdende Panik trieben. Er fühlte, das sein Körper wie gelähmt war und dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.
Plötzlich war ihm alles egal. Das einzige, was er noch tun konnte, war, um Hilfe zu rufen. Er stürzte zum Fenster, riss die Vorhänge auseinander, öffnete mit fieberhafter Eile Fenster und Fensterladen und begann wie ein zum Tode Verurteilter zu schreien, so laut er konnte: »Hilfe! Man will mich ermorden! Hilfe!«
Er konnte den Mann, der unten stand und die Waffe auf ihn angeschlagen hatte, in der Dunkelheit nicht sehen...
Die Kugel, die aus einem Jagdgewehr abgeschossen wurde, traf ihn über den Augen mitten in die Stirn. Die Wucht des Aufpralls warf ihn zurück. Er machte taumelnd zwei, drei Schritte ins Zimmer hinein und schlug der Länge nach aufs Bett.
Christopher Lemmon war tot.
ANWEISUNG
GEHEIM
Betr. Mortimer 2.38
Beschreibung des Ortes
Kowloon-Werft. Das Lager L befindet sich gegenüber der Haiphong Road, die an der Südseite der Whitfield-Kaserne vorbeiführt. Zwei bewaffnete Wachtposten machen genau alle dreißig Minuten eine Runde. Vorsicht - der Rhythmus ihrer Patrouille wechselt jede Nacht. Die großen Tore des Lagers L sind mit Ketten gesichert, die von schweren Vorhängeschlössern zusammen gehalten werden. Ein kleiner Diensteingang auf der Nordseite trägt ein gewöhnliches Schloss. Dieser Eingang führt in das Kontrollbüro, in dem nachts ein von der »Pacific Pharmaceutical & Chemical Company« angestellter Wächter schläft. Er lässt den Schlüssel zu diesem kleinen Diensteingang immer innen an der Tür stecken. Er ist bewaffnet.
Vorbereitung
George, Louis und Paul treffen sich um zwei Uhr morgens an der Nordecke der Kreuzung Canton Road - Saigon Street. Kleidung: Shorts und dunkelbraunes Hemd. Peter erwartet sie mit einem Boot am Nordkai der Saigon Street. Sie nehmen den Wasserweg, um zur Kowloon-Werft zu gelangen, und legen im Schatten des panamaischen Frachters Kermit an. An einem Poller befestigt hängt unter dem Bug des Schiffes eine Strickleiter an der Pier. George, Louis und Paul klettern in einem Abstand von zwanzig Sekunden einer nach dem anderen hinauf. Paul trägt den Sack, der das Werkzeug enthält.
Ein schwarzer Lieferwagen, Marke Austin, mit einer grauen Plane gedeckt, die den Firmennamen »South China Trading Co.« trägt, steht geparkt vor der Nordfront des Lagers M. Die drei Männer nähern sich unter allen Umständen getrennt diesem Lieferwagen und passen auf, dass sie nicht den Wachtposten in die Hände laufen. Dann verstecken sie sich im Heck des Wagens. Von hier aus kann man bequem und ohne gesehen zu werden die Nordfassade des Lagers L beobachten. Sobald eine Runde vorüber ist, gehen sie an die Arbeit. Genau eine Minute, nachdem die Wachen vorbei sind, verlassen die drei Männer einer nach dem anderen den Wagen, diesmal in einem Abstand von je zehn Sekunden. Sie treffen sich wieder vor der Tür des Diensteingangs zu Lager L. Wenn der Schlüssel von innen steckt, wird die Tür mit einem Dietrich geöffnet. Der Wächter ist bei seinen Kollegen dafür bekannt, dass er einen tiefen Schlaf hat. Es muss aber trotzdem mit aller Vorsicht ans Werk gegangen werden. Wenn der Schlüssel nicht im Schloss steckt, was unwahrscheinlich ist, darf die Tür nicht auf gebrochen werden. Die drei Männer gehen dann zum nächsten Tor und versuchen dort, die Ketten mit Hilfe von starken Blechscheren durchzuschneiden.
Deckung
Paul führt den Einbruch aus. George und Louis sind während dieser Zeit für seine Deckung verantwortlich. Paul übernimmt diese Aufgabe erst, wenn die beiden anderen die Kiste aus dem Lager herausholen. Wenn im Lauf des Unternehmens Alarm geschlagen wird, flüchten die drei Männer jeder in eine andere Richtung und sehen zu, dass sie möglichst auf dem Wasserweg verschwinden. Dabei müssen sie damit rechnen, dass Peter inzwischen schon wieder weg ist, und eventuell schwimmend entkommen.
Zweck des Unternehmens
Aus einem Kontingent von einhundert Kisten soll eine Kiste herausgeholt werden. Die Sendung ist an der Westseite des Lagerhofes auf gestapelt, am nördlichen Ende der langen Mauer. Kistenmaße: 40 x 40 x 60 cm. Material: helles Holz. Erkennungszeichen: eingebrannter Firmenname »Hooghly Laboratories« - P.O.B. g8 - Kalkutta. Bestimmungsort: »Cheong Medicine Co.« - Kowloon. Paul bleibt im Quartier des Wächters zurück, bis George und Louis den Lagerhof wieder verlassen haben. George nimmt die Kiste an sich. Louis sorgt für die Beleuchtung.
Rückzug
George trägt die Kiste sofort zum bereitstehenden Lieferwagen. Louis folgt ihm, und beide verstecken sich im Heck. Paul verlässt das Lagerhaus genau eine Minute später. Vorher muss er dafür sorgen, dass der Wächter nicht so schnell Alarm schlagen kann. Er schließt die Tür von außen ab und wirft den Schlüssel über die Mauer. Dann geht er auf schnellstem Wege zu Tor Nr. 4, das zur Canton Road hinausführt, und zerschneidet mit seiner Blechschere die Verschlusskette. Als nächstes geht er die 120 Meter zum Lieferwagen zurück, um seinen Kameraden Bescheid zu sagen. Daraufhin begibt er sich wieder zu dem Tor, um die Türflügel aufzumachen. George setzt sich inzwischen ans Steuer des Lieferwagens - der Zündschlüssel liegt unter dem Sitz - und startet den Motor genau fünf Minuten, nachdem Paul weg ist. Paul öffnet die Torflügel erst in dem Augenblick, wo er den Motor des Lieferwagens hört. Er geht auf die Canton Road hinaus und stellt sich links auf, um nachher auf das fahrende Auto aufspringen zu können. George muss folgenden Weg nehmen: Haiphong Road - Hankow Road - Peking Road, dann nach zwanzig Metern rechts abbiegen in die Ashley Road. Gleich am Anfang der Ashley Road bleibt er hinter einem schwarzen Chevrolet stehen, der das polizeiliche Kennzeichen HK 42614 trägt. Louis übergibt die Kiste Paul, der sie in den Kofferraum der Limousine legt. Der Kofferraum ist offen. Er drückt den Deckel vorsichtig zu, bis das Schloss einschnappt. Der Fahrer des Chevrolet fährt sofort los. Der Lieferwagen bleibt stehen, und die drei Männer entfernen sich in verschiedene Richtungen.
Utensilien
Ein paar starke, verstellbare Blechscheren; mehrere Dietriche; eine feuchte Zeitung; drei Taschenlampen; drei Schlagringe; drei Paar Nylonhandschuhe; ein Baumwolltuch; eine Zehnmeterrolle dünne, unzerreißbare Schnur.
Wichtiger Hinweis
Es ist verboten, den Wächter zu verletzen oder gar zu töten, es sei denn, es handle sich um Notwehr, das heißt, wenn akute Gefahr besteht, selbst verletzt oder getötet zu werden. Weder auf dem Weg zum Lagerhaus noch während des Rückzugs darf irgendein Licht, auch nicht eine Taschenlampe, benützt werden. Die Lampen finden nur im Lagerhaus und nur während des Einbruchs Verwendung, sonst nirgends.
Achtung!
Für den Fall, dass einer der drei Männer gefasst wird, hat er sich als einfacher Dieb auszugeben. Das ist ein Befehl. Code-Wort für das Unternehmen ist »Medizin«.
Zweites Kapitel
Im Zeitlupentempo schob George den Kopf an der Kaimauer hoch, bis seine schwarzen Schlitzaugen die Kante erreicht hatten. Es war Neumond. Dunkle Wolken fegten über den Himmel. Der Sturm hatte das Meer bis in den Hafen hinein aufgewühlt, und die Kermit zerrte ächzend an ihren Ankerketten, als ob sie sich jeden Augenblick losreißen wollte.
Lange stand George unbeweglich auf der engen Eisenleiter über dem Wasser und beobachtete die Uferstraße. Ein paar trübe Straßenlaternen warfen da und dort verschwommene Lichtflecke zwischen die riesigen Lagerschuppen. So kümmerlich diese Beleuchtung auch war, George war sich darüber im Klaren, dass sie eine nicht zu unterschätzende Gefahr für das Unternehmen bedeuten konnte. Zum Glück wusste er, aus welcher Richtung die Wachtposten anmarschierten, so dass er sich einigermaßen darauf einstellen konnte, nicht gerade im Licht zu stehen, wenn sich die Patrouille näherte.
Als er sah, dass die Luft rein war, kletterte er behende die letzten Sprossen hoch und drückte sich blitzschnell auf das schmierige feuchte Pflaster. Noch zögerte er einen Augenblick, doch dann rannte er los.
George hatte in dem flachen Boot, in dem Peter ihn und seine beiden Komplizen von der Saigon Street herübergerudert hatte, noch einmal eine Generalprobe abgehalten, um zu prüfen, ob Paul und Louis den Plan ebenso gut auswendig konnten wie er. Dann hatten sie ihre Uhren fast auf die Sekunde genau aufeinander abgestimmt.
Es war das erste Mal, dass George mit Paul und Louis zusammenarbeitete. Sie waren, wie er, Chinesen und kamen ebenfalls aus der Special Training School der amerikanischen Armee in Okinawa. Ihre richtigen Namen waren ihm unbekannt, wie auch sie den seinen nicht wussten. Decknamen, ein vager Eindruck der Gesichtszüge und Stimmen - das würde die einzige Erinnerung sein, die sie von diesem nächtlichen Abenteuer auf den Docks der Kowloon-Werft behalten würden. Die Aussicht, dass die Organisatoren für diese Art von Spezialaufträgen das gleiche Team ein zweites Mal zusammenstecken würden, war gleich Null.
Plötzlich sah George ziemlich weit links zwei Silhouetten auftauchen. Mit einigen Sätzen war er bei einem Entladekran, der auf Schienen montiert war, und ließ sich darunter gleiten.
Louis sollte ihm nach zwanzig Sekunden folgen. Wenn er die Wachtposten nicht sah, war alles umsonst. George drehte sich vorsichtig zwischen den Schienen um und spähte zur Kermit hinüber. Weiter links funkelten die vielen tausend Lichter von Hongkong über den riesigen Schiffen. Das Horn einer Fähre durchbrach mit einem tiefen, unheimlichen Heulen die drückende Stille der Tropennacht.
Die Wachtposten näherten sich nur langsam. Sie durchschritten einen der Lichtflecken. George konnte ihre Gesichter erkennen. Eine Minute später patrouillierten sie in einem Abstand von zwanzig Metern an dem Kran vorbei, dann waren ihre gedämpft murmelnden Stimmen nicht mehr zu hören.
George wartete, bis sie nicht mehr zu sehen waren, dann machte er sich wieder auf den Weg. Nach den Erfahrungen, die er bis jetzt mit Wachen gemacht hatte, konnte er nun so gut wie sicher sein, keiner weiteren Patrouille mehr zu begegnen. Er lief schnell weiter, dicht an den Mauern und sorgsam darauf bedacht, nicht in einen der Lichtkreise hineinzurennen.
Der Lieferwagen stand am angegebenen Platz. Ein letzter Blick in die Runde, und George schlüpfte hinten hinein. Lautlos fiel die Plane wieder zu. Dreieinhalb Minuten waren vergangen, seit George seinen Fuß auf den Kai gesetzt hatte.
Einen Augenblick später kam Louis. Er hatte die Posten gerade noch rechtzeitig gesehen und war auf der Leiter stehen geblieben. Noch dreißig lange Sekunden vergingen, bis Paul mit dem Jutesack auftauchte, der das Material enthielt. Um unbehindert laufen zu können, hatte er ihn über den Rücken gehängt.
Schweigend, bewegungslos warteten die drei bis vierzehn Minuten vor der nächsten Runde der Wachtposten. Sie sahen, wie die beiden Männer auf eine Kontrolluhr deuteten und wieder weggingen, in die entgegengesetzte Richtung. Es war 2 Uhr 44.
Um 2 Uhr 45 verließ George, ohne ein Geräusch zu machen, das Lieferauto und wandte sich in Richtung Lagerhaus L, zum Diensteingang, Zehn Sekunden später folgte auch Louis und nach noch einmal zehn Sekunden war Paul mit dem Werkzeug unterwegs.
Sie blieben einen Augenblick stehen und horchten. Alles schien ruhig. George und Louis drückten sich zu beiden Seiten der Tür an die Mauer; sie behielten die Umgebung im Auge. Paul ließ den Sack von der Schulter gleiten, legte ihn auf den Boden und öffnete den Verschluss. Die Tür vor ihm war aus dickem Blech. Er tastete prüfend den unteren Rand ab und fand einen gleichmäßigen, zentimeterbreiten Spalt über der Schwelle. Dann zog er eine feuchte Zeitung aus dem Sack, faltete sie auseinander und schob sie vorsichtig unter die Tür. Er arbeitete langsam und konzentriert. Bald war von der Zeitung nur noch ein kleines Ende zu sehen, der Rest war im Inneren des Raumes verschwunden. Dann nahm er den Schlüsselbund mit den Dietrichen, entfernte von einem, der ihm passend schien, die Plastikhülle, und steckte den Haken in den oberen Teil des Schlosses. Vorsichtig bohrte er in der Öffnung, um das Ende des Schlüssels zu finden, der von innen im Schloss steckte.
Die Schwierigkeit bestand darin, den Schlüsselbart zu fassen zu bekommen und so fest einzuklemmen, dass man ihn umdrehen konnte. Aber entweder steckte der Schlüssel nicht richtig, oder Paul war zu nervös. Auf jeden Fall hörten die drei plötzlich ein metallisches Klicken. Glücklicherweise wurde das Geräusch durch die nasse Zeitung gedämpft - der Schlüssel war innen heruntergefallen.
Paul zog den Dietrich zurück. Die drei Männer horchten angespannt. Vielleicht hatte der fallende Schlüssel den Wächter aufgeweckt. Aber noch rührte sich nichts.
Der grelle Ton einer Sirene ließ sie zusammenfahren. Dann war wieder Stille. Paul steckte den Dietrichbund ein und kniete sich nieder, um die Zeitung aus der Türritze herauszuziehen.
Ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter, bewegte er das Papier. Seine auf solche Kunstgriffe trainierten Finger spürten plötzlich auf der linken Seite einen Widerstand. Er verschob die Zeitung etwas nach rechts, dann zog er weiter, bis er es schließlich geschafft hatte.
Es war ein großer, massiver Eisenschlüssel. Paul hob ihn auf. Dann legte er die Zeitung zusammen, drückte sie Louis in die Hand und machte sich daran, die Tür zu öffnen.
Louis nahm den Sack vom Boden auf und legte die Zeitung hinein. Inzwischen hatte Paul den Schlüssel geräuschlos ins Schloss gleiten lassen und zweimal umgedreht. Er packte den Sack und zog sich ein paar Schritte zurück. Man konnte ja nicht wissen, was dahinter auf einem wartete. George hielt bereits seinen Schlagring in der rechten Hand, in der linken die Taschenlampe. Louis drehte vorsichtig am Türknopf und stieß die Tür auf, die sich ohne Quietschen bewegen ließ. Jetzt musste alles sehr schnell gehen.
George betrat als erster den Raum. Er knipste seine Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel über den Boden wandern. Das Büro hatte nur ein Fenster. Auf einem Feldbett lag reglos der schlafende Wächter. Doch schlagartig kam Leben in den Mann. Er richtete sich halb auf und tastete nach dem schweren Revolver, der auf einem Hocker neben dem Bett lag. Ein Fußtritt Georges, und das kleine Möbelstück lag am Fußboden. Gleichzeitig versetzte er dem Wächter einen gezielten Schlag. Der Mann kippte bewusstlos nach hinten, fiel aus dem Bett und schlug dumpf auf dem Boden auf.
Louis und Paul waren inzwischen ebenfalls eingetreten.
Sie sahen den reglosen Körper des Mannes am Boden, stellten aber keine Fragen.
George überzeugte sich, dass die Metalltür geschlossen war, und gab Paul ein Zeichen, den Wächter zu fesseln und ihm einen Knebel in den Mund zu stecken. Paul öffnete den Sack und entnahm ihm das Kopftuch und eine Rolle Schnur. Ohne eine Sekunde zu verlieren, verließen George und Louis das Büro, um weiter in das Depot vorzudringen.
Die Kisten waren leicht zu finden. Louis leuchtete einen Augenblick die Schrift an: Hooghly Laboratories, und die Adresse des Empfängers: Cheong Medicine Co.
Um die Hände freizubekommen, hatte George Lampe und Schlagring in die Taschen seiner Shorts gesteckt. Er hob eine der Kisten an und wog sie prüfend. Sie war nicht sehr schwer, vielleicht zehn Kilogramm. Eine Kopfbewegung, und Louis verschwand in der Dunkelheit. Die Uhr zeigte 2 Uhr 49.
2 Uhr 53. Paul stand unbeweglich im Schatten eines Schilderhäuschens, einige Meter vom Eingang Nr. 4 entfernt. Es war ein schweres, aus zwei Türflügeln bestehendes Metallgitter.
Er zwang sich dazu, noch einige Sekunden zu warten und die Augen offenzuhalten, um festzustellen, ob die Luft rein war. Bis jetzt war alles glatt gegangen, so wie es in der Anweisung gestanden hatte. Es gab keinen Grund, warum jetzt noch etwas dazwischenkommen sollte.
Er zog eine starke Blechschere aus dem Sack und näherte sich dem Tor. Vor ihm, auf der anderen Straßenseite, sah er die Umzäunung der Whitfield-Kaserne. Er fragte sich, ob hier nicht vielleicht doch Soldaten Wache hielten und Alarm schlagen würden, wenn sie sahen, was am Tor vor sich ging. Doch seine Bedenken waren überflüssig.
Ein Wagen fuhr aus der Salisbury Road heraus, und Paul sprang in den Schatten des Schilderhäuschens zurück, um nicht entdeckt zu werden. Es war ein Taxi. Er sah das Auto vorbeifahren und wieder verschwinden. Dann nahm er einen neuen Anlauf.
Die Kette war widerstandsfähiger als er gedacht hatte, und er zog vor, es zuerst an den Vorhängeschlössern zu probieren. Die Blechscheren funktionierten gut, aber er musste trotzdem viel Kraft anwenden, um den Stahl zu zertrennen. Vorsichtig löste er die Ketten und legte sie auf den Boden. Dann steckte er sein Werkzeug in den Sack zurück, den er am Boden liegen ließ, und huschte davon, um den anderen Bescheid zu geben.
Er war noch keine zwanzig Meter gelaufen, als ihn das helle Lichtbündel eines Scheinwerfers erfasste.
»Halt!«
Er schlug einen Haken und rannte auf eines der Verwaltungsgebäude zu, die in der Nähe standen. Die Wachen brüllten ihm nach, er solle stehen bleiben. Dann schossen sie. Die Kugeln pfiffen Paul nur so um die Ohren. Der letzte Schuss ging neben ihm in die Mauer, gerade in dem Augenblick, als er um die Ecke bog. Der ärgsten Gefahr entgangen, war sein erster Gedanke. Die anderen mussten gesehen haben, was passiert war, sie würden nun versuchen, mit dem Lieferwagen zu flüchten. Schnell lief er weiter, um einen der Lagerschuppen herum, und wandte sich dann wieder in Richtung Tor 4.
Kaum dort angekommen, hörte er das Brummen eines Automotors. Schnell öffnete er einen Torflügel, doch beim zweiten gab es Schwierigkeiten. Eine Stange ließ sich nicht lösen, und er verlor wertvolle Sekunden, bis er das Hindernis beseitigt hatte.
Da tauchten die Wachen wieder auf. Sie waren nur noch knapp dreißig Meter von Paul entfernt. Hinter ihnen erschien der Lieferwagen, der mit immer größerer Geschwindigkeit heranbrauste. Doch die beiden Männer schienen ihn nicht zu bemerken.
»Halt!«
Endlich war das Tor offen. Da wurden die Wachen stutzig und blieben stehen, um nach hinten zu sehen. Ohne Scheinwerferlicht raste der Lieferwagen mit Vollgas auf den Ausgang zu. Einer der Männer sprang zur Seite, der andere blieb stehen, streckte den Arm aus und schoss. Frontal wurde er vom Lieferwagen erfasst und in die Luft geschleudert. Entsetzt sah Paul, wie der Körper auf die Kühlerhaube fiel und dort liegen blieb. Der Wagen brauste in vollem Tempo an Paul vorbei und bog nach rechts in die Canton Road ein. Die Reifen quietschten schrill, als er um die Ecke fuhr. Durch die abrupte Wendung rollte der leblose Körper des Wächters vom Auto und blieb am Straßenrand liegen.
Paul wurde am Kragen gepackt. Jemand drückte ihm die Mündung eines Revolvers unter das Kinn.
»Hab ich dich, du Schweinehund!«
Dabei zitterte der Wachtposten so sehr, dass Paul befürchtete, der Schuss könne unversehens losgehen. Mit eiskalter Ruhe holte Paul seinen Schlagring aus der Tasche, warf sich zur Seite und schlug dem anderen ins Gesicht, bevor dieser überhaupt merkte, was los war.
Paul stieg über den reglos daliegenden Posten hinweg und lief, so schnell er konnte, in Richtung Haiphong Road davon.
Drittes Kapitel
Umständlich klemmte Mr. Smith seine Brille auf die Nase, was ihm das Aussehen eines griesgrämigen alten Frosches verlieh. Die Tür öffnete sich, und OSS 117, Hubert Bonisseur de la Bath, betrat das Büro.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er höflich.
Mr. Smith antwortete nicht. Der Agent, derzeitig der beste CIA-Mann, ließ sich in einen der bequemen, lederbezogenen Besuchersessel fallen. Mr. Smith, der seinen Besucher genau beobachtete, stellte wohl zum hundertsten Male den Vergleich mit einem Tiger an. Der junge Mann besaß in der Tat den elastischen, wiegenden Gang, die sorglose Ungezwungenheit, aber auch die beängstigende Ruhe dieser großen Raubtiere, was dem alten Herrn jedes Mal ein wenig unheimlich war.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Mr. Smith schließlich.
»Ausgezeichnet.« Bonisseur grinste. »Die letzte Mission ist erfolgreich abgeschlossen, und ich bin noch am Leben. Mehr kann man doch gar nicht verlangen.«
Mr. Smiths aufgedunsenes Gesicht verzog sich zu der Andeutung eines Lächelns.
»Umso besser«, sagte er. »Ich habe nämlich etwas Neues für Sie.«
»Das dachte ich mir. Oder haben Sie mich vielleicht schon einmal rufen lassen, um sich mit mir zu unterhalten?«
Mr. Smith tat, als habe er diese Bemerkung nicht gehört.
»Bestimmungsort Kalkutta«, verkündete er.
»Eine scheußliche Stadt, aber irgendwie mag ich sie. Worum geht es?«
»Wir hatten dort drei Jahre lang einen ständigen Mitarbeiter. Vielleicht erinnern Sie sich an ihn: Christopher W. Lemmon. Er betrieb eine Import-Export-Gesellschaft. Ein verlässlicher Mann, aber nicht mehr. Er brachte eigentlich nie etwas Sensationelles. Bis vor vierzehn Tagen - da gab er eine Meldung durch, allerdings mit D 4 versehen und dreimal unterstrichen. Er hat von einem Impfstoff Wind bekommen, der in Kalkutta hergestellt wird und nach Rotchina exportiert werden soll. Dieses Serum enthält angeblich besonders ansteckende Grippeerreger, die innerhalb kürzester Zeit eine Epidemie verursachen. Wahrscheinlich hätten wir die Information nicht so ernst genommen, wenn - nun, wenn Lemmon nicht einige Stunden, nachdem er seinen Bericht abgeschickt hatte, erschossen worden wäre.«
»Also doch kein Ammenmärchen.«
»Das haben wir uns auch gedacht. Dank einiger Details, die Lemmons Bericht enthielt, ist es uns gelungen, eine dieser Mordkisten aus einem Lagerhaus in Hongkong herauszuholen.«
Mr. Smith nahm seine Brille wieder ab und begann sorgfältig die dicken Gläser abzureiben.
»Und was geschieht jetzt?«, fragte OSS 117.
Mr. Smith setzte die Brille auf.
»Die Information war richtig. Wenn die Chinesen diesen Impfstoff verwendet hätten, wäre eine grauenhafte Seuche ausgebrochen, die dann, wie Seuchen das eben so an sich haben, in kürzester Zeit auf die Nachbarländer übergegriffen hätte, wahrscheinlich sogar über die ganze Erde verschleppt worden wäre.«
»Sind Sie sicher, dass davon nicht schon etwas verwendet wurde?«
»Nun, die Sache ist so schwerwiegend, dass wir die englischen Behörden in Hongkong verständigt haben. Die Lieferung konnte beschlagnahmt werden. Wir haben übrigens vorher ein Muster davon aus dem Lagerhaus, in dem die Fracht auf die Abfertigung wartete, holen lassen. Dann wurde der Transithändler ermittelt. Es war die erste Sendung, aber vermutlich sind weitere in Vorbereitung.«
»Weiß man denn, wo dieses Teufelszeug hergestellt wurde?«
»Ja. Es kommt aus den Hooghly-Laboratorien in Kalkutta. Die Auskünfte, die wir über diese Firma bekommen haben, sind ausgezeichnet. Es handelt sich um ein anglo-indisches Unternehmen, das auf dem pharmazeutischen Markt den besten Ruf genießt.«
»Gut. Wie sieht das Programm aus?«
»Lemmon hatte fünf ständige Mitarbeiter, die ihn auf dem Laufenden hielten. Mit ihnen müssen Sie sofort Kontakt aufnehmen, um zu erfahren, wer die Geschichte von diesem Impfstoff überhaupt ausgegraben hat. Gleichzeitig sollte man diese Laboratorien etwas genauer unter die Lupe nehmen. Vielleicht lässt sich feststellen, was hinter dem Fall steckt. Lind dann hätten Sie wie üblich völlig freie Hand, die Sache zu Ende zu führen.«
Das alles klang ziemlich vage, aber OSS 117 wusste, dass er noch einen Bericht bekommen würde, in dem Näheres über die bisherigen Recherchen stand und den er, wie immer, auswendig zu lernen hatte.
»Tarnung?«, fragte er sachlich.
»Import-Export. Die Firma, die Lemmon in Kalkutta bis zu seiner Ermordung leitete, ist die Filiale eines großen panamesischen Unternehmens, an dem wir beteiligt sind - mit Aktienmehrheit übrigens. Sie werden einfach als Lemmons Nachfolger dort ankommen.«
Viertes Kapitel
OSS 117, Hubert Bonisseur de la Bath, verließ den Aufzug im vierten Stock und betrachtete das polierte Kupferschild auf der schwarzen Holztür:
Jack Robinson & Co.
Import - Export
Er öffnete die Tür, und ein Glöckchen klingelte freundlich seine Ankunft. Der Flur war quadratisch und nicht sehr groß. An den hellgetünchten Wänden hingen ein paar Fotografien; sie zeigten Frachtdampfer.
In der Nähe des Fensters war ein Hindu-Junge damit beschäftigt, Aschenbecher in einen Papierkorb zu leeren und mit einem Tuch auszuwischen. Er unterbrach seine anregende Beschäftigung.
»Sie wünschen, Sir?«
OSS 117 lächelte.
»Ich heiße Tony Burton«, sagte er. »Ich bin der neue Chef dieses Hauses. Ich komme als Nachfolger des bedauernswerten Mr. Lemmon. Wie heißt du?«
»Bell, Sir.«
»Bell - hm. Willst du mich ins Büro von Miss Cox führen?«
Der Junge ging zu einem weißen Tischchen, auf dem ein Telefon stand.
»Ich will ihr gleich Bescheid sagen, dass Sie angekommen sind, Sir.«
»Das ist nicht nötig, Bell«, sagte Bonisseur, der aus bestimmten Gründen nicht angemeldet werden wollte.
»Verzeihung, Sir«, antwortete der Junge unterwürfig. »Bitte, kommen Sie mit. Miss Cox’ Büro ist hier in diesem Gang, die erste Tür rechts.«
OSS 117 blieb vor der angegebenen Tür stehen, klopfte und trat ein, als er keine Antwort hörte. Eine junge Frau in einem engen weißen Leinenkleid drehte ihm den Rücken zu. Sie stand am Fenster und zog sich mit einem Stift die Lippen nach. Ein Lastwagen, der unten vorbeifuhr, machte so einen Lärm, dass die Scheiben vibrierten. Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb sie auf sein Klopfen nicht reagiert hatte.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Bonisseur charmant.
Sie zuckte zusammen, drehte aber sofort geistesgegenwärtig den Spiegel ihrer Puderdose so, dass sie ihn als Rückspiegel benutzen konnte. Als sie Bonisseur darin erblickte, wandte sie sich mit einem zornigen Ruck um.
»Sie können wohl nicht anklopfen, wie jeder halbwegs gut erzogene Mensch, was?«
»Ich habe geklopft«, antwortete Bonisseur liebenswürdig. »Sie haben nur nicht geantwortet.«
»Ich habe nichts gehört. Wo ist Bell?«
»Da, wo er hingehört.«
»Warum hat er Sie nicht angemeldet?«
»Ich bin Tony Burton, Ihr neuer Chef.«
Das schien sie zu beeindrucken. Unbeweglich stand sie da, die geöffnete Puderdose in der halberhobenen Hand, und starrte ihn überrascht an. Sie hatte ein angenehmes Gesicht mit klaren Zügen, große grün-graue Augen, die Haare glatt nach hinten gebürstet und im Nacken zu einem lockeren Chignon gedreht. Die Haare waren von einer ganz eigenartigen Farbe: blassblond mit Grau gemischt. Sie war mittelgroß, schlank und wohlproportioniert. Keine aufregende Schönheit, aber nett und sympathisch.
»Verzeihung«, sagte sie schließlich, »ich wusste nicht, dass Sie heute schon kommen. Wenn man mir Ihre Ankunft mitgeteilt hätte, wäre ich zum Flughafen gefahren, um Sie abzuholen.«
»Das ist nicht schlimm. Ich bin in der Nacht gelandet und gleich im Great Eastern abgestiegen.«
»Wollen Sie nicht Lemmons Wohnung übernehmen?«
»Ja, sicher. Aber das ist im Augenblick nicht so wichtig. Ich fürchte, ich habe Sie bei einer sehr wichtigen Tätigkeit unterbrochen. Bitte, lassen Sie sich nicht stören.«
Sie verzog ihr Gesicht zu einem mokanten Lächeln und beendete ihr Make-up.
»Ich werde Ihnen gleich Ihr Büro zeigen und Sie mit den Angestellten bekannt machen.«
»Ach, lassen wir uns doch noch ein wenig Zeit damit.« Er lächelte. »Ich weiß, dass Sie eine hervorragende Kraft sind, und möchte gern, dass Sie die Geschäfte noch einige Zeit so selbständig weiterführen wie in den vergangenen Wochen. Ich muss mich erst eingewöhnen, bevor ich mich an die Arbeit mache.«
Sie atmete erleichtert auf. Während der drei Wochen nach Lemmons Tod hatte sie alle Entscheidungen selbst getroffen. Und der Gedanke, jetzt wieder die kleine Angestellte spielen zu müssen, war ihr ganz und gar nicht angenehm.
»Nehmen Sie doch Platz und erzählen Sie mir ein bisschen.«
Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch. OSS 117 hockte sich lässig auf einen der wuchtigen Ledersessel.
»Erzählen Sie mir ein wenig - zum Beispiel von Christopher Lemmon«, sagte er.
Sofort verschwand das liebenswürdige Lächeln aus ihrem Gesicht, und sie wandte den Blick ab.
»Ich weiß nichts von ihm.« Es klang ein wenig zu hastig. »Mr. Lemmon war ein ruhiger, unauffälliger Mann, ziemlich unkompliziert. Die Polizei von Kalkutta ist neuerdings der Meinung, dass dies ein Irrtum sei. Vielleicht war das Ganze ein Eifersuchtsdrama. Ein betrogener Ehemann, der sich im Fenster geirrt hat...« Dann fügte sie noch hinzu, ein wenig enttäuscht, wie es Bonisseur schien: »Mr. Lemmon interessierte sich kaum für Frauen. Er verbrachte jeden Abend im Club und spielte Bridge.«
OSS 117 ließ das Mädchen nicht aus den Augen. Es schien sie nervös zu machen. Sie wandte den Kopf ein wenig zur Seite.
»Stehen Sie in Geschäftsverbindung mit den Hooghly- Laboratorien?«, fragte er unvermittelt.
Sie zuckte zusammen.
»Seltsam«, sagte sie. »Mr. Lemmon hat mich gebeten, ihm diesen Vorgang zu bringen. Das war, bevor er zum letzten Mal das Büro verließ. Ein paar Stunden später war er tot.«
»Hat er die Akte mitgenommen?«
»Nein. Er wollte nur etwas nachsehen.«
»Ich würde gern einmal einen Blick in diese Unterlagen werfen.«
Sie nahm den Telefonhörer ab, drückte auf einen Knopf und gab die Bitte weiter. Danach sprachen sie von diesem und jenem, von den Lebensbedingungen in Kalkutta, vom Klima und von den Menschen, bis Bell schließlich den Ordner »Hooghly-Laboratorien« brachte.
Bessie Cox blätterte ihn schnell durch und reichte ihn dann ihrem neuen Chef, der abwartend neben ihr stand.
»Nicht viel... Nur Briefwechsel und ein paar Notizen. Wir waren mit den Leuten im Gespräch, aber ohne konkreten Erfolg. Ihre Preise sind nicht konkurrenzfähig.«
Ein schneller Blick in die Akten genügte OSS 117, um Bessie Cox’ Ausführungen Glauben zu schenken. Er schaute die junge Frau nachdenklich an.
»Ich möchte einen Termin mit einem der Direktoren dieser Firma. Können Sie mir das arrangieren?«
Sie schien aufzuhorchen, versuchte aber, sich ihre Neugier nicht anmerken zu lassen.
»Selbstverständlich. Wann wäre es Ihnen recht?«
»So bald wie möglich. Heute Nachmittag am besten.«
»Und wenn es für heute nicht mehr geht?«
»Probieren Sie es erst mal«, sagte er. »Ich möchte auf jeden Fall mit einem der Herren sprechen, egal mit welchem. Noch wichtiger wäre mir allerdings, die Fabrikanlage zu besichtigen.«
»Wie Sie wünschen.«
Sie nahm ein Päckchen Zigaretten vom Schreibtisch.
»Rauchen Sie?«
»Nein, danke.«
Sie zündete sich eine Zigarette an.
»Haben Sie noch weitere Fragen an mich?«, fragte sie dienstlich - höflich und blies eine durchsichtige blaue Rauchwolke zur Decke.
»Ja«, sagte Bonisseur. »Ich möchte gern wissen, ob Ihre Haarfarbe echt ist.«
Sie zog eine komische Grimasse, um ihr Erstaunen auszudrücken, und berührte mit der einen freien Hand ihren Chignon.
»Gefällt sie Ihnen?«
»Ich glaube, sie macht Sie älter.«
»Ich bin einunddreißig, das ist kein Geheimnis. Was die Farbe angeht - na ja, sie ist nicht ganz echt. Mein Friseur ist ein Künstler, verstehen Sie, und experimentiert gern ein wenig herum.«
Sie wollte noch etwas hinzufügen und blickte ihn fragend an. Doch dann machte sie eine kleine Kopfbewegung und zog ihre Hand verlegen von ihrem Nacken zurück.
»Sie mögen sie nicht, wie mir scheint.«
»Nein«, antwortete Bonisseur sachlich. »Es tut mir leid, wenn ich Sie damit beleidige.«
Bessie Cox hob die Augenbrauen und setzte ein betont gleichgültiges Gesicht auf.
»Aber ganz und gar nicht«, entgegnete sie kühl. »Das ist Ihr gutes Recht. Ich mag Männer, die wissen, was ihnen gefällt und was nicht.«
»Ich glaube, mit Ihrer natürlichen Haarfarbe sehen Sie noch hübscher aus.«
Sie lächelte ein wenig, um dann seufzend die Augen zur Decke aufzuschlagen.
»Was würde eine Frau nicht alles tun, um zu gefallen?!«
Ohne auf die Bemerkung einzugehen, gab ihr OSS 117 den Ordner zurück.
»Was halten Sie davon, wenn wir jetzt den vorhin besprochenen Rundgang machten?«, fragte er freundlich.
Sie stand auf.
»Bitte, Sir!«
»Nennen Sie mich Tony. Sie heißen Bessie, nicht wahr?«
Sie kicherte verlegen. Schließlich antwortete sie: »Warum nicht? Schließlich heißen wir ja wirklich so - Sie und ich, nicht wahr?«
Er hörte deutlich die leichte Ironie in ihrer Frage, aber er maß ihr keine allzu große Bedeutung bei.
OSS 117 war allein im Büro des ermordeten Christopher W. Lemmon, das von nun an sein Arbeitszimmer sein würde. Der Raum war verhältnismäßig einfach eingerichtet, besaß aber eine Klimaanlage. An einer nicht zu übersehenden Stelle hing ein Ölporträt, das einen alten Herrn mit Bart und in feierlichem Gehrock darstellte. Ein kleines Schildchen auf dem wurmstichigen Rahmen nannte den Namen des bedeutsamen Herrn: Jack Robinson.
Auf Bonisseur, der genau wusste, dass es diesen Jack Robinson nie gegeben hatte, wirkte dieses Bild erheiternd.
Er war gerade dabei, systematisch alle Schubladen zu durchsuchen. Er hoffte, auf irgendeinen Anhaltspunkt zu stoßen, der die Hooghly-Laboratorien betraf. Bell teilte ihm telefonisch mit, dass ein gewisser Mr. Wadhwani ihn zu sehen wünsche.
»Er möchte sich doch bitte einen Augenblick gedulden«, antwortete OSS 117 und legte den Hörer wieder auf.
Wadhwani war einer von Lemmons Mitarbeitern. Hauptberuflich war er Angestellter eines indischen Reisebüros, wo er tagtäglich Besucher aller Nationalitäten durch Kalkutta und die nähere Umgebung zu führen hatte.
Hatte Lemmon die Angewohnheit, seine Leute in der Firma zu empfangen? Das schien Bonisseur doch recht unwahrscheinlich.
Er griff entschlossen zum Telefon und bat den Hindu-Jungen, den Besucher hereinzuführen.
Wadhwani war ein jüngerer Mann mit sympathischen Gesichtszügen. Er war europäisch gekleidet und trug einen grauen Anzug, darunter ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Als Bell die Tür hinter ihm geschlossen hatte, verschränkte er die Hände und verneigte sich.
»Ich fühle mich sehr geehrt«, sagte er devot.
Bonisseur begrüßte ihn.
»Nehmen Sie bitte Platz, Mr. Wadhwani, Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.«
Der Hindu setzte sich in einen der Besuchersessel, blieb aber so aufrecht und gespannt, dass er an einen Vogel erinnerte, der bereit ist, beim geringsten Anzeichen von Gefahr davonzufliegen.
»Sie sind Mr. Lemmons Nachfolger?«, begann er unsicher.
»Ja, ich bin der neue Leiter der Firma. Was führt Sie zu mir, Mr. Wadhwani?«
Der Besucher räusperte sich.
»Können wir sprechen, ohne dass jemand mithört?«, fragte er leise.
»Ich weiß nicht, ob es hier eine Abhöranlage gibt. Ich bin erst seit einer Stunde im Haus.«
OSS 117 erhob sich und schaltete das Radio ein, das in der Nähe des Fensters auf einem Aktenregal stand. Er stellte den Ton auf Zimmerlautstärke. Der Hindu war ebenfalls aufgestanden und trat nun ganz nahe an ihn heran.
»Meine Beziehungen zu Mister Lemmon waren nicht geschäftlicher Art«, sagte er vorsichtig.
»Wenn ich mich recht erinnere, habe ich Ihren Namen schon einmal gehört«, sagte Bonisseur. »Ich möchte aber sichergehen, ob Sie derjenige sind, den man mit dem Namen gemeint hat.«
Der Mann verstand sofort. Er zog eine Brieftasche aus seinem Jackett und reichte ihm einen englischen Personalausweis. Bonisseur überflog das Dokument und gab es dem Hindu wieder zurück.
»Arbeiteten Sie für Lemmon nicht unter einem Decknamen?«
»Ja. Der Name ist John.«
»Warum sind Sie hierhergekommen, John?«
»Ich wollte Sie kennenlernen.«
»Wenn Sie Lemmon etwas zu sagen hatten, kamen Sie dann immer hierher?«
»Nein, nicht immer. Nur, wenn er mich bestellte.«
»Wussten Sie, dass ich hier bin?«
»Ja.«
Bonisseur war überrascht.
»Wie kommt das?«
»Ich hatte dem Boy der Firma eine Rupie versprochen, wenn er mich verständigt, sobald der neue Direktor da ist.«
»Wann hat er Ihnen Bescheid gesagt?«
»Er hat mich vor einer halben Stunde angerufen.«
»Gut. Wie Sie sich denken können, bin ich nicht nur Lemmons Firmennachfolger. Was haben Sie mir also zu sagen?«
Wadhwani blickte zu Boden und räusperte sich.
»Hm - ich glaube - ich glaube, ich brauche Geld.«
»Wieviel gab Ihnen Lemmon immer?«
»Wieviel?« Wadhwani dachte schnell nach, dann sagte er in einem Ton, der jeden Zweifel ausschließen sollte: »Fünfzig Dollar im Monat.«
»Nein, nicht fünfzig«, berichtigte Bonisseur, »zwanzig, nicht mehr und nicht weniger - und zwar in Rupien.«
Wadhwani quälte sich ein Lächeln ab.
»Zwanzig? Kann sein. Vielleicht irre ich mich. Es war auf jeden Fall immer recht wenig.«
»Haben Sie neue Informationen für mich?«
»Informationen?« Der Hindu schien angestrengt nachzudenken. »Gestern haben Reisende aus Kalimpong erzählt, dass chinesische Truppen wieder einmal die Grenze verletzt haben. Dann gibt es hier seit neuestem eine Filmproduktion, die angeblich von chinesischer Seite finanziert wird. Ihre Aufgabe soll sein, die Bevölkerung von Bengalen aufzuwiegeln, indem sie unauffällige, aber umso wirksamere Propaganda in ihre Filme einbaut...«
OSS 117 ließ ihn reden. Das alles interessierte ihn nur am Rande.
»Kennen Sie zufällig die Hooghly-Laboratorien?«, fragte er schließlich.
Wadhwani sagte: »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Hat Mister Lemmon die Information noch weitergeben können? Er hatte sie von mir, und da er am gleichen Abend ermordet wurde, fragte ich mich...«
Bonisseur war befriedigt über diese Nachricht. Er konnte jetzt seine Zeit zu etwas Besserem verwenden, als erst lange Nachforschungen darüber anzustellen, wer Lemmon über diesen Vorgang informiert hatte.
»Ja, er hat den Bericht noch abgeschickt. Aber ich fürchte, er ist nicht komplett. Ich möchte, dass Sie mir noch Einzelheiten zu der Geschichte erzählen.«
»Aber gern.«
Um den Hindu zu ermutigen, zog OSS 117 eine Handvoll Rupien aus seiner Brieftasche und zählte ihm den Gegenwert von zwanzig Dollar hin.
»Hier - Ihr Honorar. Und nun bin ich ganz Ohr.«
Wadhwani redete und redete, aber OSS 117 erfuhr nichts, was er nicht ohnehin schon wusste. Das Serum, das die Hooghly-Laboratorien nach Rotchina auf den Weg gebracht hatten, enthielt virulente Erreger; die Sendung bestand aus hundert Kisten, und so weiter und so weiter.
»Wie haben Sie das alles erfahren?«
»Ein Angestellter des Laboratoriums, den man kürzlich vor die Tür gesetzt hat, erzählte mir davon.«
»Ich möchte ihn kennenlernen.«
»Ich fürchte, das ist nicht mehr möglich.«
»Warum?«
»Ich wollte ihn vergangene Woche aufsuchen und erfuhr dabei, dass er fortgefahren ist, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Wahrscheinlich nach Ostpakistan.«
OSS 117 fragte: »Wie heißt der Mann?«
»Gokaldas.«
»Wir müssen ihn wiederfinden.«
»Das kann unter Umständen viel Geld kosten.«
»Gerechtfertigte Spesen werden erstattet - das müssten Sie doch inzwischen wissen, John«, sagte OSS 117.
»Ich werde mich darum kümmern, wenn Sie wollen.«
»Das ist eine gute Idee. Aber machen Sie schnell.«
Fünftes Kapitel
Bonisseur lud Bessie zum Mittagessen ein. Sie nahmen den Firmenwagen, einen bequemen Chevrolet, um zum Great Eastern zu fahren.
»Dort ist ohnehin immer für mich gedeckt«, hatte OSS 117 zu Bessie gesagt, »und wir ersparen uns eine lange Sucherei.«
Im riesigen Speisesaal der ersten Etage fanden sie den für Bonisseur reservierten Tisch. Das Essen war englisch und dementsprechend mittelmäßig.
Die junge Frau schien mehr über die Geschäfte des verstorbenen Christopher W. Lemmon zu wissen, als sie vorzugeben suchte. Aber alle Bemühungen, sie zum Reden zu bringen, waren vergeblich. Sie redete von belanglosen Erlebnissen in Kalkutta, und nichts konnte sie von ihrem heiteren Ton abbringen.
Bessie Cox war ausgesprochen geistreich und charmant, und OSS 117 fand sie immer sympathischer.
Die Mahlzeit ging schnell vorbei, und Bonisseur musste sich am Ende eingestehen, dass er keinen Schritt weitergekommen war.
Er ließ sie allein in das Bürohaus am Dalhousie Square zurückkehren und machte sich in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg zur Chowringhee Road.
Er ging um den Maiden-Park herum, eine riesige Grünanlage, die von der Chowringhee Road bis an den Hooghly-Fluss reicht; in ihrem Mittelpunkt liegt das Fort William. Dem aufregenden Schauspiel, das sich in den Straßen bot, schenkte er keinerlei Aufmerksamkeit. Er war nicht zum ersten Mal in Kalkutta, und nichts konnte ihn mehr berühren, geschweige denn in Erstaunen setzen.
Im Augenblick befand er sich in einem Zustand, den er als Einwurzelungsperiode zu bezeichnen pflegte. Er war dabei, Ansatzpunkte zu finden, Versuchsballons steigen zu lassen und im Übrigen abzuwarten, was geschehen würde. Das war seit jeher die Methode von OSS 117. Dass sie gefährlich war, wusste er sehr gut. Aber sie war im Allgemeinen wirksam, und darauf kam es ihm an.
Er betrat die Halle des Grand Hotels, machte aber sofort wieder kehrt, um seinen Weg fortzusetzen. Das war ein kleiner Trick, um einen eventuellen Beschatter abzuhängen. Als er nichts Verdächtiges bemerkte, ging er weiter. Einige Minuten später betrat er ein vornehmes Wohnhaus. Im dritten Stock fand er die Tür, die er suchte. Da hing ein kleines, geschmackvolles Schild, auf dem zu lesen war:
Professor Dr. G. C. Singh
Astrologe - Handleser
Spiritualist
Sprechstunden täglich
8 - 12 und 15 - 20 Uhr
Bonisseur klingelte. Ein Boy, ganz in Weiß, öffnete ihm und führte ihn in einen Salon, in dem bereits eine alte, wohlhabend aussehende Dame wartete. Sie trug einen violetten Sari mit herrlicher Goldstickerei und hatte mitten auf der Stirn einen schwarzen Punkt. Den einen Nasenflügel schmückte eine kostbare Perle. OSS 117 nahm einen Prospekt vom Tisch und setzte sich in einen der Korbsessel.
Während der Lektüre der kleinen Schrift musste er sich mehrmals zurückhalten, um nicht laut aufzulachen. Da stand unter anderem:
Sie haben Sorgen, nicht wahr?
Ist es Ihre Gesundheit, die Ihnen zu schaffen macht? Oder haben Sie vielleicht Liebeskummer? Haben Sie Bankrott gemacht? Herrschen Zwistigkeiten in Ihrer Familie?
Erfüllen sich Ihre Wünsche in bezug auf Ihren sozialen Aufstieg nicht so, wie Sie es sich vorgestellt haben? Haben Sie Schwierigkeiten, an ein Erbe zu kommen? Ist Ihre Frau unfruchtbar?
Diese und noch viele andere Probleme können erfolgreich gelöst werden, wenn Sie den berühmten Astrologen, Handleser und Spiritualisten Professor Dr. G. C. Singh konsultieren, der erst vor kurzem nach einer langen triumphalen Reise durch Europa, den Mittleren und den Fernen Osten zurückgekehrt ist.
Auf dieser Reise hat er die berühmtesten Astrologen, Handleser und Medien besucht, ebenso bedeutende Minister, Richter, Admiräle, Verleger, Lords und Industriedirektoren. Alle haben ihn zu seinen außerordentlichen Fähigkeiten beglückwünscht und seine Voraussagen und seine mehr als genauen Berechnungen gelobt.
Das unmögliche wird möglich gemacht dank seiner göttlichen Kraft. Seine Ratschläge und Glücksbringer helfen Ihnen, alle Schwierigkeiten und Probleme erfolgreich zu bewältigen.
Kommen Sie oder schreiben Sie an: Prof. Dr. G. C. Singh, 42, Chowringhee Road, Kalkutta 13, Telefon 21-1934. Preise: Rs. 5/-, Rs. 10-, Rs. 25!-, Rs. 100/-, Rs. 250/-.
Eine Fotografie dieses bemerkenswerten Mannes vervollständigte den Text. Dem Porträt zufolge war der berühmte und mächtige Professor Dr. Singh ein gutaussehender Mann in den besten Jahren, mit schwarzen Locken, faszinierenden Augen, einem sinnlichen Mund und leicht abstehenden Ohren.
Die Polstertür am anderen Ende des Salons öffnete sich geräuschlos. Ein hochgewachsener Mann erschien im Rahmen. Er war europäisch gekleidet und von jener unaufdringlichen Eleganz, die insbesondere die Engländer auszeichnet. Er musterte Bonisseur aufmerksam. Die Dame im violetten Sari war aufgestanden und ging auf ihn zu. Er trat einen Schritt zur Seite, um sie vorbeizulassen, und verschwand hinter ihr, nachdem er langsam die Tür geschlossen hatte.
OSS 117 stand auf, legte den kuriosen Prospekt an seinen Platz zurück und ging zum Fenster. Er schaute den Autos auf der Straße zu, die wie Ameisen durcheinanderwimmelten. Vor ihm lag der Maiden-Park, dessen junge Bäume bis zu einer bestimmten Höhe von Ziegelmauern geschützt sind, um nicht der Gefräßigkeit der schmutzstarrenden, halbverhungerten heiligen Kühe zum Opfer zu fallen, vor denen nichts Grünes sicher ist und die Tag und Nacht den vergilbten Rasen des Parks mit ihrer unheimlichen Anwesenheit bevölkern.
Er dachte an Guna Singh, der unter Lemmons Mitarbeitern seit jeher der beste gewesen war. Durch seinen Beruf kam Guna Singh täglich mit einer Menge Menschen aus allen Gesellschaftsschichten in Berührung. Die Astrologie spielt im Leben der Hindus ja eine bedeutende Rolle. Selbst westlich erzogene und hochkultivierte Inder unternehmen nichts Wichtiges, ohne vorher ihren Hausastrologen konsultiert zu haben. Zum Beispiel kann ohne Befragen eines solchen Magiers nicht geheiratet werden. Der Magier entscheidet letztlich, ob sich die Verlobten überhaupt vermählen können, und wenn ja, setzt er Tag, Stunde und Minute fest, wann die Ehe geschlossen werden soll.
Die Tür öffnete sich wieder. Guna Singh trat heraus.
»Wollen Sie mir bitte folgen?«
OSS 117 betrat das Sprechzimmer. Es war ein äußerst merkwürdiger Raum. An der Decke war der Sternhimmel mit seinen zwölf Häusern aufgemalt. Die Wände schmückten Fotoreproduktionen der berühmten erotischen Friese aus den Tempeln von Khajurabo. Gegenüber einem großen, modernen Metallschreibtisch, auf dem ein enormer Lingam aus Stein ruhte, standen ein zusammenklappbares Ruhebett und ein sechseckiges antikes Tischchen mit einem Räuchergefäß aus Jade. Dieser kleinen Kostbarkeit entströmte unaufhörlich Weihrauch. Ein gepolsterter Lederclubsessel stand mit dem Rücken zu einem überdimensionalen rosa Eisschrank neuester Ausführung. Die Fenster waren geschlossen. Durch die blauen und roten Scheiben fiel ein seltsam unwirkliches, gedämpftes Licht.
»Die Dame, die vor mir dran war, hatte sich wohl in der Adresse geirrt?«, fragte Bonisseur, erstaunt darüber, dass er so rasch empfangen wurde.
»Nein. Ich habe sie in Schlaf versetzt. Sie liegt im Zimmer nebenan. Ich habe jetzt Zeit für Sie, solange Sie wünschen.«
»Aber vielleicht wird sie wütend sein, wenn sie aufwacht?«
»Diese Frau ist in ihren Sohn verliebt. Ich kann sie nur behandeln, wenn ich sie vorher in einen hypnotischen Schlaf versetze. Als ich Sie sah, habe ich mir gleich gedacht, dass Sie für mich wichtig sind.«
»Wirklich?«
»Ja. Was kann ich für Sie tun, Mister Burton?«
»Oh«, sagte Bonisseur, »Sie scheinen tatsächlich übernatürliche Kräfte zu haben.«
»Nein, dafür gibt es eine ganz natürliche Erklärung«, erwiderte Dr. Singh lächelnd. »Ich habe heute Mittag mit Freunden im Great Eastern gegessen. Da sah ich Sie in Begleitung von Miss Cox und konnte mir denken, dass Sie der neue Direktor von Jack Robinson & Co. sind. Ein Anruf genügte und...«
»Fabelhaft«, sagte Bonisseur. Er war beruhigt. »Mein Besuch hier wird Ihnen wohl genügen, um Sie zu überzeugen, dass ich nicht nur Lemmons Firmennachfolger bin.«
Guna Singh lächelte zweideutig.
»Sie sind also nicht hierhergekommen, um aus Ihren Handlinien Ihr Schicksal zu erfahren?«
»Nein. Bitte, nehmen Sie's mir nicht übel, aber ich glaube nicht an so etwas. Das ist sicher mit ein Grund, dass ich überhaupt noch am Leben bin.«
»Ich verstehe Sie.«
»Sind Sie immer noch interessiert, das weiter zu tun, was Sie für Lemmon getan haben?«
Singhs intelligentes Gesicht blieb undurchdringlich.
»Darf ich Sie bitten, sich klarer auszudrücken?«, antwortete er, ohne dass es unhöflich klang.
»Wenn Lemmon sich mit anderen Kollegen über Sie unterhielt, nannte er Sie Hermann. Im obersten Fach des Regals in seinem Büro steht ein Ordner, der Sie betrifft und die Nummer 480/3 trägt. Lemmon überwies Ihnen zweihundert Dollar pro Monat für Lieferungen, die Sie ihm zugehen ließen. Genügt Ihnen das?«
Der Astrologe entspannte sich, und ein breites Lächeln zog über sein bronzefarbenes, ebenmäßiges Gesicht.
»In Ordnung«, sagte er. »Ich war nur anfangs ein wenig skeptisch.«
»Sie hatten recht. Aber nun zur Sache. Was war, Ihrer Meinung nach, die Ursache für Lemmons Tod?«
»Eine Kugel, die ihm jemand in den Kopf gejagt hat. Da nützt es wenig, wenn man kräftig gebaut ist. Mit solchen unvorhergesehenen Zwischenfällen rechnet man nicht.«
»Das habe ich mit der Frage nicht gemeint, sondern: warum hat man ihn ermordet?«
Guna Singh zog die Schultern hoch, um zu betonen, dass er es nicht wüsste.
»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.«
»Haben Sie jemals etwas von den Hooghly-Laboratorien gehört?«
Der Astrologe runzelte die Stirn. »Hooghly-Laboratorien?«
Dann schien er plötzlich sein Gedächtnis wiederzufinden.
»Ach, Sie meinen die Geschichte mit dem falschen Impfstoff? Natürlich. Ich selbst war es doch, der Lemmon diese Information gegeben hat.«
Bonisseur dachte: Sicher ist es nicht ausgeschlossen, dass Lemmon diese Auskunft von zwei Mitarbeitern gleichzeitig erhalten hat. Aber es machte ihn stutzig.
»Woher wussten Sie das?«
Die Frage war dem Hindu offenbar nicht ganz angenehm.
»Man glaubt allgemein, dass dies der Grund für Lemmons Tod war. Wir müssen der Sache nachgehen und herausfinden, wie die Geschichte überhaupt entstanden ist. Sie müssen mir dabei helfen.«
»Haben Sie denn den Sachverhalt geprüft? Stimmt er?«
»Was weiß ich«, log Bonisseur. »Darüber hat man mich nicht aufgeklärt. Man hat mir nur mitgeteilt, dass Lemmon höchstwahrscheinlich deshalb ermordet wurde. Woher haben Sie die Sache erfahren?«
Singh begann ärgerlich zu werden.
»Ich sagte Ihnen doch, ich weiß es nicht. Ich meine damit, dass ich den Namen des Mannes nicht kenne, der mir davon erzählt hat. Es war einer meiner Kunden, und ich respektiere ihre Anonymität, wenn sie es so wünschen. Er behauptete, dass ihn die Geschichte bis in den Schlaf verfolge. Er sähe nachts im Traum Tausende und aber Tausende von Menschen, die an diesem vergifteten Serum elend zugrunde gehen.«
»Ist er nur einmal hierhergekommen?«
»Ja. Ich habe ihn nie wieder gesehen.«
»Arbeitete er zufällig in den Hooghly-Laboratorien?«
»Ja. Das sagte er. Ich habe seiner Erzählung entnommen, dass er sich verantwortlich fühlt.«
»Wie sah er aus? Würden Sie ihn wiedererkennen?«
»Sicher, wenn ich ihn wiedersehe.«
»War er alt oder jung?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Ich müsste Sie belügen.«
»Wann hat Ihnen der Mann sein Geheimnis anvertraut?
»An dem Tag, als Lemmon starb. Er war am Spätnachmittag vorbeigekommen, tun mich zu sehen.«
»Lemmon?«
»Ja. Es muss gegen sechs Uhr gewesen sein. Ich habe ihm von der Sache erzählt, und er machte nicht den Eindruck, als ob ihn das sehr interessiere. Wie haben Sie es erfahren?«
»Lemmon hat einen Bericht geschickt.«
»Ah!« Der Astrologe war verstimmt.
Plötzlich hörten sie, wie die Eingangstür zugeschlagen wurde. Guna Singh horchte einen Augenblick, aber OSS 117 sprach unbeeindruckt weiter: »Dieser Bericht ist an dem betreffenden Tag vor fünf Uhr weggegangen.«
Singh warf ihm einen ratlosen Blick zu. Dann ging er zu seinem Schreibtisch und stützte sich schwer auf. Seine Unterlippe zitterte unmerklich.
Bonisseur hatte den Eindruck, dass sich in diesem Haus etwas Ungewöhnliches abspielte. Plötzlich stürzte der weißgekleidete Boy, ohne anzuklopfen, ins Zimmer. Er sah völlig verstört aus.
»Madame Harsha ist gerade weggegangen«, sagte er atemlos. »Hätte sie nicht schlafen müssen?«
Bonisseur ließ keinen Blick von dem Astrologen, dessen braunes Gesicht schlagartig grau wurde wie Lehm.
»Ja, natürlich«, antwortete er seltsam klanglos. »Bitte, bleiben Sie hier, Mister Burton, ich will ihr nur schnell nachlaufen und sie zurückholen.«
Er stürzte hinaus, ohne OSS 117 eine weitere Erklärung zu geben. Der Boy war verschwunden. OSS 117 versuchte sich vorzustellen, was dieser seltsame Zwischenfall bedeuten könnte, als er auf einmal merkte, dass er nicht allein im Raum war.
Er drehte sich um. Durch die andere Tür war eine Frau hereingekommen, eine Hindu von großer Schönheit, in einem goldgelben Sari, der ihre geradezu königliche Gestalt vollendet zur Geltung brachte.
»Ich heiße Lila«, sagte sie. »Ich bin Gunas Schwester. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, während Sie auf meinen Bruder warten, Mister Burton?«
Sechstes Kapitel
Als Guna Singh eine Stunde später noch immer nicht zurückgekehrt war, verabschiedete sich OSS 117, um rechtzeitig zu dem Termin mit den Direktoren der Hooghly- Laboratorien zu kommen. Er verließ das Gebäude in der Chowringhee Road höchst beeindruckt von der Persönlichkeit Lilas. Sie stand so lebendig vor seinen Augen, dass er darüber beinahe das seltsame Verhalten des Astrologen vergessen hätte.
Er nahm ein Taxi und nannte dem Chauffeur die Adresse. Sie fuhren am Great Eastern vorbei, überquerten den Dalhousie Square und erreichten den Burdwan-Raja-Bazar. Die Straße war so verstopft, dass sie kaum vorwärts kamen. Dennoch erreichten sie nach einigen Minuten die riesige Konstruktion der Howrah-Brücke, deren außergewöhnlich geformten Metallstützen und Streben hoch in den Himmel ragten.
Diese Brücke ist die einzige Verbindung zwischen Kalkutta und Howrah und spannt sich von einem Ufer des Hooghly zum anderen. Neben mehreren Gehsteigen hatte sie eine breite Fahrbahn, auf der sich in einem unbeschreiblichen Durcheinander Autos, Lastwagen, Fuhrwerke, Fahrrad-Rikschas, Radfahrer, Lastträger, Ziegenherden und heilige Kühe drängten. Dieses Tohuwabohu teilt sich nur - es grenzt fast an ein Wunder -, wenn Straßenbahnen daherkommen, deren Gewicht die ständige Vibration der Eisenkonstruktion noch verstärkt, so dass die Brücke keine Sekunde ruhig liegt. Es ist, als ob der riesige Stahlbau von einem Erdbeben geschüttelt würde, dessen Ende nicht abzusehen ist.
Breit, schlammig, träge wälzt sich der Fluss dahin, bedeckt von einem bunten Mosaik aus unzähligen Frachtkähnen. Alle Flaggen sind hier vertreten: englische, japanische, russische, chinesische. Ein unübersehbares Gewimmel halbnackter Männer und Frauen ist damit beschäftigt, die plumpen Kähne zu entladen, Lasten umzupacken, scheinbar ziellos hin und her zu rennen, bis die Kähne wieder losmachen und langsam in der Strömung abtreiben.
OSS 117 war von diesem Schauspiel fasziniert.
Auf der anderen Seite des Flusses führte eine Straße in vielen Kurven hinunter zu einem Bahnhof. Das Taxi überquerte den Schienenstrang und gelangte ins Fabrikviertel.
Die Hooghly-Laboratorien lagen in der Nähe der Grand Trunk Road South, nicht weit vom Fluss entfernt, dessen Namen sie auch trugen. Der Chauffeur, ein bärtiger Sikh, der einen schmutzigen Turban um das lange Haar geschlungen trug, bog bald rechts ab, um sich sofort rettungslos zu verfahren. Ratlos geworden, fragte er einen nackten kleinen Jungen, der in einem schmutzigen Wasserloch badete, nach dem Weg. Endlich fand er sich wieder zurecht und steuerte geradewegs auf das Ziel zu.
Sie fuhren eine lange Mauer entlang, hinter der sich riesige Kohlenberge türmten. Eine mitten auf dem Weg liegende Kuh zwang sie zum Anhalten. Links die Mauer, vor sich die Kuh, rechts eine Straße zwischen halbverfallenen Lagerschuppen, und keine Menschenseele weit und breit.
»Ist das vielleicht auch eine heilige Kuh?«, fragte Bonisseur.
»Sie sind alle heilig«, antwortete der Chauffeur ernst.
»Heilige Kuh oder nicht, sie wird sich wohl zum Aufstehen bequemen müssen.«
»Vielleicht bitten Sie sie höflich darum«, schlug der Sikh vor. »Da Sie Ausländer sind, wird sie Ihnen vielleicht gehorchen.«
OSS 117 stieg aus. Er hörte, wie sich ein Lastwagen näherte, sah ihn aber noch nicht. Ungeduldig versetzte er der Kuh einen Fußtritt in die Flanke, aber sie reagierte nicht darauf. Bonisseur bückte sich, um sie anzufassen. Sie war kalt. Er richtete sich wieder auf und ging zum Kopf des Tieres, berührte die mit unzähligen Fliegen besetzte Schnauze...
»Sie ist tot«, sagte er laut.
Der Lastwagen in der Seitenstraße machte einen Höllenlärm. Bonisseur sah ihn um die Ecke des Schuppens biegen. Es war ein altes Vehikel, das sicher noch aus der Zeit des Ersten Weltkrieges stammte, auf hohen Reifen, kastenförmig und massiv wie ein Panzerwagen. Auf dem Trittbrett des Führerhauses stand ein junger Hindu in kurzen Hosen und flatterndem Hemd und hielt von außen das Steuer. Einige Meter vor dem Taxi sprang er von dem fahrenden Wagen ab.
Der Sikh-Chauffeur schrie auf. OSS 117 sah ihn schreien, aber er hörte ihn nicht.
Ein kreischendes Krachen... Der Lastwagen riss das Taxi mit sich und quetschte es gegen die Mauer, die unter dem Anprall nachgab und mit Gepolter auf den zertrümmerten Wagen stürzte. Der Lastwagen schlenkerte noch ein paarmal hin und her und kam schließlich in der Mitte der Straße zum Stehen.
Während Bonisseur Augenzeuge dieses Vorfalls wurde, schoss ihm die Erkenntnis durch den Kopf, dass man den Kadaver der Kuh mit Absicht hierhergelegt hatte.
Ein Mordanschlag!
OSS 117 hätte sterben sollen. Nur der Zufall hatte ihm das Leben gerettet. Natürlich hatte man damit gerechnet, dass der Chauffeur aussteigen würde, um die Kuh zu verjagen, und nicht der Fahrgast...
Als sich die dichte Staubwolke gelegt hatte, sah Bonisseur den jungen Hindu, der ihn anstarrte wie ein Gespenst.
»Komm her!«
Der Befehl wirkte auf den Burschen wie die Berührung mit einem Zauberstab. Plötzlich schien ihm einzufallen, was geschehen war. Er sprang über die Trümmer des Taxis, setzte über die zerborstene Mauer und lief, was seine Beine hergaben.
Bonisseur zögerte nicht lange. Er folgte ihm auf der Stelle. Riesige Kohlenberge links und rechts versperrten die Sicht. Der junge Hindu wandte öfters den Kopf, um zu sehen, ob sich der Abstand zwischen ihm und seinem Verfolger nicht verringerte.
OSS 117 lief mit erhobenen Ellbogen; er bekam leicht Seitenstechen. Und er hatte alle Mühe, ein gleichmäßiges Tempo beizubehalten. Bald rannte er nur noch mit halber Kraft. Der Kerl war ihm nicht mehr so wichtig wie noch eine Minute vorher. Außerdem hatte er das untrügliche Gefühl, dass der Kleine eine List vorbereitete.
Er verlangsamte seine Geschwindigkeit. Der Hindu hatte einen neugebauten Schienenstrang erreicht und wandte sich plötzlich im rechten Winkel nach links, in Richtung des Flusses. Dabei blickte er alle paar Sekunden zurück nach seinem Verfolger.
OSS 117 war bald an der Stelle angekommen, wo der Junge abgebogen war. Der kleine Halunke war stehen geblieben und schien nun auf ihn zu warten. Im Hintergrund lag ein Frachtdampfer vor Anker. Von einer schweren Lokomotive gezogen, rollten ein paar hundert Meter weiter rechts einige Güterwaggons heran.
OSS 117 blieb stehen. Der andere kam auf ihn zu. Er hatte einen Dolch in der Hand und grinste. Natürlich dachte er, dass OSS 117 durch die Verfolgungsjagd außer Atem sei und dass er nun ein leichtes Spiel mit ihm hätte. Dass OSS 117 jedoch mit Absicht stehengeblieben war, um sich auf die Taktik seines Gegners einzustellen, so weit reichte sein kleiner Verstand nicht.
OSS 117 beschloss, den Hindu in seinem Glauben zu bestärken. Er warf verzweifelte Blicke um sich und keuchte angestrengt. Eine Schiffssirene stieß einen langen, schrillen Pfiff aus, der einen Augenblick lang das Zischen der Dampflokomotive übertönte.
OSS 117 wich zurück. Der Hindu begann irre zu lachen und stürzte auf ihn los, um ihm das gezückte Messer in den Leib zu stoßen.
In letzter Sekunde ließ sich OSS 117 nach vorn fallen. Seine zu einem X gekreuzten Handgelenke fingen den Vorderarm des Gegners auf. Die starken Hände bogen sich zurück, ergriffen ein Handgelenk des anderen und den Ellbogen. Der Hindu heulte auf vor Schmerz und Überraschung und ging in die Knie. OSS 117 hielt den Burschen so lange fest, bis er die Finger öffnete und den Dolch fallen ließ.
Er hob die Waffe auf und überlegte sich, ob er dem Kerl nicht noch eine Tracht Prügel verpassen sollte für seine Gemeinheit. Aber der, halb wahnsinnig vor Angst und Schmerzen, wich so geschickt nach hinten aus, dass OSS 117 ins Leere traf. Bevor Bonisseur überhaupt merkte, dass er danebengeschlagen hatte, raste der Hindu davon.
OSS 117 sah, wie er auf das Gleis zulief, direkt zu der Lokomotive hin, die mit großem Tempo daher stampfte. Er schrie: »Achtung!«
Dann sprintete er los, um den Burschen noch einzuholen und dem drohenden Unheil zu entreißen. Der Hindu aber lief nur noch schneller. Einen Augenblick lang glaubte OSS 117, er würde ihn noch zurückreißen können, aber da glitt sein linker Fuß von einem Stück Kohle ab, und er fiel der Länge nach hin.
Machtlos musste er zusehen, wie der Junge von der Lokomotive erfasst und quer zwischen die Schienen geschleudert« wurde. Ein dünner Schrei zitterte durch die Luft, brach ab, dann war nur noch das Rollen der Räder zu hören.
Der Heizer, der damit beschäftigt war, Kohlen nachzuschütten, hatte nichts gesehen. OSS 117 richtete sich auf. Seine Hände und sein heller Anzug waren schwarz von Schmutz. Mühsam versuchte er, sich einigermaßen zu säubern, und ging dann davon, leicht hinkend und mit dem einzigen Bestreben, diesen Ort des Grauens so schnell und so diskret wie möglich zu verlassen.
Er erreichte die Grand Trunk Road in der Nähe der Science Hall und wartete auf ein Taxi. Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis eines vorbeifuhr und ihn mitnahm. Nach einigen Minuten hielt der Chauffeur an. Vor ihnen erstreckte sich ein riesiges, flaches Gebäude aus Beton und Glas: die Hooghly-Laboratorien.
Er bat den Chauffeur, auf ihn zu warten, und ging hinein. Eine hübsche junge Frau, wahrscheinlich mit einem Schuss indischen Blutes in den Adern, saß in der Halle hinter einem Empfangsschalter. Sie schien gleichzeitig auch für die Telefonverbindungen verantwortlich zu sein.
»Ich habe einen Termin mit Ihrem Direktor«, sagte Bonisseur. »Leider habe ich mich ein wenig verspätet.«
Die junge Frau sah ihn kühl an.
»Mit Mister Wright?«
»Ja. Ich bin Mr. Burton von Jack Robinson. Meine Sekretärin hat mich heute Morgen telefonisch angemeldet.«
»Ja, ich erinnere mich, Mr. Burton. Aber Ihre Sekretärin hat vor etwa einer Stunde angerufen, um diesen Termin abzusagen. Mr. Wright hat diese Gelegenheit wahrgenommen, um einen unserer Lieferanten zu besuchen. Ich glaube nicht, dass er heute noch einmal ins Büro zurückkommt.«
»Sind Sie sicher, dass es meine Sekretärin war, die angerufen hat?«, fragte er.
Sie runzelte die Stirn, und ihre Phantasie schlug jetzt ohne Zweifel die tollsten Kapriolen. Es war doch immerhin recht außergewöhnlich, dass ein Geschäftsmann in so schmutzigen Kleidern zu einer Besprechung kam.
»Ob das Ihre Sekretärin war, wollen Sie wissen?«
»Ja, genau.«
»Es war auf jeden Fall eine Frau, und sie hat sich auch als Ihre Sekretärin gemeldet. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Hätte ich an ihrer Behauptung zweifeln sollen?«
»Natürlich. Haben Sie zufällig das Telefongespräch heute Morgen entgegengenommen, als meine Sekretärin wegen des Termins anrief?«
»Ja, sicher.«
»War es dieselbe Stimme? Ich meine, heute Morgen und vorhin?«
Nachdenklich wölbte sie die Lippen und nickte schließlich. »Ich denke, ja. Mir ist nichts aufgefallen. Glauben Sie etwa, dass...«
Sie wagte nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Bonisseur reagierte auch gar nicht darauf. Er sagte: »Mr. Wright ist Ihr englischer Direktor. Sie haben aber doch auch einen Hindu-Direktor, nicht wahr?«
»Ja, Mr. Chatterjee. Aber er ist zur Zeit in Rangun auf einer Geschäftsreise.«
»Für länger?«
»Er ist erst heute früh abgereist. Seine Rückkehr steht noch nicht fest.«
»Wann kann ich Mr. Wright sehen?«
Sie blätterte in einem großen Terminkalender.
»Morgen früh, halb elf. Ist Ihnen das recht?«
»Ausgezeichnet! Also dann bis morgen früh. Und wenn wieder jemand anrufen sollte, um mich zu entschuldigen, dann glauben Sie es nicht.«
»In Ordnung, Mr. Burton. Es tut mir leid, dass Sie sich umsonst herbemüht haben.«
»Ich hatte das Vergnügen, Sie kennenzulernen. Und ich freue mich, Sie morgen wiederzusehen.«
Sie wurde ein wenig rot und klapperte mit den Wimpern.
»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte er.
»Diana, Mr. Burton. Diana Browther.«
»Sie gefallen mir sehr, Diana.«
»Sie sind sehr liebenswürdig, Mr. Burton.«
»Also, bis morgen.«
Er sah ihr tief in die Augen, lächelte sie zärtlich an und machte kehrt, um in sein Hotel zurückzufahren. Dieses junge Mädchen machte einen recht gewandten Eindruck. Sicher war es nicht ungeschickt, in diesem Haus eine Verbündete zu haben. Und dass dies der Fall war, daran zweifelte er keine Sekunde.
Das Taxi brachte ihn in die Stadt zurück. Er überlegte: Zufällig ist der Hindu-Direktor der Hooghly-Laboratorien heute Morgen nach Rangun gefahren. Zufällig hat auf dem Weg zur Fabrik ein Lastwagen mein Taxi gerammt und den Fahrer getötet. Und ist es etwa kein Zufall, dass eine mysteriöse Frauenstimme in der pharmazeutischen Fabrik anruft, um meinen Termin mit den Direktoren abzusagen?
OSS 117 gehörte nicht zu den Menschen, die sich ununterbrochen verfolgt glauben. Aber diese vielen Zwischenfälle in so kurzer Zeit ließen ihn vermuten, dass jemandem seine Anwesenheit in Kalkutta nicht angenehm war. Vor allem hatte es den Anschein, als ob jemand um jeden Preis eine Begegnung zwischen ihm und den Direktoren der Hooghly-Laboratorien verhindern wollte.
Der Portier im Great Eastern bekam einen starren Blick, als er Bonisseur so verschmutzt die Hotelhalle betreten sah. Diskret wie er war, verlor er kein Wort darüber und übergab Bonisseur eine Telefonnachricht. Lila Singh, die bezaubernde Schwester des merkwürdigen Astrologen, bat ihn, sie bei seiner Rückkehr anzurufen.
»Dreihundertsechzehn«, sagte OSS 117 in Gedanken.
»Verzeihung, Mr. Burton.«
Der Portier reichte ihm den Zimmerschlüssel. Bonisseur bestieg den Aufzug und fuhr zur dritten Etage hinauf. Sein Zimmer lag an einer großen, rechteckigen Terrasse, um die ein gedeckter Säulengang lief, was dem Ganzen ein etwas klösterliches Aussehen gab. Neben Bonisseurs Zimmer lagen einige Räume, in denen die Boys wohnten, die diesen Teil des Hotels versorgten.
Er schloss die Tür hinter sich, zog sich aus und rief Lila Singh an.
»Tony Burton... Ich bin soeben ins Hotel zurückgekehrt und finde die Nachricht von Ihrem Anruf.«
»Oh, Mr. Burton...« Ihre Stimme klang gequält, und das Sprechen schien ihr Mühe zu machen. »Guna... Nein, ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären. Sie müssen sofort zu mir kommen. Ich bitte Sie, Mr. Burton - es ist dringend, wirklich sehr dringend...«
»Können Sie mir nicht jetzt schon sagen, worum es geht?«, fragte Bonisseur ruhig.
»Nein, Sie müssen selbst kommen. Haben Sie einen Wagen?«
»Ich kann mir einen besorgen.«
»Bitte, kommen Sie schnell! Ich warte auf Sie!«
OSS 117 legte nachdenklich auf. Was war geschehen? Hatte Guna Singh einen Unfall gehabt? Und warum wollte Lila, dass er unbedingt mit einem Auto kam?
Er rief bei seiner Firma an. Bessie war am Apparat.
»Hallo«, sagte er, »hier ist Tony.«
»Oh, wo sind Sie denn?«
Sie schien glücklich, seine Stimme zu hören.
»Hören Sie, Bess, haben Sie die Hooghly-Laboratorien angerufen?«
»Ja, natürlich, heute Morgen. Das habe ich Ihnen doch gesagt. Waren Sie nicht dort?«
»Doch, aber das werde ich Ihnen später erklären. Brauchen Sie im Augenblick den Firmenwagen?«
»Nein, er steht jederzeit für Sie bereit.«
»Können Sie ihn mir in etwa zehn Minuten vor das Hotel bringen, Bessie?«
»Sogar schon eher, wenn Sie wollen. Es ist ja nur ein Katzensprung von hier aus.«
»In Ordnung, Bessie, dann bis gleich.«
Er legte den Hörer auf, ging ins Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Dann zog er saubere Wäsche und einen frischen Anzug an und klingelte einem Boy, der die schmutzigen Sachen zur Reinigung bringen sollte. Nach einem letzten Blick in den Spiegel ging er hinunter.
Auf dem Gehsteig vor dem Hotel wurde er von einer Meute Bettler bedrängt, die der Portier aber sofort wegscheuchte. Die Mannschaft einer ausländischen Fluggesellschaft verstaute ihr Gepäck in einem kleinen blauen Kombiwagen, der sie offenbar zum Flughafen bringen sollte. Zwei Stewardessen waren dabei, eine große blonde (sicher eine Engländerin), und eine hübsche kleine (sicher eine Chinesin). Bonisseur warf der Chinesin einen zärtlichen Blick zu, den sie keck erwiderte. Und dann lächelte sie. OSS 117 seufzte. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor. Aber er war schon mit so vielen Fluggesellschaften geflogen, dass er sie wahrscheinlich mit irgendeinem anderen dieser Engel verwechselte.
Lautes Hupen riss ihn aus seinen Gedanken. Der Kombi fuhr los, und die kleine Chinesin drehte sich noch im Auto nach ihm um. Der Portier neben OSS 117 räusperte sich.
»Da drüben ist eine Dame, die Ihnen Zeichen gibt«, sagte er.
Auf der anderen Straßenseite stand der Chevrolet mit Bessie Cox am Steuer. Sie gestikulierte heftig. Bonisseur ging zu ihr hinüber und beugte sich leicht über die Wagentür.
»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie entzückt ich bin, wenn eine Frau pünktlich ist«, sagte er.
Doch Bessie fragte nur argwöhnisch: »Wer war denn die Kleine, der Sie gerade so charmante Blicke zugeworfen haben?«
»Eine entzückende Chinesin, meine Teuerste. Sie heißt Duft der Sünde und wollte mich für heute Abend auf ihr Zimmer einladen. Ich habe ihr einen Korb gegeben. Wollen Sie nun bitte aussteigen, Bess, und wieder ins Büro zurückgehen?«
»Langsam, Sir. Es ist fünf Uhr vorbei, und ich werde jetzt nach Hause gehen.«
»Nehmen Sie ein Taxi - auf Geschäftskosten. Quittung nicht vergessen.«
Bessie Cox stieg wütend aus.
»Gut«, sagte sie gereizt. »Ich habe schon verstanden.«
»Umso besser«, antwortete OSS 117. »Ich liebe Frauen, die schnell begreifen. Bis morgen.«
Er nahm Bessies Platz ein und startete. Kaum war er um die nächste Ecke gebogen, hatte er Bessie auch schon vergessen. Das rührende Gesicht Lila Singhs stand wieder vor seinen Augen, und er fühlte sich ein wenig wie der tapfere Ritter, der seiner schönen Angebeteten zu Hilfe eilt, um sie aus den Klauen des Drachen zu erretten.
Es gibt Augenblicke, wo man mich für schwachsinnig erklären müsste, dachte er selbstkritisch, aber durchaus nicht ohne eine gewisse Befriedigung.
Siebtes Kapitel
Lila stand in der Wohnungstür, als Bonisseur ankam. Nach außen hin trug sie eine gleichgültige Miene zur Schau, aber ihr Blick und ein leichtes Zucken um die Mundwinkel verrieten ihre Erregung.
»Sie haben lange gebraucht«, sagte sie vorwurfsvoll.
Ohne darauf einzugehen, folgte OSS 117 ihr ins Sprechzimmer von Guna Singh.
»Was ist los?«, fragte er.
Ihre Lippen zitterten. Sie sagte: »Ich weiß es nicht. Das ist es ja eben. Ich verstehe gar nichts mehr. Guna rief mich vorhin an, um mir zu sagen, dass er in Gefahr sei, dass ich Sie sofort benachrichtigen solle und dass wir ihn sobald wie möglich in Gubgubi Lodge treffen sollen.«
»Wo?«
»Verzeihen Sie - Sie können den Namen nicht kennen.
Gubgubi Lodge ist das Landhaus am Fluss, das meinem Bruder gehört.«
»Weit von hier?«
»Etwa eine Stunde mit dem Auto.«
»Wissen Sie den Weg?«
»Natürlich! Wir fahren ja fast jedes Wochenende hinaus.«
»Sind Sie sicher, dass es Ihr Bruder war, der angerufen hat?«
»Absolut sicher. Warum fragen Sie?«
»Rief er schon von dort an? Ich meine, von Gubgubi Lodge?«
»Nein. In Gubgubi Lodge gibt es kein Telefon.«
»Bestimmt hat er Ihnen gesagt, von wo er anruft?«
»Nein. Ich habe nicht daran gedacht, ihn zu fragen. Ich war so erschrocken...«
»Sie haben ihn nicht mehr gesehen, seit ich Sie verließ? Das heißt, seit er weglief, um seine Patientin einzufangen?«
»Nein. Das ist es ja, was mich so nervös macht. Fahren wir. Er braucht Ihre Hilfe.«
Vielleicht war es eine Falle, in die man ihn lockte. OSS 117 wusste es nicht. Aber auch wenn man es ihm gesagt hätte - für Lila hätte er alles getan.
»Der Wagen steht unten.«
Er wandte sich zur Tür.
»Guna bat mich noch, Waffen mitzunehmen«, sagte Lila. »Ich habe zwei Gewehre hergerichtet.«
Auf einem Tisch lagen zwei Jagdflinten, eine Weatherby 300 Magnum und eine Winchester 348 mit je zwei Schachteln Munition.
Bonisseur steckte die Munition ein, nahm in jede Hand ein Gewehr und verließ hinter der jungen Frau die Wohnung.
Es begann zu dunkeln, als sie das kleine Dorf am Ufer des Flusses erreichten.
»Fahren Sie geradeaus weiter«, sagte Lila, »wir sind gleich da.«
Langsam steuerte OSS 117 den schweren Wagen durch die aus kleinen Lehmhütten bestehende Ortschaft. Auf der Straße, die in einem miserablen Zustand war, lungerte eine Horde abgezehrter Kinder herum sowie ein paar Kühe.
Einen Kilometer hinter dem Dorf bogen sie nach links ab, in einen ausgefahrenen Feldweg, der nur aus Schlaglöchern bestand. Bonisseur verzichtete darauf, die Scheinwerfer einzuschalten. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden und was sie erwartete. Der Wagen wurde hin und her geschüttelt, neigte sich zur Seite, richtete sich schwerfällig wieder auf. Ab und zu streifte das Chassis den Boden, und das Fahrgestell knackte in allen Fugen. So fuhren sie über hundert Meter weit, bis ihnen plötzlich ein quer über die Fahrbahn liegender Baumriese den Weg versperrte.
»Das ist nicht schlimm«, sagte Lila. »Es ist nicht mehr weit bis zum Flussufer.«
Sie stiegen aus. OSS 117 zog den Zündschlüssel ab, nahm die Winchester und reichte der jungen Frau die zweite Waffe.
»Wissen Sie, wie man mit so etwas umgeht?«
»Nein.«
»Das macht nichts. Behalten Sie sie trotzdem.«
Er lud die beiden Magazine und steckte die restlichen Patronen wieder ein. Dann sagte er kurz: »Gehen wir!«
Er half seiner Begleiterin über den gefällten Baum. Ein Sari ist für diese Art von Turnübungen nicht gerade das geeignetste Kleidungsstück, aber sie schafften es. Nach etwa dreißig Metern waren sie am Flussufer angekommen. Trotz der Dunkelheit, die von Minute zu Minute zunahm, konnte man in der Mitte des Flusses eine Insel erkennen.
»Da drüben ist es«, sagte Lila.
»Warum haben Sie mir nicht eher gesagt, dass das Haus auf einer Insel steht? Ich hätte mir Badezeug mitnehmen können.«
Lila entging der leichte Ärger in seiner Stimme nicht.
»Es gibt ein Boot.«
Von jetzt ab heißt es vorsichtig sein, dachte Bonisseur. Es war inzwischen so finster geworden, dass jemand, der im Hinterhalt lauerte, leichtes Spiel mit ihm haben würde. Er nahm nicht an, dass Lila ihn mit Absicht in eine Falle locken würde, aber er glaubte auch nicht ganz an ihre Aufrichtigkeit.
»Gehen Sie zuerst«, sagte er. »Sie kennen den Weg.«
Sie gehorchte. Er ging einen Schritt hinter ihr und horchte angespannt auf jedes Geräusch. Der Busch, durch den der Pfad führte, war an dieser Stelle besonders dicht. Aber das Knistern, das einmal an sein Ohr drang, stammte nur von einem Vogel, der, durch die Schritte aufgescheucht, flatternd das Weite suchte. Ab und zu zirpte ein Insekt.
Die junge Frau blieb stehen und drehte sich nach Bonisseur um. Sie deutete auf eine große, flache Barke, die mit einem dicken Seil an einem alten Baumstumpf vertäut war. Sie stiegen hinein. OSS 117 machte das Seil los und ergriff das Steuer. Er sagte: »Sie müssen rudern.«
Sie war offensichtlich in dieser Sportart trainiert und wurde gut mit dem Boot fertig. Bonisseur hatte die Winchester über seine Knie gelegt und lauerte.
Die Strömung war stark, und Lila musste aus Leibeskräften arbeiten. Trotzdem wurde das Boot weit abgetrieben, und Bonisseur glaubte einen Augenblick lang, sie würden die Südspitze der Insel verfehlen. Gleich darauf knirschte es unter ihnen. Sie waren auf eine Sandbank aufgelaufen.
Der Kahn drehte sich ein wenig hin und her und blieb schlagartig ruhig liegen. Lila zog ihre Schuhe aus, hob ihren Sari und stieg ins Wasser. Bonisseur folgte ihr, das Boot ein paar Meter hinter sich herziehend.
Auf einem engen, gewundenen Pfad kamen sie zu dem Landhaus, das auf einem gepflegten Rasen stand. Die Grasfläche war von kleinen Buschgruppen umwachsen, deren Blüten einen betäubenden Duft ausströmten.
Das Haus war ganz aus Stein, mit einer Etage über dem Erdgeschoss und im schottischen Stil erbaut. Bonisseur stellte sich vor, dass irgendein MacSowieso das Ding dahingestellt hatte, vielleicht ein schottischer Offizier, der in Indien diente, oder ein Kaufmann, den das Heimweh überwältigt hatte.
Lila war stehengeblieben. Sie sahen auf das Haus, das dunkel vor ihnen lag. Alle Fensterläden waren geschlossen. Es herrschte eine beinahe feindselige Ruhe auf dem Grundstück. Plötzlich begannen im Park einige Affen zu streiten und sich unter schrillem Gezeter herumzubalgen. Lila fröstelte. Sie schmiegte sich fast unmerklich an Bonisseur. Er hatte Angst vor ihrer Nähe und wich aus, einzig und allein, um nicht schwach zu werden.
»Er ist noch nicht da«, murmelte die junge Frau.
»Haben Sie einen Schlüssel?«
»Ich habe einen mitgenommen.«
»Gut. Gehen wir.«
Sie näherten sich dem Haus, OSS 117 einen Schritt hinter Lila, um sie zumindest vom Rücken her zu decken. Lila zog einen Schlüssel aus dem Gürtel und sperrte die Haustür auf. Die verrosteten Türangeln quietschten. Die Winchester in der Rechten, knipste Bonisseur mit der linken Hand seine Taschenlampe an und ging hinein.
Im Schein des schwachen Lichtstrahls sah er einen großen Wohnraum. Ein mächtiger Kamin gähnte an der einen Schmalseite des Zimmers. Da standen einige massive Teakholzmöbel, verschiedene Raubtierfelle lagen am Boden, und an den bis zur Decke getäfelten Wänden hingen etwa ein Dutzend düsterer Ahnenbilder.
Lila lehnte ihre Waffe neben der Tür an die Wand und ging zum Kamin. Sie ließ ein Streichholz aufflammen und brannte damit den Docht einer Kerze an, mit der sie dann die im Raum verteilten Kandelaber anzündete. Die Schatten wurden kleiner, und das Zimmer wirkte im Nu viel freundlicher. OSS 117 zog den Schlüssel ab, den Lila außen an der Tür hatte stecken lassen, und sperrte zu.
»Ganz gemütlich hier«, sagte er, während er um sich blickte.
»Er ist nicht da«, sagte Lila; sie ging auf seine Bemerkung nicht ein.
Bonisseur wusste genau, dass Lila für nichts anderes ansprechbar war. Ihre einzige Sorge galt ihrem Bruder. Er nahm einen der Kerzenleuchter in die Hand und sagte: »Lassen Sie uns als erstes einen Rundgang durch das Haus machen.«
Sie nickte. Zuerst besichtigten sie das Erdgeschoss: Speisezimmer, Bibliothek, Arbeitszimmer, Küche und Wirtschaftsräume. Dann stiegen sie in die erste Etage hinauf. Alle fünf Zimmer waren leer, bis auf einige Bettstellen. Bonisseur kletterte auch noch auf den Speicher, fand dort aber nichts als einen Haufen alter, mottenzerfressener Uniformen, wie man sie zu Kiplings Zeiten in der indischen Armee getragen hatte.
Sie kehrten in den Salon zurück. Bonisseur hinkte ein wenig: sein Knöchel begann ihn wieder zu schmerzen.
Lila sagte: »Ich weiß, wie man Verstauchungen behandelt. Lassen Sie mich nur machen.«
Er setzte sich auf einen dickgepolsterten Diwan und streckte das schmerzende Bein aus. Sie zog ihm vorsichtig den Schuh aus und begann behutsam das verletzte Gelenk zu massieren. Mit einigen sicheren Griffen bewegte sie den Fuß hin und her, bis die Sehnen wieder an der richtigen Stelle saßen. Bonisseur ertappte sich dabei, wie er still vor sich hin fluchte, aber plötzlich merkte er, wie das Stechen nachließ.
»Nicht nur Ihr Bruder hat übernatürliche Kräfte«, sagte er.
Lila richtete sich kerzengerade auf. Ihre Augen sprühten Funken.
»Spotten Sie nicht! Das verbiete ich Ihnen! Was verstehen Sie schon davon?«
»Ich spotte ja gar nicht.«
»Doch! Und eines will ich Ihnen sagen: Mein Bruder ist gar kein Hellseher. Er glaubt auch nicht daran, dass von seinen Talismans oder seinem Blick irgendeine übernatürliche Kraft ausgeht. Alle Menschen, die zu ihm kommen, sind Kranke, jeder auf seine Art. Und er bringt es fertig, ihnen zu helfen. Er meint es ehrlich. Und gerade weil alle diese Leute an seine übernatürliche Kraft glauben, nehmen sie seine Ratschläge an. Wenn Guna irgendjemand wäre, würden sie sich wohl überhaupt nicht um ihn kümmern.«
Scheinbar zerknirscht zog Bonisseur seinen Strumpf an.
»Es liegt sehr viel Weisheit in Ihren Worten, Miss Singh. Und wenn es stimmt, was Sie gesagt haben, hat Dr. Singh wirklich allen Anspruch auf Respekt.«
»Das hat er auch«, entgegnete Lila stolz.
Bonisseur hatte ein feines Ohr. Ihm war bei ihren letzten Worten nicht entgangen, dass sie keineswegs so überzeugt von ihrem Bruder war, wie sie vorgab.
Er schlüpfte in den Schuh.
»Danke.« Er stand auf. »Sie sind ein Engel, Lila. Kann man sich etwas Besseres wünschen als die Fähigkeit, die Menschen von ihren Schmerzen befreien?«
Lila blieb ihm die Antwort schuldig. Stattdessen berührte sie wie ein Hauch seinen Arm, zog sich aber gleich wieder zurück, als ob sie sich schämte.
»Ich gehe jetzt Tee zubereiten«, sagte sie.
»Beeilen Sie sich, mein Engel. Erstens ist meine Kehle total ausgedörrt und zweitens haben wir ja nicht die Absicht, die ganze Nacht wartend hier zu sitzen.«
Sie ergriff einen Kerzenleuchter und verließ den Raum.
OSS 117 versuchte angestrengt, sich für die Porträts an den dunklen Wänden zu interessieren, aber es gelang ihm nicht, sich zu konzentrieren. Lilas Gegenwart fehlte ihm; sie übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus. Und in diesem Augenblick erkannte er, dass er über beide Ohren verliebt war.
Er beschloss, sie in der Küche zu besuchen. Er ging so leise, dass er keinerlei Geräusch auf den Steinplatten machte, mit denen der Salon ausgelegt war.
Die Küchentür stand halb offen, und der schwache Schein der flackernden Kerzen drang bis hinaus in den Flur. Auf einem Spirituskocher summte ein Wasserkessel. Lila war gerade damit beschäftigt, ihren Sari festzustecken.
Bonisseur befand sich noch im Finstern, als er sah, wie sie aufhorchte, den Blick zur Decke gewandt und den Kopf leicht zur Seite geneigt. Dann nahm sie einen Teelöffel vom Tisch und klopfte damit sachte ein paarmal an ein Wasserleitungsrohr.
OSS 117 hielt den Atem an. Einige Sekunden vergingen. Dann antwortete jemand mit dem gleichen Zeichen.
Lila schien befriedigt. Sie ergriff den Wasserkessel und machte sich daran, den Tee aufzubrühen. Bonisseur überlegte. Er dachte an das Zimmer, das über der Küche lag.
Hatte er nicht überall sorgfältig nachgesehen? Alle Winkel und Schränke hatte er durchsucht, aber welcher Mann bückt sich schon gern in Gegenwart einer Frau, um nach einem Einbrecher unter dem Bett zu forschen. Es war ein Fehler gewesen, diesmal vielleicht sogar ein tödlicher.
Er war sich nun völlig im Klaren, dass sich hier im Haus jemand versteckt hatte. Wahrscheinlich Guna Singh. Und es war anzunehmen, dass Lila mit ihm unter einer Decke steckte. Aber warum dieses Versteckspiel? Was bezweckte der Astrologe mit dieser Geheimnistuerei?
Bonisseur wollte gerade wieder in den Salon zurückkehren, da sah er, wie Lila ein kleines Glasröhrchen vom Tisch nahm. Sie öffnete es vorsichtig und leerte den Inhalt in eine der bereitstehenden Tassen. In eine einzige Tasse.
Ob er wollte oder nicht: sein Glauben an Lilas Harmlosigkeit war nun restlos zerstört. Da hatte ihm dieses kleine Biest ein feines Süppchen gekocht, und er konnte zusehen, wie er damit fertig wurde.
Einige Sekunden später brachte Lila den Tee und fand Bonisseur auf dem Diwan ausgestreckt.
»Sie haben sich gelangweilt?«, fragte sie.
»Ja, Teuerste. Ich langweile mich immer, wenn Sie nicht da sind. Ihre Abwesenheit beunruhigt mich.«
Sie lächelte über seinen Scherz, wurde aber gleich wieder ernst.
»Warum beunruhigt Sie das?«
Sie stellte das Tablett mit dem Teegeschirr auf ein Rolltischchen, das sie neben den Diwan schob. OSS 117 setzte sich auf.
»Das beunruhigt mich deshalb, weil ich, wenn ich mich in Sie verlieben würde und Sie dann wieder verlassen müsste, sehr unglücklich wäre.«
Sie stand unbeweglich da, ganz nahe vor ihm. Sie war unvergleichlich schön. Plötzlich sank sie auf die Lehne des Diwans und fragte mit veränderter Stimme: »Warum sagen Sie mir das?«
Er sah sie durchdringend an, und sie versuchte nicht, seinem Blick auszuweichen.
»Ich sprach davon, was sein könnte, Lila. Aber ich könnte ebenso gut auch sagen, was ist. Ich liebe Sie, seit ich Sie gesehen habe. Und dieses Gefühl wird von Stunde zu Stunde stärker. Glauben Sie mir?«
Sie schloss die Augen. »Lieber Gott, lass es nicht möglich sein!«
Er spielte die Komödie weiter, und es gelang ihm überzeugend. Lila war seit vielen Jahren die erste Frau, von der er echt fasziniert war.
»Ich bin wirklich unmöglich!«, sagte er. »In einem solchen Augenblick von Gefühlen zu sprechen! Guna Singh ist vielleicht in tödlicher Gefahr...« Und zu ihr gewandt: »Sie dürfen mir nicht böse sein, Lila, ich bitte Sie.«
»Nein, nein, ganz und gar nicht.«
»Schenken Sie mir doch bitte eine Tasse Tee ein, Lila.«
Sie sah ihn lange an, und ihr Blick nahm den seinen so leidenschaftlich in sich auf, als ob sie ihn zum letzten Mal sähe.
»Schenken Sie mir doch bitte Tee ein«, wiederholte er.
Sie gehorchte. Aber ihre Hände zitterten. Er stand auf und half ihr. Der Boden der Tassen war mit Puderzucker bedeckt. Eine der beiden enthielt das Mittel, das vielleicht tödlich war.
Als die Tassen gefüllt waren, nahm Bonisseur ohne zu
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Jean Bruce/Apex-Verlag/Successor of Jean Bruce.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Sybille A. Rott und Joachim Nehring (OT: Lila De Calcutta/OSS 117 Au Liban/Tortures/Valse Viennoise Pour OSS 117).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2020
ISBN: 978-3-7487-2931-0
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