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Leseprobe

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE (Hrsg.)

 

 

Der Tanz im Hexenkessel

 

 

 

Drei Romane in einem Band

 

 

 

Apex Western, Band 30

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

Bill Burchardt: DAS GESETZ HEISST GEWALT (Yankee Longstraw) 

John C. Champion: DIE FALKEN AM MITTAG (The Hawks Of Noon) 

Clifton Adams: TANZ IM HEXENKESSEL  

(The Hottest Fourth Of July In The History Of Hangtree County) 

 

Das Buch

Die Ölfelder von Torpedo sind mehr wert als das Gold von Kalifornien, aber nur ein Mann besitzt das Transport-Monopol und somit den Schlüssel zu diesem Reichtum: Er kann jeden Preis diktieren – bis eine Pipeline gebaut wird. Sabotage und Mord sind die Folgen...

 

Arizona, im Sommer 1870: Aufstand der Apachen. Die letzten Weißen fliehen nach Fort Yuma an der Grenze zu Mexiko. Doch sie erreichen das Fort nicht. Lautlos haben die Indianer die Flüchtenden eingekreist...

 

Es ist der heißeste 4. Juli in der Geschichte von Hangtree County.

Marshal Gilman braucht eine ruhige Hand für seinen Colt – aber seine Unruhe wächst von Minute zu Minute.

35 Grad im Schatten – und die Stadt ist ein Pulverfass, an das man eine Lunte gelegt hat...

 

Die von Christian Dörge zusammengestellte und herausgegebene Sammlung Der Tanz im Hexenkessel enthält drei ausgesuchte und klassische Spitzen-Romane US-amerikanischer Autoren, perfekten Lesestoff also für alle Western-Fans und Leser der Reihe APEX WESTERN: Das Gesetz heißt Gewalt von Bill Burchardt, Die Falken am Mittag von John C. Champion sowie Tanz im Hexenkessel von Clifton Adams. 

  Bill Burchardt: DAS GESETZ HEISST GEWALT

  (Yankee Longstraw)

 

 

 

Erstes Kapitel

 

 

Auf dem roten Bretterschuppen, der als Bahnhof diente, war der Name Torpedo zu lesen. Ein Witzbold hatte darunter gekritzelt: Vierzig Meilen zum nächsten Wasser, vier Meilen zum nächsten Wald, vier Zoll bis zur Hölle.

Der Zug rumpelte in die Station und bremste. Longstraw hielt seinen Ziehharmonikakoffer fest und stemmte sich gegen die Lehne seines Sitzes. Die eisernen Räder kreischten auf den Schienen. Dann stand Longstraw auf und bewegte sich zwischen den Sitzen des schmutzigen, staubigen, überfüllten Waggons zum Ausgang hin. Jemand stieß Longstraw grob beiseite.

Er sah gerade noch den breiten Rücken des Grobians, dann schob sich ein stiernackiger Schlägertyp an ihm vorbei, gefolgt von einer Frau mit strähnigem Haar und Pferdegesicht. »Entschuldigung«, sagte das Pferdegesicht mit einer hohen, nörglerischen Stimme, die beleidigt klang. Mit einem wimmernden Kind auf dem Arm drängte sie sich vorbei, gefolgt von drei Jungen in verschiedenem Alter, die auch zu der Prozession gehörten.

Longstraw setzte sich wieder auf die mit abgeschabtem rostfarbenem Mohair bezogene Bank und wartete, bis die durcheinandergeschüttelte und müde Menschenladung den Waggon verlassen hatte. Rauch von der Lokomotive drang in den überhitzten Waggon. Der schwitzende schwarze Gepäckträger, der mit den Koffern hinter der eiligen Familie herkam, blieb bei Longstraw stehen.

»Wir sind in Torpedo, Sir. Haben Sie nicht gesagt, dass Sie in Torpedo aussteigen wollen?«

Longstraw nickte und warf einen bedauernden Blick auf seine Zigarre, die an der Hose eines eiligen Fahrgastes Asche und Glut verloren hatte.

»Dann beeilen Sie sich mal, Sir«, sagte der Farbige. »Der Zug hält hier nicht lange.«

»Alle scheinen es verteufelt eilig zu haben, wie?«

»Ja, Zeit ist Geld!« Der Schwarze schüttelte missbilligend den Kopf. »Liegt nur am Geld - Ölgeld! Schwarzes Gold.«

Er grinste breit, als hätte er das als Kompliment für sein glänzendes Gesicht gemeint, in dem die Zähne weiß blitzten. Dann zuckte er die Achseln, ruckte an seinen Koffern und ging weiter.

Longstraw folgte ihm und sprang mit dem Koffer in der Hand auf den Bahnsteig hinunter. Die Dampfpfeife des Zuges gellte ungeduldig. Rings um den Bahnhof standen Bretterbuden, deren Dächer aus Zeltleinen im Winde flatterten. Sie waren ohne jede Regel kreuz und quer hingestellt worden und wirkten noch provisorischer als der schäbige Bahnhof mit seinen herumstehenden Warenstapeln.

Die Gleise erstreckten sich schnurgerade in die grüne, wellige Prärie, deren Grasfläche nur hin und wieder durch ein Eichenwäldchen unterbrochen wurde. Nach Westen verlief eine stark befahrene Straße, deren Knüppeldamm schlammig war, wo die Bohlen von den vielen Wagenrädern zermahlen und zerbrochen waren.

Rings um den Bahnhof wimmelte es von Fahrzeugen - Planwagen, Leiterwagen, Karren, alte Postwagen und Kutschen aller Art.

Ein Mann schrie Longstraw vom Bock eines Planwagens an: »Noch ein Platz frei, Mister! Kommen Sie schon, steigen Sie auf, wenn Sie nicht Staub schlucken wollen!«

»Wo ist das Hotel?«, rief Longstraw zurück.

»Zehn Meilen westlich von hier!« Die Stimme des Wagenführers war durch den Lärm von quietschenden Rädern, schnaubenden Pferden und vielen Stimmen kaum zu verstehen. Er wippte ungeduldig mit der Peitsche.

Longstraw nahm seinen steifen Derbyhut ab und ließ sich den lauen Wind um die Stirn streichen.

»Ich hab’ gedacht, das hier wäre Torpedo!«

»Nichts da! Nur die Bahnstation - Endstation! Torpedo liegt zehn Meilen westlich von hier.«

Longstraw erklomm den vollgepferchten Planwagen und setzte sich auf seinen Koffer. Der Fahrer überblickte seine Ladung, knallte mit der Peitsche und bugsierte sein Muligespann aus dem Gewimmel heraus.

Am entfernten Ende des Ladedocks, gleich neben einer Pyramide von Rohrstücken, stand ein Frachtwagen mit acht Clydesdale-Pferden. Zwei Kerle in roten Hemden gingen darauf zu. Als sie den Wagen erreicht hatten, langte einer von ihnen zu dem hohen Kutschbock hinauf und packte den Fuß des Fuhrmanns.

Der Mann auf dem Bock versuchte, sich an der Bremse festzuhalten, schaffte es aber nicht. Vor den schwarzen, von Öl durchtränkten Brettern seines Wagens sah er verloren und hilflos aus.

Der Mann im roten Hemd zog ihn langsam herunter.

Das andere Rothemd schnitt unterdessen die Geschirre des Achterzugs durch. Longstraw richtete sich auf und hielt sich an den eisernen Trägern der Dachplane fest. Als der Kerl die acht riesigen Clydesdale-Pferde losgeschnitten hatte, schrie Longstraw und schlug mit seinem Hut nach den Tieren. Sie wurden unruhig und verhaspelten sich in ihrem abgeschnittenen Geschirr.

Der Fahrer des Wagens lag, atemlos vom Sturz, im Schmutz und bemühte sich zum Vergnügen der beiden Rothemden, wieder auf die Beine zu kommen. Auf dem Bahnhof wurde es rasch leerer; niemand schien sich um die Szene zu kümmern. Longstraw ließ seinen Halt los, packte den Koffer fester und sprang aus dem rascher dahinrollenden Wagen.

Der eine Tagedieb trat und schlug nach dem am Boden liegenden Fahrer, während sein Kumpan lachend ein herumflatterndes Stück Zeitung aufhob, das Papier zusammendrehte und die improvisierte Fackel mit einem Streichholz anzündete. Das brennende Papier schob er unter den Querbalken des Wagens.

Augenblicklich fing das alte, ölgetränkte Holz Feuer. Die kleinen, fauchenden und stark rauchenden Flämmchen breiteten sich blitzschnell aus. Der Brandstifter trat einen Schritt zurück und half dem anderen Rothemd, das Opfer des Überfalls auf die Beine zu stellen.

Longstraw kam vorsichtig näher.

Der dicke Fuhrmann riss sich los und fiel kraftlos auf die Knie. Wieder schlug sein Gegner hart nach ihm. Der Hieb trieb dem Alten die Tränen in die Augen.

»Der heilige Stephan ist von solchem Gesindel, wie ihr es seid, gesteinigt worden!«, schrie der Gepeinigte. »Ich wehre mich nicht...«

Die beiden Tagediebe lachten wiehernd.

Wortlos legte Longstraw dem Nächststehenden die Hand auf die Schulter, drehte ihn sanft zu sich herum und schlug ihn mit einem Fausthieb zu Boden. Dann wandte er sich dem verblüfften Gesicht des zweiten Gauners zu. Behende drehte sich Longstraw um und rammte ihm die Faust in den Magen.

Nummer zwei war damit außer Gefecht gesetzt, aber Nummer eins stand schon wieder auf den Beinen und griff wütend an. Als Longstraw ihn scheinbar mühelos in die Höhe hob, verzerrte sich das Gesicht des Kerls zu einer erschrockenen Grimasse. Longstraw schleuderte ihn gegen das Rad des brennenden Wagens. Der Mann schlug mit dem Kopf gegen die eiserne Nabe und sank in sich zusammen. Einen Fußbreit über seinem Kopf knisterten und qualmten die Bretter der Ladefläche.

Longstraw hielt sich den Arm vor die Augen, drang mitten in die Flammen vor und zerrte den Bewusstlosen aus der Gefahrenzone. Dann drehte er sich zu dem Fuhrmann herum.

Der Dicke streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich bin Elder Burch«, sagte er mit öliger Stimme voller Selbstmitleid. »Würden Sie mir helfen, meine Pferde einzufangen?«

Longstraw schüttelte seine Hand und warf einen Blick auf die friedlich weidenden Clydesdales.

»Welches Glück, dass ein Mann von Ihrem Mut und Ihrer Kraft zur Stelle war, als ich unter die Diebe fiel«, fuhr der Fuhrmann weinerlich fort.

»Offensichtlich waren sie nicht auf Diebstahl aus«, bemerkte Longstraw. Einer der Rothemden bewegte sich und fluchte. »Wäre besser, wenn Sie schnell verschwinden würden.«

Der salbungsvolle Elder - dieser Titel bedeutete Presbyter - schaute rasch zu dem Brandstifter hinüber.

»Vielleicht haben Sie recht, junger Mann.« Er ging auf seine Pferde zu, blieb aber nach einigen Schritten stehen. »Wohin wollen Sie eigentlich?«

»Nach Torpedo.«

»Zu Fuß?«

Longstraw schaute sich auf dem verlassenen Bahnhof um. Der Planwagen war inzwischen auch verschwunden. Im Süden zeigte eine Rauchwolke an, wo sich der Zug befand. Er konnte sich die Antwort ersparen.

»Können Sie ohne Sattel auf einem Clydesdale reiten?«

»Ich hab’s oft genug getan.«

Elder Burch betrachtete ihn forschend, dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem brennenden Wagen zu. Kopfschüttelnd sagte er: »Ich hatte gehofft, wenigstens die Räder retten zu können. Aber das hat auch keinen Sinn. Gehen wir lieber.«

Longstraw nahm das Führpferd an der Trense. Elder Burch knotete die zerschnittenen Riemen zusammen und trieb sein Gespann mit lauten Rufen zum Ladebock hinüber. Longstraw kletterte auf die Rampe und ließ sich von hier aus auf den bloßen Rücken eines der Pferde fallen. Die sind noch breiter als die schönen Percherons, mit denen Signor Pietro Brazzi seinen Pferdeakt durchführte, dachte er.

Elder Burch stöhnte schmerzhaft, als er seine schlaffen Muskeln auf das Führpferd lud. Das Gesicht des Fuhrmanns war grau vor Erschöpfung, außerdem schwoll es an mehreren Stellen an. Trotzdem nahm er schnaufend die Unterhaltung wieder auf, nachdem er sein Gespann in Bewegung gesetzt hatte.

»Mein Gott, Sie sind wirklich ein tatkräftiger Mann!«

»Schon möglich.«

»Ihr Aussehen täuscht«, fuhr Burch tastend fort, ein wenig betroffen über die einsilbige Antwort. »Wenn man Sie so sieht, könnte man nie glauben, dass Sie mit zwei von Ashleys Schlägern so leicht fertig werden können. Wahrscheinlich sind an Ihnen mehr Muskeln, als man auf den ersten Blick sieht.«

»Es liegt nicht nur an den Muskeln, sondern mehr daran, wie man sie benutzt«, antwortete Longstraw geringschätzig.

Der beleibte Presbyter beugte sich vor, um Longstraw besser ins Gesicht sehen zu können.

»Sie sind ein schweigsamer Mann, wie?«

»Ja«, sagte Longstraw mit leisem Lächeln.

»Neu hier?«

Longstraw nickte.

»Woher?«

Longstraw zuckte die Achseln. »Ach, ich war schon hier und dort.«

»Hm.«

Sie ritten schweigend nebeneinander her. Die schweren Clydesdale-Pferde stampften in gleichmäßigem Rhythmus den Staub. Von weitem kam ihnen ein Frachtzug entgegen. Trotz der großen Entfernung bemerkte Longstraw, wie gepflegt Wagen und Gespann wirkten. Die schwarzen Mulis mit den roten Quasten passten genau zusammen.

Elder Burch räusperte sich und nahm das Verhör wieder auf.

»Haben Sie mit Öl zu tun? Oder sind Sie Geschäftsmann?«

»Nein, von Öl verstehe ich absolut nichts«, antwortete Longstraw nachdenklich und setzte sich auf dem sofabreiten Rücken bequemer.

»Also ein Geschäftsmann!«, rief Burch eifrig. Dann verfielen sie wieder in Schweigen.

Longstraw hörte die schön aufeinander abgestimmten Glocken des Muligespanns. Diese gepflegten, schönen Tiere mit ihren roten Quasten und den klingenden Glöckchen hätten auch in seinem Zirkus Furore gemacht, fiel ihm plötzlich ein.

»Welche Art von Geschäften betreiben Sie eigentlich, Mr...?«, begann Elder Burch von neuem.

»Ich bin ein Zirkusmann. Longstraw ist mein Name.«

»Yankee Longstraws Große Show!«, rief Elder Burch überrascht.

»Weltbekannte Truppe von erstklassigen Artisten, Meistern des Trapezes, Hochseilkünstlern und Musikern - die Show der Menschen, Tiere und Sensationen!«, schmetterte Longstraw im Ton des Zeltansagers. Der schroffe Gegensatz zwischen dem bisherigen Schweigen und der plötzlichen Beredsamkeit ließ Burch verstummen. Seine Stirn legte sich in nachdenkliche Falten.

Longstraw beobachtete das näherkommende Gespann. Die Quasten tanzten auf und ab, die Glöckchen klingelten, das Kopfgeschirr der schwarzen Mulis war gleichmäßig grün abgesetzt. Ein sehr elegantes Gespann, musste er zugeben. Als sein Blick auf die beiden Männer auf dem Bock fiel, zuckte er zusammen. Beide trugen leuchtend rote Hemden.

Elder Burch bemerkte den Blick und erklärte: »Das ist auch ein Ashley-Wagen. Er hat viele davon.«

»Ich dachte schon, unsere beiden Freunde hätten uns überholt.« Longstraw lächelte entspannt.

»Aber nein! Die beiden haben sich bestimmt noch nicht wieder aufgerappelt. Mein Gott - ich bin Ihnen ja so dankbar! Vielleicht hätten sie mich umgebracht. Ich bin von Beruf Kaufmann und nicht Fuhrmann - oder gar Boxer. Deshalb stehen wir vermutlich auf verlorenem Posten, Ich dachte schon...« Seine Worte verloren sich in einem Murmeln. Dann schloss er: »Aber ich bezweifle, dass der Gemeinderat einen Zirkusmann haben will.«

»Ex-Zirkusmann«, verbesserte Longstraw. »Ich habe mein Geschäft verkauft.«

»Und was wollen Sie dann hier?«

»Geld verdienen.«

Das Muligespann kam leicht an ihnen vorbei und hinterließ eine dichte Staubwolke. Longstraw zog sein Taschentuch heraus und hielt es vor Mund und Nase.

»Das ist noch gar nichts«, bemerkte Elder Burch. »Sie sollten mal dabei sein, wenn wir richtigen Wind haben. Als ich das letzte Mal die Strecke fuhr, da war der Staub so dicht, dass ich die Zügel in meinen Händen nicht mehr sehen konnte. Zwei Meilen vor Torpedo höre ich über meinem Kopf plötzlich ein Scharren. Ich schaue nach oben. Was glauben Sie wohl, was ich da sehe? Zwei Fuß über meinem Kopf versucht ein Präriefuchs, sich einen Tunnel zu seiner Höhle zu graben!«

Longstraw zeigte sich von der Anekdote nicht sonderlich beeindruckt. Seine Augen über dem Halstuch, das er sich vors Gesicht gebunden hatte, blieben ernst.

Die Zeit verging. Die acht Clydesdales setzten mit nervenaufreibendem Gleichmaß einen Huf vor den anderen, die staubige Straße schien kein Ende zu nehmen. Nach einer Weile wurde es dem neugierigen Presbyter zu langweilig.

»Wollen Sie mir nicht etwas über sich erzählen?«

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich war zuletzt in Pennsylvania und hörte von den Ölquellen hier. Das hörte sich nach einer guten Gelegenheit an, schnell Geld zu verdienen - und hier bin ich.«

»Sir, ich hoffe, dass ich Sie nach unserer Ankunft in Torpedo dem Gemeinderat vorstellen darf. Ich weiß zwar nicht, wie sie auf einen Zirkusmann reagieren werden, aber wir sollten es trotzdem versuchen.«

Sie kamen jetzt ins Ölfeld. Longstraw war fasziniert von den neuen Eindrücken, Gerüchen und Lauten. Die vom Rohöl geschwärzten Holzgerüste wuchsen zu einem lärmenden, unentwirrbaren Wald von Bohrtürmen zusammen. Sie standen an manchen Stellen so dicht, dass der Fuß des einen Bohrturms noch in die Plattform seines Nachbarn hineinragte. Die Dampfmaschinen zischten und prusteten und erfüllten die Luft mit einem Puffen, das nach Explosion klang.

In der Luft lag ein atemberaubender Schwefelgestank. Die waagerechten Pumpenarme bewegten sich vor dem schwarzen Hintergrund wie ruhelose Geisterarme auf und ab und machten das Durcheinander vollkommen. Rohöl überzog Bohrtürme und Menschen mit einem gleichmäßig schwarzen Film, und der Himmel spiegelte sich in schwarzen Seen von gespeichertem Öl.

Das höllische Getöse machte jede Unterhaltung unmöglich. Trotzdem schrie Longstraw: »Fördert denn jede Ölquelle hier?«

»Jede einzelne!«, brüllte Elder Burch zurück. »Ich hab’ mir sagen lassen, dass dieses Erdölfeld hier schon mehr Reichtum hervorgebracht hat als alle Goldminen Kaliforniens. Es ist ein Sodom und Gomorrha der Sünde!«

Als sie nach Torpedo hineinritten, ließ der Lärm nur unmerklich nach. Es war schwer zu sagen, wo das Ölfeld aufhörte und die Stadt begann, denn auch zwischen den Geschäftshäusern und zeltbespannten Wohnbuden erhoben sich überall Bohrtürme. Elder Burch deutete auf einen Turm, dessen Maschinenhaus und Baubude sich über den Bürgersteig hinweg bis auf die Straße vorschob.

»Es gibt hier absolut keine Ordnung. Jeder bohrt, wo er will!«

Es schien wirklich, als herrschte hier das Chaos. Die Straße war von Wagen, Reitern und Fußgängern verstopft. Die peitschenknallenden, fluchenden Fuhrleute lenkten ihre Gespanne wahllos mal auf die linke, mal auf die rechte Straßenseite, oder einfach quer hinüber. Mitten durch dieses Chaos bugsierte Elder Burch sein Achtergespann.

Ein Betrunkener wankte aus einem Saloon und fiel bäuchlings auf die Straße. Die Räder eines leichten Wagens rollten über die Beine des Mannes, was dieser kaum zu bemerken schien. Der Fahrer des schleudernden Wagens riss fluchend an den Zügeln und warf nur einen raschen Blick über die Schulter auf den Überfahrenen.

Auch auf Elder Burch schien der Zwischenfall keinen großen Eindruck zu machen. An der nächsten Kreuzung hielt er an.

»Mr. Longstraw, gleich da drüben hinter dem Drillers Hotel ist ein Mietstall. Wären Sie so freundlich, die Pferde dorthin zu bringen? Ich berufe inzwischen den Gemeinderat ein. Wenn Sie einverstanden sind, hole ich Sie in einer halben Stunde dort ab.«

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Der Mietstall sah nicht anders aus als alles in dieser Stadt: trist, verwittert und vorzeitig gealtert. Longstraw stieg ab und führte die Clydesdale-Pferde hinein. Es war schon früher Nachmittag. Nach dem Straßenlärm tat die Ruhe im Stall den Nerven gut. Der Geruch von Stroh und Alfalfa-Heu erinnerte Longstraw für einen kurzen Augenblick intensiv an Tierzelte, laute Rufe und das schrille Spiel der Zirkuskapelle.

Schmale Streifen von Sonnenlicht stahlen sich durch die Fugen in den Bretterwänden. Die tanzenden, flimmernden Goldbahnen sahen genauso aus wie die Sonnenstrahlen, die durch die Löcher im Hauptzelt der Yankee-Longstraw- Show fielen - ein Bild, das Longstraw seit seiner Kindheit gekannt hatte. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, nur auf sein Stichwort für den Nachmittagsauftritt zu warten. Aber dann trieb ein Windstoß den Ölgestank von draußen herein, und das Phantasiegebilde zerplatzte wie eine Seifenblase.

Er schaute sich im Innern des Stalles um und hörte ein vertrautes Geräusch. Jemand fuhr mit einem Striegel über ein Pferdefell. Er band die Zügel des Führpferdes an einen Pfosten und schlenderte nach hinten. Aus einer Boxe trat ein gebeugter, alter Pferdewärter. Er hielt Bürste und Striegel in den Händen und blinzelte Longstraw fragend an. »Suchen Sie jemand, Sir?«

»Diese Gäule gehören einem gewissen Burch«, erklärte Longstraw.

»Die Gäule kenn’ ich, aber Sie kenn’ ich nicht«, sagte der Alte.

»Ich heiße Longstraw.« Er schüttelte eine harte, knochige Hand.

»Und ich bin Cody.« Der Alte trat einen Schritt zurück und entdeckte die abgeschnittenen Lederenden. Wo ist der Wagen?«

»Verbrannt.«

Cody nickte. »Das predige ich ihnen schon lange. Aber es hat ja keinen Zweck. Gar keinen Zweck hat es!« Er blinzelte Longstraw an. »Sie sind neu hier?«

Longstraw nickte.

»Ziemlich jung noch. Und ein Stutzer obendrein«, stellte der Alte trocken fest. Longstraw quittierte das zweifelhafte Kompliment mit breitem Grinsen.

»Sie sehen aus wie einer, der rasch vorankommen will. Dann kann ich Ihnen nur einen Rat geben, Sir: Lassen Sie sich nicht mit den Burch-Leuten ein. Gehen Sie zu Lew Ashley.«

»Erstens bin ich nicht direkt pleite, und zweitens könnte es sein, dass ich nicht recht in seine Mannschaft passe.«

Cody dachte eine Weile darüber nach, dann ging er zu den Clydesdales hinüber und knurrte: »Hm, na schön, wie Sie wollen. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.«

Longstraw verließ den Stall. Er drängte sich durch das Gewimmel auf dem Fußweg. Es waren fast nur Männer unterwegs. Die krummbeinigen, blauleinen gekleideten Cowboys unterschieden sich deutlich von den Erdölleuten mit ihren Seidenhemden, den hochgeschnürten Stiefeln und den an den Hüften weit flatternden Khakihosen. Longstraws dunkler, feiner Wollanzug, sein steifer Derbyhut und die schwarzen Halbschuhe mit den flachen Absätzen wirkten hier vollkommen fehl am Platze.

Ein Laden gleich neben dem Hotel zog Longstraws Aufmerksamkeit auf sich. Seine Geldkatze, die er auf der bloßen Haut trug, fühlte sich wohlgefüllt an. Er blieb am Straßenrand stehen und überlegte, dass er auch dann wie ein Greenhorn wirken musste, wenn er die Kluft der Cowboys oder der Ölleute nachahmte. Da konnte er genauso gut seinen dunklen Anzug anbehalten. Er war eben ein Neuling mit etwas Geld in der Tasche, dem es in dieser verwirrenden neuen Umgebung sehr schwerfallen würde, eine echte Chance von einem Betrug zu unterscheiden.

Was mochte der Pferdewärter wohl mit seiner Warnung vor den Burch-Leuten meinen? überlegte Longstraw weiter. Schon oft hatten ihn wohlmeinende Freunde gewarnt, meist vergebens. Zum Beispiel damals, als er den doppelten Salto rückwärts auf dem Schlappseil versuchte und sich dabei fast den Schädel spaltete. Oder als ihm jemand einreden wollte, die freihändige Rutschpartie über das Spannseil des mittleren Zeltpfostens sei kein Zirkusakt mehr, sondern reiner Selbstmord. Er hatte sich beinahe das Kreuz dabei gebrochen, aber sonst war nichts geschehen. Solche Warnungen muss man sich anhören und sie dann beiseite legen.

Sein Blick suchte nach Elder Burch. Einer von den raubeinigen Ölfeldarbeitern umfasste gerade von hinten eine Frau und wühlte lachend mit beiden Händen in ihrem Einkaufskorb. Er holte einen Apfel aus dem Korb, biss einmal hinein und warf ihn dann weg. Longstraw hielt die Szene für ein wenig nettes Spielchen zwischen zwei Freunden, doch dann sah er, wie die Frau von den Reden des Kerls beleidigt wurde und errötete. Er wollte schon auf die beiden zugehen, da riss sich die Frau los und floh in ein Kolonialwarengeschäft. Der Kerl kümmerte sich nicht mehr um sie.

Longstraw zog sich wieder auf den Fußweg zurück und beobachtete einen kleinen Jungen, der verzweifelt nach einer Unterbrechung des Verkehrs ausspähte, weil er die Straße überqueren wollte. Da trat Elder Burch drüben aus dem General Store und winkte. Longstraw schob sich durch die Menge zu ihm hin.

Burch führte ihn durch den Laden in einen überfüllten Lagerraum. In dem nach verschiedenen Gewürzen duftenden Halbdunkel saßen vier Männer auf Fässern und Kisten.

»Freunde, das hier ist Mr. Longstraw!«, verkündete Burch und deutete auf einen grobknochigen Mann in schmierigen Overalls: »John kleine.«

»Hallo!«, murmelte Heine mürrisch durch seinen ungewaschenen Bart. Burch legte seine Hand auf die Schulter des zweiten Mannes.

»Das ist Henry Bruner.«

Bruners Overalls hatten eine Wäsche nicht ganz so dringend nötig wie die von John Heine. Er lächelte offen und streckte Longstraw herzlich die Hand entgegen. »Nett, Sie kennenzulernen«, sagte er mit deutlichem deutschen Akzent.

»Und das ist Otto Auerbach, mein Geschäftspartner«, stellte Burch vor.

Auerbachs Hände schienen in den Hosentaschen angeklebt zu sein. Er war ein massiger Mann mit breiten Schultern. Stirnrunzelnd brummte er: »Guten Tag, Mr. Longstraw. Wir haben Ihnen für das zu danken, was Sie für Burch getan haben.«

»Schließlich Reverend Karl Detrich«, schloss Burch die Vorstellung. Reverend Detrich musste über vierzig sein; er hatte eisgraues Haar, und als er sich jetzt erhob und Longstraw die Hand entgegenstreckte, war dieser von der zupackenden Kraft des Händedrucks überrascht.

»Willkommen in Torpedo!«

Er hielt sich sehr gerade und machte einen ernsten Eindruck, doch seine lächelnden Augen verbreiteten Wärme.

»Ich freue mich über Ihre Bekanntschaft, Gentlemen«, sagte Longstraw«, »Ich weiß zwar nicht, wie ich zu dieser Ehre komme, aber es freut mich trotzdem, den ganzen Gemeinderat kennenzulernen.«

»Das hier ist nicht der Gemeinderat der Stadt Torpedo, Mr. Longstraw«, erklärte Elder Burch sanft. »Es ist der Gemeinderat oder das Presbyterium der Berg-Zion-Kirche.«

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Longstraw bedachte Elder Burch mit einem nachdenklichen Blick.

»Ich bin nach Torpedo gekommen, weil ich Geld verdienen will«, sagte er schließlich. »Ich weiß nicht recht, wie ich Ihnen von Nutzen sein könnte. Ich bin nicht sonderlich religiös veranlagt.«

Reverend Detrich sagte freundlich: »Ich fürchte, Mr. Longstraw, wir sind aus ganz anderen als rein religiösen Gründen an Ihrer Person interessiert.«

»Wir woll’n Sie ganz sicher nicht als Prediger anwerben«, fügte John Heine knurrig hinzu.

Longstraw wandte sich an den mürrischen Heine: »Gesetzt den Fall, ich suchte wirklich einen Job - als was wollen Sie mich denn anstellen?«

Otto Auerbachs Hände waren doch nicht festgeklebt. Er zog sie aus den Hosentaschen und lehnte sich über einen Kistenstapel.

»Wir sind bereit, alles Erforderliche zur Verfügung zu stellen, Mr. Longstraw.«

»Und was erwarten Sie von mir? Was habe ich einzubringen?«

Reverend Detrich erklärte geduldig: »Mr. Longstraw, in unserer augenblicklichen Situation sind wir auf die Stärke der Muskeln ebenso angewiesen wie auf die Stärke des Geistes.«

»Das ist mir zu hoch!«, rief Longstraw ehrlich verwirrt. »Ich bin weder ein Preisboxer noch ein Revolvermann.«

»Gott sei Dank sind Sie das nicht!«, rief der Prediger. »Jetzt, wo ich Sie gesehen habe, bin ich überzeugt davon. Nach dem Bericht des Presbyters war ich darauf gefasst, einen brutalen Muskelmann kennenzulernen. Für dieses ganze Erdölfeld gibt es nur eine Frachtlinie, Mr. Longstraw. Sie gehört Lew Ashley. Wir werden Sie keineswegs zu einer Entscheidung drängen; sehen Sie sich diese Stadt erst einmal einen Tag lang in Ruhe an. Die hiesigen Vertreter des Gesetzes sind korrupt, und Torpedo ist keineswegs der Ort, an dem man eine Familie gründen und Kinder aufziehen möchte. Ashley kontrolliert nämlich durch seine Frachtgesellschaft nicht nur alle Geschäfte und die Produktion des Erdölfeldes - sein Wort ist hier auch Gesetz!«

»Haben Sie denn wirklich solche Angst vor seinen Schlägern?«, fragte Longstraw erstaunt.

»Nein«, antwortete Detrich genauso offen. »Es ist nur so, dass es zwecklos ist, Erdöl zu fördern, das dann nicht abtransportiert werden kann. Wenn sich Ashley nicht dazu herablässt, dieses Erdöl zu seinen Bedingungen zum Bahnhof zu transportieren, kann es nicht verkauft werden. Alle Lagerbehälter sind ständig bis zum Rande gefüllt. Wenn Ashley nicht die Waren herbeischafft, kann man in Torpedo keinen Laden betreiben. Wenn...«

Er unterbrach sich, weil die Hintertür des Lagers aufflog. Ein blondes Mädchen kam eilig herein, und die Mitglieder dieses seltsamen Gemeinderates erhoben sich zögernd. Sie war zierlich, schlicht gekleidet und trug das maisfarbene Haar in einem Schopf hochgesteckt. Sie fühlte wohl, wie sehr sie störte, und ärgerte sich darüber.

»Entschuldige, Dad«, sagte sie zu dem Prediger. »Ich wollte euch nicht stören, ich brauche nur eine Rolle Garn.« Sie wollte sich wieder abwenden, doch Elder Burch lief ihr nach und hielt sie am Arm fest.

»Augenblick, meine Liebe! Du störst überhaupt nicht. Komm, ich hol’ dir das Garn von vorn.«

»Vergessen wir unsere guten Manieren nicht!«, sagte Detrich lachend. »Trudy, ich möchte dir Mr. Longstraw vorstellen. - Sir, meine Tochter.«

Longstraw richtete sich unwillkürlich auf. Im Geiste sah er sie in einem Zirkustrikot, hoch oben auf dem Drahtseil. Ja, sie hat das Zeug zu einer Artistin! dachte er. Diese geschmeidigen Bewegungen, diese Figur...

»Angenehm«, murmelte sie mit einem prüfenden Blick.

Longstraw spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss - als hätte sie seine Gedanken lesen können.

»Freut mich ebenfalls, Madam«, murmelte er verlegen.

»Miss«, korrigierte sie ihn. Würden Sie Mr. Burch und mich für einen Augenblick entschuldigen?« Sie hob den Rocksaum etwas an, doch ihr Vater hielt sie fest.

»Einen Augenblick noch, Trudy! - Mr. Longstraw, können Sie sich vielleicht denken, warum meine Tochter durch die Hintertür kommt? Weil ein junges Mädchen es nicht wagen darf, die Hauptstraße dieser Stadt zu betreten!«

Longstraw erinnerte sich an den Zwischenfall, den er beobachtet hatte, während er auf Burch wartete.

»Bedauerlich, aber was kann ich dagegen tun? Ich hab’ mich zwar in Mr. Burchs Fall eingemischt, aber ich bin alles andere als ein edler Retter der Bedrängten!«

Der Prediger nickte.

»Ich sagte schon, dass wir Sie nicht drängen wollen. Überlegen Sie alles reiflich. Wo werden Sie wohnen?«

»Wahrscheinlich im Drillers Hotel.«

»Für zehn Dollar pro Nacht!«, rief Otto Auerbach und riss die Augen auf.

»Hm, wir könnten...«, begann der Prediger, doch Burch fiel ihm ins Wort, wobei Longstraw ein verstohlenes Augenzwinkern zu bemerken glaubte.

»Es ist wahrscheinlich am besten, wenn er im Hotel wohnt. Dort können wir uns ohne jede Schwierigkeit mit ihm in Verbindung setzen!«, sagte er mit einer Entschiedenheit, gegen die es kein Argument gab.

Longstraw war nicht so sicher, ob er es begrüßen sollte, wenn sie sich so einfach mit ihm in Verbindung setzen konnten. Er wusste nicht einmal, ob er überhaupt etwas mit diesen Männern zu tun haben wollte. Der Prediger blickte Burch höchst seltsam an.

»Darf ich mich jetzt entschuldigen, Dad?«, fragte Trudy.

»Natürlich«, murmelte der Prediger zerstreut, doch dann schien es bei ihm zu dämmern. Er ergriff den Arm des Mädchens.

»Wenn du nachher zurückgehst, Trudy, dann lass dich bitte von Mr. Longstraw begleiten. Für ihn ist es kein weiter Umweg. Wir wollen ihn gerade dazu überreden, die Leitung unserer Frachtlinie zu übernehmen.« Entschuldigend sagte er zu Longstraw: »In Begleitung eines Mannes werden Mädchen nur selten belästigt. Wir haben hier noch einiges zu besprechen.«

Longstraw wusste selbst nicht recht, was ihn so verwirrte, jedenfalls nickte er und murmelte: »Selbstverständlich gern.«

Detrich klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

»Gut. Geh mit ihm, Trudy. Ich komme nach, sobald wir hier fertig sind.«

Vorn im Laden bat Longstraw das Mädchen: Würden Sie hier wohl eine Minute auf mich warten, Miss Trudy? Ich hab’ meinen Koffer im Mietstall gelassen.«

Sie blickte ihm gerade ins Gesicht.

»Was sind Sie eigentlich, Mr. Longstraw?«

»Wie bitte?« Longstraw wurde noch verwirrter.

»Sie sagten vorhin, dass Sie kein Retter der Bedrängten sind. Was sind Sie denn?«

Longstraw suchte vergeblich nach einer passenden Antwort. Bevor ihm etwas einfiel, erklärte sie brüsk: »In meinen Augen sind Sie ein Schwindler!«

Longstraw nahm seufzend den schwarzen Derbyhut ab. »Das liegt nur an der unpassenden Kleidung. In dieser Stadt sehe ich damit aus wie...«

Er wollte sagen wie ein Fremdkörper, doch sie kam ihm zuvor: Wie der Besitzer einer Spielhölle! Kennen Sie Lew Ashley?«

»Nein. Woran denken Sie jetzt?« Longstraw wurde ernst.

»Ich denke daran, dass Ashley genauso herumläuft wie Sie. Und dass Dad und seine Freunde mit ihrem Urteil über einen Menschen oft voreilig sind.«

»Hören Sie!«, rief Longstraw, ärgerlich über ihr oberflächliches Urteil. Wenn Ihnen meine Begleitung nicht passt...«

»Das habe ich nicht gesagt. Mein Vater wollte es so.«

Longstraw kämpfte gegen den aufsteigenden Ärger.

»Vielleicht können Sie sich nach unserem kurzen Spaziergang besser ein Urteil über mich bilden«, sagte er und zwang sich zu einem flüchtigen Lächeln. Sie trat hinter den Ladentisch und zog eine Schublade mit verschiedenen Garnrollen heraus.

»Ich warte hier auf Sie«, sagte sie sehr gnädig.

Longstraw ging verärgert aus dem Laden. Der Verkehr war jetzt zur Feierabendzeit noch dichter geworden. Als er die drei Stufen von der Veranda zum Fußweg hinunterstieg, bemerkte er, dass der kleine Junge von vorhin immer noch am Straßenrand wartete - seit mehr als einer Stunde! Longstraw stellte sich unauffällig neben ihn. Der Kleine war etwa sechs Jahre alt, sah ärmlich und unterernährt aus und hatte einen ausgefransten Haarschnitt, den seine Mutter sicher selbst vorgenommen hatte.

»Viel Verkehr«, stellte Longstraw nebenbei fest.

»Ja, Sir«, antwortete der Junge furchtsam und wich mit einem raschen Sprung den breiten Rädern eines mit Tonröhren beladenen Wagens aus, die gefährlich nahe an die Bordsteinkante herankamen.

»Hast du die ganze Zeit hier gewartet, seit ich in den Laden da drüben gegangen bin?«, fragte Longstraw.

Der Junge blickte auf. Seine Augen waren wasserblau.

»Ich kann mich nicht an Sie erinnern, Sir. Aber ich steh’ schon lange hier. Die Schule ist dort drüben.« Er deutete auf ein ungestrichenes Schulhaus aus neuen Balken, das einzeln auf einem kleinen, kahlen Hügel außerhalb der Stadt stand.

»Und dort drüben wohne ich«, redete der Junge weiter, indem er auf eine Reihe kläglicher Bretterbuden deutete, die Kanvasdächer hatten. »Manchmal muss ich hier warten, bis mein Papi vom Bohrturm kommt. Dann muss er hier vorbei. Wenn ich’s nicht geschafft hab’, allein rüberzukommen, dann trägt er mich rüber.«

Longstraw zog eine Zigarre aus der Tasche und zündete sie an.

»Wie wär’s denn, wenn ich heute einmal die Stelle von deinem Papi übernehme?«

Der Junge unterzog ihn einer intensiven Musterung, die anscheinend günstig ausfiel. Er verzog sein Gesicht zu einem breiten Lachen und zeigte dabei eine Zahnlücke.

»Okay!«

»Dann steig mal auf!«

Longstraw klemmte sich die Zigarre zwischen die Zähne und half dem Jungen auf seinen Rücken. Die spindeldürren Beinchen schoben sich unter seinen Armen hindurch, die Arme des Jungen umfassten fest seine Schultern. So schob sich Longstraw mitten in den Verkehr hinein.

Ein Gespann von schweren, schnaubenden Zugpferden fegte vor Longstraw vorbei. Als er hinter den Wagen sprang, bog ein Leiterwagen scharf nach links ab und hielt auf die Rampe des General Store zu. Eine Radspeiche erfasste Longstraw mitten im Sprung. Er stolperte zurück, versuchte, das Gleichgewicht wiederzufinden, aber der Junge auf seinen Schultern zog ihn nach vorn. Dann packte ihn das Hinterrad des Leiterwagens und schleuderte ihn zu Boden. Ein einzelner Reiter versuchte, dem querfahrenden Leiterwagen auszuweichen und über die beiden hinwegzusetzen. Der Junge bemühte sich gerade, Arme und Beine unter Longstraws Gewicht freizubekommen. Als er den Kopf hob, wurde er vom Huf des abspringenden Pferdes getroffen. Mit einem dumpfen Aufschrei fiel er auf Longstraw zurück und rührte sich nicht mehr.

Longstraw rollte beiseite, um freizukommen. Dann richtete er sich auf und stellte sich breitbeinig über den reglosen Körper des Jungen, um ihn gegen den brandenden Verkehr abzuschirmen. Dabei fluchte er in blinder Wut. Er sah Trudy, die auf ihn zu rannte. Longstraw bückte sich, hob den Jungen auf und schleppte ihn zurück auf den Fußweg.

Hier blieb er verloren und verwirrt stehen und starrte nur das bleiche Kind mit der klaffenden Wunde an. Das Mädchen berührte seinen Arm.

»Bringen Sie ihn in den Laden.«

Longstraw folgte ihr, das leblose, schlaffe Bündel auf dem Arm. Trudy breitete rasch neue Decken auf dem Ladentisch aus. Longstraw stand benommen daneben.

»Wir brauchen einen Doktor«, stieß er hervor.

»Legen Sie ihn auf die Decken«, bat Trudy und lief dann nach hinten ins Lager. Als sie mit den Männern zurückkam, konnte man vor lauter Blut nichts mehr von dem Kindergesicht sehen.

»Es ist Michael O’Halloran«, erklärte Trudy ihrem Vater.

Detrich beugte sich vor und untersuchte flüchtig die Wunde. Dann sagte er ernst: »Sieh mal nach, ob Doc Bender im Gusher-Saloon ist.«

»Aber sie kann doch nicht in einen Saloon gehen!«, protestierte Longstraw unbeholfen. Das Mädchen war schon hinausgelaufen.

»Helfen Sie mir!«, befahl Detrich. Wenn es sein muss, dann geht sie überallhin.«

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Als Trudy mit dem hochgewachsenen, bärtigen Arzt zurückkam, wussten die Männer, dass sie den Blutstrom nicht stillen konnten. Der Arzt roch stark nach Whisky, aber er machte sich sofort an die Arbeit. Als er seine Tasche aufklappte, stürzte ein Mann herein. Er war untersetzt und muskulös und trug die Berufskleidung eines Erdölarbeiters.

»Man hat mir gesagt, dass es Mike ist«, murmelte er kaum verständlich.

Longstraw nahm an, dass er den Vater des Jungen vor sich hatte. »Es war meine Schuld«, hörte er sich sagen.

»Es war nicht Ihre Schuld!« widersprach Trudy energisch. »Jetzt ist nicht die Zeit, darüber zu streiten. Können wir ihn nach Hause zu seiner Mutter schallen?«

Sie war schon dabei, aus Decken und zwei Besenstielen eine Tragbahre zu improvisieren. Der Arzt hob den Kopf.

»Natürlich. Wir müssen uns aber beeilen.«

Detrich und Bruner hoben vorsichtig die Trage auf. Doc Bender ging neben der Tragbahre her und presste den Verband auf die Stirnwunde. Burch verriegelte die Tür.

Es sah so aus, als wollte sich nicht einmal für die Tragbahre mit dem verletzten Kind eine Lücke im Verkehr öffnen. Da bildete Longstraw mit den anderen Männern eine Kette und stoppte gewaltsam Fahrzeuge und Reiter. Sie erreichten ohne Zwischenfall die andere Straßenseite und gingen auf die schäbigen Wohnhütten zu.

Überall erschienen neugierige Gesichter an Türen und Fenstern, wo der traurige Zug vorbeikam. Die Sonne senkte sich schon zum Horizont, und überall an den Bohrtürmen war Schichtwechsel.

Vor einer der Hütten stand eine Frau, die Hand schützend über die Augen gelegt. Longstraw wusste, dass er es der Frau sagen musste. Er fürchtete sich vor diesem Augenblick.

»Michael ist also verletzt«, stellte sie sachlich fest, als sie die Tragbahre erblickte. In ihren Augen war keine Spur von Panik oder Verzweiflung zu erkennen, als sie näher trat. Sie hob die Hand des Jungen und schaute den Arzt an.

»Schlimm?«, fragte sie zögernd.

»Ich fürchte ja, Mrs. O’Halloran«, antwortete Doc Bender.

Sie hob die Decke am Eingang der Hütte hoch. »Bringt ihn herein.«

Als sie sich über die Tragbahre beugte, zwang sich Longstraw zum Sprechen. »Madam - ich...«

Es ging einfach nicht. Die Woge schlug über ihm zusammen, und er konnte nichts dagegen tun. Er spürte, wie sich sein Gesicht verzerrte, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen, aber er war unfähig, auch nur die Hand zu heben.

Die Frau warf ihm nur einen raschen Blick zu und ging hinter der Tragbahre ins Haus. Die Decke an der Tür fiel herab. Longstraw spürte die Hand des Mädchens auf seinem Arm. Auch ihre Augen waren nass, aber sie tadelte ihn. »Das ist doch nicht nötig! Der Arzt tut schon, was er kann.«

Das verständnisvolle Mitgefühl in ihrer Stimme beruhigte ihn. Endlich gelang es Longstraw, sich wieder unter Kontrolle zu bringen.

»Ich warte hier - falls man mich braucht«, murmelte er. Nur wenige Schritte entfernt floss in einem tief eingeschnittenen Bett ein Bach vorbei. Longstraw setzte sich auf einen ölgeschwärzten Baumstumpf am oberen Rand des Bachbettes und starrte ins dunkle Wasser.

Trudy betrat die Hütte.

 

Als sie wieder herauskam, saß Longstraw immer noch unbewegt auf dem Baumstumpf. Sie zögerte und ging dann langsam den Hügel hinauf, weil sie fühlte, dass ihm jetzt nicht nach Unterhaltung zumute war.

Sie ging durch die Seitenstraßen nach Hause. Die Durchgänge zwischen den regellos aufgebauten Häusern waren mit Gerümpel übersät. Es verbitterte Trudy, dass sie nicht die Hauptstraße benutzen sollte. Aber andererseits war sie es leid, immer wieder in schmutzige, ekelerregende Visagen schlagen zu müssen oder beleidigende Ausdrücke zu hören. Sie musste über die Hauptstraße, aber sie wählte dafür eine etwas weniger belebte Stelle am Rande der Stadt.

Das kleine Pfarrhaus war eines der hübschesten Gebäude der ganzen Stadt, obgleich es klein und primitiv war. Es war als typisches Grenzerheim eingerichtet: ein Wohnzimmer, dann die große Halle, von der zwei Schlafzimmer abzweigten, und schließlich die kleine Küche. Hinter der Küche lag noch ein winziger Anbau. Außer allen möglichen nutzlosen Dingen hatte ihr Vater dort seine Bücher und seinen Schreibtisch untergebracht.

Trudy blieb für einen Augenblick am Küchenfenster stehen und blickte durch die Ranken des wilden Weins zum Schulhaus hinüber. Sie sah den kleinen Mike O’Halloran vor sich, wie er noch vor wenigen Stunden eifrig an seinem Pult geschrieben hatte. Dann fiel ihr ein, dass Pop Cody noch hinübergehen und die Schule ausfegen musste. Ob er sie wohl auch verschlossen hatte?

Mit klickenden Absätzen ging sie zum Hintereingang und fand ihn unverschlossen. Sie seufzte - ihr Vater vergaß immer wieder, die Türen hinter sich abzuschließen.

Dann ging Trudy in ihr spartanisch eingerichtetes Schlafzimmer. Sie legte Hut und Jacke ab und nahm eine Schürze von dem Reck, das in einer Ecke des Zimmers mit einem Vorhang als Kleiderschrank abgeteilt war.

In der Küche zündete sie das Herdfeuer an und setzte den Wasserkessel auf. In einem anderen Topf waren Bohnen eingeweicht. Sie suchte sich aus einem Sack neben dem Ofen große Kartoffeln zum Schälen aus. Das Geschirr vom Mittagessen war ordentlich aufgestapelt, aber noch nicht gespült. In der kurzen Mittagspause fand sie nie Zeit zum Geschirrspülen.

Nachdem sie das Geschirr gespült, die Kartoffeln geschnitzelt und die Bohnen aufgesetzt hatte, setzte sie sich ins Wohnzimmer und dachte nach.

Eigentümlicherweise empfand sie Mitleid für diesen Longstraw. Sie hatte ihn vom Fenster des Geschäftes aus beobachtet und sofort eine gewisse Sympathie empfunden, als er den kleinen Mike getragen hatte. Dann war mit atemberaubender Plötzlichkeit der Unfall geschehen.

Fassungslos hatte Trudy zugesehen, wie der Ashley-Wagen die beiden zu Boden gerissen und wie Ashley selbst dann versucht hatte, sein Pferd über ihre Köpfe springen zu lassen. In Torpedo ereigneten sich viele Unfälle und Gewalttaten, und jedes Mal erlebte sie dabei einen dumpfen Schock. Diesmal überfiel sie ein Schüttelfrost.

Man soll einen Mann nicht gleich verdammen, nur weil er keine Schwielen an den Händen hat und ordentlich angezogen ist, dachte sie schuldbewusst. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass die Person dieses Longstraw mit einem Geheimnis umgeben war - etwas Exotisches, Fremdartiges ging von ihm aus, hinderte sie daran, ihn wirklich zu mögen. Ganz sicher war er anders als alle Männer, die sie bisher kennengelernt hatte.

Ein wenig verwirrt und voller Sorge schaukelte sie mit ihrem Stuhl hin und her, als sie Schritte auf der Veranda hörte. Sie erkannte den Schritt ihres Vaters und lief sofort in die Küche.

Karl Detrichs Gesicht war abgespannt und von tiefen Furchen durchzogen.

»Wie geht es Michael, Dad?«, fragte Trudy.

Der Prediger schüttelte traurig den Kopf. »Schlecht. Sehr schlecht.«

Sie hielt mit ihrer Arbeit inne. »Ist noch Hoffnung?«

»Doc Bender glaubt es nicht.« Der Prediger suchte stirnrunzelnd nach seiner Pfeife. Trudy rührte heftig in ihrem Topf, um nicht laut loszuheulen.

»Ich fühle mit dem jungen Mann«, sagte Detrich.

»Wie heißt er eigentlich, Dad?«

»Longstraw.« Seine Stirn legte sich in Falten, als er die Pfeife stopfte und anzündete.

»Nein - ich meine seinen Vornamen.« Trudy fühlte ihre Wangen warm werden und verbarg die Verlegenheit hinter verdoppelter Aktivität.

»Ich weiß es nicht«, musste ihr Vater zugeben.

Trudy setzte die dampfenden Schüsseln auf den Tisch. »Du weißt überhaupt nicht sehr viel über ihn, wie?«

»Ich hab’ ihn doch auch erst heute Nachmittag kennengelernt!«, protestierte Detrich.

»Und trotzdem wollt ihr ihn als Anführer für euren Kampf gegen Ashley anstellen.«

»Das Wort Kampf gefällt mir überhaupt nicht, Trudy«, erklärte Detrich streng.

Das Mädchen trug rasch die Pfanne mit dem heißen Maisbrot auf den Tisch, stellte sie auf den Untersatz und blies sich auf die Finger. »Was ist es denn sonst?«

»Nennen wir es lieber einen Kreuzzug für bessere Lebensverhältnisse in unserer Stadt«, formulierte er vorsichtig. Dann faltete er die Hände und neigte den Kopf.

»Herr, wir danken dir für deine Nahrung und bitten dich um Weisheit, damit wir die Kraft daraus in deinem heiligen Namen gebrauchen. Amen.«

Trudy hob den Kopf. »Es klingt fast unglaublich«, murmelte sie.

»Was?«

»Ist noch keiner von euch auf die Idee gekommen, dass er vielleicht schon für Lew Ashley arbeiten könnte?«

Detrich lächelte. »Du bist doch eine misstrauische und zynische Frau, Trudy!«

»Es geht etwas Fremdes von ihm aus, Dad.«

»Er trägt keine Frömmigkeit zur Schau«, stimmte Detrich ihr zu. »Aber denke daran, dass auch der Apostel Paulus das in gewisser Hinsicht nicht tat. Was wir brauchen, ist ein mutiger Mann. Wir müssen Mr. Longstraw die Gelegenheit bieten, sich zu bewähren.«

Trudy aß zerstreut.

»Er hat etwas an sich, was mich beunruhigt. Seine Augen sind durchdringend und berechnend. Da ist etwas...« Sie verlor sich in Nachdenken und schüttelte dann den Kopf. »Ach, ich weiß auch nicht recht.«

Sie legte ihr Besteck hin, stand auf und holte von dem Wandbord ein Essgeschirr und einen sauberen Teller. Reverend Detrich blickte verwundert auf, als sie das Essgeschirr füllte.

»Für wen ist das?«, fragte er.

»Für ihn. Wir können ihn doch nicht verhungern lassen.«

 

 

 

Fünftes Kapitel

 

 

Von der Prärie her kroch schon die Dämmerung in die Stadt. Trudy hatte sich einen warmen Schal um Kopf und Schultern geschlungen. Sie ging rasch und zielbewusst durch die kleinen Gassen zur Hütte der O’Hallorans. Sie beeilte sich, damit das Essen nicht kalt werden sollte.

Schon von weitem sah sie Longstraw auf dem Baumstumpf hocken. In der Dämmerung sah es fast so aus, als sei er mit dem Strunk verwachsen.

Trudy ging die schmale Gasse zwischen den provisorischen Hütten entlang und kam sich wieder einmal vor wie in einem Feldlager der Armee - einer ausländischen, heruntergekommenen Armee.

Als sie vor Longstraw stand, sagte sie: »Ich bringe Ihr Essen.«

Er schaute sie erstaunt an. Im fahlen Mondlicht wirkte sein Gesicht eingefallen und verkrampft.

Sie glaubte sich verteidigen zu müssen. »Vater behauptet immer, ich könnte keinen streunenden Hund und keine entlaufene Katze auf der Straße sehen, ohne sie zu füttern.«

Longstraw lächelte schwach. »Sie haben mich jetzt schon mit einem Spielhöllenbesitzer verglichen, dann mit einem streunenden Hund und...«

»Ach, so meine ich das doch nicht!«, unterbrach sie ihn. Wie geht’s Michael?«

Seine Schultern hoben sich. »Ich hab’ nur hier gesessen und gewartet.«

»Essen Sie zuerst, dann gehen wir hinein.«

Longstraw stellte das Tablett auf den Baumstumpf und aß im Stehen.

»Ihre Mutter - oder Ihre Köchin müssen ausgezeichnet sein«, lobte er.

»Dad und ich sind schon seit Jahren allein. Und beim Gehalt eines Gemeindepredigers kann man sich keine Hilfe leisten.«

»Könnte Ihr Vater nicht auch an dem Ölgeschäft irgendwie mitverdienen?«, fragte Longstraw zwischen zwei Bissen.

Sie seufzte lächelnd. »Sie haben keine Ahnung, wie wenig sich Dad für Geld interessiert.«

Longstraw schob das Tablett beiseite. »Wollen Sie nicht lieber allein hineingehen?«

»Natürlich kommen Sie mit! Das Tablett hole ich nachher.«

Sie hob einfach die Decke hoch und trat ein. Longstraw bückte sich hinter ihr durch die niedrige Tür. Mrs. O’Halloran saß neben dem Bett des Jungen. Sie blickte nicht einmal auf, als Trudy leise fragte: »Wie geht’s ihm?«

»Er lebt noch«, sagte sie tonlos. Es klang, als wollte sie sich selbst damit überzeugen und den Tod verscheuchen.

Longstraw stand am Fußende und begann unsicher: »Mrs. O’Halloran, ich weiß nicht, wie...«

Trudy spürte das Zittern in seiner Stimme. Sie ahnte, dass er wieder nahe am Weinen war.

Mary O’Halloran blickte von dem geisterbleichen Gesicht des Jungen auf und erklärte ruhig: »Wir machen Ihnen keine Vorwürfe, Mr. Longstraw.«

Longstraw stand für mehrere Sekunden schweigend da, dann murmelte er: »Aber ich mach’ mir Vorwürfe.«

»Wo ist Doc Bender?«, fragte Trudy.

»Er musste fort«, antwortete Michaels Vater. »Er wollte aber bestimmt wiederkommen.«

In der Hütte war kein anderer Laut zu hören als das Tropfen des Wassers, als Mary O’Halloran eine frische Kompresse vorbereitete und sie gegen die blutgetränkte von Mikes Stirn austauschte. Als sie das Tuch hochhob, sah Trudy den glattrasierten Kopf mit der aufgequollenen Platzwunde, die mit mehreren Stichen genäht war. Sie zwang sich zu einem zuversichtlichen Ton.

»Wenn das Haar nachgewachsen ist, dann wird man von der Narbe nichts mehr sehen.«

Keiner antwortete ihr. Sie wandte sich an Longstraw. Wir sollten jetzt wieder gehen.«

Longstraw nickte und ging zur Tür. Dort blieb er stehen und sagte zum Vater des Jungen: »Ich warte draußen. Wenn Sie irgendetwas brauchen - wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann...«

O’Halloran starrte nur auf den blassen Jungen und antwortete nicht. Longstraw ging. Trudy folgte ihm hinaus. Sie holte das Tablett von dem Baumstumpf.

»Sie dürfen ihm das nicht übelnehmen - Iren sind nun einmal schweigsam. Aber sonst ist er sehr nett, nur...«

Longstraws fassungsloser Blick bewies Trudy, dass er genauso litt wie die O’Hallorans. Kurz entschlossen setzte sie das Tablett mit dem Essgeschirr wieder ab.

»Ich schlage Ihnen einen Austausch vor.«

Longstraw blinzelte sie unsicher an.

»Ich bin die Pfarrerstochter, zwanzig Jahre alt und Lehrerin an der hiesigen Schule.«

Die Andeutung eines Lächelns erschien neben seinem Mund, als er sie anblickte. Er musste sich sehr konzentrieren, ehe er sagte: »Nun - ich bin dreißig.«

»Woher kommen Sie?«

»Woher? Von überallher, denke ich. Ich bin auf einem Zirkusplatz in Vermont zur Welt gekommen.«

»Du meine Güte!«, rief Trudy.

»Als ich acht war, starb meine Mutter. Sie war eine Kaufmannstochter und hat sich nie so recht an das Zirkusleben gewöhnen können. Das ist auch nicht einfach, wenn man vorher immer in demselben Haus gelebt hat.«

Es tat Trudy leid, dass sie mit ihrer Frage zu seinem augenblicklichen Kummer auch noch traurige Erinnerungen wachgerufen hatte. Um ihn abzulenken, fragte sie: »Was in aller Welt hatten Sie in einem Zirkus zu suchen?«

»Papa Montoya nahm mich auf und lehrte mich seine Tricks. Sie nannten ihn den Großen Montoya. Er war ein einmaliger Mensch. Jetzt ist er auch tot.«

In seinen Gedanken herrscht der Tod vor, dachte Trudy in bitterem Selbstvorwurf. Aber jetzt musste sie auch weiterfragen.

»Sie waren also Künstler?«

»In den letzten Jahren eigentlich nicht mehr so sehr. Ich bin Yankee Longstraw.« Er lächelte in leiser Selbstironie, und Trudys Augen weiteten sich vor Staunen.

»Jetzt erinnere ich mich!«, rief sie. »Darum ist mir der Name so bekannt vorgekommen. Ich hab’ Sie vor Jahren in Syracuse gesehen, auf den Plakaten. Ich wollte so gern eine Vorstellung sehen.« Sie stockte und fuhr irritiert fort: »Aber Yankee Longstraw war ein alter Mann mit einem weißen Bart - wie Uncle Sam. Ich hab’ ihn beim Umzug auf den Straßen gesehen.«

»Das war mein Vater. Er ist vor zwei Jahren gestorben.«

Schon wieder der Tod! dachte sie und ging diesmal einfach nicht auf den Gedanken ein.

»Und Sie waren doch ein Künstler - jetzt weiß ich’s wieder. Ein Junge in einem spanischen Kostüm auf dem Drahtseil. Auf den Plakaten haben Sie einen riesigen Regenschirm in der Hand.«

»Hochseil, Schlappseil, Bodenakrobatik«, sagte er, und das Lächeln erreichte nun auch seine Augen. »Vielleicht hatten Sie doch Recht, Miss Detrich. Ich bin nicht gerade ehrlich.«

»Inzwischen muss der Zirkus doch Ihnen gehören. Warum sind Sie dann hier?«

Er zuckte die Achseln. Weil ich der Sohn meiner Mutter bin- vielleicht deshalb. Ich suche nach etwas, das solider und gewinnbringender ist. Deshalb hab’ ich den Zirkus verkauft.«

»Yankee Longstraw«, sagte Trudy nachdenklich und merkte selbst den dummen, fast ehrfürchtigen Unterton in ihrer Stimme. »Yankee - ist das wirklich Ihr Name?«

Longstraw blickte rasch beiseite und senkte den Kopf. Wenn es nicht so dunkel gewesen wäre, dann hätte Trudy bestimmt die dunklere Farbe seiner Wangen bemerkt.

»Ja, es ist mein Name. Mein Vater hat auch so geheißen. Deshalb nennen mich alle nur einfach Longstraw.«

»Sagen Sie bitte Trudy zu mir. Und geben Sie mir das Tablett herüber. Wir können unterwegs bei Cody Ihren Koffer abholen.«

Longstraw reichte ihr das Tablett.

»Gute Nacht, Miss Detrich. Ich möchte lieber hier warten.«

Trudy erinnerte sich und suchte nach seinen Augen. Warum wollen Sie hier bleiben?«

»Vielleicht werde ich gebraucht.«

Sie blickte auf die Hütte. Das Lampenlicht schimmerte durch das Stoffdach. »Sie können hier doch gar nichts helfen.«

»Ich bleibe trotzdem.«

»Wo wollen Sie schlafen?«

»Nachher gehe ich ins Hotel. Es ist spät geworden - soll ich Sie nach Hause begleiten?«

»Danke, nicht nötig. Und gute Nacht!«

Longstraw blickte ihr nach, bis die Dunkelheit ihre schlanke Gestalt geschluckt hatte. Dann setzte er sich wieder auf den Baumstumpf. Jetzt, wo es ringsumher etwas ruhiger geworden war, hörte er doppelt laut den Lärm vom Ölfeld, das Zischen und Stampfen der Dampfventile nah und fern, das Quietschen der Pumpenbalken, vermischt mit dem Verkehrslärm der Straße. In Torpedo gab es keine Nachtruhe.

Der breite Schatten eines eiligen Mannes kam näher. Er trug eine Arzttasche. Der Mann war Doc Bender. Er betrat die Hütte, dann war leises Murmeln zu hören.

Mit Ausnahme dieser einen Hütte war jetzt die ganze Gasse dunkel. Longstraw wartete, aber der Doktor kam nicht wieder zum Vorschein. Ganz allmählich ließ der Lärm in der Stadt nach. Nur im Ölfeld. wurde es auch dann nicht still, als Mitternacht heranrückte.

Vor dem schwarzen Nachthimmel sah Longstraw die zuckenden Flammen der abbrennenden Gase. Ihr Schein leuchtete den Arbeitern, die unermüdlich ihre Bohrer ins Erdinnere Vortrieben. Longstraw wanderte zwanzig Schritte zur Seite und kam wieder zurück. Immer wieder ging er im Geist den Ablauf des Unfalls durch und überlegte, ob er ihn nicht vielleicht hätte vermeiden können.

Das Murmeln in der Hütte der O’Hallorans wurde lauter. Eine Hand erschien an der Tür, hob kurz den Vorhang an und ließ ihn wieder herabfallen. Dann wurde es drinnen still. Longstraw warf den bitter schmeckenden Rest seiner letzten Zigarre weg. Die Minuten dehnten sich zu halben Ewigkeiten.

Dann hob sich die Decke am Eingang wieder. Doc Bender trat heraus und stieß fast mit Longstraw zusammen.

»Was wollen Sie hier?«, fragte Bender.

»Neuigkeiten.«

»Es gibt keine«, antwortet der Arzt müde.

»Nichts? Gar keine Veränderung?«, bettelte Longstraw förmlich.

»Der Junge liegt im Koma«, erklärte Doc Bender. »Ich hab’ dem Iren - seinem Vater - gesagt, er soll mich rufen, wenn der Kleine daraus erwacht. Aber ich schätze, für den Rest der Nacht wird man mich kaum stören.«

»Sie glauben also, dass er sterben wird?«

»Ich denke nicht, dass er noch einmal das Bewusstsein erlangen wird.«

»Wie wollen Sie das wissen?«

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Wissen Sie, ich hab’ Menschen gesehen, die wochen- und jahrelang so dahindämmerten. Sie verschlafen einfach ihr ganzes Leben. Es kommt immer darauf an, wie sehr das Gehirn geschädigt ist.« Er ging ein paar Schritte und blieb stehen. »Es hat keinen Sinn, wenn Sie hier in der Nacht herumstehen. Was wollen Sie damit erreichen?«

»Ich weiß auch nicht.«

»Der Ire und seine Frau brauchen Sie bestimmt nicht. Dem Jungen können Sie nicht helfen. Es wäre besser, wenn Sie die drei da drin nicht belästigen würden.«

»Doc, wenn’s am Geld liegt...«, begann Longstraw.

»Jetzt braucht er kein Geld, sondern Ruhe!«, unterbrach ihn Bender. Dann wandte er sich ab und ging den Hügel hinauf.

Longstraw stand unentschlossen da, aber dann folgte er ihm langsam. Als er die belebte Straße erreichte, war Bender schon nicht mehr zu sehen. Hier drängten sich Wagen, Reiter und Fußgänger genauso dicht wie am Tage, nur dass mehr Betrunkene dazwischen herumtorkelten. Longstraw fragte sich, wie es diese Männer schafften, eine Zwölf-Stunden-Schicht am Bohrturm zu absolvieren, da nach zwölf Stunden zu bummeln und wieder an die harte Arbeit zu gehen.

Anscheinend gedieh hier eine neue Menschenrasse, die ohne Schlaf auskommen konnte. Er drängte sich durch die Menge und ging zum Mietstall hinter dem Drillers Hotel. Im Stall war es friedlich und dämmrig. Es roch nach Pferden, hin und wieder stampfte ein Huf, oder das Stroh raschelte. Longstraw tastete sich zu der Stelle vor, an der er seinen Koffer hingestellt hatte. Er fand ihn und ging hinaus auf die Straße.

Der Widerschein einiger brennender Gasfackeln und das gelbe Lampenlicht, das aus einigen Geschäften fiel, zauberten unruhige Reflexe in den Staub der Straße. Alle Geschäfte hatten geöffnet und Hochbetrieb. Longstraw betrat das Drillers Hotel 

Die Halle sah primitiv und unfertig aus. Die Wände bestanden nur aus rohen Brettern und Balken, auf dem Fußboden hatte der letzte Wolkenbruch seine Andenken hinterlassen. Überall standen Stühle mit harten, geraden Holzlehnen durcheinander. Sie waren alle besetzt von Männern, die sich in Gruppen unterhielten, allein eine Zeitung lasen, den Kopf an eine Säule gelehnt vor sich hindösten oder stumpfsinnig in die Gegend blickten.

Longstraw trat an das Pult des hemdsärmeligen, verschlafenen Nachtportiers. »Ich möchte ein Zimmer.«

Der Angestellte schob Longstraw ein bekleckstes Gästebuch hin und griff nach einem zerknitterten Stück Papier. Er beobachtete, wie Longstraw seine Unterschrift in das Buch setzte und schrieb dann den Namen auf den Zettel ab. Daneben war schon ein Name durchgestrichen.

»Das macht zehn Dollar, Sir.«

»Im Voraus?«, fragte Longstraw. »Ich hab’ doch Gepäck!«

Der Angestellte schüttelte den Kopf. »Hier wird jeder Tag im Voraus bezahlt.«

Longstraw griff in die Tasche und zahlte.

»Sie können Nummer 235 kriegen«, sagte der Portier.

»Dann geben Sie mir meinen Schlüssel.«

»Schlüssel! Zum Teufel, hier gibt’s keine Schlüssel!« Er deutete mit dem verschmierten Daumen in eine Ecke. »Dort drüben ist die Treppe.«

Longstraw stieg schwerfällig die Treppe hinauf und blieb dann verblüfft stehen. Hier gab es keinen Gang. Auch kein Zimmer. Er starrte in eine Art Scheune, die von einer in der Mitte herabhängenden Petroleumlampe kaum ausreichend erhellt wurde. Endlose Reihen von Feldbetten waren aufgestellt. Auf jedem lag zwischen unsauberem Bettzeug ein schlafender, schnarchender Mann. Der Gestank in dieser Menschenscheune war überwältigend. Es roch wie in einem nie gesäuberten Viehstall.

Am Fußende eines jeden Feldbettes war eine Holztafel mit einer ungelenk darauf gemalten Nummer angebracht. Longstraw ging an der vordersten Reihe entlang und suchte nach der Nummer 235. Er war einfach zu müde, sich nach einem anderen Quartier umzusehen. Außerdem fürchtete er, dass er ohnehin nichts finden würde, jedenfalls nicht vor Tag. Bis dahin konnte er sich hier wenigstens etwas ausruhen.

Er ging eine ganze Weile zwischen den Bettreihen hin und her, bis er die Nummer 235 entdeckte. Aus dem weitoffenen Fenster fiel ein Streifen Mondlicht auf das Nummernschild. Auf dem Feldbett hockte ein Mann in ungewaschenem Unterzeug und döste vor sich hin. Als er Longstraw kommen hörte, blickte er schläfrig hoch. Sein Gesicht glich einer Reliefkarte des irischen Berglandes.

»Na, Sie sind mir aber ein Feiner!« lallte er undeutlich. Er besaß keinen einzigen Zahn mehr. Als er den Mund schloss, berührte sein markantes Kinn fast die herabhängende Nasenspitze. Dabei blinzelte er Longstraw so urkomisch an, dass dieser trotz seiner Müdigkeit lächeln musste.

»Hören Sie, alter Freund, unten hat man mir gesagt, dass dies mein Bett ist.«

»Wird schon stimmen, mein Junge, wird schon stimmen«, nuschelte der Alte und blieb sitzen.

Longstraw wandte sich ab.

»Hm, offensichtlich ist es aber besetzt. Ich gehe runter und lasse mir ein anderes Bett anweisen.«

»Nein, halt, mein Junge! Sie können’s haben. Gleich - eine Minute...«

Longstraw blickte über die Reihen der Schläfer hin.

»Wollen Sie damit sagen, dass die Betten neu vergeben werden, sobald einer aufsteht?«

»Klar, so ungefähr geht das. In diesem Falle sind Sie der Glückliche, mein Junge.«

Longstraw lachte leise und stellte seinen Ziehharmonikakoffer am Fußende des Bettes ab. Der alte Ire reckte sich und hielt Longstraw dann seine knochige Hand hin.

»Ich bin Paddy Murtagh, der Nachtwächter.«

»Yankee Longstraw.«

Sie schüttelten sich die Hände.

»Und ein feiner Stutzer sind Sie auch, wenn Sie mir das nicht übelnehmen«, nuschelte der zahnlose Alte.

»Ich nehme nichts übel, Sie haben vielleicht sogar recht.«

Kopfschüttelnd riet ihm der Alte: »Sonny, wenn Sie den Koffer da stehen lassen, dann ist er am Morgen ratzekahl leergeräumt. Nehmen Sie das Ding als Kopfkissen, es gibt sowieso keins. Morgen früh haben Sie dann beides noch, wenn Sie Glück haben: Ihren Koffer und Ihren Kopf.«

Longstraw hob den Koffer auf. Murtagh hob das Bett an einem Ende an und zog den Schuh hervor, den er unter das Bettbein geklemmt hatte.

»Sie haben wirklich Glück, mein Junge«, nuschelte der Nachtwächter, während er den Schuh anzog. »Der alte Harris - Sie haben ihn unten gesehen, ihm gehört das hübsche, gastliche Haus hier -, er weiß, dass ich um ein Uhr los muss. Zu jeder anderen Stunde wär’s verdammt schwer gewesen, ein freies Bett aufzutreiben.«

Paddy rollte sich auf die andere Seite des Bettes und holte auch dort einen Schuh unter dem Bettbein hervor. Longstraw blickte die Bettreihen entlang. Soweit er es in dem trüben Licht erkennen konnte, hatten auch die anderen Schläfer ausnahmslos ihr Schuhwerk auf diese originelle Weise vor Dieben gesichert. Die meisten Männer schliefen in ihrer Wäsche und hatten die Anzüge als Kopfkissen zusammengerollt. Weit und breit war kein einziger lose herumliegender Gegenstand zu sehen.

Paddy Murtagh grinste Longstraw zahnlos an.

»Wie ich sehe, sind Sie ein heller Junge und kapieren schnell. Was nicht angenagelt ist, verschwindet unweigerlich.« Er zögerte und fuhr dann fort: »Schade, dass Sie jetzt eine meiner preisgekrönten Sicherheitsmaßnahmen durchschauen, Mister. Aber da Sie selbst hübsche Zähne haben, werden Sie mir kaum meine klauen, während ich schlafe.« Er holte aus jedem Schuh die Hälfte eines falschen Gebisses heraus und schob sie in seinen Mund, was seine Physiognomie vollkommen veränderte.

Longstraw lachte herzhaft. Seine Bettnachbarn grunzten ungnädig. Einer von ihnen knurrte: »Hört auf zu quasseln, ihr Nachteulen, wir wollen schlafen!«

Paddy Murtagh zog seine Hose an, stand auf und drückte sich den Schlapphut auf die beginnende Glatze. Dann flüsterte er erheblich deutlicher als vorhin: »Ich muss jetzt gehen. Alles Gute, Mr. Longstraw, und schlafen Sie schön!«

Der alte Ire ging krummbeinig über die knarrenden Holzdielen zur Treppe. Unterwegs schob er seine dürren Arme in die Ärmel des roten Flanellhemdes.

Als Longstraw das Rothemd sah, fiel ihm sofort wieder der Name Lew Ashley ein. Er seufzte und zog die Schuhe aus. Dann folgte er Paddys Beispiel und stellte in jeden Schuh ein eisernes Bettbein. Voll angezogen streckte er sich auf der übelriechenden Matratze aus, schob sich die Koffertasche unter den Kopf und den Derbyhut in die Stirn.

 

 

 

Sechstes Kapitel

 

 

Irish O’Halloran - alle nannten ihn nur Irish - fuhr erschrocken von seinem Lager hoch. Er war eingedöst und blickte zum Bett seines Jungen hinüber. Mary legte den Finger bittend an die Lippen. Irish setzte sich wieder hin. Er war steif in den Knochen, und das Blut pochte in seinen Schläfen.

Er wusste, dass Mary die ganze Nacht über kein Auge zugetan hatte. Und er machte sich Sorgen darüber, was nun aus Mary werden sollte.

Mike war ihr einziges Kind. Ihr erstes Baby war gleich nach der Geburt gestorben. Als Mike vor sechs Jahren in Oil City zur Welt kam, da hatte ihnen der Arzt eröffnet, dass sie nie wieder Kinder haben würden. Daran dachte Irish jetzt; doch dann verdrängte er diese trüben Gedanken, weil er sie einfach nicht länger ertragen konnte.

Der Junge hatte sich noch nicht bewegt, seit sie ihn hingelegt hatten. Bleich und reglos lag er da und atmete kaum. O’Hallorans Blick wich nicht von ihm. Das alles kam ihm so unwirklich vor. Noch gestern Morgen war der Junge herumgelaufen, hatte mit den anderen Kindern gespielt...

Irish zog die laut tickende Uhr aus der Tasche des Overalls, den er nicht ausgezogen hatte. Ja - gestern Morgen war das. Seine Gedanken waren dumpf, wie in Watte gepackt. Aber es dämmerte ihm, dass kein Mann das Recht hatte, seine Familie in eine Ölstadt zu bringen, damit sie wie Vieh in kleinen Ställen hauste...

Er steckte die Uhr wieder ein und verscheuchte den Nebel aus seinen Gedanken.

»Es ist schon fast Morgen«, sagte er rau, als Mary ihn erstaunt anblickte. »Ich muss wieder zum Bohrturm.«

Mary nickte schweigend. Irish goss sich kaltes Wasser in eine Waschschüssel, rieb sich das bärtige Gesicht ab und trat dann vor die Hütte, um das gebrauchte Wasser auszugießen. Da saß Longstraw, eine dunkle Silhouette vor dem grau werdenden Himmel.

Irish goss das Seifenwasser auf die Straße und ging zu Longstraw hinüber.

»Waren Sie die ganze Nacht hier?«

»Nein.« Longstraw räusperte sich. Irish war ebenfalls kein gesprächiger Mann und suchte nach Worten.

»Ich weiß nicht recht... Was sagten Sie, wie Sie heißen?«

»Yankee Longstraw.«

»Seltsamer Name«, bemerkte der Ire und schaute Longstraw dann direkt ins Gesicht. »Sie können wirklich nicht helfen.«

»Ich wollte ganz einfach in der Nähe bleiben.«

»Hören Sie, Longstraw, das ist nett, dass Sie in der Nähe bleiben wollen, aber es hat einfach keinen Sinn. Wir nehmen Ihnen nichts übel... Ich meine, das hätte mir genauso gut passieren können. Sie wollten dem Jungen doch nur was Gutes tun.«

»Irish!«, rief Mary leise aus der Hütte.

O’Halloran lief rasch nach drinnen. Eine hohe Gestalt kam den Hügel herunter: Doc Bender. Der Doktor warf Longstraw einen flüchtigen Blick zu und ging dann in die Hütte der O’Hallorans. Er kam bald wieder zum Vorschein.

»Irish sollte Mary nur helfen, den Jungen auf die andere Seite zu drehen«, erklärte er.

»Wie geht’s ihm?«

»Noch lebt er.«

»Gibt’s eine Hoffnung für ihn, Doc?« Longstraw merkte, dass seine Frage fast wie eine Bitte klang.

Bender zuckte die Achsel.

»Wenn ich mich nur nicht so verdammt ungeschickt angestellt hatte, dann...«, murmelte Longstraw.

Da ergriff Bender Longstraws Arm.

»Menschenskind, Sie quälen sich ganz unnötig. Ich hab’ mit Leuten gesprochen, die den Unfall beobachtet haben. Wie Lew Ashley plötzlich abgebogen ist...«

»Ashley? Hat Lew Ashley den Wagen gefahren?«

»Nein, aber einer von seinen Muskelmännern. Ashley war der Mann auf dem Pferd. Lew hat’s immer so verdammt eilig.«

Trotz der klaren Morgenluft roch es in der unmittelbaren Umgebung des Arztes deutlich nach Whisky.

»Selbst wenn der Junge am Leben bleibt, wird er nie wieder geistig normal sein«, erklärte Bender. »Bei einem solchen Schlag wird immer das Gehirn beschädigt.«

Sie standen eine Weile schweigend nebeneinander, dann fragte Bender: »Hungrig?«

»Nein.«

»Ich hab’ aber Hunger. Da ist ein Lokal, das eigentlich schon geöffnet haben müsste. Kommen Sie doch mit.«

Die Sonne hatte sich am östlichen Horizont endlich durchgesetzt. Ihre Strahlen zauberten lange, blaue Schatten auf die Straße; selbst die Schatten wirkten dreckig und verkommen wie die ganze Stadt.

»Mein Junge, hier gibt’s für Sie wirklich nichts zu tun«, drängte der Arzt. »Ich werde den Tag über gelegentlich vorbeischauen. Sie haben keine Ahnung, wie sehr diese Erdölleute Zusammenhalten. Aus der ganzen Straße werden sie kommen und sich um Mary und den Jungen kümmern. - Los, kommen Sie schon mit!«

Als sie nebeneinander den Hügel hinaufstiegen, fragte Longstraw: Wann macht Burch eigentlich seinen Laden auf?«

Der Arzt lachte kurz.

»Otto wird pünktlich um halb sieben aufschließen. Er hätte die ganze Nacht geöffnet, wenn er sich etwas für sein Geschäft davon verspräche.«

 

Genau um 6.30 Uhr stand Longstraw vor der Tür des Ladens von Auerbach und Burch. Beim Frühstück war ihm aufgegangen, dass er Ashley noch gar nicht kannte und ihn dennoch bereits aus tiefster Seele hasste. In den Knochen und Gelenken spürte er die Nachwirkungen der schlaflos verbrachten Nacht.

Seine Kleidung kam ihm unbequem vor. Er nahm den Hut ab und zündete sich eine Zigarre an, die ihm aber nicht schmeckte. Ein schwerer Frachtwagen rollte in Richtung auf die Bahnstation vorbei. Auf seiner Ladefläche waren drei große Tanks mit Holzklötzen verkeilt. Aus den randvollen Behältern schwappte dickflüssiges Rohöl auf die Straße.

Die Morgenluft war mit Ölgeruch geschwängert. Eine Art von herbstlicher Apathie war auch im Erwachen der Stadt zu spüren.

Longstraw trat einen Schritt vor und hoffte, dass die wärmenden Sonnenstrahlen wenigstens einen Teil seiner Müdigkeit verjagen würden. Er sah einem unrasierten Saloonbesitzer zu, der feuchte Sägespäne auf die Straße fegte. Da rasselte hinter ihm ein Schlüsselbund. Nachdem auch das zweite Schloss aufgesperrt war, schwang die schwere Tür auf.

»Sie sind sehr früh dran«, bemerkte Auerbach missgelaunt und winkte Longstraw herein.

»Zeit, an die Arbeit zu gehen.«

Auerbach fuhr sich gedankenvoll über sein grauschwarzes Haar. »Ich denke, dass die Presbyter das gern hören werden. Ich rufe die Männer zusammen, dann können wir über Einzelheiten reden.«

»Was für Einzelheiten?«, fragte Longstraw unwillig.

Auerbach fischte eine krumme, selbstgedrehte Zigarre aus seiner Tasche und schob sie zwischen die Zähne.

»Ich zünde die Zigarre nie an«, erklärt er. »Kaue nur drauf herum. Kann zu leicht etwas zu brennen anfangen, weil dauernd Erdgas in der Luft liegt. Wenn’s hier mal brennen sollte - so nahe am Ölfeld... furchtbar, einfach furchtbar!« Er wackelte bekümmert mit dem Kopf. »Kommen Sie mit in mein Büro.«

Als sie nach hinten gingen, trat gerade Elder Burch ein. Sein Gesicht war verschrammt und geschwollen. Am Kinn trug er einen Verband.

»Guten Morgen!«, rief Auerbach. »Mr. Longstraw will mit uns über die Frachtlinie reden. Passt du inzwischen vorn auf?«

»Gern. Für Mr. Longstraw tu’ ich fast alles!« Burchs Lächeln wirkte offen, auch wenn es ein wenig zu salbungsvoll war. Vielleicht hat er etwas von meinem eigenen verdrehten Sinn für Humor, dachte Longstraw.

Im Lagerraum setzte sich Auerbach an seinen zerkratzten Tisch mit dem verschließbaren Oberteil. Für Longstraw zog er mit dem Fuß einen Stuhl heran.

»Wir haben gestern noch nicht über Ihr Gehalt gesprochen.«

»Dazu besteht kein Anlass«, erklärte Longstraw knapp. »Wenn wir eine Frachtlinie aufziehen, dann sollte sie Geld abwerfen. Ich will kein Gehalt, sondern einen fairen Anteil am Gewinn.«

Dieser Vorschlag schien Auerbach zu gefallen.

»Verfügen Sie denn über ausreichendes Kapital?«, fragte Longstraw.

»Wir haben für einen Kirchenbau gesammelt, doch das Presbyterium ist der Meinung, dass die Frachtlinie wichtiger sei als eine neue Kirche.«

Longstraw konnte vor Müdigkeit nicht mehr stehen. Er ließ sich auf den Stuhl nieder.

»Wir brauchen Wagen, Pferde und Leute.«

Da stand Auerbach auf. Wollen wir mal zusammen ausreiten?«

Longstraw nickte.

Als sie durch den Ladenraum kamen, sagte Auerbach zu Burch: »Schick ein Telegramm an die Firma in St. Louis und bestätige unsere Bestellung des neuen Frachtwagens zum vereinbarten Preis.«

Sie nahmen dann lieber doch die leichte Kutsche und bogen in die vielbefahrene Straße ein.

»Wenn ich mich recht erinnere, hat Mr. Miller gestern vor einer Woche erwähnt, dass er ein Gespann von sechs Mulis fast fertig eingefahren hat. Die Tiere werden noch ein wenig ungestüm sein, aber wir sollten doch Zusehen, dass wir mit ihm handelseinig werden.«

Sie fuhren quer durch das Ölfeld. Auerbach machte eine weit ausholende Handbewegung.

»Als Buck Miller herkam, um Mustangs zu fangen, war das alles noch Wildnis. Er hat gut am Öl verdient, aber er liebt seine Pferde. Er verbringt mit dem Einfahren von Mulis, dem Zureiten von Pferden und einem guten Lassopferd mehr Zeit als mit seinen Ölgeschäften. Seine Mulis verkauft er bis nach Arkansas und Missouri. Sie sind zäh und zugstark, fressen aber weniger als Wagenpferde. Da drüben die Tanks, die gehören alle Miller.«

Longstraw schaute über die schwarze Wüstenei hinüber zu der langen Reihe von Tanks, die mit Balken abgestützt waren. Sie standen seltsam verloren in dem Trümmerfeld der toten Baumstümpfe.

»Dieser Teil des Ölfelds ruht zur Zeit.« Auerbach kaute auf seiner kalten Zigarre herum. »Bude Millers Öltanks sind randvoll. Irgendwann einmal, wenn es Lew Ashley gerade passt, kommt er vielleicht mit ein paar Wagen her und transportiert das Öl ab. Dann kann Buck die Produktion wieder aufnehmen - das heißt, wenn seine Pumpen dann noch funktionieren.«

»Dann sollte Miller sein Öl selbst abtransportieren«, sagte Longstraw.

»Sie haben doch selbst erlebt, was geschah, als Burch das einmal probiert hat. Es gibt noch andere Gründe dagegen. Mr. Miller ist alt, und die Besitzer der Ölquellen bekämpfen sich untereinander, streiten sich um die besten Förderrechte. Oder darum, wer die Bohrung zuerst hinabtreiben soll. Ashley schürt diese Streitereien noch. Wenn sie uneins sind, kann er sie nacheinander erledigen, einen nach dem anderen.«

Longstraw hörte ihm aufmerksam zu, während der leichte Wagen in gemächlichem Tempo dahinrollte. Langsam wurde Longstraw schläfrig, als sie das Ölfeld hinter sich ließen.

Er hatte fast den Eindruck, das alles schon einmal erlebt zu haben, als sie den entgegenkommenden Zug erblickten.

Drei Lastzüge waren es. Sie sahen alle gleich aus und waren alle gleich sorgfältig gepflegt und aufgezäumt - genau wie der Mulizug, dem sie begegnet waren, als sie gestern nach Torpedo ritten. Die roten Quasten und der grüne Filz waren gleich, nur dass die riesigen Wagen diesmal von je sechs mächtigen Clydesdale-Pferden gezogen wurden. Im Vorbeifahren grüßten die Rothemden auf dem Fuhrbock mit ihren Peitschen. Neben den gewaltigen Frachtwagen wirkte die kleine Kutsche wie ein Spielzeug.

Longstraw bemerkte: »Man könnte meinen, dass die Eisenbahn selbst sich in die Konkurrenz um das Zubringergeschäft einschalten sollte.«

»Darüber hab’ ich mir auch schon Gedanken gemacht.«

»Haben Sie schon mal mit der Bahnlinie darüber gesprochen?«

Der Kaufmann schüttelte den Kopf.

»Ich kenn’ doch keinen von den einflussreichen Eisenbahnleuten. Mit mir würden die nicht mal reden.«

»Und trotzdem haben Sie den Mut, hier eine kleine Frachtlinie einzurichten? Gegen die mächtige Konkurrenz eines Unternehmens, das nach allem, was ich bisher gesehen habe, gut geführt und ausgezeichnet in Schuss ist?«

Auerbach hatte den Frachtwagen nachgeschaut. Er nickte begeistert.

»Das hab’ ich mir doch gedacht! Sie fahren zu Millers Tanklager rein. Sie kommen immer spät - doch nie zu spät. Jetzt schaffen sie seinen Ölvorrat zur Bahnlinie, und er kann die Förderung wieder aufnehmen.«

Während sich Otto Auerbach in einem ausführlichen Monolog über die Ungerechtigkeit und Raffinesse des Transportmonopols von Lew Ashley erging, lehnte Longstraw den Kopf an die Polster und schlief ein.

 

Als er nach gut einer Stunde wieder aufwachte, brannte die Sonne heiß auf den Wagen herunter. Sie befanden sich schon im Bergland, wo auch Eichen und Nussbäume gediehen. Die Waldstücke waren immer wieder von natürlichen Lichtungen mit saftigem, reichem Gras unterbrochen, durch die sich klare Bäche schlängelten.

Das Rumpeln der Wagenräder über eine der Bohlenbrücken hatte Longstraw aufgeweckt. Er blieb noch eine Weile bequem sitzen, den Kopf gegen das Leder des Sitzes gelehnt, und dachte über das Gehörte nach.

»Wie viele von diesen phantastischen Lastzügen besitzt Ashley eigentlich?«, fragte er plötzlich.

Offensichtlich hatte Auerbach auch vor sich hingedöst. Er ruckte hoch und fragte: »Wie bitte? Entschuldigen Sie...«

»Ich meine diese Gespanne mit den roten Quasten und allem.«

Auerbach überlegte eine Weile, dann antwortete er: »Vielleicht zwölf oder fünfzehn - möglich, dass es auch zwanzig sind.«

»Und wie viele habt ihr?«

»Wir hatten einen Lastzug, und den hat Ashley verbrannt. Aber die Pferde sind wenigstens noch da. Heute hab’ ich einen neuen Wagen mit Tankbehältern bestellt. Wenn Millers Mulis schon so weit sind, und wenn wir uns mit ihm einigen können...«

Longstraw saß mit einem Ruck aufrecht.

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie keinen einzigen Lastzug besitzen? Einen haben Sie bestellt. Ein zweiter liegt im Bereich des Möglichen. Und dann wollen Sie einem Mann Konkurrenz machen, dessen Lastzüge über das ganze Ölfeld schwärmen wie Hornissen um den Honigkuchen?«

Auerbach nickte freundlich.

»Vom geschäftlichen Standpunkt ist es weiser, klein anzufangen, Mr. Longstraw. Und Gott ist auf unserer Seite.«

Longstraw verfiel in dumpfes Brüten. Auerbachs fromme Zuversicht ging ihm ein wenig über die Hutschnur. Er kam damit nicht zurecht.

Was Konkurrenz war, das verstand er.

Es gab nur einen einzigen Weg, um einen konkurrierenden Zirkus auszustechen: Ein noch längerer Festzug, noch größere, schreiendere Plakate, noch mehr Tiere und Sensationen und Musik - noch mehr Lärm und Geschrei. Und dann, wenn’s zum Kampf kam, genug Luft zum Durchhalten.

Wirkliche Konkurrenz für Ashley waren Burch und Auerbach nicht, wie es schien. Und es war fraglich, ob ihre Vereinbarung mit dem lieben Gott auf so festen Füßen stand, dass sie für eine Auseinandersetzung mit einem so mächtigen Gegner genug Kraft spendete.

Longstraw ließ sich entmutigt ins Polster zurücksinken und blickte über die Bergweiden hin, durch die sie jetzt fuhren. Es wurde ihm immer klarer, dass er nur eine Entscheidung treffen konnte: Er musste sich so rasch wie möglich von diesen unfähigen, phantasielosen Duckmäusern trennen. Sie waren ja schon geschlagen, noch bevor sie zum Kampf antraten!

Noch etwas anderes bereitete Yankee Longstraw Kummer: Er war in die Ölfelder gekommen, um mit seinem Geld noch mehr Geld zu verdienen. Jetzt sah es so aus, als ob ein Mann, den er nicht einmal kannte, all seine Zeit und all sein Denken in Anspruch nehmen würde. Zwischen ihm und dem Erfolg stand der Name Lew Ashley; dieser Name lähmte ihn, wie der Trapezkünstler gebannt auf die Enden eines reißenden Seils starrt.

Longstraw merkte, dass sie sich einem großen weißen Haus mit Säulen davor näherten. Die Straße verwandelte sich in eine Allee von hohen, schattenspendenden Kapokbäumen. In den Wipfeln spielte der Wind und verursachte dabei ein Geräusch, das sich wie Wellenschlag auf einem Sandstrand anhörte.

Der Säulenvorbau des Hauses erinnerte Longstraw an die herrschaftlichen Villen, die er im Süden der Staaten, im Baumwollgebiet gesehen hatte. Das Herrenhaus herrschte stolz über eine Ansammlung niedrigerer Nebengebäude und einen Reitplatz mit schneeweißem Zaun drumherum.

Auerbach lenkte den leichten Wagen auf einen von dunklen Bäumen beschatteten Hof und hielt vor der Veranda an. Dann stieg er ab und klopfte an die Verandatür. Unterdessen sprang Longstraw vom Wagen und blieb abwartend daneben stehen.

Eine Frau öffnete die Tür. Sie war bestimmt keine Dienerin. Sie hatte ein grundhässliches Gesicht, aber den vollkommensten Körper, den Longstraw jemals gesehen hatte,

»Hallo, Otto!« Ihr Gruß klang sehr vertraut, wenn man seine salbungsvolle Art berücksichtigte. Sie trat auf die Veranda heraus.

Auerbach furchte die Stirn und sagte: »Guten Morgen, Mrs. Miller. Ist Ihr Mann in der Nähe?«

Sie nickte beiläufig. »Drüben im Pferdestall. Aber wollt ihr nicht reinkommen?« Ihre Stimme klang rau. Sie bedachte Longstraw mit einem Blick, wie ihn kleine Tänzerinnen an sich haben, die ihre Zuschauer faszinieren wollen.

»Vielen Dank, Mrs. Miller - später vielleicht.« Auerbach nahm seine zerkaute und durchweichte Zigarre aus dem Mund. »Wir haben mit Ihrem Mann etwas Geschäftliches zu besprechen.«

Es dauerte noch eine Weile, bis sie ihren prüfenden Blick von Longstraw wandte und wortlos im Haus verschwand. Longstraw ertappte sich dabei, dass er ihre schwingenden Hüften beobachtete, und schaute schuldbewusst beiseite. Dann ging er langsam hinter Auerbach her.

Es war nicht schwierig, Buck Miller ausfindig zu machen. Als Longstraw den alten Pferderancher sah - und den Mann, der neben ihm stand -, hatte Longstraw die Frau im Nu vergessen.

Die beiden standen in dem blitzsauberen Mittelgang eines mustergültigen Pferdestalls. Miller hatte breite Schultern und einen starken Bauch. Er trug bunte Hosenträger über dem weißen, gestärkten Hemd. Früher einmal musste er ein imposanter Riese von einem Mann gewesen sein.

Im Vergleich zu dem alternden Riesen wirkte der andere Mann eher wie ein kleiner, verknitterter Affe, aus dessen runzeligem, braunem Gesicht scharfe, schwarze Augen stachen. Ein gefrorenes Lächeln machte seine dünnen Lippen breiter als sie in Wirklichkeit waren. Was aber wie ein Holzhammer auf Longstraw wirkte, war die Kleidung des Kleinen: schwarzer Derbyhut, tadelloser dunkler Anzug, glänzende schwarze Halbschuhe...

Longstraw blickte an seiner eigenen Kleidung herab. Sie war von der letzten Nacht und der langen Fahrt zerknittert und staubig. Aber abgesehen davon hätten die beiden Ausrüstungen aus demselben Laden stammen können.

Nein, das stimmte nicht ganz. Longstraw berichtigte sich in Gedanken sofort: Seine Sachen hätten vom Abfallhaufen des kleinen Affen stammen können.

Ganz plötzlich erinnerte er sich an etwas, das Trudy Detrich ihm noch im Laden gesagt hatte:

»Er kleidet sich genau wie Sie!«

 

 

 

Siebtes Kapitel

 

 

Innen, an der Längsseite des Stalls waren in Einzelboxen nebeneinander die sechs Mulis untergebracht, die zu kaufen Auerbach gekommen war. Sie hatten glänzend schwarzes Fell, hohe Ohren und einen bösen Blick - aber starke, gut entwickelte Muskeln.

»Großartig! Das sind sehr hübsche Tiere, Mr. Miller«, sagte Auerbach anerkennend. Er rollte seine kalte Zigarre zwischen den Zähnen und ignorierte den anderen Mann, von dem Longstraw wusste, dass er Lew Ashley hieß. »Ich möchte Ihnen für die Mulis ein Angebot machen, Mr. Miller.«

Lew Ashley kicherte. Bei diesem albernen Kichern - anders konnte man sein Lachen wirklich nicht bezeichnen - stieg eine unerklärliche Wut in Longstraw hoch.

»Dann sollten Sie sich lieber an mich wenden, Auerbach«, sagte Ashley und kicherte wieder.

»Wieso?« Erst jetzt wandte sich Otto Auerbach ihm zu.

»Weil sie mir gehören«, erklärte Ashley und schien sich königlich zu amüsieren.

Widerwillig brummte Miller: »Ich habe mit Mr. Ashley einen Vertrag geschlossen. Danach gehören alle von mir eingefahrenen Zugtiere ihm.«

Auerbach kaute verbissen an seiner Zigarre. »Ich bin weit gefahren, um das zu hören, Mr. Miller.«

Miller zuckte schweigend die Achseln.

»Auerbach liebäugelt anscheinend mit einer Geschäftserweiterung, Buck«, sagte Ashley. »Er und seine Freunde interessieren sich für das Frachtgeschäft.« Seine weißen Zähne blitzten. »Den Gentleman dort kenne ich noch nicht, scheint mir, Auerbach. Einer Ihrer Freunde?«

Otto Auerbach wandte sich ab.

»Hier haben wir nichts mehr verloren, Mr. Longstraw. Kommen Sie, wir fahren am besten gleich wieder zur Stadt zurück.«

»Longstraw?«, schrie Ashley. »Dann sind Sie der Mann, den gestern mein Fahrer erwischt hat? Und der Junge von O’Halloran wurde dabei verletzt.« Er kam auf Longstraw zu und streckte ihm mit übertriebener, fast lächerlicher Herzlichkeit die Hand hin. Longstraw drückte sie ihm und trat wieder zurück. Die Hand fühlte sich feucht an. Er wollte mit diesem Mann nichts zu tun haben.

»Sagen Sie Doc Bender, dass ich selbstverständlich die Arztkosten übernehme«, bat Ashley.

»Werden Sie auch die Beerdigungskosten tragen?«, fragte Longstraw und merkte, dass die Frage nicht sehr vernünftig war.

»Aber sicher!«, rief Ashley. »Ich werde natürlich gern dafür aufkommen. Ein bedauerlicher Zwischenfall.« Er schüttelte traurig den Kopf und betrachtete dabei Longstraw aufmerksam und mit gespielter Sorge. »Ist der Junge denn gestorben?«

Longstraw drehte sich zu Auerbach um. »Von mir aus können wir gehen.«

Sie verließen den Stall und stiegen auf ihren Wagen. Longstraw war verwirrt, weil er die kalte Wut auf diesen Mann spürte. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor in dieser Weise auf einen Fremden reagiert zu haben.

Auerbach nahm die Zügel auf. Der Wagen rollte vom Hof.

 

Als sie Torpedo erreichten, beschloss Longstraw, sich sofort nach Michael O’Halloran zu erkundigen. An der Hauptkreuzung teilte er Auerbach seine Absicht mit.

Auerbach machte einen ärgerlichen, verstockten Eindruck. Millers Zurückweisung hatte ihn schwer getroffen.

»Und ich werde doch ein Gespann auftreiben!«, sagte er verbissen.

Longstraw stand noch neben dem Wagenrad und wollte etwas sagen, doch da trieb Auerbach das Pferd schon wieder an.

Langsam ging Longstraw den Hügel hinab zu dem schmutzigen Bach, an dessen Rand die dürftigen Hütten standen. Er klopfte gegen den Querbalken über O’Hallorans Tür, an dem der Türvorhang befestigt war. Als Irish O’Hallorans Stimme: »Herein!«, rief, überkam ihn eine unerklärliche Angst. Er trat ein - und die Angst verwandelte sich auf der Stelle in plötzliche Freude.

Der kleine Mike lag mit weit offenen Augen auf seinem Bett. Er schaute Longstraw ganz bewusst an. Der Junge war zwar noch genauso weiß im Gesicht wie das Laken, das ihn bedeckte, aber seine Augen leuchteten hell und klar.

Mary O’Halloran schaute zu Longstraw auf und lächelte zum ersten Mal.

»Er kommt schon wieder in Ordnung«, sagte sie leise.

Longstraw wollte etwas erwidern, doch die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Seine Augen brannten, dann wurden sie vor Freude feucht.

O’Hallorans gutturale Stimme beruhigte ihn. »Nana, Mann, so schlimm ist’s doch auch nicht. Wir haben gleich gewusst, dass er es schaffen wird. Kommen Sie mit hinaus, damit wir uns unterhalten können.«

Sie traten vor die Hütte. Der Lärm der Straße nahm etwas von der Spannung, aber ihre Unterhaltung kam doch nicht so recht in Gang. Nach einer längeren Pause bemerkte Irish zögernd: »Doc Bender hat mir gesagt, dass Sie zusammen mit den Burch-Leuten ein Transportunternehmen aufziehen wollen.«

»Ich hab’s ihnen angeboten«, antwortete Longstraw. »Aber es sieht so aus, als ob’s überhaupt nicht dazu kommen würde.« Er berichtete von Auerbachs neuestem Misserfolg bei Buck Miller.

»Das überrascht mich überhaupt nicht. Wenn’s darum geht, in dieser Gegend Öl zu transportieren, dann hat nur ein Mann was zu sagen: Lew Ashley!«

Longstraw dachte mehr an den Jungen. Wann ist Mike eigentlich aufgewacht?«

Irish grinste erleichtert.

»Gleich, nachdem ich am Morgen weggegangen war, sagt Mary. Er war hungrig und hat auf die Pfannkuchen gezeigt. Wollte sein Frühstück haben. Natürlich hat er dann doch nichts essen können. Sie wissen selbst, wie das ist, wenn man sich krank fühlt...«

Longstraw nickte.

»Ich bin mal vom Seil gefallen. Danach hatte ich Hunger wie ein Wolf, aber nur so lange, bis ich das Essen gesehen hab’. Dann wurde mein Magen auf einmal ganz klein.«

»Mary hat mir sofort eine Nachricht geschickt. Sie wusste ja, wie ich mir Sorgen machte. Ich bin Hals über Kopf hergerannt.«

Longstraw räusperte sich.

»Doc Bender hat gemeint...« Er räusperte sich und wusste nicht recht, wie er die Frage formulieren sollte. O’Halloran starrte geradeaus.

»Weiß schon, was Sie sagen wollen«, murmelte er. »Sein Verstand.« Er stieß mit der Fußspitze einen Stein in den Bach. »Man kann noch nichts sagen. Wahrscheinlich werden wir es erst erfahren, bis er so weit ist, dass er wieder zur Schule gehen kann. Möglich, dass uns Miss Trudy dann etwas sagen kann. Er spricht nicht so gut wie zuvor. Aber schließlich hat er ja auch einen verdammt harten Schlag abgekriegt. Sieht ganz so aus - ich meine, vielleicht behält er doch etwas zurück.«

Ein mit Röhren beladener Wagen rumpelte die Straße herunter und durch die Furt. Dann stemmten sich die Mulis hart in den Lehm des gegenüberliegenden Ufers, als sie von den Flüchen des Fahrers hinaufgetrieben wurden.

»Das sind meine, denke ich«, bemerkte O’Halloran.

»Wie bitte?«, fragte Longstraw, der mit seinen Gedanken noch bei Mike war.

»Die Röhrenladung da drüben«, erklärte Irish. »Ich bohre an zwei Stellen im Townsend-Abschnitt. Bei Nummer sechs sind wir so weit, dass wir die Achtzöller abteufen können. Ich hab’ einen Ersatzmann für mich gefunden, damit ich bei Mary sein konnte. Ist nicht gut, wenn sie mit Mike allein ist - jedenfalls nicht, so lange er noch so schwach ist.«

»Ich könnte doch hier bleiben«, schlug Longstraw vor. Er wusste genau, dass sich Irish nicht um Mike sorgte, sondern um seine Frau. Er wollte nicht, dass sie zu viel grübelte und sich Gedanken um den Jungen machte.

»Das wäre schön«, stimmte Irish zu. »Heute bin ich den ganzen Tag frei. Aber von morgen an...« Er zögerte wieder und fuhr dann fort: »Longstraw, ich weiß nicht recht, wie ich’s ausdrücken soll. Wie wir uns über Ihr Mitgefühl freuen - dass Sie so früh am Morgen nur einfach da waren und wiedergekommen sind...« Er zuckte hilflos die Achseln. »Sie sind doch in keiner Weise für den Unfall verantwortlich.«

Longstraw fiel keine passende Antwort ein. Die Mittagssonne brannte warm auf den dunklen Anzugstoff.

Plötzlich lachte Irish auf und wechselte unvermittelt das Thema.

»Wissen Sie - wenn ich schreiben könnte, dann würde ich einem Mann schreiben, den ich mal im Osten gekannt hab’. Er heißt Van Sycle.«

»Van Sycle?«, fragte Longstraw neugierig.

»Ja. Der hat etwas, womit man Ashley den Wind aus den Segeln nehmen könnte.« In seinem Lachen lag mehr unausgesprochene Drohung als Spott.

Van Sycle. Longstraw erinnerte sich, diesen Namen auf Öltanks am Oil Creek in Pennsylvania gesehen zu haben. Ja richtig! Da war doch eine Rohrleitung für Rohöl gewesen...

»Ich hab’ bei Van Sycle als Bauleiter gearbeitet. Wir nannten das Ding Pipeline. Ich war dafür verantwortlich, bis die Banken ihm das Geschäft zugemacht haben.«

Longstraw fühlte, wie das Interesse an diesem Van Sycle immer brennender wurde. »Wie hat das funktioniert?«

»Nicht besonders gut«, gab Irish zu. »Aber ich denke, dass wir inzwischen hinter die meisten der Fehler gekommen sind, die damals gemacht wurden.«

»Das meine ich nicht. Wie war das Prinzip?«

Irish O’Halloran blinzelte erstaunt.

»Nun, wir haben die Rohre einfach auf dem Erdboden ausgelegt. Die Verbindungen waren undicht, dann sind welche geplatzt, und im Winter war das Zeug wie Sirup. Also haben wir später die Rohre in den Boden verlegt.«

Er berichtete. Vieles von dem, was er sagte, erinnerte haargenau an die Schwierigkeiten der Stadt Torpedo. Die Lagertanks von Oil Creek und Oil City waren bis an den Rand gefüllt. Dann ging man dazu über, auch noch in Erdgruben Öl zu speichern, aber die Verluste wurden immer größer, als die Produktion für die Kapazität der von Pferden gezogenen Tankwagen zu stark anstieg.

Irish berichtete über Versuche, das Öl in Fässer zu füllen und die Fässer dann auf Flößen den Oil Creek hinunterzuschaffen, indem man oberhalb einen Damm baute und kurzzeitig einen Schub Wasser in den Creek entließ. Aber die Fässer stießen gegeneinander, verklemmten sich und platzten. Die Verluste waren noch größer als zuvor, weil der größte Teil des Rohöls den Fluss hinablief.

Er erzählte über Van Sycle, einen bärtigen Asketen, der dieses Dilemma mit seinen weit in die Zukunft blickenden Ideen beheben wollte. Er träumte davon, das Rohöl von der Quelle bis zur Verladestation in einer Pipeline zu transportieren. Für manche war Van Sycle ein Genie, für andere ein Narr. Er baute seine Pipeline, aber sie brach ihm das Genick. Erst zu spät kam er darauf, dass man Rohöl nicht wie Wasser behandeln kann. Es enthält Säurestoffe, die sich rasch durch die Wände der Rohre fressen, es entwickelt plötzlich und unerwartet Überdrucke, denen die Rohre nicht gewachsen sind, und im Winter verwandelt es sich in einen zähflüssigen Brei. Van Sycle erntete nur Spott.

»Er machte pleite«, schloss Irish bitter. »Die Banken haben dann seinen Laden übernommen.«

Longstraw setzte sich wieder auf den Baumstumpf am Rande des tief eingeschnittenen Bachbettes. Er brauchte jetzt Zeit zum Nachdenken.

»Wenn jemand diesem Ashley eins auswischen will, dann nur mit einer Pipeline«, hörte er Irish sagen. »Vorausgesetzt allerdings, dass sie funktioniert.«

»Wie lang war Van Sycles Pipeline eigentlich?«, fragte Longstraw.

»Nicht sehr lang - vier oder fünf Meilen vielleicht.«

Bis zur Bahnstation waren es gut zehn Meilen.

»Was hat der Bau gekostet?«, erkundigte sich Longstraw weiter.

»Du meine Güte, ich hab’ nicht die leiseste Idee«, gab Irish zu. »Mit der geschäftlichen Seite hab’ ich nie was zu tun gehabt.«

Longstraw erhob sich und blickte Irish direkt ins Gesicht.

»Ich bin überzeugt, dass man damit Ashley schlagen könnte. Wollen Sie mir helfen?«

O’Halloran kratzte sich verlegen am Kopf.

»Sehen Sie - ich hab’ hier einen guten Job. Ich beaufsichtige zwei Bohrstellen. Und ich muss eine Menge Arztrechnungen bezahlen.«

Longstraw spürte die innere Unruhe. Er konnte sich nicht von der Schuld an diesen Rechnungen freisprechen.

»Ich muss noch mit einigen Leuten sprechen«, verabschiedete er sich. Wir sehen uns dann spätestens morgen früh.«

Während Longstraw den Hügel hinaufging, verlor sich bei ihm die erste Begeisterung für die Pipeline. Das Projekt kam ihm nur noch utopisch vor. Aber wenn sich ein Weg finden ließe, das Öl zur Bahnstation zu schaffen, ohne auf Tankwagen und Fässer angewiesen zu sein...

Tief in Gedanken schlenderte er weiter. Es müsste ein Transportmittel für die Allgemeinheit sein. Aber er sah ein, dass sein Hass gegen Ashley eine schlechte Grundlage für ein solches Projekt war. Einem verletzten Jungen kann man nicht helfen, indem man einen rücksichtslosen Mann vernichtet. Longstraw brachte für Burch, Auerbach und den Prediger, die Torpedo doch nur nach ihren naiven Vorstellungen umformen wollten, immer weniger Sympathie auf.

Torpedo war eine Stadt, wo ein wildgewordener Fuhrmann ungestraft ein Kind überfahren durfte, wo sich keine Frau allein auf die Straße wagte, wo ein starker Arm oder ein wenig Geschick mit Revolver und Messer einen Raufbold schon berechtigte, Gewalt auszuüben - ein dreckiges, stinkendes Rattenloch war das!

Longstraw rief sich selbst zur Ordnung. Rachegedanken waren auch kein gültiges Motiv, und schließlich war er kein Moralprediger. Aber wenn es gelingen sollte, eine solche Pipeline zu bauen, dann musste sie ihrem Besitzer ein Vermögen einbringen. Longstraw lächelte über sich selbst. Geld war schon ein zugkräftiges Motiv; aus diesem Grund war er ja hergekommen.

Er verließ die Hauptstraße und schleuderte ziellos durch die engen, schmutzigen Hintergassen der Stadt. Dabei dachte er an ähnliche Ölstädte in Pennsylvania, in denen die Yankee-Longstraw-Schau gastiert hatte. Das Zelt war immer gut gefüllt gewesen. Den Leuten hatte das Geld sehr locker in den Taschen gesessen. Rauschendes Nachtleben, Betrunkene, erregte Gesichter - das Ganze beleuchtet vom Flackern des abbrennenden Gases aus hundert langen, in den Himmel ragenden Rohrfingern - ein endloser Schwarm von Männern und Frauen, die nur dem Vergnügen nachjagten.

Bis das Öl versiegte...

Er dachte an die rauen Männer auf den Ölfeldern, die rotgesichtigen Farmer von Pennsylvania, groß und klein, dick und dünn, in allen Formaten. Und an die leichtlebigen Frauen, an junge Mädchen, die in anderer Umgebung wahrscheinlich Muster an Tugend gewesen wären. In den Ölstädten gab es Geld...

Bis das Öl versiegte!

Danach war nichts. Müde, enttäuschte Gesichter, leere Straßen, öde, hallende Häuser. Longstraw hatte in Pennsylvanien beides erlebt: Den stürmischen Aufstieg und das trostlose Ende. Danach gab es in seinem Zelt zwar auch noch Zuschauer, doch der Goldregen kam nicht mehr. Ein rastloses Streben hatte ihn angetrieben. Wonach eigentlich? Vielleicht nach Geld, dachte er.

Dann war die Nachricht von Ölfunden im Westen gekommen. Er wollte mehr sein als nur ein dahinziehender Schausteller. Er wollte sich eine sichere Zukunft erobern, er war dem Ruf des Glücks gefolgt.

Und nun fand er sich plötzlich am Ufer desselben Baches wieder. Offensichtlich war er im Kreis gewandert. Er blieb eine Weile stehen und überlegte, ob er den Bach überqueren sollte. Das schäumende

Wasser war mit grünlichem Rohöl vermischt. An den Ufern hatten sich Pech und andere Rückstände abgesetzt und die Vegetation vernichtet. Hier würde nie wieder ein Halm, ein einziges grünes Blatt wachsen.

Die Trostlosigkeit dieses Anblicks stimmte Longstraw traurig. Er fühlte sich bedrückt, als ob ein unausweichliches Unheil seine Zukunft bedroht hätte.

Aber er war hier in Torpedo. Er sah den Reichtum des schwarzen Goldes aus der Erde quellen. Das Mahlen der Bohrer, das Schlagen der Ventile, das Quietschen der Pumpen - Geräusche, die nie aufhörten. Das Geld lag hier auf der Straße. Man brauchte sich nur danach zu bücken.

 

 

 

Achtes Kapitel

 

 

Longstraw schritt nun zielstrebiger aus und versuchte, seine wandernden Gedanken zu einer Entscheidung zu zwingen. Er besaß aus dem Verkauf des Zirkus etwas mehr als fünfundzwanzigtausend Dollar. Konnte man damit eine Pipeline bauen?

Und falls das Geld reichte - war eine Pipeline wirklich der richtige Weg zu Glück und Reichtum? Oder sollte er lieber versuchen, einige Förderrechte zu erwerben, sich an einer Pacht zu beteiligen und einige Bohrungen zu finanzieren?

Und wenn die Bohrungen nicht fündig wurden? Wie viele trockene Bohrungen kann man mit fünfundzwanzigtausend Dollar niederbringen!

Aber selbst wenn jede seiner Bohrungen Rohöl produzierte, war das Öl für ihn wertlos, wenn er es nicht abtransportieren und verkaufen konnte. Er war dann von einem Mann namens Lew Ashley abhängig, mit Haut und Haaren.

Longstraw blieb stehen und blickte über die leicht gewellte, mit Bohrtürmen und Ölquellen übersäte Ebene. Nirgendwo auf der ganzen Welt mochte es ein Gelände geben, das sich so gut für den Bau einer Pipeline eignete. Flachland, übersät mit Buschwerk. Jetzt war September. Bis zum ersten strengen Frost hatte es vielleicht noch vier Monate Zeit.

Der Winter war nicht streng hier, hatten sie ihm gesagt. Torpedo lag weit genug südlich, und wenn wirklich mal ein Kälteeinbruch aus dem Norden den milden Winter unterbrach, dann war es immer nur für ein paar Tage im Januar und Februar.

Die Idee, Wasser durch seine eigene Schwerkraft zu transportieren, war schon den alten Römern bekannt gewesen. Alle Großstädte im Osten bauten unterirdische Wasserleitungen.

Aber Öl ist nicht wie Wasser, dachte er. Bergab wird es trotzdem fließen, und bestimmt kann man es auch bergauf pumpen.

Er überblickte die zahllosen Türme und fragte sich, ob wohl schon jemand auf den Gedanken gekommen war, das Öl aus der Erde zu pumpen, wenn der Gasdruck zu schwach geworden war, um es als Quelle nach oben zu treiben und aus dem Boden sprudeln zu lassen.

Es drängte ihn, jetzt mit jemandem zu sprechen, egal mit wem. Zu seiner Linken erhob sich der riesige graue Mietstall von Pop Cody. Nein - der Alte war sicher alles andere als ein Fachberater für Pipeline-Angelegenheiten, sagte sich Longstraw. Doch er überdachte dieses vorschnelle Urteil noch einmal.

Ein neugieriger alter Quatschkopf wie Pop Cody konnte mehr wissen als jeder andere Einwohner von Torpedo. Warum sollte er ihn nicht fragen? Wer nicht fragt, der bekommt auch keine Antwort. Longstraw hatte ohnehin seinen Koffer wieder im Mietstall gelassen. Also ging er mit raschen, energischen Schritten darauf zu.

Cody wusste es bestimmt, wenn es schon jemand mit Pumpen versucht hätte. Dabei würde ein neuer Name auftauchen - der nächste Mann, mit dem Longstraw reden konnte. Er betrat das dämmrige Innere des Mietstalls.

»Mr. Cody!«

Alles war vollkommen ruhig und wie ausgestorben. Kein Pferd, kein einziges Geschirr. Offensichtlich alles verliehen, dachte Longstraw. Er holte seinen Koffer aus dem Versteck unter einem großen Strohhaufen und ging dann langsam auf die weit offene Hintertür zu. Den alten Pferdewärter erblickte er nirgends.

Als er wieder ins Freie trat, musste er vor den Strahlen der Sonne blinzeln, die erbarmungslos auf die Rückseite der Stadt brannte - auf den Abfall, das Gerümpel und die unzähligen summenden Fliegen auf dem Misthaufen hinter dem Stall. Longstraw schaute den Hügel hinauf, der die Stadt trug.

Ganz oben auf dem Kamm des Hügels erhob sich das Schulhaus, ein primitives, ungestrichenes Gebäude, das nur einen einzigen Raum aufwies. Anscheinend war gerade die Schule aus.

In kleinen Gruppen oder auch einzeln quollen die Kinder aus der Tür. Longstraw sah einer Gruppe älterer Jungen zu, die sich stritten. Dann sah er ein paar größere Mädchen, die Arm in Arm den Hügel herunterkamen. Hinter ihnen trat Trudy Detrich aus der Tür der Schule, sagte einige Worte über die Schulter zu jemandem, den Longstraw nicht sehen konnte, und kam dann die Stufen der Veranda herunter.

Zwei der Mädchen erblickten sie und liefen sofort zu ihr zurück. Die anderen Schulkinder zerstreuten sich rasch in alle Richtungen. Longstraw schaute zu, wie die beiden Mädchen sich eifrig mit der Lehrerin unterhielten. Ihre Zöpfe flatterten im warmen Herbstwind. Trudys blondes Haar hatte sich bei der Arbeit etwas aufgelöst, einzelne Strähnen wippten im Wind, der das leichte Baumwollkleid eng an ihren Körper presste.

In einem plötzlichen Entschluss ging Longstraw mit dem Koffer in der Hand den Hügel hinauf.

»Oh - Mr. Longstraw!«, rief Trudy überrascht. »Ich hab’ mich schon gefragt, was aus Ihnen geworden ist.«

Die beiden kleinen Mädchen schauten Longstraw an, wechselten dann einen raschen Verschwörerblick und liefen kichernd davon. Longstraw blieb in einiger Entfernung stehen und zog den Hut.

»Ich hoffe, Sie werden meinen Aufzug entschuldigen«, begann er umständlich. »Ich habe noch keine Gelegenheit zum Waschen gefunden. Vorhin sah ich Sie zufällig, und da dachte ich...« Er suchte nach Worten.

Trudy Detrich war nicht nur ein ausgesprochen hübsches Mädchen, sondern Longstraw fühlte auch die Intelligenz und das Verständnis in ihren prüfenden Augen. Sie blickte ihn ohne Scheu und sehr selbstbewusst an, ohne eine Spur von Abwehr oder Misstrauen. Diese Wandlung, die nach dem Unfall in ihrem Benehmen stattgefunden hatte, machte Longstraw verlegen. Er fühlte sich auf unerklärliche Weise schuldig, als ob er etwas zu verbergen hätte.

»Sie sehen wirklich ein wenig derangiert aus«, stimmte sie ihm offen zu. Wann sind Sie eigentlich das letzte Mal aus diesen Kleidern gekommen?«

Longstraws Verlegenheit wuchs. Es verwunderte ihn, dass er vor diesem Mädchen verlegen wurde, nachdem er sein ganzes Leben lang völlig ungeniert mit Tänzerinnen und Artistinnen umgegangen war. Mit einem Anflug von Trotz blickte er ihr ins Gesicht und antwortete: »Hm, lassen Sie mich nachrechnen. Die Herfahrt in der Eisenbahn hat vier Tage gedauert. Ich hab’ keinen Schlafwagenplatz bekommen. Mit letzter Nacht macht das...«

»Wo haben Sie denn die letzte Nacht verbracht?«, unterbrach sie ihn neugierig.

»Im Drillers Hotel.«

Trudy lachte herzhaft.

»Ich hab’ mir über Skinflint Harris’ vornehme Beherbergungsstätte berichten lassen. Das muss ja ein feudaler Laden sein!«

»Kann man wohl sagen! Man liegt praktisch auf der Straße, und die ganze Nacht über läuft jemand den Gang entlang.«

Ihre Stimme wurde wärmer. »Dem kleinen Michael O’Halloran geht’s heute besser. Haben Sie das schon gehört?«

»Ja. Ich war gegen Mittag dort.«

Sie standen eine Weile schweigend beisammen, und Longstraws Beklommenheit löste sich allmählich. Dann fing er auf einmal wieder einen ihrer direkten, unverhüllten Blicke auf.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Heinz Otto, Norbert Wölfl und Christian Dörge (Original-Zusammenstellung).
Satz: Apex-Verlag
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2019
ISBN: 978-3-7487-2384-4

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