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Leseprobe

 

 

 

 

JOHN WAINWRIGHT

 

 

Mord in der besten Gesellschaft

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 63

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

MORD IN DER BESTEN GESELLSCHAFT 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Die Polizei muss Glacéhandschuhe anziehen, wenn sie den Tod des jungen Edmund Shaw aufklären will, der bei einer Party aus einem Penthouse zu Tode stürzte: Denn es ist keineswegs sicher, dass es sich dabei nicht doch um Selbstmord handelt.

Und bei dem vornehmen Milieu könnte Sergeant Rucker leicht ins Fettnäpfchen treten...

 

Der Roman Mord in der besten Gesellschaft des britischen Bestseller-Autors John Wainwright (* 25. Februar 1921 in Leeds; † September 1995)  erschien erstmals im Jahr 1973; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   MORD IN DER BESTEN GESELLSCHAFT

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Es war ein schöner Abend. Die Stadt genoss den ersten, schüchternen Hauch des Frühlings; die Luft war kühl, aber klar, und der abnehmende Mond hing wie eine Silbersichel am wolkenlosen Himmel.

Narzissen blühten in den Vorgärten und wippten in der sanften Brise. Constable Jackson war ein großer Gartenfreund. Er verstand etwas von Blumen, und deshalb tat er gern Dienst in Park View. Da gab es viele Blumen und herrliche Gärten, Frieden und Mäßigkeit, Dinge, die Constable Jackson schätzte.

Er ahnte noch nicht, dass es mit dem Frieden vorbei sein sollte, bevor er zwei Stunden Nachtdienst hinter sich gebracht hatte.

 

Sullivan wohnte in Park View. Nicht weil er den Stadtteil besonders schätzte, sondern weil eine freundliche, aber rangbewusste Polizeiautorität entschieden hatte, der Chief Constable der Stadt, sein Stellvertreter im Bereich Verwaltung und sein Stellvertreter im Bereich Straftaten müssten in der nobelsten Gegend wohnen.

Und Sullivan war als Polizeidirektor Stellvertreter des Chief Constables für den Bereich Straftaten.

»Verdammt teure Angelegenheit, Polizeidirektor zu sein«, murrte Sullivan.

»Ja, Schatz«, sagte Mary Sullivan.

»Als Chefinspektor war ich besser dran.«

»Ja, Schatz.«

»Wesentlich besser.«

»Ja, Schatz.«

»Mehr Geld in der Tasche - alles.«

»Ja, Schatz.«

»Sogar als Inspektor war’s besser.«

»Na, na, Richard, geh die Leiter nur nicht zu weit hinunter.«

»Wie? Hm, du weißt schon, was ich meine.« Er grinste.

»Du wirst alt«, sagte sie.

»Was?« Sullivan hörte auf zu grinsen.

»Das Alter blickt zurück, die Jugend nach vorn. Steht hier in der Zeitschrift.« Sie tippte auf das Kunstdruckmagazin.

»Du lieber Gott!«

»Die Leute brauchen eben Rat, vor allem die jungen.« Sie klappte die Zeitschrift zu und sah ihren Mann an. »Was würde eigentlich passieren, wenn Steve mit einer Freundin daherkäme, die ein Kind erwartet, Richard?«

»Wie bitte?«

»Was wäre dann? Was würdest du sagen? Mich interessiert das.«

»Ich wäre enttäuscht von ihm«, brummte Sullivan.

»Ist das alles?«

»Es reicht. He, sag mal? Weißt du vielleicht etwas?«

»Du meine Güte, nein.« Mary Sullivan lächelte. »Keine Spur. Das war nur eine hypothetische Frage, weil ich gerade diese Leserbriefe überflogen habe.«

»Gott sei Dank!« Sullivan blies mit gespielter Erleichterung die Backen auf. Dann schaute er sich um, lachte in sich hinein und sagte: »Weiß nicht recht. Warum eigentlich nicht? Wäre vielleicht keine schlechte Idee. Kinder, Enkel und Urenkel. Das Haus in Wohnungen aufteilen und alle einziehen lassen - dann können sie sich an den Heiz- und Stromkosten beteiligen.«

 

Die Kleine mit den schulterlangen Haaren und dem Hosenanzug sagte: »Hast du Stevie gesehen?«

»Wen?« Der junge Mann war knapp Zwanzig und trug einen schütteren Spitzbart zu seinen blonden, langen Haaren. Seine Augen sahen zu alt aus. Sie schienen zu viel Böses gesehen und vergessen zu haben, was Lachen war.

»Stevie«, sagte die Kleine. »Stevie Sullivan...«

»Den Bullensprössling?«

»Na, beherrsch dich.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und marschierte in die Wohndiele.

Es war eine große Wohndiele, tiefgelegt, mit gefliestem Sockel, auf dem Kissen verstreut lagen... es sah ein wenig aus wie ein seichtes, elegant eingerichtetes Schwimmbecken mit Teppich.

Die Wohndiele gehörte zum Haus und passte dazu, zur Maisonette-Architektur und den holzverkleideten Wänden, den hohen Panoramafenstern und dicken, elektrisch gesteuerten Gardinen, dem riesigen, offenen Kamin mit dem Kupfervordach, der supermodernen, indirekten Beleuchtung mit Helligkeitsregelung, der Warmluftheizung mit automatischer Thermostatsteuerung.

Die Wohndiele und das Haus waren voller Menschen im Alter zwischen sechzehn und dreiundzwanzig Jahren. Eine Party, ein Ball, mit Popmusik in voller Lautstärke, untermalt von Stimmengewirr und -geschrei.

Das Haus trug den Namen Cynosura, und ein Großteil der jungen Generation von Park View feierte ein Superfest.

Im Observatorium, auf dem Dach des Hauses, wurde jedoch ein harmloser junger Mann ermordet.

 

Constable Jackson ging gemächlich die Quebec Parade entlang, und Sergeant Poynings hielt Schritt mit ihm. Jeden Abend, so war es Vorschrift, begleitete der diensthabende Sergeant kurze Zeit einen seiner Constable beim Rundgang.

Sie näherten sich dem Cynosura-Grundstück und hörten den Lärm.

»Was los heute, wie?«, sagte Poynings.

»Eine Party«, sagte Jackson. »Der junge Saville wird einundzwanzig. Das heißt, er wurde es schon letzten Freitag. Aber gefeiert wird erst heute, damit alle dabei sein können.«

»Mordskrach für Sonntagnacht«, meinte Poynings.

»Wer hört das schon?«

»Stimmt auch.« Poynings ging zum Eingangstor, blickte die Einfahrt hinauf und fügte hinzu: »Schau’n wir uns lieber die Autos an. Bei dem Krach hört kein Mensch etwas, wenn eins geklaut wird.«

Sie überprüften die Autos. Mini, MG und Triumph waren stark vertreten, ebenso VW und Renault.

Je näher sie dem Hause kamen, desto lauter wurde es.

Sie überprüften Austins und Hillmans, Fords und Standards.

Ein Vauxhall war nicht abgesperrt. Poynings öffnete die Tür und leuchtete mit der Lampe hinein. Ein Liebespaar in Aktion.

»Herrgott noch mal!«, zischte eine erboste Frauenstimme.

»Ich - ich - entschuldigen Sie«, sagte eine verlegene Männerstimme.

»Schon gut, Freund«, sagte Poynings. »Solange sie volljährig ist und Sie ’nen Führerschein haben.« Er schloss die Autotür.

Sie gingen weiter und erreichten das Haus. Jackson schaute hinauf. Holz, Stein und Glas. Flachdach mit Schutzgeländer, und an einem Ende die Kuppel der Sternwarte. Eine huschende Bewegung hinter dem Geländer - dann die rudernde, sich überschlagende Gestalt.

Das beinahe fühlbare Aufschlagen des Körpers auf dem Betonboden des Innenhofs - er hätte fast schwören mögen, dass der Boden zitterte..., während der Lärm im Haus jeden Laut übertönte.

Danach - und trotz des Lärms - ein Eindruck von Stille, so als halte die Welt den Atem an, aus Achtung vor dem zerschmetterten Ding, das einmal jung und lebendig gewesen war.

»Funkgerät, Jackson«, sagte der Sergeant. »Wir brauchen einen Krankenwagen und Unterstützung, und zwar schnell.«

  Zweites Kapitel

 

 

Der uniformierte Inspektor und das Dutzend Beamte, herbeigerufen von Jackson, machten sich an die Arbeit. Nicht gefühllos, nicht distanziert. Manche waren Väter, andere ältere Brüder, wieder andere Onkel. Manche waren traurig, andere empört, wieder andere zornig.

Berührt waren alle.

Bei manchen wurde die Geduld durch die alberne Arroganz der jungen Leute bis zum Zerreißen strapaziert.

»Würden Sie mir bitte Namen und Anschrift nennen, Sir?«

»Warum?«

»Wie bitte?«

»Warum soll ich Ihnen Namen und Anschrift nennen, Constable?«

»Na ja - hm - dann können Sie heimgehen, wissen Sie. Wegen Ihrer Aussage melden wir uns später.«

»Das ist kein Grund.«

»Hören Sie, Sir, seien Sie vernünftig, wir haben unsere Pflicht zu erfüllen.«

»Schön. Erfüllen Sie. Ich halte Sie nicht auf.«

»Name und Anschrift, bitte.«

»Nein. Nur wenn Sie nachweisen, dass das nötig ist.«

»Es ist nötig, Sir.«

»Ich bin anderer Meinung.«

»Falls Sie heute noch heimwollen.«

»Drohen Sie mir etwa, Constable?«

»Nein, Sir. Durchaus nicht.«

»Was soll das dann?«

»Ist das Ihr Wagen, Sir?«

»Ja. Was ist damit?«

»Unfallschäden, Sir. Sie wissen schon. Bis ich Ihr Fahrzeug genau überprüft habe, ob es vielleicht an einem Unfall beteiligt war, kann es morgen früh werden. Also, seien Sie vernünftig, und geben Sie mir Ihren Namen und die Anschrift.«

Manchmal mussten die Polizeibeamten beinahe die Eltern vertreten, beruhigen, Hysterie im Keim ersticken. Viele von den jungen Leuten waren dem Tod noch nie begegnet, nicht einmal dem friedlichen, geschweige denn dem unerwarteten und gewaltsamen. Für sie war der zerschmetterte Leib ein Alptraum, hervorgehoben durch das gleißende Licht der Blitzlichter. Es war die erste Mahnung für sie, dass sie nicht unsterblich waren.

Ein Fahrer wurde beauftragt, die Empfindsameren heimzufahren.

Ein paar von den Feiernden waren zu betrunken, um zu begreifen oder etwas zu empfinden, und die Beamten, die mit ihnen zu tun hatten, machten angewiderte Gesichter.

Es dauerte zwei Stunden, Ordnung zu schaffen, die jungen Leute wegzubringen, die erforderlichen Aufnahmen und Messungen vorzunehmen und die Leiche abzutransportieren.

Und das Dach von Cynosura war für die Polizei noch immer abgeschlossen.

 

»Es ist wohl klar, dass wir das Dach untersuchen müssen«, sagte der Inspektor in Uniform.

»Klar«, sagte der junge Mann. »Aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe keinen Schlüssel, und wenn Sie nicht die Absicht haben, die Tür aufzubrechen...«

»Leitern?« schlug Poynings vor. »Wir könnten außen hinaufklettern.«

»Gewiss«, sagte der junge Mann. »In der Garage hängt eine Ausziehleiter. Die müsste reichen.« Er war ein höflicher junger Mann. Er hieß John Saville. Die Nacht hatte in seinem Leben ein Meilenstein sein sollen; er war einundzwanzig Jahre und zwei Tage alt, und das musste gefeiert werden. Es wurde ein unvergessliches Erlebnis - aber aus den falschen Gründen.

Er blickte zur Tür, hob hilflos die Hände und sagte: »Zwei Schlüssel, Inspektor, mehr nicht. Sie prüfen das nach, ich weiß. Aber es stimmt...«

»Niemand hat Sie einen Lügner genannt.«

»Mein Vater hat einen. Edmund hat...« Saville verstummte, schluckte und stieß hervor: »Edmund hat den anderen.«

»Warum Edmund?«

»Astronomie«, sagte Saville. »Mein Vater ist..., er ist begeistert davon. Und Edmund natürlich auch.«

»Ich könnte zum Leichenschauhaus fahren«, meinte Poynings. »Vielleicht hat man den Schlüssel unter Shaws Sachen gefunden.«

»Er trug ihn in der Schlüsseltasche - zusammen mit den Autoschlüsseln«, sagte Saville.

»Tun Sie das, Sergeant«, sagte Sullivan. Der Inspektor, Poynings und Saville drehten sich um und sahen zum ersten Mal, dass Polizeidirektor Sullivan zwei Meter von ihnen entfernt stand.

Poynings nahm Haltung an und sagte: »Jawohl, Sir.«

Sullivan nickte, und Poynings eilte davon.

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte der Inspektor. »Ich habe Sie nicht gesehen. Ich...«

»Schon gut, Inspektor. Ich bin gar nicht im Dienst - nur neugierig, das ist alles. Steve - mein Sohn - hat mir erzählt, was geschehen ist. Er war bei der Party.«

»Ja, Sir. Wenn Sie einen ersten Bericht hören wollen.«

»Der junge Shaw ist vom Dach gesprungen und tot - ja?«

»Ja, Sir.«

»Warum?«

»Das wissen wir noch nicht, Sir.«

»Warum?« Sullivan sah Saville an.

»Ich weiß es nicht, Sir«, sagte Saville dumpf. »Wenn ich es nur wüsste.«

»Er war Ihr Vetter, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ein begabter Junge, wie man hört.«

»Sehr sogar.«

»Überall beliebt.«

»Ja, ich glaube schon, sehr beliebt.«

Sullivan ging zur Tür, zog die Hand aus der Manteltasche und berührte das Holz.

»Massiv.«

»Sie führt zum Dach«, erklärte Saville. »Zur Sternwarte. Und zu dem, was Vater seine Bude nennt. Da oben stehen viele teure Geräte.«

»Deshalb eine massive Tür und ein schweres Schloss.«

»Ja, Sir.«

»Ihre Eltern sind nicht zu Hause?«

»Nein, Sir.«

»Sie machen Ferien in Amerika, Sir«, sagte der Inspektor.

»In Kalifornien«, fügte Saville hinzu. »Mount Palomar.«

»Auch dort Himmelsguckerei?«

»Ja, Sir.« Saville lächelte schwach. »Das Spiegelteleskop dort muss etwas ganz Besonderes sein.«

»Ich habe veranlasst, dass sie verständigt werden«, warf der Inspektor ein. »Und Shaws Angehörige...« Er schaute auf die Uhr. »Ich habe jemanden hingeschickt.«

Sullivan nickte.

»Fotolabor«, fuhr der Inspektor fort. »Spurensicherung. Das Büro des Coroners wird um neun Uhr unterrichtet - vorher ist niemand da.«

»Ich beklage mich nicht, Inspektor.« Sullivan unterdrückte ein Seufzen. Er bedauerte beinahe, hergekommen zu sein; dieser Inspektor konnte einfach nicht leger sein. Vielleicht wurde man so in Park View...

 

Alfred Shaw, der Vater des toten Jungen, saß am äußersten Rand des Ledersofas. Er trug einen Bademantel über dem gestreiften Schlafanzug. Der Bademantel war aufgegangen, die Schlafanzughose hing halb herunter. Shaw stützte die Ellenbogen auf die Knie, presste die Hände an den Kopf und starrte auf den Boden.

Elizabeth Shaw, die Mutter des Toten, und Muriel Shaw, seine Schwester, glichen einander sehr, nur um eine Generation verschieden. Sie hatten die gleichen runden Gesichter, weit auseinanderstehende, blaue Augen, schmale Lippen, aschblonde Haare. Sie trugen beide Morgenröcke über den Nachthemden.

Die jüngere Frau saß in einem Polstersessel. Die Mutter stand an einer Kommode. Sie ballte die Fäuste, hämmerte auf ihre Oberschenkel und sagte: »Ist er nicht! Ist er nicht! Kann er nicht sein!«

»Setzen Sie sich, Mrs. Shaw«, sagte die Polizeibeamtin.

Die jüngere Frau drehte sich im Sessel herum.

»Setze dich, Mutter. Er ist tot. Weiß Gott, warum, aber das ist er... tot.« Sie deutete auf den Schrank. »Da finden Sie Kognak.«

»Danke«, sagte die Beamtin.

Es wurde still.

Die Polizeibeamtin ging zum Schrank und nahm eine halbvolle Flasche heraus. Die anderen sahen ihr zu.

Alfred Shaw stand auf, wickelte den Bademantel um seine hagere Gestalt, suchte in den Taschen, runzelte die Stirn und setzte sich wieder.

Elizabeth Shaw ging zum zweiten Sessel, langsam, stolpernd. Sie umklammerte die Armlehnen und ließ sich langsam niedersinken - steif und zögernd. Als sie saß, wirkte sie leblos.

Muriel Shaw legte den Kopf zurück und starrte an die Decke. Sie weinte lautlos. Die Tränen tropften aus den weitgeöffneten Augen, rannen über das Gesicht und fielen auf den Morgenrock.

Die Polizeibeamtin hoffte, dass ihr Kollege in der Küche den Tee bald fertig hatte.

 

»Den Grund wissen wir immer noch nicht«, sagte Sullivan.

»Nein«, gab Saville zu.

»Und einen Grund muss es geben.«

»Ja - natürlich.«

Der uniformierte Inspektor, Poynings, Jackson und alle anderen Polizeibeamten waren fort.

»Warum?«, fragte Sullivan.

Saville zögerte.

»Vielleicht Haschisch«, sagte er. »Ich bin mir nicht sicher, aber möglich wäre es. Ein paar rauchen es - gelegentlich.«

»Sie auch?«, fragte Sullivan.

Saville sagte: »Nein«, und Sullivan glaubte ihm.

»Aber Shaw?«

»Es hätte mich nicht gewundert.«

»Die richtige Clique?«

»Er war mein Vetter.« Saville beugte sich vor und zündete sich eine Zigarette an. »Er war oft hier. Die Astronomie - er war ganz besessen davon. Ich nicht. Mein Vater schätzte ihn. Ich akzeptierte ihn - als Familienangehörigen, nicht viel mehr. Er ist etwa zwei Jahre jünger als ich, aber das bedeutet wohl nicht viel. Wir hatten verschiedene Interessen.«

»Marihuana?«

»Wird überschätzt.« Saville lächelte wieder schwach. »Ich habe es einmal versucht. Mir ist übel geworden.«

»Warum beantworten Sie die Frage nicht?«

»Hab’ ich das nicht?« Saville legte den Kopf auf die Seite.

»Vielleicht, weil er tot ist.«

»Hat Shaw Rauschgift geraucht?«

»Ja-a. Ich glaube schon.«

»Nichts Genaueres?«

»Nein. Ich bin mir ziemlich sicher, aber beschwören könnte ich es nicht.«

»Und seine Freunde?«

»Die auch - würde ich sagen. Beweise habe ich keine.«

»Heute Abend?«

»Wie?«

»Waren seine Freunde dabei?«

»Jeder, der kommen wollte, konnte kommen«, sagte Saville achselzuckend. »Das Haus stand allen offen.«

Sullivan gab einen Brummlaut von sich.

»Hilft Ihnen das weiter?«, fragte Saville.

»Nein«, knurrte Sullivan. »Überhaupt nicht.«

»Tut mir leid.«

Sullivan stopfte seine Pfeife und zündete sie an.

»Sonderbar, so ein Selbstmord«, sagte Sullivan halblaut. »Die Gründe dafür, meine ich. Viele tun es, weil sie Mitgefühl suchen. Kinder etwa. Es wird dir leid tun, wenn ich tot bin, dann wünschst du dir, dass du nicht so bös’ zu mir gewesen wärst... - In der Richtung etwa. Manchmal will man einen anderen bestrafen damit.«

»Ich glaube nicht, dass jemand zu Edmund böse war.«

»Nein?«

»Bestimmt nicht.«

Sullivan seufzte.

Der junge Mann zog die Brauen zusammen.

»Was ist?«, fragte Sullivan.

»Das Durcheinander oben. Die Sternkarten, die Aufnahmen... Vater wird überschnappen.«

»Sie können nichts dafür.«

»Nein.«

»Aber er wird Ihnen die Schuld geben, wie?«

»Irgendjemandem wird er sie geben«, sagte Saville schwerfällig.

»Doch wohl Edmund?«

»Jemandem, der noch zur Verfügung steht.«

»Ah!«

»Mir.«

Sullivan konnte sich nicht erinnern, wann er in einem derart kurzen Wort so viel Traurigkeit vernommen hatte. Kein Selbstmitleid. Gewiss keine Selbsterniedrigung. Resignation, mit einem Beiklang von Ergebung. Sullivan war überzeugt davon, dass diese Melancholie nichts mit Shaws Selbstmord zu tun hatte.

»Schade, dass er nichts hinterlassen hat«, sagte Sullivan.

»Ja.«

»Ein Abschiedsbrief zieht einen Schlussstrich.«

»Mag sein.«

Sie unterhielten sich über die Party, wann sie begonnen hatte, wer eingeladen gewesen war, wer sich selbst eingeladen hatte, wer mit wem und wer allein gekommen war.

»Und Edmund?«

»Er kam sehr früh - war einer der ersten.«

»Allein?«

»Nein, mit Nance.«

»Nance?«

»Nancy Ross - Steves Freundin.«

»Mein Steve?«

»Ja.« Saville sah den älteren Mann an und lächelte schief. »Tut mir leid. Wussten Sie nichts davon?«

»Nein.«

»Sie ist sehr nett.«

»Hoffentlich.«

Sullivan starrte betroffen vor sich hin.

»Es wird eine gerichtliche Untersuchung geben, nehme ich an?«, sagte Saville.

»Ja. Und eine Obduktion.«

Saville verzog das Gesicht.

»Das ist Vorschrift. Der Coroner muss die Todesursache wissen.«

»Aber der Sturz...«

»Trotzdem. Er braucht eine medizinische Äußerung.«

»Und wenn er Rauschgift...«

»Der Pathologe stellt das fest.«

»Und erwähnt das in seinem Gutachten?«

»Gewiss.«

»Das ist unfair«, sagte Saville.

»Finde ich nicht.«

»Er ist tot. Warum seinen Namen in den Schmutz ziehen?«

»Es könnte wichtig sein. Drogen sind heutzutage ja in, wie man das nennt, aber nicht so harmlos, wie manche jungen Leute glauben. Wenn Shaw also unter Rauschgifteinfluss stand - wenn man das nachweisen kann und es möglicherweise zu seinem Tod mit beigetragen hat, muss es auch ausgesprochen werden.«

»Als Warnung?«

»Damit alles seine Richtigkeit hat.«

»Dass er süchtig war?«

»Es heißt ja, dass man von Cannabis nicht süchtig wird.«

Saville lächelte.

»Touché«, sagte er.

Sullivan lächelte auch.

»Tut mir leid - das Thema verträgt keine Witze. Wir wissen immer noch nicht, warum er sich umgebracht hat.«

»Nein.«

»Erzählen Sie mir von ihm.«

 

Nancy Ross bewegte sich und öffnete die Augen. Im kalten Licht des frühen Morgens sah das Zimmer gar nicht mehr romantisch aus.

»Mein Gott!«, murmelte sie.

Der junge Mann mit den ungepflegten Haaren und dem Spitzbart wurde wach.

Er gähnte, sah sie an und sagte spöttisch: »Na, kanns weiter- geh’n, Süße?«

Die Worte und der Ton brachten ihren Ekel vor sich selbst und ihre Wut zum Siedepunkt.  

Seine Finger berührten ihren Schenkel.

»Hau ab, du Widerling«, fauchte sie und sprang aus dem Bett. »Gibt es hier vielleicht ein Bad?«

»Ein Klo - ein Bad«, sagte er gedehnt. »Zwei Treppen tiefer - aber so kommst du nicht ganz runter.«

»Warum - sind das alles solche Ferkel wie du?«

»Na, gestern Nacht warst du jedenfalls begeistert.«

»Da bin ich auch high gewesen. Ich wusste nicht, was ich tat.«

»Ich kanns dir ja schnell erzählen.«

»Lass dich einsargen!« Sie griff nach ihrer Strumpfhose.

Er sah ihr mit verächtlichem Grinsen zu und meinte: »Ein bisschen Gras, das war alles, was du gebraucht hast. Anschließend hättest du dich mit jedem eingelassen. Aber keine Sorge, du bist eine Wucht im Bett.«

»Dreckskerl!« Sie fuhr herum. »Hör bloß auf, sonst schneid’ ich dir was ab!«

»Vorn bist du auch in Ordnung. Nicht zu viel, nicht zu wenig.«

Sie zitterte vor Zorn, als sie sich mit fliegender Hast anzog. Und die ganze Zeit über verhöhnte sie der junge Mann.

»Warum so jungfräulich auf einmal, hm? So kurz, das Gedächtnis? Ich will dir mal was sagen. Ein einziger Zug aus ’nem Stengel genügt, und du bist wieder reif. Macht dir das vielleicht keinen Spaß? Was ist schon dabei? Du bist nicht die erste und nicht die letzte, oder? Ich kenne mich eben aus und dieser doofe Sullivan nicht. Was versteht der schon? Pass auf, erzähl ihm mal, was heut’ Nacht hier los war, ja? Er soll mal vorbeikommen, damit ich ihn...«

Sie riss die Jacke vom Stuhl und rauschte hinaus.

Der junge Mann grinste.

 

Der Kriminalinspektor für den Bereich Park View lächelte selten, belustigt war er nie. Er war ein hohläugiger, hohlwangiger Mann, hager, grobknochig und eckig. Er war von einer schrecklichen Verachtung für die gesamte Menschheit erfüllt - von einer Verachtung, die beinahe krankhaft war und im Lauf der Jahre das Fleisch von seinen Knochen und die Menschlichkeit aus seiner Seele gebrannt zu haben schien.

Er hieß Rucker, und er war ein erstklassiger Kriminalist - aber eine Nervensäge.

Wie etwa an diesem Morgen...

»Hat er denn kein Zuhause?«, jammerte Kriminal-Constable Crossman.

»Doch - irgendwo unter einem flachen Stein«, meinte sein Kollege Robb.

»Eigentlich müsste man ja streiken. Eine Gewerkschaft war’ genau das Richtige. Wenn alle dabei sein müssten. Ich möchte...«

»Alles, nur nicht arbeiten«, sagte Rucker leise. »Aber das ist hier ja üblich, nicht?«

Er stand an der Tür und starrte die beiden grimmig an.

Sie fuhren hoch.

»Beschäftigt?«, sagte Rucker zu Crossman.

»Ja, Sir.«

»Abgesehen von Privatdebatten, meine ich.«

»Ja, Sir. Ich...«

»Sie haben sich mit einem Toten zu beschäftigen.«

»Sir?«

»Ein Todesfall, gestern Nacht. Bei den Savilles. Große Party. Einer fiel vom Dach.«

»Ja, Sir. Aber...«

»Oder sprang herunter.«

»Sir, das...«

»Oder wurde geschubst.« Rucker zog eine Braue hoch. »Was wollten Sie sagen, Crossman?«

»Nichts, Sir. Ich...«

»Ja?«

»Unfälle sind Sache der uniformierten Polizei, Sir.«

»Da könnten Sie bald wieder landen, Constable. Morgen vielleicht schon.«

»Sir?«

»Bei den Uniformierten. Sie brauchen nur meinen Anweisungen nicht nachzukommen, dann ist es soweit.«

»Oh!« Crossman begriff plötzlich.

»Ich mag keine Bürokraten«, sagte Rucker. »In diesem Bezirk, und solange ich hier was zu sagen habe, steckt die Kriminalpolizei ihre Nasen überall hinein - verstanden?«

»Jawohl, Sir.«

»Bis hin zu Hunden ohne Rücklicht, kapiert?«

»Ja, Sir.«

»Wenn etwas passiert, geht es uns etwas an, klar?« Crossman nickte.

»Also, dann macht euch auf die Socken. Fragt herum. Erkundigt euch bei den Leuten. Macht euch unbeliebt - und dann will ich einen Bericht haben.«

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

»Hör mal, Paps«, sagte Steve Sullivan, »ich weiß, du willst nicht den viktorianischen Vater spielen, aber du tust es.«

»Ich verlange nur...«

»Das ist ein junges Mädchen. Sie heißt Nancy Ross, und ich kenne sie. Aus.«

Sullivan schaute sich bedrückt in Steves Zimmer um. Poster an den Wänden. Bücher vom Boden bis zur Decke. Flugblätter, Broschüren, Pamphlete.

»So, so?« Sullivan führte die Teetasse an die Lippen.

»Zufrieden?«

»Das Wort kennen hat viele Bedeutungen«, sagte Sullivan schwerfällig.

Steves Lächeln verschwand.

»Soll das eine Frage sein?«

»Ja.«

»Das geht dich aber nichts an.«

»So möchte ich das nicht ausdrücken.«

»Du nicht, aber ich.« Steves Gesicht rötete sich. »Du hast ja wirklich Nerven. Kommst in aller Herrgottsfrühe herauf, weckst mich und stellst solche Fragen!«

»Jetzt hör mir mal zu, Freundchen. Egal, wie du bei deinen Freundinnen auftrittst, hier bist du noch nicht der große Macher. Und bevor du deine Männlichkeit demonstrierst, sieh erst mal zu, dass du alle Brötchen bezahlen kannst, die vielleicht aus dem Ofen kommen. Solange du hier wohnst, und bis du zum Leben etwas beiträgst, beantwortest du gefälligst meine Fragen - und zwar dann, wenn ich sie stelle.«

»Gut, dann ziehe ich eben aus.« Steves Gesicht war blass geworden, seine Stimme schwankte ein wenig.

»Wie du willst«, knurrte Sullivan, drehte sich um und verließ das Zimmer.

Sullivan und sein Sohn waren gleichermaßen von Zorn, Empörung und Schuldbewusstsein erfüllt.

Steve liebte seinen Vater, er bewunderte und achtete ihn. Es ging auch gar nicht gegen seinen Vater. Der war in Ordnung. Ein feiner Kerl,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: John Wainwright/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Hans Ulrich Nichau und Christian Dörge OT: High-Class Kill).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 25.01.2020
ISBN: 978-3-7487-2741-5

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